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Einleitung New York City, 2007

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Der Tag, an dem ich mich auf die Spuren der Kinder von Teheran begab, war der Tag, an dem ich Salar Abdoh traf. Wobei „treffen“ eigentlich nicht das richtige Wort ist. Unsere Blicke waren sich schon oft begegnet, und das nicht ohne eine gewisse Neugier: im Postraum, bei Fakultätssitzungen, auf den Fluren des North Academic Center – das ist der fensterlose, trostlose Fremdkörper auf dem altehrwürdigen, mit Prachtbauten im neugotischen Stil übersäten Campus des City College of New York, an dem wir beide englische Literatur unterrichteten. Vielleicht hatten wir sogar schon einmal einige Worte gewechselt. Aber am letzten Tag des akademischen Jahres 2007 / 2008 führten wir unser erstes richtiges Gespräch, das erste von Hunderten.

Die paar Jahre vor meiner Begegnung mit Salar waren die schlimmsten Jahre meines Lebens gewesen. Ich hatte ein Kind bekommen – einen Säugling, der schließlich zum Kleinkind geworden war, aber trotzdem niemals schlief; ich hatte eine bislang noch unförmige Doktorarbeit zu schreiben begonnen und viele, viele Seminare zu unterrichten. Ich hatte nur wenig – bezahlte – Unterstützung und keine weiteren Verwandten in New York. An drei Nachmittagen in der Woche schneite ich im North Academic Center herein, um meine Seminare zu halten, und eilte danach gleich zurück nach Hause, zu meinem Sohn. Am Abend schrieb ich, zwischen den Fütterungen, an meiner Dissertation.

So verging ein akademisches Jahr, dann das nächste, und meine Doktorarbeit nahm – irgendwie – doch Form an. Als ich auf dem Weg zu meiner mündlichen Promotionsprüfung an der Columbia University die Treppen der Kent Hall hinaufstieg, traf ich meine Mentorin, die inzwischen leider verstorbene Literaturtheoretikerin Eve Kosofsky Sedgwick, die mir aufmunternd zunickte. Ich fühlte mich unglaublich leicht. Schon Ende Mai sollte ich in Talar und Barett bei der Abschlussfeier der Columbia University meine erfolgreiche Promotion begehen, und im September dann meine Stelle am City College vom „Instructor“ zum „Assistant Professor“ hochgestuft werden, was ein höheres Gehalt bei niedrigerer Lehrverpflichtung bedeuten würde. Im April zeigte sich der Frühling von seiner herrlichsten Seite: Der Himmel über New York war klar und blau, ein angenehm frisches Lüftchen wehte. Ich hatte mich entschieden, die letzte Seminarsitzung des Semesters im Freien zu halten, und saß mit meinen Studenten auf dem frisch gemähten Rasen vor der Shepard Hall, wo wir uns leise, aber angeregt, über Melville und Freud unterhielten. Auf dem Rückweg vom Seminar traf ich Salar, der mich und ein paar andere in sein Büro einlud, um auf den Abschluss des Semesters anzustoßen.

Salars Dienstzimmer war sehr anheimelnd, es gab kleine Teppiche auf dem Boden und andere, sogenannte Kelims, an den Wänden, dazu Lampen für indirektes Licht, und so wurde die Eintönigkeit des Institutsgebäudes in Luft aufgelöst. Es gab auch eine Art Sitzecke, wo einige von uns herumlungerten, Rotwein nippten und dabei den neuesten Uni-Klatsch austauschten. Ich weiß noch, dass mir Salars ein wenig altmodische Manieren auffielen, eine Herzlichkeit und Etikette, wie ich sie von meinem Vater und Großvater kannte, die den Angehörigen unserer eigenen Generation jedoch abhandengekommen schien. Mir fiel auch auf, dass er von allen unseren Kollegen das größte Interesse an Israel zeigte (wo ich aufgewachsen war), dabei jedoch am wenigsten moralisierte. Als das Gespräch schließlich auf die Küstenlandschaften des Nahen Ostens kam – die wir, wie sich herausstellte, beide liebten, und Salars Familie hatte vor der Islamischen Revolution ein Haus am Kaspischen Meer besessen –, da erwähnte ich, dass wohl mein Vater das Kaspische Meer überquert hatte, als er im Zweiten Weltkrieg in den Iran gekommen war. Sicher wusste ich, dass mein Vater damals auch eine Weile in Teheran gewesen war, dass er und seine Schwester dort zu einer Gruppe junger Flüchtlinge gehört hatten, die Tehran Children genannt wurden – die „Kinder von Teheran“ –, aber viel mehr wusste ich nicht.

