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Über die Grenze Von Hitler zu Stalin
ОглавлениеDer August 1939 war der brisanteste Monat. Den ganzen Sommer hindurch hatten Hannans Eltern, Zindel und Ruchela Teitel, seine Großmutter Fejge, sein Onkel Icok und alle Teitel-Verwandten, ja die ganze übrige Einwohnerschaft der Stadt gebannt vor ihren Radiogeräten gesessen, hatten die Gazeta Polska verschlungen und die jiddischsprachige Tageszeitung Haynt („Heute“), die jeden Morgen aus Warschau nach Ostrów Mazowiecka geliefert wurde. Ihnen allen war schmerzlich bewusst, was die Herrschaft Hitlers in Deutschland bedeutet hatte, und dass ein Krieg durchaus im Bereich des Möglichen lag. Die beschwichtigenden Artikel in der Gazeta, wo es hieß, die polnische Armee sei bestens vorbereitet und werde im Ernstfall die Deutschen binnen drei Monaten schlagen, lasen sie mit Skepsis. Und doch kam auch weiterhin jede Woche die gewohnte Gerstenlieferung in der Brauerei Teitel an, wurde in der Mälzerei im Untergeschoss weiterverarbeitet und im Trockenturm getrocknet. Die Arbeiter – gut die Hälfte der Brauereiangestellten waren katholische Polen – rührten so wie eh und je die in den Bottichen gärende Maische und die Bierwürze in den Sudkesseln. Noch immer wurden auf dem Hof der Brauerei Kisten mit Bierflaschen auf Chevrolet-Lastwagen verladen, um sie zu Abnehmern in ganz Polen zu befördern. Die Teitel-Kinder, Hannan und Regina mit ihren Cousinen – zwei von Icoks vier Kindern, die dreizehnjährige Szulamit und die siebzehnjährige Pesja, lebten ebenfalls auf dem Gelände; eine weitere Cousine, die siebenjährige Emma Perelgric aus Warschau, war über den Sommer zu Besuch –, spielten wie gewohnt im Vorhof sowie in dem Gemüsegarten hinter dem Haus. Aber wenn die Erwachsenen des Abends zusammensaßen, dann debattierten sie über Chancen und Risiken und fragten sich, was sie tun sollten.
Am 6. September 1939, sechs Tage nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen, flohen die Teitels mit zweien der 133 Chevrolet HS-Motorlastwagen, die sich im Fuhrpark der Brauerei befanden, aus der Stadt – Wagen desselben Modells, das mein Vater fast drei Jahre später im Iran wiederfinden sollte. Bis unter die Decke des Laderaums packten sie die Wagen voll: mit Brot und Käse, Obst und Gemüse, Kartons mit Eiern und so viel haltbaren Lebensmitteln, wie sie bekommen konnten. Dazu noch schwere Wintermäntel, Decken, Kissen, etwas Kleidung. Seife und Handtücher. Bargeld, Schmuck, Uhren, überhaupt alles an Gold und Silber. Sie packten ihre cancartas ein – ihre polnischen Personalausweise – und ihre Abschlusszeugnisse des örtlichen Gymnasiums, dazu die Grundbuchauszüge über ihre Grundstücke und Häuser in Ostrów – einschließlich der Brauerei und fünf Wohnungen – sowie ihre Heirats- und Geburtsurkunden und ein Fotoalbum.
Meine Tante Regina hat mir die Szene in dem ersten der vielen Gespräche geschildert, bei denen ich sie während meiner Sommerbesuche in Israel interviewt habe. Anfangs war sie zurückhaltend, wollte nicht reden – „izvi“, sagte sie zuerst, „lass doch!“, „lass gut sein!“ und „lass uns über dich reden“ –, aber je mehr ich selbst in Erfahrung gebracht hatte und je präziser meine Fragen wurden, desto reicher sprudelten die Details aus ihr hervor. Wir trafen uns in ihrer großzügigen Wohnung in einem Hochhausneubau in Ramat ha’Scharon, einem Vorort von Tel Aviv, wo sie mir Hühnersuppe, Obst und Kekse auftischte, um sich dann zu mir zu setzen und – hoch konzentriert und ernst – meine Fragen so umfassend und genau wie möglich zu beantworten. Wenn sie doch einmal zögerte, dann sagte sie etwa: „Ich glaube, das war so und so“ oder „Ich bin mir nicht sicher, dass das an diesem oder jenem Tag geschah.“ Was sie aber aussagte, hatte Bestand; nie zog sie es im Nachhinein in Zweifel. Auch vermied sie es, die Lücken durch Spekulationen aufzufüllen, wenn sie etwas beim besten Willen nicht wusste, sondern sagte: „Ich war ein kleines Mädchen, das weiß ich nicht mehr“ oder „Dein Vater hätte das gewusst!“ Wenn sie sich bei einem bestimmten Detail ganz sicher war, dann hielt sie daran fest, und jedes Mal, wenn ich später Gelegenheit hatte, ihre Aussagen anhand von unabhängigen Quellen zu überprüfen, stellte sich heraus, dass sie recht gehabt hatte.
Während ihr Vater und ihr Onkel die Lastwagen beluden, sagte meine Tante, seien Dutzende von jüdischen Stadtbewohnern nach und nach zur Brauerei gekommen und hätten große Bündel Bargeld angeboten, wenn man sie nur mitnähme. Aber auf den Lieferwagen waren keine Plätze mehr frei. Der zwölfjährige Hannan, die achtjährige Regina und ihre Eltern nahmen den kleineren der beiden Wagen. In den größeren zwängten sich alle anderen: die Großmutter Fejge Teitel, 77 Jahre alt; die siebenjährige Emma (später Noemi) Perelgric; zwei weitere Verwandte, Berek Teitel und seine Frau Chaja; und ihr Onkel Icok mit seiner Frau Leja und ihren zwei jüngsten Töchtern. (Icoks ältestes Kind, der 24-jährige Ze’ev [mit dem Geburtsnamen Wolf], befand sich bereits für drei Jahre zum Ingenieursstudium am Technikum in Haifa, und die Zweitälteste, Ruchela, 21 Jahre alt, wohnte mit ihrem Verlobten in Warschau.) Die jüngeren Kinder saßen auf Decken, die im Laderaum der Lastwagen über große Kisten gelegt worden waren. Chaja und Berek waren auf der mittleren Sitzbank zwischen Kartons mit Eiern eingeklemmt. Als Chaja sich über die Unbequemlichkeit der Lage beschwerte, warf ihr Fejge einen scharfen Blick aus ihren blauen, hervortretenden Augen zu und sagte kühl: „Jetzt ist Krieg, da ist alles anders.“ Lebhaft erinnerte sich Regina an diese Worte und an den starren Blick ihrer Großmutter.
Die Lastwagen rollten durch das große Metalltor mit der Aufschrift BROWAR PAROWY BRACI TEITEL („Dampfbrauerei Gebrüder Teitel“). Dann bogen sie links auf die Borkowska-Straße ab, dann nach rechts, dann wieder nach links in Richtung Białystok. Ihr Zuhause sollten sie niemals wiedersehen.
Obwohl Regina (inzwischen Riwka) und bis zu einem gewissen Grad auch ihre Cousine Emma (inzwischen Noemi) sich als hervorragende Informationsquellen erwiesen, suchte ich doch weiterhin verzweifelt nach der Zeugenaussage, die mein Vater dem polnischen „Informationszentrum Ost“ in Jerusalem gegeben hatte und die in Henryk Grynbergs Buch Kinder Zions fehlt. Ich ging davon aus, dass man einen Fünfzehnjährigen – denn so alt war Hannan, als er in Palästina ankam – beinahe sicher interviewt haben würde. Aber seine Aussage ließ sich nirgends aufspüren. Mehrmals habe ich intensiv danach gesucht, aber ich fand sie nicht – zuerst im Archiv der Hoover Institution an der Stanford University, wo ich dafür auf Hunderte andere Zeugenaussagen in polnischer Sprache und Tausende Dokumente zur polnischen Exilregierung stieß, darunter auch auf eine Aktenmappe, die einen kleineren, blauen Ordner mit Davidstern in der rechten oberen Ecke enthielt, dessen Bedeutung mir nicht klar war. Auch im Sikorski-Archiv in London fand ich die Aussage meines Vaters nicht, und auch nicht im United States Holocaust Memorial Museum in Washington oder in der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem.