Salar stand auf, ging zum Schreibtisch und tippte ein paar Worte in seinen Computer. Dann rief er mich zu sich herüber, um mir etwas zu zeigen. Auf dem Bildschirm sah ich eine Ausgabe von The Iranian, einem Onlinemagazin über das politische und kulturelle Geschehen im Iran. Es war die Nummer vom 23. Februar 2006, und auf der Titelseite las ich die Überschrift „Fehler, die tief blicken lassen – der Iran, die Juden und der Holocaust: Eine Antwort an Mr. Black“ und darunter einen Meinungskommentar des Politikwissenschaftlers Abbas Milani. Dann begann ich weiterzulesen, und ich las das Folgende:

„Anfang Januar dieses Jahres hat ein prominenter US-Journalist eine Polemik gegen den Iran veröffentlicht, deren Abwegigkeit verblüfft: Am Holocaust soll das Land beteiligt gewesen sein! … [Black] behauptet, wenn wir uns der ‚Vergangenheit [des Irans] zur Hitlerzeit‘ zuwendeten, würden wir feststellen, dass ‚der Iran und die Iraner eng mit dem Holocaust und dem Hitlerregime verbunden waren‘. Dabei belegen die historischen Fakten das genaue Gegenteil von dem, was Mr. Black uns weismachen will. Sobald die ersten Anzeichen der mörderischen ‚Endlösung‘ sichtbar wurden, teilte die damalige iranische Regierung den Nazi-‚Rassenexperten‘ in Deutschland mit, dass die iranischen Juden seit mehr als 2500 Jahren im Iran gelebt hätten und vollständig assimilierte iranische Bürger seien, weshalb ihnen auch alle Bürgerrechte zustünden. Die Nazis ließen sich überzeugen, akzeptierten diese Argumentation, und die Leben sämtlicher iranischer Juden, die sich im Herrschaftsbereich des NS-Regimes aufhielten, wurden gerettet. … Außerdem wurden …, als die deutsche Vernichtungsmaschinerie zur massenhaften Ermordung unschuldiger polnischer Juden anlief, 1388 Juden, darunter 871 Kinder, nach Teheran gebracht, wo sie bis zu ihrer Ausreise nach Israel in relativer Sicherheit leben konnten. … In der History of Contemporary Iranian Jews [‚Geschichte der iranischen Juden in der Gegenwart‘] findet sich ein Bericht über diese sogenannten ‚Kinder von Teheran.‘“1

Eine ganze Weile starrte ich auf den Bildschirm, dann zu Salar hinüber – und dann musste ich mich erst einmal setzen, um mir den Artikel in aller Ruhe genauer durchzulesen. Die „Kinder von Teheran“, zu denen auch mein Vater Hannan (Hannania), seine Schwester Riwka (Regina) und ihre Cousine Noemi (Emma) gehörten, waren jüdische Flüchtlingskinder aus Polen, die 1943 über den Iran nach Palästina kamen. Aber bis zu jenem Moment in Salars Büro hatte ich das Wort „Teheran“ in der Bezeichnung nie als einen tatsächlichen Ort aufgefasst. Dass mein Vater ein „Kind von Teheran“ war, hatte für mich immer ganz selbstverständlich zu den Merkmalen seiner Person gehört, so wie er ja auch glattes, ein wenig grobes, schwarzes Haar gehabt hatte, das er stets zurückgekämmt trug über seinen kleinen, blauen, leicht schräg gestellten Augen. Oder dass er am 10. Oktober 1993 gestorben war, ein Jahr nach seinem Abschied bei der israelischen Luftwaffe, wo er 48 Jahre lang Dienst getan hatte.

Zwar hatte ich als Komparatistin – als Spezialistin für vergleichende Literaturwissenschaft – gelernt, gleichsam über Staats- und Ländergrenzen hinweg zu lesen und zu interpretieren; aber bis zu jenem Moment wäre ich im Traum nicht darauf gekommen, mir die Geschichte der „Kinder von Teheran“ in irgendeiner anderen Verbindung oder Deutung vorzustellen als jener, mit der ich in Israel aufgewachsen war: als eine erfolgreiche Mission zur Rettung jüdischer Kinder, durchgeführt von der Zionistischen Weltorganisation. Die Geschichte meines Vaters war eine typisch israelische Geschichte, ein Bestandteil der kollektiven Mythologie unseres Landes, und deshalb konnte sie in der Geschichtsschreibung eines anderen Landes gar nicht vorkommen – und schon gar nicht in der historischen Erinnerung eines Staats, der in neuerer Zeit zu einem politischen Gegner Israels geworden war. In meinen Augen war mein Vater noch nicht einmal ein Holocaustüberlebender. Holocaustüberlebende, das waren Leute, die im Israel meiner Kindheit und Jugend eine Aura gedämpfter Scham und Angst verströmten. Die „Kinder von Teheran“ hingegen, das waren echte Israelis: Kibbuzniks, Armeegeneräle, Leute in den Medien, erfolgreiche Unternehmer. Nicht die Verstoßenen Europas, sondern die ersehnten, verheißenen Söhne und Töchter Israels, sprichwörtliche „Glückskinder“, die der aufstrebende Judenstaat hatte unter seine Fittiche nehmen können. Wenn mich in meiner Kindheit jemand fragte, ob mein Vater ein Überlebender sei, hatte ich immer dieselbe Antwort parat: „Nein – er war ein ‚Kind von Teheran‘!“