Und dann fand ich sie doch – oder vielmehr fand sie mich – an einem verschneiten Winternachmittag in Boston. Ich war auf einer Konferenz und hörte mir gerade eine Reihe von Beiträgen zu dem Thema „Kinderberichte über Kriegserlebnisse“ an, als eine der Vortragenden begann, aus der Aussage eines fünfzehnjährigen Jungen namens „Chananja Teitel“ vorzulesen, der seine Mutter als „eine Frau von paarundvierzig Jahren“ beschrieben hatte, „die an der Universität in Jekaterinoslaw ihren Abschluss gemacht“ hatte. Die zitierte Aussage war das hauptsächliche Textbeispiel in ihrem Vortrag, der sich mit „Beschreibungen der Eltern in Kinderkriegsberichten“ befasste. An die folgenden Referate in diesem Konferenzteil kann ich mich nur noch schemenhaft erinnern.
Die Referentin, der ich diese unglaubliche Überraschung verdankte, die Historikerin Eliyana Adler von der University of Maryland, erklärte mir hinterher, dass sie die Zeugenaussage meines Vaters im Ginsach Kiddusch Haschem gefunden hatte, dem „Archiv ‚Heiligung des Namens‘“, einer winzigen, chaotischen, aber irgendwie auch faszinierenden Sammlung von Urkunden und Dokumenten, die das Herzstück der chassidischen Gemeinschaft der „Gerer“ im israelischen Bnei Berak bildet. Betrieben werde das Archiv von „Jeschiwa-Bochers“, wie sie sich ausdrückte, von jungen orthodoxen Gelehrten also, „die einer Frau nicht in die Augen sehen“. Die Zeugenaussage meines Vaters, sagte sie mir, sei eine von nur ganz wenigen dort vorhandenen gewesen, die nicht auf Polnisch, sondern auf Jiddisch gemacht worden waren. Auch sie hatte allerdings keine vollständige Fassung der Aussage, sondern nur eine Zusammenfassung, da das Archiv kein Kopiergerät hatte und seine Bestände auch nicht an Forscher, sondern nur an Familienangehörige aushändigte. Gleich am selben Abend schrieb ich eine E-Mail in hebräischer Sprache an das Ginsach Kiddusch Haschem in Bnei Berak, in der ich mich als Chananja Teitels Tochter vorstellte. Und schon am nächsten Morgen fand ich eine Antwort in meinem Postfach, im Anhang ein Foto von acht vergilbten Textseiten. Die Überschrift war mit einer Schreibmaschine in hebräischen Buchstaben geschrieben, aber ich sah gleich, dass es Jiddisch war: „PROTOKOL NUM. 26: fon [sic] Khanina Taytel“.1
Wie ich herausfand, als ich bei meinem nächsten Besuch in Israel das anheimelnde kleine Archiv besuchte, das in einer Jeschiwa der Gerer Chassidim untergebracht ist, war die Zeugenaussage meines Vaters aus dem Besitz von David Flincker dorthin gelangt – jenes polnisch-jüdischen Journalisten, der ihn befragt hatte. Ich wusste weder weshalb noch wie Flincker, Sprössling einer Gerer Chassidenfamilie und vormaliger Herausgeber der Warschauer jüdischen Tageszeitung in polnischer Sprache Echo Żydowskie („Jüdisches Echo“) sowie des jiddischen Togblat, dazu gekommen war, in Jerusalem im Auftrag des polnischen Informationszentrums meinen Vater zu befragen. Und ich fragte mich auch, weshalb ausgerechnet seine Befragung – im Gegensatz zu den Interviews der meisten anderen „Kinder von Teheran“ – auf Jiddisch geführt worden war. (War das ein kleiner Akt der Rebellion vonseiten Hannans, um zu zeigen, dass er jetzt in einem anderen Land war, andere Loyalitäten galten? Oder war es ganz einfach Flinckers Sprache der Wahl gewesen?) Jedenfalls war ich aber ganz begeistert, und immer wieder auch überrascht, als ich das jiddische Gesprächsprotokoll zu lesen begann. Der Text war gespickt mit geistreichen Bemerkungen und Redensarten – etwa es hat geholfen vi a toydten bankes („es war so hilfreich wie einen Toten zu schröpfen“, sprich: es hat überhaupt nichts gebracht) –, die so ganz anders waren als der lapidare, ja lakonische Stil, den mein Vater im Hebräischen gepflegt hatte.
PROTOKOLL NUMMER 26
GINSACH KIDDUSCH HASCHEM
ZEUGEN-AUSSAGE VON CHANANJA TEITEL, 15 JAHRE ALT,
GEBOREN IN OSTRÓW MAZ., SOHN VON ZINDEL TEITEL, EIGENTÜMER DER
BIER-BRAUEREI IN OSTRÓW MAZ.
Nach Israel gekommen 1943 aus Russland über Teheran
Erster Absatz:
Am sechsten Tag nach Kriegsausbruch, noch bevor die Deutschen zu uns nach Ostrów Mazowiecka hineingekommen sind, sind wir – mein Tate, Mame, ich und ein kleines Schwesterl – aus der Stadt geflohen. Da war die Panik schon groß. Die Wege waren voll mit Flüchtlingen. Mein Tate, Zindel Teitel, ist in der Stadt ein Nagid gewesen [ein wichtiger Mann]. Er hat dort eine Brauerei gehabt und war mit allen Juden und Gojim bekannt und hatte deshalb mehr noch zu fürchten als andere. Wir sind geflohen, wohin es nur ging.
Hannans Vater und sein Onkel Icok lenkten die beiden Lastwagen in Richtung des rund hundert Kilometer östlich von Ostrów gelegenen Białystok. Auf den Landstraßen waren bereits Pulks von Flüchtlingen unterwegs, die von panischen Soldaten der polnischen Armee immer wieder an den Fahrbahnrand gescheucht wurden, damit polnische Panzer und andere Armeefahrzeuge vorbeifahren konnten. Dreizehn Tage zuvor hatte ein geheimes Zusatzprotokoll zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt („Hitler-Stalin-Pakt“) Polen zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion aufgeteilt – „für den Fall einer territorial-politischen Umgestaltung“, wie es verhüllend hieß. Die deutsche 3. Armee, die am 1. September von Ostpreußen aus in Polen eingefallen war, war seitdem in nördlicher Richtung auf Masuren vorgerückt, und die Mordkommandos der ihnen zugeteilten „Einsatzgruppe“ – paramilitärische Verbände unter Leitung der SS – hatten bereits begonnen, entlang des Weges „reichs- und deutschfeindliche Elemente“ – Zivilisten, Polen und Juden – in Massen zu erschießen.
Die Teitels steckten fest. Entlang der Hauptverkehrsstraße von Warschau nach Białystok hatten die Wojska Lądowe, die polnischen Landstreitkräfte, begonnen, Ostrów und andere Städte im Osten des Landes zu umringen und abzusperren, während die Piloten der deutschen Luftwaffe ihre Bomben sowohl auf sie als auch auf die Flüchtlingskolonnen abwarfen, wobei unzählige Menschen getötet und verwundet wurden. Auf der voranbrandenden Flüchtlingswelle, die in Gestalt Hunderter und Tausender einzelner Leiber nach Osten strömte, kräuselte sich die Panik. Würde sie jetzt schon brechen, nur wenige Tage nach dem Ausbruch des Krieges? Die Aussagen anderer Kinder waren detaillierter als die eher knappe Darstellung Hannans:
„Tag für Tag bombardierten [die Deutschen] unsere Stadt, also luden wir unsere Sachen auf ein Fuhrwerk und fuhren los, aber gleich vor der Stadt beschlagnahmten [polnische Soldaten] unser Fuhrwerk für das Militär, und wir mussten zu Fuß gehen, die Bündel auf dem Rücken. Die Soldaten vertrieben uns von der Landstraße, sie behaupteten, unsere Bündel dienten den deutschen Flugzeugen als Zeichen. Um ein Uhr nachts kamen wir endlich in Bochnia an. Am Morgen waren wieder Flugzeuge im Anflug. Sie kamen tief herunter, warfen Brandbomben und feuerten aus Maschinengewehren. Wir versteckten uns in einem eingestürzten Haus. Als es ruhiger geworden war, kaufte mein Vater ein Pferd und einen Wagen, und wir fuhren weiter, aber wir wussten nicht wohin, denn wo wir auch ankamen, gleich waren wieder Deutsche da, als würden sie uns verfolgen.“2
Von Anfang an schienen mir die „Palästina-Protokolle“ eine ganz andere Geschichte des Holocaust zu erzählen, als man sie gemeinhin kennt: nicht eine Geschichte des Überlebens hinter Stacheldraht, im Bannkreis jener so perversen wie unerbittlichen Logik der Vernichtungslager, sondern stattdessen die Geschichte von Menschen, die aus der vermeintlichen Sicherheit ihres Zuhauses gleichsam hinausgespien wurden in die ungeheure Weite einer verelendeten und zugleich erbarmungslos gefährlichen Welt. Eine Geschichte, die mit ihrer Flucht begann.