Die Gründerväter meiner Forschungsdisziplin, der Komparatistik oder vergleichenden Literaturwissenschaft, sind Flüchtlinge gewesen: René Wellek, Erich Auerbach und andere. Wellek war in Wien geboren und konnte 1939 in die Vereinigten Staaten fliehen. Der aus Berlin stammende Auerbach emigrierte zunächst in die Türkei und gelangte später ebenfalls in die Vereinigten Staaten. Beide schrieben sie nicht über ihre Fluchterfahrungen, sondern verfassten in ihrem Exil regelrechte Oden auf einzelne Nationalliteraturen und auf einen geeinten, stabilen europäischen Kanon. Die beiden wichtigsten Historiker, die sich im 20. Jahrhundert mit dem Begriff der Nation auseinandergesetzt haben – Eric Hobsbawm und Ernest Gellner –, wurden durch ganz ähnliche Erfahrungen geprägt. Hobsbawm kam als Kind jüdischer Eltern im ägyptischen Alexandria zur Welt. Seine Mutter war Österreicherin, die Familie des Vaters, eines britischen Kaufmanns und Beamten, stammte aus Polen. Seine Kinder- und Jugendjahre verbrachte Hobsbawm in Wien und Berlin, musste dann 1933 nach London fliehen und diente während des Krieges in Pionier- und Schulungseinheiten der britischen Armee. Gellner wurde in Paris geboren und wuchs in Prag auf, bis er 1939 vor den Nazis in das englische St. Albans floh. Aus einer solchen Perspektive der „Wandernden und Wurzellosen“, wie Gellner es formuliert hatte, schrieb Auerbach im Istanbuler Exil seine große Studie Mimesis: Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, und unter ähnlichen Vorzeichen begann Gellner mit seinen Forschungen zu Nation und Nationalismus. „Als ich zum ersten Mal die Berberdörfer des Mittleren Atlas sah, mit ihren dicht an dicht gedrängten Stampflehmhäusern – von denen eines exakt wie das nächste aussah, was im Gesamtbild einen geradezu überwältigenden Eindruck von Gemeinschaft* erzeugte –, da war mir schlagartig klar, dass ich eines unbedingt herausfinden musste: Ich wollte erfahren (so gut das einem Außenseiter eben möglich war), wie es war, dort drinnen zu sein“, erklärte Gellner später.2

Ich selbst wurde in eine Gemeinschaft hineingeboren. Ich wusste früh, „wie es war, dort drinnen zu sein“. Aber mein „dort drinnen“ war kein jahrhundertealtes Berberdorf – es war ein gerade einmal zwei Jahrzehnte junger Nationalstaat mit noch immer nicht abschließend festgelegten Grenzen, mit ständigen Konflikten und einer Bevölkerung, die zu weiten Teilen – so wie mein Vater – anderswo geboren war. Aber jenes „Anderswo“, die Diaspora, hatte in meiner Kindheit keinen Platz. Es wurde „verleugnet“, wie der zionistische Schriftsteller Josef Chaim Brenner schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts erklärt hat. Aufgrund dieser Verleugnung wurde Israel zu meiner einzigen Heimat. Schließlich war es ein Daseinszweck des Staates Israel, dass er Kinder hervorbringen möge, die, unbeschriebenen Blättern gleich, von der schmerzlichen Vergangenheit des jüdischen Volkes frei sein würden. Ich war ein solches Kind. Mir fehlte jeglicher Bezugsrahmen, um mir das Verhältnis meines Vaters zum Iran oder zu den anderen Orten, an denen er gelebt oder die er passiert hatte, bevor er ein Israeli geworden war, überhaupt nur vorzustellen. Ja, ich hatte noch nicht einmal eine Vorstellung davon, wie sein Leben in Polen vor dem Krieg gewesen sein mochte – in Polen, wo, wie ich später herausfinden sollte, seine Familie schon seit acht Generationen gelebt hatte –, ein Leben, das so vollständig ausgelöscht worden war, dass noch nicht einmal in seiner Erinnerung eine Spur davon geblieben schien. In so gut wie jedem der dürftig möblierten Apartments in den verschlafenen Wohnvierteln auf dem Berg Karmel meiner Jugend gab es das: ein Leben, das vor dem Krieg anderswo gelebt worden war, eine komplexe Überlebensgeschichte und eine ganze Familie – Eltern, Geschwister, manchmal auch frühere Kinder oder Ehepartner –, die es vor dem Krieg gegeben hatte und die nun nicht mehr da war. Keiner sprach darüber. Es wurde alles verleugnet.