„Am Freitag, dem 1. September, brach eine Panik aus. Polen, Juden, jeder, der konnte, flüchtete in Richtung Lwów. Vater wollte nicht fliehen, wie soll man sich auch mit sechs Kindern und ohne Geld auf die Wanderschaft machen? … Aber als es hieß, die Deutschen stehen schon in Podhajce und der letzte Zug geht ab, änderte Vater seinen Entschluss. Im Zug war ein schreckliches Gedrängel, man konnte weder sitzen noch stehen, man lief über Leute hinweg, trampelte auf Kindern herum. Auf jeder Station kamen neue Passagiere dazu, und es gab Schlachten zwischen den Hinzugekommenen und denen, die vorher da waren. Immer wenn Flugzeuge auftauchten, hielt der Zug an, und die Leute trampelten sich gegenseitig nieder und sprangen hinaus, um in den Gräben in Deckung zu gehen. Wenn ein Angriff vorbei war, drängte man sich wieder in den Zug, man verlor seine Familie und seine Sachen. Die ganze Zeit hörte man das Geschrei von Bestohlenen, das Weinen von Kindern und Rufe. Auf diese Weise fuhren wir zwei Tage und zwei Nächte nach Lwów.“3
In manchen Punkten wichen die Berichte der Kinder voneinander ab, aber selbst in den Details stimmten sie meist überein. Bei allen war die Erinnerung an die ersten Tage ihrer Flucht viel lebhafter als alles, was noch folgen sollte.
*
Als ich Regina befragte, war ihr eine Episode ganz besonders im Gedächtnis geblieben: wie Hannan in Małkinia Górna, wo die Familie die erste Nacht ihrer Flucht verbrachte, einen deutschen Bombenangriff verschlief, durch den das Dach der geschlossenen Terrasse einstürzte, auf der sie Zuflucht gesucht hatten. Es war eine typische Anekdote, denn etliche andere ehemalige Flüchtlinge, die ich interviewt habe, erzählten mir ganz ähnliche Geschichten – von Momenten einer befreienden Komik oder in denen sie noch einmal Glück gehabt hatten; von schicksalhaften Entscheidungen, die zum Guten führten; von Augenblicken, in denen ihre Eltern einen Entschluss fassten (selbst wenn es ein schlechter Entschluss war) oder die Initiative ergriffen, anstatt sich nur umherstoßen zu lassen. Ich konnte mir vorstellen, dass sie schreckliche Angst gehabt haben mussten. Vor dem Krieg hatte Hannan nur eine einzige Nacht seines Lebens außerhalb von Ostrów verbracht: als ihm in Warschau die Mandeln herausoperiert worden waren. Regina hatte in ihrem Leben kaum je das Brauereigelände verlassen. Und jetzt wurden sie mit einem Mal in die weite Welt hinausgetrieben auf ihrer hastigen Flucht vor der anrückenden Wehrmacht.
Während der gut zwei Wochen, die zwischen der Nazi-Invasion am 1. September 1939 und der sowjetischen Invasion am 17. September verstrichen, drangen deutsche Soldaten auch in Städte und Dörfer ein, die nach den Bestimmungen des Hitler-Stalin-Paktes an die Sowjetunion fallen sollten. Sie erniedrigten die Einwohner und plünderten ihren Besitz, verstümmelten manche und töteten andere unter dem Gebrüll von Parolen wie „Marsch zu euren roten Brüdern!“ – nur um sich dann, einige Tage später, wieder zurückzuziehen. In Ostrów, berichtete ein Kind in seinem „Protokoll“, verhafteten deutsche Soldaten vollkommen willkürlich seinen achtzehnjährigen Bruder, den sie zusammen mit anderen Gefangenen in eine nahe gelegene Kaserne der polnischen Armee brachten, wo sie drei Tage und drei Nächte lang ohne Wasser oder Nahrung reglos auf dem Hof im Schlamm knien mussten. Wer sich bewegte, wurde erschossen. Am vierten Tag erhielten die Überlebenden den Befehl, ein Stück Landstraße zu pflastern. Erst am fünften Tag gab man ihnen ein wenig Wasser und Brot und ließ sie dann gehen.4 In anderen Zeugenaussagen berichten Kinder, wie religiösen Juden die Bärte „mit ganzen Hautstücken“ ausgerissen wurden; alte Leute gezwungen wurden, stundenlang mit erhobenen Händen vor ihren Häusern zu stehen; die Heiligen Schriften aus den Synagogen geworfen und in den Dreck getreten wurden; wie Menschen gezwungen wurden, andere – darunter ihre engsten Angehörigen – mit Benzin zu übergießen, damit sie lebendig verbrannt werden konnten.5
Ich wusste nicht, welche Grausamkeiten mein Vater von den Deutschen erlitten oder miterlebt hatte – in seiner Zeugenaussage erwähnt er nichts dergleichen, und so redete ich mir ein, dass er wohl früh und schnell genug geflohen war, um dem Grauen irgendwie zu entgehen. Doch das war er nicht. In den ersten Kriegstagen hatte der junge Hannan, wie ich einige Jahre nach Beginn meiner Nachforschungen von dem Jerusalemer Gynäkologen Yuval Bdolach erfuhr, miterlebt, wie in Ostrów eine ganze Familie ermordet worden war – eine Mutter mit ihren vier Töchtern. Die Frau, Chana Weiss, war Dr. Bdolachs Großtante gewesen. „Als Ihr Vater 1943 in Jerusalem angekommen war“, erzählte er mir, „hat er meiner Großmutter berichtet, wie man ihre Schwester und ihre Nichten getötet hatte. Ihr Vater hat alles aus nächster Nähe mit angesehen; er war der einzige Zeuge, von dem wir wissen.“
Die deutschen Fieseler-Bomber ließen sich von den veralteten polnischen Jagdflugzeugen nicht abhalten, die auf gut Glück – aber wenig erfolgreich – nach ihnen schossen, und nahmen auch weiterhin im Tiefflug die Flüchtlingskolonnen unter Beschuss. Binnen Wochen war die Hälfte der polnischen Luftwaffe außer Gefecht gesetzt, und die andere Hälfte hatte sich nach Frankreich zurückgezogen. Kurz darauf trat auch der Großteil der polnischen Kriegsmarine und Infanterie den Rückzug an oder stieß zu den Truppen der Alliierten. Nachdem die Soldaten fort waren, verblieben auf den Landstraßen im Nordosten Polens nur noch die Scharen von Zivilisten, die aus ihren Heimatorten geflüchtet waren. Immer neue Wellen von Flüchtlingen spülten die Leichen der Ermordeten – wie Chana Weiss und ihre Töchter – an den Wegesrand. Jiskor-Bücher und Gedenksteine sind an eine Stadt, eine Nation, einen bestimmten Ort gebunden; an die Menschen, die auf dem Weg von einer Stadt in die andere, von einem Land in das nächste sterben, erinnern sie nicht. Kein Gedenkstein vermerkt den Tod der Weiss-Mädchen und ihrer Mutter, genauso wenig wie den Tod jener unzähligen anderen, die in den ersten Kriegswochen entlang der hundert Kilometer langen, von Flüchtlingen verstopften Landstraße zwischen Ostrów und Białystok ihr Leben ließen.
Rund 1,5 Millionen polnische Juden – fast die Hälfte der gesamten jüdischen Bevölkerung Polens, dazu noch katholische Polen, Litauer und Angehörige anderer Minderheiten – befanden sich am Ende der ersten Kriegsmonate auf sowjetischem Territorium, sei es, weil sowjetische Truppen ihre Heimatorte besetzt hatten, sei es weil sie – wie die Familie Teitel – vor der nahenden Wehrmacht nach Osten geflohen waren.
Nachdem sie die Grenze zur Sowjetunion passiert hatten, beschlossen Zindel und Ruchela Teitel, sich mit ihren Kindern vom Rest der Familie zu trennen, der in Richtung Białystok weiterfahren wollte, und stattdessen den Weg nach Siemiatycze einzuschlagen, wo Ruchela aufgewachsen war. Ruchelas Mutter, Esthera Averbuch, und ihr jüngerer Bruder Daniel lebten noch immer dort und führten einen kleinen Textilhandel. Ruchelas ältere Schwester, Mascha Halberstadt, hatte geheiratet und wohnte mit ihrem Ehemann und zwei Kindern ganz in der Nähe. Siemiatycze hatte zum russischen Zarenreich gehört, dann zur Sowjetunion und war schließlich, im Jahr 1921, Teil der Republik Polen geworden. Und nun sollte es – nach einer kurzen, aber umso grausameren Besetzung durch deutsche Truppen vom 11. bis zum 13. September 1939, wiederum in sowjetische Hände fallen.