„Das solltest du aufschreiben!“, sagte Salar. „Die Geschichte deines Vaters meine ich.“ Ich winkte lachend ab: „Nein, nein – aber du könntest das schreiben. Du bist doch im Iran geboren. Und du bist nicht in den Holocaust verwickelt. Deine Vorfahren waren weder Täter noch Opfer damals. Und du kennst dich besser mit Flüchtlingen aus als ich.“ Salar und seine Brüder waren nach der Islamischen Revolution von 1979 als Teenager in die Vereinigten Staaten geflohen, wie er mir erzählt hatte. Bald fielen mir gewisse Ähnlichkeiten zwischen ihm und meinem Vater auf, kleine, beinahe mikroskopische Wesenszüge und Angewohnheiten, die man wohl nur bemerken konnte, wenn man sich von Kindheit an in das Zusammenleben mit einem Geflohenen eingeübt hatte: die Art etwa, wie Salar ein Papierhandtuch säuberlich in zwei Hälften teilte, um die zweite Hälfte für später aufzuheben; wie er stets seinen Teller leer aß; sein überhaupt leicht ängstlich-besorgtes Verhältnis zu Nahrung; seine Befürchtung, sich zu verkühlen; seine Vorsicht und Zurückgezogenheit.

„Mein Vater hat keine Geschichte“, gab ich Salar zur Antwort. „Ich werde mich an seinem Porträt versuchen“, hatte ich immer gesagt, wenn Leute mich nach ihm fragten, „aber es wird mir niemals gelingen.“ Vater war ein ruhiger, unauffälliger Mann aus einem beschaulichen Städtchen im Norden Israels gewesen, und inzwischen, vierzehn Jahre nach seinem Tod, war das Bild, das ich von ihm hatte, verschwommen und ziemlich sachlich geworden: ein durchaus umgänglicher, aber zurückhaltender Mann, nicht ganz ohne Strenge, der zu gelegentlichen Wutausbrüchen neigte. Von seiner Familiengeschichte wusste ich nichts; und ich glaubte auch nicht, dass ich auf diesem Weg viel über ihn erfahren würde. Wörter wie „Trauma“ und „Verdrängung“, „Vertreibung“ oder „Zwangsmigration“ kamen mir nicht in den Sinn, wenn ich an ihn dachte – ja, seltsamerweise noch nicht einmal das Wort „Flüchtling“. In meiner Vorstellung war er wohl zuallererst ein Arbeiter – ein fleißiger Mann, der in einer Art von zermürbender Dauergegenwart lebte, wo er tagein, tagaus seine Pflicht erfüllte. Gefühle zeigte er nur selten und hat in meiner Gegenwart nur ein einziges Mal geweint: als nämlich Christopher Walken als amerikanischer Kriegsgefangener in dem Film Die durch die Hölle gehen von seinen Vietcong-Wächtern zu einer Partie russisches Roulette gezwungen und brutal misshandelt wird. Wir schauten uns diesen Film zu Hause im Fernsehen an, mein Vater, mein Bruder und ich, und ich kann mich noch genau erinnern, wie ich zu Vater hinübersah – es war Winter, wenn ich mich recht entsinne, und in unserer Wohnung in Haifa war es wie immer ein bisschen zu kalt – und bemerkte, dass seine blauen Augen gerötet waren und Tränen seine Wangen hinunterliefen.

Zu Hause waren wir zu sechst: meine Eltern, meine Geschwister und ich, dazu meine Großmutter väterlicherseits, Rachel (Ruchela), die wir „Achel“ nannten: eine zierliche, magere Frau mit bleicher, runzliger Haut und blauen, leicht schräg gestellten Augen, ganz wie mein Vater sie hatte. Hannan war während des Krieges von seiner Mutter getrennt worden, und als sie dann Jahre später in Israel ankam, zog sie bei ihm ein, wohnte dann bei meiner Mutter und ihm, schließlich bei uns allen. Solange ich zurückdenken kann und bis zu ihrem Tod im Jahr 1981 hatte sie ihr kleines Zimmerchen gleich neben der Küche in unserer ruhigen Etagenwohnung auf dem Berg Karmel hoch über Haifa. Wir redeten nicht viel mit ihr, und sie redete nur wenig mit uns – sie redete überhaupt wenig, sondern verbrachte einen großen Teil des Tages in ihrem Zimmer, wo sie las oder Radio hörte. Meine Mutter, die für sie kochte und putzte und ihre Wäsche machte, konnte ihre Schwiegermutter nicht ausstehen. Mein Vater, der meiner Mutter gegenüber oft, uns Kindern gegenüber manchmal, die Beherrschung verlor, ohne dass ein Grund dafür erkennbar gewesen wäre, behandelte Achel stets mit einer liebevollen Fürsorglichkeit. Manchmal blieb die Großmutter den ganzen Tag in ihrer Kammer und kam erst heraus, wenn ihr Sohn von der Arbeit zurückkehrte. Ich kann mich nicht erinnern, dass mein Vater und seine Mutter jemals gestritten hätten, es gab keinerlei Spannungen zwischen ihnen, nur eine tief empfundene Harmonie. Immer war es, als träten zwei Mannschaften gegeneinander an: er und sie gegen meine Mutter und uns Kinder.

Als ich sechs oder sieben Jahre alt war – ich hatte gerade schreiben gelernt –, schrieb ich meinem Vater einen Brief, in dem ich ihn fragte, weshalb er seine Mutter lieber hätte als uns. Ich steckte die Botschaft unter sein Kissen im Ehebett meiner Eltern und wartete mit banger Sorge ab, was er dazu sagen würde. Als Hannan den Brief fand, geriet er außer sich vor Wut und schimpfte mich aus, dass er es niemals gewagt hätte, seinem Vater einen derartigen Brief zu schreiben. Ich kann mich noch gut an mein Schuldgefühl erinnern, an die Scham, an den verzweifelten Wunsch, meine Worte zurücknehmen zu können – lauter Gefühle, die mich über Jahre gequält haben. Mein Vater hat danach lange Zeit kein Wort mit mir geredet, und obwohl wir noch ein erfülltes gemeinsames Leben vor uns hatten – viele Momente zusammen, auch viele glückliche –, sollten wir doch nie wieder ganz unbefangen miteinander umgehen.

In New York, wohin ich 1992 gezogen war, wurde das Leben leichter. Ich heiratete einen Mann, der heiterer war, schuf mir ein Zuhause, das heiterer war, und begann Literaturwissenschaft zu studieren. Mein Vater schickte mir Briefe – rührende, gut geschriebene, überraschend warmherzige –, in denen von einem möglichen Besuch in New York die Rede war und von anderen Plänen, die er für die Zeit seines Ruhestands schmiedete. Aber noch im selben Jahr – er war gerade von einer Reise nach Polen zurückgekehrt, wo er zum ersten Mal seit 53 Jahren seine Vaterstadt besucht hatte – wurde er krank. Im Jahr darauf starb er, im Alter von 66 Jahren, an der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit, einer seltenen degenerativen Hirnerkrankung.

Ich flog nach Israel, um ihn vor seinem Tod noch ein letztes Mal zu sehen. Zum damaligen Zeitpunkt konnte er noch Auto fahren (wenn auch sehr viel waghalsiger als gewöhnlich), und so rasten wir die steilen Serpentinen des Derech ha’jam („Meerweg“) von Haifa hinunter bis zum Strand von Karmel, wo wir schon Jahre zuvor gemeinsam gewesen waren. Anders jedoch als bei den Strandausflügen meiner Kindheit – ein großes, spannungsreiches, potenziell explosives Unterfangen, bei dem Handtücher, Strandmuscheln, Kühlboxen, Sandwiches und fünf menschliche Körper in einen winzigen Renault 4 aus Militärbesitz (und ohne Klimaanlage) gezwängt wurden –, anders als bei jenen vergangenen Ausflügen waren wir jetzt nur zu zweit und hatten jeder nur ein kleines Handtuch dabei, was so etwas wie Nähe, ja sogar eine gewisse Lockerheit ermöglichte, wenn auch der Hauch von Entfremdung nie ganz zu vertreiben war, der sich über uns gelegt hatte, als ich sechs oder sieben Jahre alt gewesen war. Als wir am Saum des Meeres angekommen waren, legte mein Vater seine Oberbekleidung ab (die Badehose trug er schon darunter), legte alles ordentlich zusammen und platzierte den Kleiderstapel zusammen mit seinen blank gewienerten braunen Ledersandalen fein säuberlich auf seinem kleinen Handtuch. Eine ganze Weile ließ er sich im Mittelmeer treiben, die Augen geschlossen, vollkommen friedlich sah das aus. „Eize jam“, sagte er, „was für ein Meer“ – wie er es immer sagte, wenn das Wasser als eine absolut glatte, tiefblaue Ebene vor uns lag. Mein Vater war noch nie ein Mann vieler Worte gewesen, und jetzt hatte er sogar nur noch weniger. Auf der Heimfahrt sagte er mir, ohne dass ich ihn darauf angesprochen hätte, dass er in der letzten Zeit ein paarmal Probleme mit seinem Gedächtnis gehabt habe.

Als ich einen Monat darauf wieder nach Israel flog, sprach er plötzlich Polnisch – eine Sprache, die ich ihn noch nie zuvor hatte verwenden hören –, lächelte selig und nannte meine Mutter siostra. „Ist das deine Schwester?“, fragte ich ihn. „Natürlich!“, antwortete er, und die Frage schien ihn zu erstaunen. Dann wandte er sich wieder, als wäre nichts gewesen, dem Omelett zu, das meine Mutter ihm vorgesetzt hatte – an demselben kleinen, unaufgeräumten, klebrigen Küchentisch, an dem wir all unsere Mahlzeiten eingenommen hatten, solange ich auf der Welt war. Sanft und milde sah er aus, so als ob die äußere und innere Anspannung, die sich ein Leben lang in seine Züge eingegraben hatte, mit einem Mal einfach dahingeschmolzen wäre und das liebliche, friedvolle ein wenig stumpfsinnige Gesicht eines Kindes freigelegt hätte – eines Polnisch sprechenden Kindes. Noch einmal sechs Wochen später lag er im Koma auf der neurologischen Station der Klinik auf dem Berg Karmel. Sein Körper zuckte und krümmte sich wie in Krämpfen, sein Mund war aufgerissen wie vor Schmerz. Einen Monat darauf starb er.