Am 15. September brach die polnische Verwaltung in Siemiatycze zusammen. Am 17. September rückte die Rote Armee in die Stadt ein. Bis Ende September war die gesamte Verwaltung, waren alle Schulen und sonstigen öffentlichen Einrichtungen vollständig sowjetisiert, während die Stadt sich zugleich mit Tausenden von Flüchtlingen füllte, was ihre Einwohnerzahl innerhalb der ersten Kriegsmonate auf das Dreifache ansteigen ließ. Dieses Schicksal teilte Siemiatycze mit so gut wie allen Städten im Grenzgebiet, die vor Kurzem noch polnisch gewesen und jetzt an die Sowjetunion gefallen waren.
An einem schönen, frischen Junimorgen – es war der Tag nach unserem Besuch in Ostrów – machten Salar und ich uns im Fond eines Taxis auf den Weg, um die Strecke nachzufahren, auf der die Familie Teitel von ihrer Heimatstadt nach Siemiatycze gekommen war. Wir brauchten anderthalb Stunden. Sie waren damals tagelang unterwegs gewesen. Auf der Strecke war ihnen das Benzin ausgegangen und sie hatten den Chevrolet-Lastwagen zurücklassen müssen. Stattdessen fuhren sie mit einem Pferdefuhrwerk weiter, für das Zindel notgedrungen ein Vermögen gezahlt hatte. (Momen un domem, sagte mein Vater später bei seiner Zeugenaussage, um den maßlos überhöhten Kaufpreis zu beschreiben – eine talmudische Wendung für eine Unsumme: „Gut und Blut“.) Auch mussten sie einen großen Teil ihrer Habe zurücklassen. Kaum zwei Wochen nach ihrer Flucht war ihnen nicht mehr geblieben als ein großer Koffer, ein Kochtopf mit Zubehör, vier Pelzmäntel, eine große Daunendecke, etwas Bargeld, ihr Schmuck, Uhren und Dokumente. Jetzt waren sie endgültig zu Flüchtlingen geworden, ihr altes Leben war vergangen wie die Blume auf dem Feld.
*
Anders als in Ostrów gibt es in Siemiatycze durchaus noch Spuren der jüdischen Vergangenheit: Auf der langen heruntergekommenen Einkaufsstraße der Stadt finden sich hier und da noch Ladenschilder in jiddischer Sprache; die elegante Synagoge aus dem 18. Jahrhundert ist heute ein Gemeindezentrum, das auch eine etwas befremdliche „Ausstellung“ zum jüdischen Leben in der Stadt beherbergt: eine Kippa und ein Schofarhorn; es gibt einen jüdischen Friedhof, auf dem einige Grabsteine noch erhalten sind und der auf Kosten einer „Familie Gutman aus Florida“ instand gesetzt wurde, und betagte polnische Anwohner des Friedhofsgeländes, die gern davon erzählten, wie sie einst von den Fenstern ihrer Häuser aus den jüdischen Trauerzügen zuschauen konnten. Einer Volkszählung aus dem Jahr 1921 zufolge stellten die Juden vor dem Zweiten Weltkrieg ganze 61 Prozent der Einwohnerschaft von Siemiatycze, einem Städtchen mit rund 5000 Einwohnern.
Hannan zog also mit seiner Schwester und den Eltern in die ohnehin schon enge Wohnung über der Textilhandlung Averbuch ein, wo sie mehrere Monate lang blieben. Bis zum Januar 1940 hatten die Russen auf dem Marktplatz der Stadt eine Leninstatue aufgestellt; eine nächtliche Ausgangssperre verhängt; die allgegenwärtigen Kreuze durch rote Sterne ersetzt; Fotos von polnischen Politikern durch Fotos von sowjetischen Politikern ersetzt und die lateinische Beschriftung auf den Straßenschildern durch kyrillische. Sie ließen Transparente mit pro-sowjetischen Parolen aufhängen und ersetzten den polnischen Złoty durch den russischen Rubel im Verhältnis von eins zu eins. Sie erließen Handelsbeschränkungen, legten Höchstpreise fest und verboten Hamsterkäufe – Maßnahmen, mit denen nicht nur die Einwohner der Stadt, sondern genauso die Soldaten der Roten Armee zur Mäßigung gebracht werden sollten, denn diese waren ausgehungert und schlecht gekleidet. Die gut gefüllten Schaufenster von Siemiatycze erschienen den Rotarmisten nur zu verlockend, und so schlugen sie sich anfangs maßlos die Bäuche voll.
Aus Kauf wurde Diebstahl, dann Beschlagnahme und schließlich Enteignung, die Privatfirmen und vormals polnische Staatsbetriebe gleichermaßen traf. Auch die Textilhandlung Averbuch blieb nicht verschont. Binnen weniger Monate war den meisten Einwohnern von Siemiatycze die Lebensgrundlage weggebrochen, ganz gleich, ob sie nun Bauern waren oder Kleinhändler, so wie Ruchelas Familie. Ruchelas ältere Schwester Mascha war zusammen mit ihrem Ehemann Yosef Halberstadt und ihren Kindern Sarah und Hannania, die jeweils etwas älter waren als mein Vater und seine Schwester Regina, aus ihrem Wohnort Siedlce entkommen, den die Deutschen nun besetzt hielten, und zog mit ihrer ganzen Familie ebenfalls in die winzige Wohnung der Großmutter in Siemiatycze ein. Dann jedoch beschlagnahmten die sowjetischen Besatzer das Haus und vertrieben alle drei Familien – Averbuch, Halberstadt und Teitel – in ein nahe gelegenes Dorf. Ihre Möbel und all ihr sonstiges Hab und Gut mussten sie in den überfüllten Räumlichkeiten zurücklassen, die fortan von der Roten Armee genutzt wurden.
Zindel beschloss, dass sie sich auf den Weg nach Kowel machen würden, einer wesentlich größeren, fast 300 Kilometer südöstlich von Siemiatycze gelegenen Industriestadt. Diesen Beschluss fasste er allein, ohne Rat einzuholen oder andere in sein Vorhaben einzuweihen. Damit verhielt er sich noch immer so, wie es auch zwei Monate zuvor seine Angewohnheit gewesen war: „Mein Tate … hat gewollt, dass wir still sind, und ist auch selbst mit keinem Wort herausgerückt“, sollte Hannan später zu Protokoll geben. Bevor sie aufbrachen, und trotz aller Spannungen und allen Elends, feierten sie noch Hannans Bar Mizwa. Sie leerten die letzte Flasche Teitel- Bier, die sie auf ihre Flucht mitgenommen haben, sangen gemeinsam, und mein Vater trug seine alijah vor, den „ersten Tora-Aufruf “, für den er zu Hause in Ostrów monatelang geübt hatte. Als die Kinder am nächsten Morgen aufwachten, wartete bereits ein Pferdegespann auf sie, das die ganze Familie nach Kowel bringen sollte. Dort trafen sie, inmitten einer wahren Flutwelle von anderen Flüchtlingen, Mitte April 1941 ein.
In Kowel war die Lage, wie sich zeigte, noch schlimmer als in Siemiatycze. Ganze Fabriken waren demontiert und ins Innere des Sowjetreiches abtransportiert worden; auch die meisten fertigen Produkte – von Möbeln über Lebensmittel bis hin zu Krankenhaus- und Schulausstattungen, überhaupt alles irgendwie Nützliche – war ebenfalls weggeschafft worden. Die Warteschlangen vor den größtenteils leeren Geschäften, deren Erwähnung in keinem Flüchtlingsbericht aus jener Zeit fehlen darf, zogen sich um ganze Häuserblocks. Insbesondere vor den Lebensmittelgeschäften kam es unter den Wartenden immer wieder zu blutigen, ja sogar tödlichen Auseinandersetzungen. Dem entging Zindel, indem er, wann immer es möglich war, seine Einkäufe auf dem Schwarzmarkt erledigte. „Eine Arbeit, von der man hätte leben können, hat es in Kowel nicht gegeben“, berichtete Hannan später.
Und dabei ist noch jeden Tag die Teuerung gewachsen. … Vor den Geschäften hat man gestanden den ganzen Tag in den „Ogonken“ [von poln. ogonek, „Warteschlange“] und ganz oft ist man wieder weg, wie man gekommen ist, mit leeren Händen. Die Verbitterung, unter den Juden wie unter den Polen, ist gestiegen. Insgeheim hat man schon leis gejammert, aber aus Bange kein lautes Wort gesagt. … Das bissel Geld, das wir von daheim mitgebracht hatten und von dem wir die ganze Zeit gelebt hatten, hat angefangen auszugehen, und Aussicht auf Besserung war auch keine.
Die Fragen, die Mitarbeiter des polnischen „Informationszentrums Ost“ an Hannan und die anderen aus Polen stammenden Flüchtlinge in Jerusalem, im Iran und anderswo richteten, um deren Aussagen zu sammeln, bezogen sich fast ausschließlich auf den entbehrungsreichen Alltag unter sowjetischer Besatzung. Wie ich später herausfinden sollte, war dies nicht ohne Grund so: Es sollte eine belastende Dokumentation geschaffen werden, mit der die sowjetischen Vergehen an polnischen Bürgern zweifelsfrei belegt werden konnten, um die Errichtung eines bolschewistischen polnischen Staates nach dem Krieg zu verhindern. Doch gingen die Zeugenaussagen über ihren ursprünglichen Zweck hinaus. Sie erlaubten Einblicke in die Lebens- und Gefühlswelt Einzelner („Mein Tate … ist herumgelaufen wie depressiv“) und ließen sogar das spannungsreiche Miteinander von Juden und Polen erkennen, das die Mitarbeiter des „Informationszentrums Ost“ ja gerade im bestmöglichen Licht präsentieren wollten. Daher scheint klar, dass die Zeugenaussagen nicht – oder zumindest nicht tiefgreifend – redigiert oder gar zensiert wurden.
Aus dem Protokoll von der Befragung meines Vaters geht die unaufhaltsame Zerrüttung seines eigenen Vaters hervor. Zindel war letztlich nicht in der Lage, sich an die neue Situation anzupassen, und sein Herkunftsmilieu, seine Fertigkeiten und seine Weltanschauung standen im direkten Gegensatz zu der Art von Durchtriebenheit und Raffinesse, die in der gegenwärtigen Lage von Nutzen gewesen wären. Er hatte weder Beziehungen zu den Kommunisten noch zu den Bundisten – den Anhängern der jüdischen Arbeiterbewegung –, ja er empfand vielmehr eine tiefe Abneigung gegen beide. Seine gute Kleidung und seine feinen Manieren waren nun eher ein Nachteil für ihn, brandmarkten sie ihn doch als „Bourgeois“ und damit als ein potenzielles Opfer für die kommunistischen Milizen in der Stadt. „Mein Tate, der das Spekulieren nicht gewohnt war und hat auch nicht können müßiggehen, ist herumgelaufen wie depressiv [a dershlagener]“, erinnerte sich Hannan. „Immer hat er gewollt, dass wir still sind, und ist auch selbst mit keinem Wort herausgerückt.“ „Unsere Mutter war diejenige, die von da an ‚funktionierte‘“, berichtete mir meine Tante Regina, und doch kommt Ruchela, die fließend Russisch sprach, im Bericht meines Vaters kaum vor.
Mitte November 1939 erhielt Zindel einen aufmunternden Brief „von der anderen Seite des Flusses Bug, wo die Deutschen waren und wo mein Tate sein ganzes Vermögen gehabt hat“, wie es in Hannans Bericht heißt. Ein Onkel aus der Gegend von Sokołów Podlaski, einer Kleinstadt südöstlich von Ostrów, berichtete den Verwandten in Kowel, dass „die [Hohen] Feiertage bei ihm ohne alle Schwierigkeiten verlaufen waren“ – selbst unter deutscher Besatzung im neu errichteten „Generalgouvernement für die besetzten polnischen Gebiete“. Daraufhin erwog Zindel, mit seiner Familie nach Ostrów zurückzukehren. Also gingen die Teitels zunächst zurück nach Siemiatycze, und als dort Plakate auftauchten, mit denen alle Rückkehrwilligen aufgerufen wurden, sich für ihre Wiedereinreise in das Generalgouvernement bei einer örtlichen Regierungsstelle registrieren zu lassen, wurden die Pläne der Familie für eine Heimkehr immer konkreter.
„Vielleicht wird es uns irgendwie gelingen, über die Grenze zu kommen“ und zurück in das deutsch besetzte Polen, so schilderte später Hannan seinen damaligen Blick in die Zukunft.
*
Von Siemiatycze fuhren Salar und ich weiter nach Białystok, auf der Straße, der mein Großvater dann doch nicht gefolgt war, anders als sein Bruder Icok mit Familie, die gemeinsam mit Zindel und den Seinen aus Ostrów geflohen waren. In dem hübschen, verschlafenen, aber auch irgendwie nichtssagenden Städtchen Zambrów, das Salar und ich unterwegs passierten, trennten sich die beiden Familien hastig und schlugen – jede in ihrem eigenen Lastwagen – getrennte Wege ein. Zindel fuhr nach Süden in Richtung Siemiatycze, Icok nordwärts nach Białystok. Die beiden Brüder sollten sich nie mehr wiedersehen.
Eigentlich war es für die Ostrówer Teitels nur logisch, sich bei Kriegsausbruch in Richtung Białystok zu orientieren. Schließlich war es nicht nur die größte Stadt im polnischen Nordosten, noch dazu mit einer jüdischen Bevölkerungsmehrheit (bei einer Volkszählung im Jahr 1897 hatten sich von 66 000 Einwohnern ganze 41 900 als Juden bezeichnet, 1939 gab es etwa 51 000 Juden in der Stadt); sondern zur jüdischen Oberschicht von Białystok, ebenso wohlhabenden wie selbstbewussten Händlern und Kaufleuten, gehörten auch etliche Kunden der Brauerei Teitel, die in der Stadt eine Niederlassung betrieb. Białystok war ein Zentrum des Zionismus und des jüdischen Lebens überhaupt: Es gab die Scholem-Alejchem-Bibliothek mit ihren mehr als 20 000 Bänden in jiddischer Sprache, eine wunderschöne Chorsynagoge und nicht zuletzt das Hebräische Gymnasium, an dessen Gebäude Salar und ich auf unserem Stadtrundgang vorbeikamen – heute residiert dort ein Versicherungsunternehmen. Eine wirkliche Schönheit war diese Stadt, eine Perle des alten Mitteleuropa, deren Aura uns sofort in ihren Bann geschlagen hatte, als wir am frühen Nachmittag in das Zentrum hineingefahren waren: Auf den eleganten Bauten im neoklassizistischen Stil lag goldenes Sonnenlicht, die Straßen und die Cafés waren voller Menschen.
Unsere ortskundige Führerin in Białystok, Lucia (Lucy) Gold, eine zierliche, blonde Kettenraucherin, mit der wir uns am Hotel Branicki treffen wollten, war eine Vertreterin des jüdischen Kulturvereins in der Stadt. Tatsächlich war sie gewissermaßen dieser Kulturverein, wie sie uns selbst sagte, denn schließlich kämpfe sie auf eigene Faust dafür, das großartige jüdische Erbe von Białystok zu erhalten und vor dem Vergessen zu bewahren. Wie unser Begleiter in Ostrów, Krzysztof „Kris“ Malczewski, und wie beinahe alle anderen Jüdinnen und Juden, die wir in Polen kennenlernten, hatte zwar Lucy nur ein jüdisches Elternteil, gehörte damit aber dennoch zu der verschwindend kleinen Gruppe jüdischer Polen, die nicht nur den Zweiten Weltkrieg in Polen überlebt hatten (oder dorthin zurückgekehrt waren), sondern auch die antisemitischen Wellen der späten 1950er- und der 1960er-Jahre. Anders als Krzysztof jedoch gab sich Lucy auch offen und öffentlich als Jüdin zu erkennen – vielleicht lag es ja daran, dass sie alles in allem weniger aufgekratzt, vorsichtiger und zurückhaltender, ja sogar ein wenig depressiv wirkte; an der Tür zu ihrem Büro, erzählte sie uns bei unserem Stadtrundgang mit gesenktem Blick und einem müden Lächeln, musste sie regelmäßig Hakenkreuz-Schmierereien entfernen. Am Tag unserer Ankunft ging in der Stadt gerade ein jüdisches Kulturfestival zu Ende, das Lucy organisiert hatte, mit jüdischem Essen, jüdischen Büchern, jüdischer Musik. Den großen Abschluss bildete das überaus gut besuchte Konzert einer Punkband aus Israel. Als die über und über tätowierten Musiker anschließend zu Lucy kamen, um sich von ihr zu verabschieden, trat ein sanftes Leuchten in ihre Augen.