In der Woche, als wir nach jüdischem Trauerbrauch für meinen Vater Schiwe saßen, sahen wir uns alte Fotos von ihm an: als ein pausbäckiger Junge in Mütze, Jacke und langen Strümpfen, der auf einem gepflasterten Gehweg seiner polnischen Heimatstadt Ostrów Mazowiecka vor seiner Schwester Riwka (die damals Regina hieß) und seinen Eltern Zindel und Ruchela hermarschiert; als ein sonnengebräunter, inzwischen deutlich schlankerer junger Bursche, der im Kibbuz En Charod auf einem Pony reitet. Als Kadett der israelischen Luftwaffe war er dann wieder ziemlich füllig, trug inzwischen jedoch Schnurrbart. Auf den Fotos von seiner Hochzeit mit meiner schönen jungen Mutter – er war 34, sie 23 – strahlt er übers ganze Gesicht, während er die Hochzeitstorte anschneidet. Mit mir als Kleinkind ist er am Strand zu sehen, und die Fotos von ihm in diversen amerikanischen Nationalparks müssen in den Jahren zwischen 1977 und 1980 entstanden sein, als Hannan für die Ausbildung des Bodenpersonals der israelischen F-15-Kampfjets am Produktionssitz des Luftfahrt- und Rüstungsunternehmens McDonnell Douglas in St. Louis, Missouri, zuständig war. Hannan, der unbestimmt lächelt. Hannan, das Rätsel.

„War er eigentlich immer schon so?“, fragte ich seine Cousine Noemi, deren ursprünglicher, polnischer Name „Emma“ gewesen war. Damit meinte ich: umgänglich, aber distanziert, unnahbar. „Oder hat erst der Krieg ihn so werden lassen?“ „Immer schon, er war immer schon so“, antwortete sie. „Mit dem Krieg hat das nichts zu tun.“ Noemi-Emma, die fünf Jahre jünger war als mein Vater, war von der Sowjetunion in den Iran gefahren und von dort weiter nach Palästina – zusammen mit meinem Vater und beinahe eintausend anderen jungen Flüchtlingen. Ihre Antwort erleichterte mich, fast war ich stolz auf meinen Vater, dass er sich nicht hatte unterkriegen lassen – ich ahnte ja noch nicht, dass die Erwiderung meiner Großcousine eine bloße Formel war. Wie so viele „Kinder von Teheran“ wies Noemi – die sieben Jahre alt war, als der Krieg ausbrach, in dem sie ihre Mutter, ihren Vater und ihren einzigen Bruder verlieren sollte – die Vorstellung weit von sich, diese Vergangenheit hätte sie oder ihre Cousins auf irgendeine Weise gezeichnet. „Wir haben den Krieg bewältigt“, sagte sie, „wir sind Israelis geworden.“

Als Salar nach meinem Vater fragte, erzählte ich ihm, was Noemi zu mir gesagt hatte. „Wenn ich daran zurückdenke, werde ich immer ein bisschen skeptisch“, meinte ich, „was dieses ‚Bewältigen‘ des Krieges angeht, und dass sie danach voll und ganz Israelis geworden seien.“ In den linksliberalen Akademikerkreisen, in denen wir beide uns bewegten, wurde Israel damals zunehmend kritisiert, infrage gestellt, ja richtiggehend abgelehnt, und oft ertappte ich mich dabei, wie ich halbherzig das verteidigte, was ich meine Heimat nannte, viele meiner Freunde jedoch als „das zionistische Projekt“ bezeichneten.

Und je länger ich in New York lebte, desto mehr vermisste ich das Leben in Israel – seine Gerüche, den immer blauen Himmel, die Strände bei Sonnenuntergang –, während mich zugleich die israelischen Politiker und ihre Politik so sehr beunruhigten, dass ich mir ernsthafte Sorgen um die Zukunft unseres Landes machte. Dabei war es nicht nur Israel als solches, sondern die Vorstellung einer nationalen Zugehörigkeit überhaupt, die ich nicht mehr ohne Weiteres für bare Münze nehmen konnte. Schließlich hatte ich mir, wie viele meiner Kommilitonen, die in den 1990er-Jahren an amerikanischen Universitäten ihr Studium absolvierten, die Erkenntnis des Politologen Benedict Anderson zu eigen gemacht, dass Nationen keineswegs historisch ehrwürdige, gleichsam ewige Wesen waren, sondern vielmehr imagined communities, „vorgestellte Gemeinschaften“, die durch ihre geteilten Gründungstexte, Symbol-bilder und Gedenktage überhaupt erst zu einer Gemeinschaft wurden. Wie viele andere Nachwuchswissenschaftlerinnen hatte ich Jahre damit zugebracht, mir darüber den Kopf zu zerbrechen, wie solche Gemeinschaften „konstruiert“, „imaginiert“ und „manipuliert“ wurden. Aber nun, im Angesicht der Fluchterfahrung meines Vaters, erschien mir dieses Modell plötzlich nicht mehr erkenntnisfördernd – ich konnte mir damit ja noch nicht einmal einen Reim auf die Wendungen meines eigenen Lebens machen.