Bei unserem Gang durch Białystok wurde bald klar, dass hinter jeder lichten Ecke, hinter jeder sonnenüberströmten Fassade an den elegant-großzügig angelegten Boulevards der Stadt eine ebenso reiche wie düstere Geschichte schlummerte. Das verführerische Kaffeehaus Wiener Art am Kościuszko-Platz – dessen Kaiserschmarrn und Apfelstrudel uns schon vor dem Schaufenster das Wasser im Mund zusammenlaufen ließen, bevor wir sie uns dann drinnen schmecken ließen – befand sich an genau der Stelle, wo deutsche Einsatzgruppen weniger als zwei Jahre nach Großonkel Icoks Eintreffen in der Stadt Hunderte von Juden erschossen hatten. Aber an dem ganz normalen, ein wenig verträumten Nachmittag im Juni 2012, als wir dort einkehrten, erinnerte nichts an das schreckliche Verbrechen, das die Nazis hier verübt hatten – und nichts erinnerte an die Flüchtlingskrise vom Oktober 1939, als Icok Teitel und die Mitglieder seiner Familie – darunter auch Hannans Großmutter Fejge und seine Cousine Emma, die nach dem Ausbruch des Krieges nicht mehr zu ihren Eltern nach Warschau zurückgelangen konnte – in Białystok ankamen.
Białystok veränderte sich unter sowjetischer Besatzung sogar noch dramatischer als Siemiatycze oder Kowel. Binnen weniger Monate war seine jahrhundertealte Textil- und Lederindustrie vollständig zerlegt und in Richtung Osten abtransportiert worden. Überall in der Stadt lagen große Haufen von Schutt und Abfall, für den sich niemand mehr verantwortlich fühlte, während unzählige Flüchtlinge so lange in die Stadt strömten, bis sie nur noch hineingeschmuggelt werden konnten:
„Als wir in Białystok einfuhren, war die Stadt mit Flüchtlingen überfüllt, und wir bekamen gerade noch einen Winkel in der Schule.
In Białystok war es nicht einfach, ins Bethaus zu kommen, das mit Flüchtlingen überfüllt war, die keine Neuen mehr hineinlassen wollten. Zum Glück trafen wir dort ein paar Bekannte.
In Białystok vagabundierten wir auf den Straßen herum, ehe wir einen Winkel im überfüllten Bethaus in der Jerozolimska-Straße [„Jerusalemer Straße“] bekamen.
In Białystok gab es eine Menge Flüchtlinge, und wir konnten keine Wohnung finden, und der Säugling schrie immerzu. Meiner Stiefmutter brachen fast die Arme ab von dem ständigen Herumgetrage, und sie konnte sich kaum auf den Beinen halten. Wir gingen von Haus zu Haus, bis sich schließlich eine Frau unser erbarmte, die mit vier Personen in einer winzigen Stube wohnte, und nun waren es acht. In der Nacht schrie das Kleine, aber meine Stiefmutter hatte keine Milch.“6
Bis Anfang 1940 war Białystok zur Stadt mit dem größten Flüchtlingsaufkommen im ganzen sowjetisch besetzten Teil Polens geworden. Im Frühjahr desselben Jahres wurden die allermeisten Flüchtlinge aus der Stadt in die umliegenden Dörfer getrieben, wo die Sowjets den Landbesitz umverteilten. Man wies sie an, sich auch künftig auf mindestens hundert Kilometer von der Grenze zum deutschen Generalgouvernement fernzuhalten. Icok gelang es, in Białystok zu bleiben, aber an eine Rückkehr nach Ostrów wagte er nicht zu denken.
Vielleicht war es sein stärker ausgeprägter Geschäftssinn, der meinen Großonkel Icok sehr viel schneller als meinen Großvater Zindel zu der Einsicht brachte – unter dem Eindruck der neuen Musik, die durch die Straßen schallte; der Propagandasendungen im Rundfunk; der aufgerissenen Rasenflächen und Bürgersteige und der toten Blumenbeete, die wieder üppig blühten, als Salar und ich durch Białystok spazierten –, dass ihre Welt sich unwiderruflich gewandelt hatte. Und je eher sie sich nun anpassten, desto besser. Oder vielleicht hatte Icok sich auch nur durch den ständigen Zustrom neuer Flüchtlinge nach Białystok ein genaueres Bild von den verheerenden Lebensbedingungen im deutsch besetzten Generalgouvernement machen können. Vielleicht hatten ihm ja sogar entkommene Ostrówer Mitbürger unter Tränen von den Massenerschießungen am 11. November 1939 berichtet, bei denen fast 500 jüdische Einwohner der Stadt – Männer, Frauen und Kinder – getötet wurden? Was immer sein Beweggrund gewesen sein mag: Icok traf eine Entscheidung, die der seines Bruders Zindel genau entgegengesetzt war. Er beschloss, nicht nach Ostrów zurückzukehren. Stattdessen gab er, zusammen mit dem Rest seiner Familie, die polnische Staatsbürgerschaft auf und nahm die sowjetische an. Binnen weniger Monate wurde er zum Oberinspektor für das Brauereiwesen in der Woiwodschaft Białystok ernannt.
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„Als ich dir erzählt habe, Hannan hätte später nie vom Krieg erzählt, war das nicht ganz richtig“, sagte ich zu Salar, als wir zum Zug gingen, der uns von Białystok zurück nach Warschau bringen sollte. (Am Bahnhof warteten auch noch ein paar israelische Punkmusiker, die uns bekannt vorkamen.) Tatsächlich hatte es eine Geschichte gegeben, die mein Vater immer und immer wieder wiederholt hatte: die Geschichte von zwei Brüdern, die während des Krieges zwei unterschiedliche Entscheidungen getroffen hatten. Der eine hatte die „falsche“ Entscheidung getroffen – nämlich in das von den Nazis besetzte Polen zurückzukehren – und hatte dennoch überlebt; der andere hatte die „richtige“ Entscheidung getroffen – in der Sowjetunion zu bleiben nämlich – und war gestorben. Mir und meinen Geschwistern erzählte unser Vater diese Geschichte nicht etwa, weil er Zeugnis ablegen oder uns eine Geschichtsstunde geben wollte, sondern es ging ihm um eine harte moralische Lektion: dass unser Leben von bitterer Ironie bestimmt war, menschliches Handeln weitgehend vergeblich und rationale Entscheidungen schlicht bedeutungslos, wenn man mit den beherrschenden Mächten des Universums konfrontiert wurde. Es war eine gleichermaßen stoische wie pessimistische Philosophie, die unser Vater uns da vermittelte, und es war nicht so, dass er sie bewusst gelebt hätte – aber unbewusst hatte sie vielleicht seine Karriere gebremst oder ihn zumindest über die diversen nachteiligen (wenn auch nicht lebensgefährlichen) Entscheidungen hinweggetröstet, die er selbst in beruflicher und privater Hinsicht über die Jahre getroffen hatte.
Salar erzählte mir von den Mitgliedern seiner Familie, die den Iran rechtzeitig genug verlassen oder schon Teile ihres Vermögens ins Ausland gebracht hatten, während sein Vater geblieben war. Im Februar 1979 bemächtigten sich die Revolutionäre des Fußballclubs „Persepolis“, den Ali Abdoh in Teheran aufgebaut hatte; auch den Sport- und Fitnessclub nach amerikanischem Vorbild, den er betrieb, konfiszierten sie, zusammen mit seinem restlichen Besitz an Immobilien. Kurz darauf wurde sein Name auf eine schwarze Liste potenzieller Verhaftungskandidaten gesetzt. Im Mai stand Ali plötzlich vor den Toren des Internats im englischen Wellington, wo Salar und seine Brüder Sardar und Reza zur Schule gingen: Die Jungen sollten ihre Sachen packen, um mit ihm nach Los Angeles zu fliegen. Doch der Stress der letzten Zeit hatte ihm bereits schwer zugesetzt, und binnen Monaten erlitt er einen tödlichen Herzinfarkt. Die Abdoh-Brüder blieben allein zurück, ohne Zuhause und ohne Geld, als illegale Einwanderer, die durch die Vereinigten Staaten zogen. „Man gewöhnt sich schnell daran“, sagte Salar, als wir durch die menschenleeren, hübschen Straßen von Białystok spazierten. „Man denkt irgendwann gar nicht mehr darüber nach. Man schaut sich einfach um, schätzt die neue Lage ein und tut das Nötige, um zu überleben.“ Gab es so etwas wie den typischen „Kinderflüchtling“, fragte ich mich, der zu allen Zeiten und in allen Ländern letztlich derselbe blieb? Oder konnte man das doch nicht vergleichen – ein Überleben im Krieg, ohne Nahrung, im Land der Gestapo, mit dem Überleben im Überfluss, im Los Angeles der 80er-Jahre?
„Essen gab es genug in Amerika“, meine Salar, „aber eine ganze Zeit lang hatten wir keine Ahnung, wie wir davon etwas abbekommen sollten.“ Salar war damals ein Junge, ein Teenager. Teenager – wie mein Vater in den Kriegsjahren einer gewesen war, wie mein eigener Sohn nun einer war – sind knurrende Mägen auf zwei Beinen. Teenager sind immer hungrig. Salar und seine Brüder schlugen sich mit Gelegenheitsjobs durch, bekamen so auch etwas zu essen ab (allerdings nie genug), aber sie bekamen auf den Straßen von L. A. auch immer wieder Ärger: „Das war hart“, erinnerte Salar sich, „aber mit der Situation deines Vaters kann man es wirklich nicht vergleichen.“ Dabei war uns beiden noch gar nicht bewusst, wie viel schlimmer die „Situation“ meines Vaters im weiteren Verlauf noch werden sollte.
„Wie hat sich das anfangs angefühlt? War dir sofort klar, dass dein altes Leben, wie du es kanntest, jetzt für immer vorbei war?“, löcherte ich Salar mit Blick auf den abrupten Übergang von seinem privilegierten – wenn auch nicht gänzlich glücklichen – Dasein als reiches Perserbürschchen an einer britischen Privatschule zu einem Leben als obdachloser Teenager im Amerika der Reagan-Ära. Ich versuchte mir vorzustellen, wie lange mein Vater wohl gebraucht hatte, um die Gewohnheiten und den Habitus eines verwöhnten, standesbewussten Sprösslings aus reichem Hause abzulegen, als der er mir auf den Fotos aus Ostrów entgegenblickte. „Ich hab’s sofort begriffen“, antwortete Salar. „Wenn du mittendrin steckst, denkst du nicht darüber nach, wie mies die Lage gerade ist. Also, schon irgendwann. Aber zunächst mal musst du sehen, wie du von einem Tag zum nächsten über die Runden kommst. Ein Dach über dem Kopf brauchst du, die allernötigsten Dinge für den Alltag, solche Sachen. Aber man setzt sich nicht hin und heult, weil man alles verloren hat. Dafür hast du gar keine Zeit. Oder vielleicht ist man auch nur zu jung, um wirklich verstehen zu können, was einem da Ungeheures zugestoßen ist.“
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Als im April 1940 eine Kampagne gestartet wurde, um den Menschen in den von der Roten Armee besetzten Gebieten sowjetische Pässe aufzunötigen und sie damit zu Sowjetbürgern zu machen, zogen es Hunderttausende von Juden und anderen polnischen Staatsbürgern vor, aus dem sowjetisch besetzten in den von der Wehrmacht besetzten Teil Polens zu ziehen. Einige von ihnen misstrauten den Russen, ja sie hassten die Sowjetunion sogar mit einer Heftigkeit, die auf ohnehin hohem Niveau weiter zunahm. Andere fürchteten, dass sie durch die Preisgabe ihrer polnischen Staatsbürgerschaft auf unbestimmte Zeit in der Sowjetunion festsitzen würden wie die Mäuse in der Falle. Wieder anderen hatte das Leben auf der Flucht, hatten die immer schlechter werdenden Lebensbedingungen in den Städten entlang der Grenze derart zugesetzt, dass sie nun meinten, zu Hause müsse es doch immerhin etwas besser sein.
„Mein Vater … wollte den sowjetischen Pass nicht annehmen. Er sagte, er erstickt in der hiesigen Luft.
Mein Vater wollte den sowjetischen Pass nicht annehmen und ließ sich wie alle unsere Nachbarn aus dem Bethaus für die Rückreise nach Hause registrieren.
Mein Vater wollte den sowjetischen Pass nicht annehmen, und meine Mutter überredete ihn, dass er uns für die Rückkehr registrieren lässt, weil wir dauernd vom Hunger bedroht waren.
Meine Eltern wollten die sowjetische Staatsbürgerschaft nicht annehmen, weil sie fürchteten, sie dürften dann Russland nicht verlassen.
Mama wollte die sowjetische Staatsbürgerschaft nicht annehmen, weil es hieß, dass wir dann nie mehr Russland verlassen und Vater wiedersehen könnten.
Mein Vater sah, dass das Leben bei den Sowjets immer schwerer wurde, und beschloss, uns für die Rückreise registrieren zu lassen. Mein Vater ließ uns registrieren, weil von der anderen Seite Nachrichten herüberkamen, dass die Situation besser geworden ist und die Leute genug zum Leben verdienen, und hier wurde es immer schlechter.“7
Und im „Protokoll Nummer 26“, der Aussage meines Vaters, heißt es:
„Die Russen haben Plakate in den Gassen ausgehängt, man sollte sich registrieren kommen, und jeder, der heimfahren wollte, würde an den Ort geschickt werden, wo er hinwill. Da hat mein Vater nicht lang überlegt und hat einen Registrierungsbogen ausgefüllt, dass er zurück auf die deutsche Seite will, nach Ostrów Maz.“
„Unser Vater hat die Kommunisten gehasst“, erzählte mir meine Tante Regina später, ganz so, als hätte Zindel seine Entscheidung aus rein ideologischen Gründen getroffen, nach festen, nur eben leider irrigen Grundsätzen. Sie sagte mir nicht, was Hannans Zeugenaussage nahelegte, dass nämlich ihr Vater in eine tiefe, vollkommen teilnahmslose Depression verfallen war oder dass ihm ganz einfach die Fertigkeiten fehlten, um sich in der halsabschneiderischen Flüchtlingswelt im sowjetisch besetzten Gebiet zu behaupten.
Hunderttausende polnischer Staatsbürger mussten auf diese Weise die jeweiligen Vor- und Nachteile der deutschen und der sowjetischen Herrschaft gegeneinander abwägen, wobei ihre Überlegungen und ihr Wissen auf dem beruhte, was sie aus ihrem alten Leben kannten und aus früheren Kriegen wussten. So wägten sie also aktuelle Gerüchte über deutsche Gräueltaten gegen ihre Erinnerungen an die relative „Anständigkeit“ der deutschen Besatzer im Ersten Weltkrieg ab, unter denen ein Mitglied des Teitel-Clans ja sogar als Bürgermeister amtiert hatte, und sie versuchten, ihre Überlebenschancen im stalinistischen Russland zu kalkulieren.
Nach einem Vortrag, den ich 2016 in Paris hielt, kam die Tochter eines einstigen polnischen Flüchtlings zu mir und erzählte, dass ihr Vater – aus dessen Familie manche überlebt hatten, während andere ermordet worden waren – sein ganzes restliches Leben lang vom Grübeln über die falschen Entscheidungen der Ermordeten gequält worden war. „Was solche Flüchtlinge sich selbst erzählen“, sagte ich ihr, „ist immer eine Geschichte von richtigen oder falschen Entscheidungen“, aber wie ich später herausfinden sollte, wurden die unterschiedlichen Schicksale, die den Flüchtlingen scheinbar gleichberechtigt offenstanden, sehr viel weniger von ihrem eigenen Sinnen und Trachten bestimmt, als sie selbst meinten, und sehr viel mehr von größeren, weitgehend zufällig waltenden Mächten.
Bereits im September 1939 hatte ein Deutsch-Sowjetischer Grenz- und Freundschaftsvertrag, der als eine Art zweites (und ebenfalls geheimes) Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt fungierte, festgelegt, dass all jene, die aus dem sowjetisch besetzten Polen in das deutsche Generalgouvernement zurückkehren wollten, dies ungehindert tun sollten. Am 1. Juni 1940, zehn Monate nachdem seine Familie aus Ostrów geflüchtet war, betrat Zindel Teitel ein Büro der deutschen Repatriierungskommission, die zur Erfassung und Betreuung dieser Remigranten eingerichtet worden war, und füllte das Antragsformular für die Rückkehr seiner Familie aus, womit sein Name sowie die Namen seiner Frau und seiner Kinder auf die lange Liste von mehreren Hunderttausend Polen, Ukrainern, Weißrussen und Juden gelangte, die sich bereits für eine Rückkehr in ihre Heimatorte hatten registrieren lassen.
In der Woche darauf wurde der Antrag an ein sowjetisches Gericht in Bielsk Podlaski weitergereicht, einer Stadt südwestlich von Siemiatycze, wo die Familie Teitel am 5. Juli in Abwesenheit zur Ausweisung verurteilt wurde. Am 6. Juli wurden ihre Ausweisungsbescheide ausgefertigt – von Hand beschriftete Karteikarten, auf denen ihre Namen, Geburtsdaten, Wohnorte, Berufe, Nationalität, Ausbildung und Aufenthaltsort im Exil vermerkt waren.