„Nationen können was Schönes sein“, meinte Salar, „nationale Rituale auch, ein nationales Zugehörigkeitsgefühl – das alles erscheint herrlich, vor allem, wenn man es verloren oder nie gehabt hat.“

„So einfach ist das nicht“, erwiderte ich, aber eigentlich war ich für seine Bemerkung dankbar. Ich fragte mich, ob mein Vater sein Leben mit Freunden oder mit Fremden geteilt hatte, mit anderen Menschen als uns, seiner Familie. Wie der Psychiater und Traumaexperte Dori Laub schreibt, der selbst als Kind den Holocaust überlebt hatte, ist das Leben vieler jüdischer Überlebender nach dem Krieg entscheidend davon beeinflusst worden, dass die mehr oder minder unbeteiligten Zeugen der Vernichtung – und nicht selten auch die anderen Opfer – jegliche Empathie vermissen ließen, woraus bei den Betroffenen ein Dasein in sozialer Isolation und ohne Freunde resultierte. Langsam begann ich mich zu fragen, ob derartige Mechanismen nicht auch das Leben meines Vaters entscheidend geprägt haben könnten – und damit auch mein eigenes, das von seiner Distanziertheit so sehr beeinflusst worden war. Natürlich konnte ich noch nicht ahnen, wie sehr sowohl Salars Anteilnahme an der Geschichte meines Vaters und mein eigener Anteil daran als auch mein späteres Anteilnehmen an den Geschichten anderer und wiederum die Teilnahme anderer an meiner eigenen Geschichte das Buch prägen würden, von dem ich ja noch gar nicht wusste, dass ich es einmal schreiben würde – das alles wurde mir erst im Laufe meiner Recherchen klar, als ich immer tiefer in die Vergangenheit meiner Familie vordrang und dabei erkannte, wie komplex und vielfältig ihre Verwobenheit mit anderen Vergangenheiten war. Noch wusste ich nicht, dass aus dieser Quelle alle Hoffnung – und auch alles Herzweh – meines Buches strömen würde.

Aber die Erwähnung der „Kinder von Teheran“ in dem Artikel des Iranian weckte immerhin meine Neugier. Zum ersten Mal kam mir der Gedanke, dass Teheran ja nicht nur der rettende Ort war, von dem aus mein Vater nach Israel kam, sondern auch der Ort, wo er während des Krieges tatsächlich gelebt hatte. Und das warf unweigerlich weitere Fragen auf: Wie war er überhaupt im Iran gelandet? Hatte die iranische Regierung die jüdischen Flüchtlingskinder tatsächlich mit offenen Armen empfangen, wie Abbas Milani behauptete, oder war ihr Eintreffen dort ein bloßes Ergebnis des Zufalls? Der Name „Iran“ bedeutet ursprünglich „Land der Arier“. Hatten diese persischen Arier vielleicht meinem Vater das Leben gerettet?

Und so begann ich, ganz allmählich, der weiten Reise meines Vaters von Polen in den Iran nachzuspüren. Ich las und las, und ich schmiedete Pläne für eine Reise nach Ostrów Mazowiecka, wo mein Vater geboren war, und von dort weiter an einige andere Orte, wo er sich aufgehalten hatte, nachdem er bei Kriegsausbruch über die Grenze zur Sowjetunion geflohen war. Ich folgte seinen Spuren durch ehemals sowjetische Grenzstädte und zur Deportation in eine sibirische „Sondersiedlung“, dann weiter nach Usbekistan, wo er, wie ich herausfand, an Bord eines Schiffes mit Ziel Iran gegangen war, bevor er nach Indien und schließlich – endlich – in das britische Mandatsgebiet Palästina kam. Am 19. Februar 1943 erreichten Hannan, seine Schwester und ihre Cousine ihr Ziel. Mehr als 20 000 Kilometer hatten sie zurückgelegt, den halben Erdumfang, bis sie von Polen nach Palästina gelangt waren. Ich selbst begab mich langsam, vorsichtig, auf die Spuren ihrer Odyssee, ohne eine vorgefasste Theorie, ohne Modell oder festen Fahrplan – „den Akteuren folgen“, würde das der Soziologe Rogers Brubaker nennen –, anstelle irgendwelcher Vorannahmen. Ich folgte den „Kindern von Teheran“ nicht auf einer Reise aus dem „Elend der Diaspora“ in das rettende „Land der Verheißung“, und eigentlich noch nicht einmal von Punkt A nach Punkt B, sondern vielmehr auf einem ergebnisoffenen Weg, auf dem jeder beliebige Durchgangspunkt sich durchaus auch als das Ziel hätte entpuppen können (wie es in anderen Fällen auch durchaus geschehen ist). Ich bemühte mich, ihrer Route so zu folgen, wie sie sie erlebt hatten, wollte mir jeden ihrer Aufenthalte mit eigenen Augen ansehen, um so auch das Hätte, Wäre und Könnte ihrer Reise ans Licht zu bringen.