Monate zuvor, am 19. Februar 1940, hatten B. Baschew, seines Zeichens Vorsitzender der Allgemeinen und Vereinigten Holzwirtschafts-Gewerkschaft (AVHG), und ein Vertreter des sowjetischen Volkskommissariats für innere Angelegenheiten (NKWD) eine Vereinbarung unterzeichnet, der zufolge die letztgenannte Organisation der erstgenannten 10 000 neue Zwangsarbeiter zuführen sollte. Die AVHG brauchte frische Waldarbeiter, weil die Reihen ihrer Mitglieder sich durch den „Winterkrieg“ zwischen der Sowjetunion und Finnland zwischen November 1939 und März 1940 empfindlich gelichtet hatten.
Also wurden zwischen Mai und Juli 1940 gut 5000 Familien aus den westlichen Gebieten der sowjetischen Einflusssphäre deportiert, und bis zum Ende des Jahres kamen noch einmal 4250 dazu, die nach Norden gebracht wurden – unter ihnen auch die Familie Teitel.8 In der Nacht des 7. Juli 1940 hämmerten um zwei Uhr morgens NKWD-Leute an die Teitel’sche Wohnungstür, um die Familie abzuholen. Hunderttausende erlitten dasselbe Schicksal:
„Am Freitagabend betraten bewaffnete NKWDisten unsere Wohnung und befahlen uns, unsere Sachen zu packen, weil wir nach Warschau fahren.
Am Freitag, um Mitternacht, pochte es heftig an unserer Tür, und mit Revolvern bewaffnete NKWDler befahlen uns, uns schnell anzuziehen.
Um zwei Uhr nachts kamen vier NKWDisten mit Revolvern in der Hand. Einer blieb an der Tür stehen, der zweite am Fenster, und sie erklärten, wir fahren nach Deutschland.“9
Einzeln und für sich wurde jede dieser vielen Familien mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen und in Wagen gestoßen, ganz allein hat jede von ihnen Todesängste ausgestanden – aber die Berichte darüber gleichen sich wie ein Ei dem anderen. Immer war es ein Freitagabend, der Sabbat hatte bereits begonnen. Immer kamen die Agenten mitten in der Nacht. Immer waren es vier bewaffnete NKWD-Leute.
„Die Inhaftnahme, das ist ein wichtiger Abschnitt im Lehrplan der allgemeinen Gefängniskunde, in der eine grundlegende gesellschaftliche Theorie als Basis nicht fehlt“, sollte Alexander Solschenizyn zwei Jahrzehnte später in Der Archipel Gulag schreiben: „Ein schrilles nächtliches Läuten oder ein grobes Hämmern an der Tür. … Der ungenierte stramme Einbruch der an der Schwelle nicht abgeputzten Stiefel des Einsatzkommandos. … Alle Leute in der Wohnung sind nach den ersten Schlägen gegen die Tür vor Entsetzen gelähmt. Der zu Verhaftende wird aus der Wärme des Bettes gerissen, steht da in seiner halbwachen Hilflosigkeit, noch unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen.“10
Das Einsatzkommando, das in die Wohnung stürmte, wo Hannan damals schlief, teilte seinem Vater Zindel mit: „Jetzt fahrt ihr gleich im Sonderzug nach Hause“, befahl den Teitels, sich anzuziehen und ihre Sachen zu packen. Dann wurden sie in einem Lastwagen zum Bahnhof gefahren und in einen roten Viehwaggon gepfercht (eine „Rote Kuh“ – unter diesem Spitznamen sind diese Wagen in die Verkehrsgeschichte eingegangen). Der Waggon war bereits voll, fast fünfzig Menschen waren darin. Anders als die sogenannten Stolypin-Waggons, in denen seit der Oktoberrevolution in Russland die Gefangenen transportiert wurden, mussten die „Roten Kühe“ sich nicht an den regulären Fahrplan halten und konnten deshalb überall- und nirgendwohin fahren – mit dem nächsten Halt mitten im Nichts. Den Passagieren – den Insassen – konnte man irgendein beliebiges Fahrziel angeben, oder man sagte ihnen überhaupt nichts.
Den Teitels sagte man, sie würden nach Warschau gebracht. Die brutale Überfüllung in einem Stolypin-Waggon wäre schon schlimm genug gewesen – dort lagen die Menschen buchstäblich aufeinander, die Sterbenden und die Toten zuunterst. Aber die „Roten Kühe“ waren sogar noch schlimmer. Bis zu tausend Menschen wurden hier auf etwa 25 Wagen verteilt, eine Prozedur, die Stunden, manchmal gar Tage dauern konnte. Die schon drinnen waren, sahen nur wenig – die winzigen Fensterchen waren noch vergittert worden. Vor jedem Ausgang standen Posten der Konvoi-Eskorte mit Maschinengewehren. „Das shtikenis [die Stickigkeit] war nicht zum Aushalten“, berichtete mein Vater in seiner Aussage. „Ein Stück Dreck sind wir allesamt gewesen. … Die Kinder haben den ganzen Tag gehungert, und die Erwachsenen, die dem Weinen der Kinder nur zusehen konnten, haben mitgeweint. Geholfen hat es aber nichts, und erst wenn die Kinder ganz verheult eingeschlafen sind und die Eltern neben ihnen, ist die Erlösung gekommen.“ Mitten in der Nacht „zwischen zwölf und eins, als wir schon schliefen, haben [dann] Soldaten heiße Suppe mit einem Stückel Brot gebracht.“ So war das übliche Vorgehen auf solchen Transporten: Nie genug zu essen und zu trinken, und wenn es doch etwas gab, dann wurde es nachts verteilt.
Abbildung 5: Flüchtlinge werden in eine „Rote Kuh“ verladen.
Zwischen 1929 und 1931 hatten die Sowjets eine Million Bauern in „Roten Kühen“ deportiert, die aus Moskau täglich und aus den Provinzhauptstädten einmal in der Woche abfuhren. Deutsche aus dem Wolgagebiet sowie Angehörige anderer Nationalitäten und Minderheiten, die auf dem Gebiet der Sowjetunion lebten, waren auf diese Weise in die Verbannung geschickt worden, und nun waren eben die Polen an der Reihe, Katholiken wie Juden, darunter auch Hannan, Regina, Zindel und Ruchela Teitel. Und sie wussten es zwar nicht, aber Ruchelas Schwester Mascha Halberstadt, ihr Ehemann Yosef und ihre Kinder Sarah und Hannania, bei denen sie in Siematycze gewohnt hatten, wurden ebenfalls deportiert – mit einem anderen Zug an einem anderen Tag.
Auch Emma Perelgric, die jüngere Cousine von Hannan und Regina, die bei den Teitels die Sommerferien verbracht hatte und mit ihnen nach Osten geflüchtet war, und ihr Vater Adam wurden deportiert. Als Emma am 6. September mit ihren Onkeln die Stadt verlassen hatte, befanden sich Adam und seine Ehefrau Sura mit dem gemeinsamen Sohn in Warschau. Ende September war dann auch Adam auf die sowjetische Seite hinübergefahren, um seine kleine Tochter in Białystok abzuholen und mit ihr nach Warschau zurückzukehren. In Białystok wurden sie zuerst zwei Wochen lang aufgehalten, weil Emma krank war, und dann zusammen mit ihren Schleusern aufgegriffen und festgenommen, als sie schon auf dem Rückweg waren. Seinem Ausweisungsbescheid zufolge war Adam am 29. Juni 1940 festgenommen und zur Verbannung verurteilt und am 10. Juli deportiert worden. Glaubt man den Unterlagen, so wurde Emma schon drei Tage vorher abtransportiert, auch wenn sie in meinen Interviews mit ihr immer darauf bestanden hat, ihr Vater und sie seien zusammen weggebracht worden.
Zu dem Zeitpunkt, als die Teitels, die Perelgrics und die Halberstadts deportiert wurden, gab es in Ostrów – mit Ausnahme von einigen Dutzend Schneidern, Handwerkern, Gärtnern und anderen Fachleuten, die man zum Dienst für die deutschen Besatzer in der Stadt am Leben gelassen hatte – keine jüdischen Einwohner mehr. Warschau, wo Sura Perelgric und ihr Sohn Daniel verblieben waren, stand ebenfalls unter deutscher Besatzung. Mutter und Sohn lebten weiter in ihrer Wohnung in der Ulica Sienna 72, bis sie schließlich in die Marszałkowska umgesiedelt wurden, die innerhalb des Warschauer Ghettos lag.
Was aber die Deportierten betrifft: Ihre Züge setzten sich meist am frühen Morgen in Bewegung, und ihre Insassen verstanden schon bald, dass man sie keineswegs in Richtung Westen, nach Warschau oder Ostrów Mazowiecka, transportierte, sondern vielmehr nach Osten, einem unbekannten Ziel zu. Ob sie nun einige Tage oder aber Monate unterwegs sein würden – wer konnte das schon sagen?