Natürlich konnte ich nicht einfach in den Brunnen der väterlichen Vergangenheit hinabsteigen, um dort ungehindert aus dem Vollen zu schöpfen. Dagegen sprachen schon die sieben Jahrzehnte des Schweigens, die es zu überwinden galt, dazu die tiefe Kluft des Vergessens, die der Holocaust mit seinem Vernichtungswerk aufgerissen hatte, ganz abgesehen von einem halben Jahrhundert kommunistischer Revisionsbestrebungen sowie der aktuellen Politik in Israel, Iran, Russland, Polen, Usbekistan und den Vereinigten Staaten – einer Politik, die aus der Geschichte folgt, aber selbst auch Folgen dafür hat, wie diese Geschichte erzählt wird. Noch dazu war es nicht leicht, die Geschichte von Flüchtlingen aufzudecken, die ohnehin kaum Spuren hinterlassen und von der Erinnerungskultur und -arbeit der Nationalstaaten meist übergangen werden. Und es war ja auch nicht nur die Geschichte meines Vaters.

So gut wie alle europäischen Juden, die während des Krieges nicht ermordet wurden, waren in der Folge Flüchtlinge. „Die Zeitgeschichte [hat] eine neue Gattung von Menschen geschaffen“, schrieb die politische Philosophin Hannah Arendt – selbst 1933 aus Deutschland geflohen – in einem Essay, der in demselben Jahr und Monat in New York erschien, in dem mein Vater nach Jerusalem kam: „Menschen, die von ihren Feinden ins Konzentrationslager und von ihren Freunden ins Internierungslager gesteckt werden“. Und weiter: „Als Flüchtling hatte bislang gegolten, wer aufgrund seiner Taten oder seiner politischen Anschauungen gezwungen war, Zuflucht zu suchen. Es stimmt, auch wir mussten Zuflucht suchen, aber wir hatten vorher nichts begangen, und die meisten von uns hegten nicht einmal im Traum irgendwelche radikalen politischen Auffassungen. Mit uns hat sich die Bedeutung des Begriffs ‚Flüchtling‘ gewandelt. ‚Flüchtlinge‘ sind heutzutage jene unter uns, die das Pech hatten, mittellos in einem neuen Land anzukommen, und auf die Hilfe der Flüchtlingskomitees angewiesen waren.“3 Damit hatte sie natürlich recht, aber wie ich schon bald feststellen sollte, gibt es auch noch andere Arten von Flüchtlingen, existieren viele Wege, um Zuflucht zu suchen: kürzere oder längere, brutale oder ein wenig freundlichere.

Die meisten jener polnischen Juden, die der Vernichtung durch die Nazis entgingen – etwa 250 000 von rund 350 000 nämlich, die nach dem Krieg noch am Leben waren –, überlebten, wie mein Vater, durch Deportationen ins Innere der Sowjetunion, und dann als Exilanten und Flüchtlinge in Zentralasien, Iran, Indien und Palästina. Hunderttausende von katholischen Polen, Ukrainern, Litauern und vertriebenen Russen waren auf denselben Straßen unterwegs gewesen. Aber auch die Menschen, die schon an den Orten lebten, an die mein Vater und die anderen kamen – Russen, Usbeken, Kasachen und Perser, Juden und Nichtjuden –, wurden von ihrer Begegnung mit den Flüchtlingen beeinflusst, und dasselbe gilt für ihre Fluchthelfer sowie regionale und internationale Hilfsorganisationen. Die Geschichte der Holocaustflüchtlinge gehörte nicht ihnen allein, sondern war zugleich auch die Geschichte Polens, Russlands, Usbekistans, Irans, Israels und zum Teil sogar der Vereinigten Staaten, die Flüchtlingshilfe leisteten. Ihr Schicksal verfing sich in einem Spiel der Kräfte, das bis heute nicht zur Ruhe gekommen ist: im Verhältnis zwischen Polen und Juden; zwischen dem Iran, den Juden und Israel; zwischen „Ostjuden“ und westlich-assimilierten Juden; zwischen Flüchtlingen und der ortsansässigen Bevölkerung; zwischen Juden, Christen und Muslimen. Nur sehr wenig ist bisher über diese komplexe Geschichte geschrieben worden – teils, weil die entsprechenden Archive in Russland, Polen und Zentralasien erst seit vergleichsweise kurzer Zeit der Forschung zugänglich sind; teils aber auch, weil für lange Zeit (und trotz jahrzehntelanger Forschungsarbeit zum Holocaust nebst einem regelrechten „Boom“ von Holocaustgeschichten in der Populärkultur) die Geschichte all jener, die vor den Nazis in die Sowjetunion und in den Nahen Osten flohen, noch immer nicht als Teil der Kategorie „Geschichte des Holocaust“ wahrgenommen wurde. Und so habe ich begonnen, sie zu schreiben.


Abbildung 1: Die Route der „Kinder von Teheran“.

*Kursivierte Begriffe sind auch im amerikanischen Original deutsch.

Die Kinder von Teheran

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