Читать книгу Die Farben einer parallelen Welt - Mikola Dziadok - Страница 5
VORWORT
ОглавлениеAls Kind habe ich im Vorwort zu irgendeinem Buch eine treffende Bemerkung gelesen: „Kaum verbringt ein Intellektueller eine Nacht auf einer Polizeistation, schreibt er gleich ein Buch darüber“. Ich weiß nicht, ob ich mich als Intellektuellen bezeichnen kann, und in den Kerkern des Systems habe ich mehr als nur eine Nacht verbracht, doch diese Bemerkung finde ich sehr passend. In der Tat gibt ein Gefängnis, der Freiheitsentzug und alles, was damit verbunden ist, einem Menschen ein so breites Spektrum an Gefühlen und Eindrücken wie kaum etwas anderes. Und für jemand, der gewohnt ist, das Erlebte kritisch zu analysieren, ist das auch noch ein unglaublich fruchtbarer Boden für Beobachtungen, Reflexionen und tiefes Nachdenken.
Diese Textsammlung, so die Idee, die ich hoffentlich realisieren kann, soll nur ein Zwischenschritt zu einer umfassenden Geschichte sein, bloß eine Skizze auf der Leinwand, die erst noch mit Farben bemalt werden muss – sie vermittelt einen allgemeinen Eindruck, lässt aber noch nicht die Fülle des Gesamtbildes erkennen. Ein solches Bild wird, wie ich hoffe, ein Buch sein, das über meine Zeit im Gefängnis vom ersten bis zum letzten Tag erzählt.
Warum habe ich mich entschieden, „Die Farben einer parallelen Welt“ zu schreiben? Erstens: Die Machthaber hatten und haben Angst davor, dass das, was in Gefängnissen geschieht, an die Öffentlichkeit dringt, und sie tun bewusst alles, um die Gefängnisse so weit wie nur möglich von der Außenwelt zu isolieren. Das heißt: Die Zustände in Gefängnissen und Strafkolonien öffentlich zu machen, kann ihrem moralischen Ansehen und ihrer Reputation schaden. Und wenn wir die Möglichkeit haben, solchen Schaden zu verursachen, müssen wir diese Möglichkeit nutzen. Jeder Gauner versucht, seine Taten zu verbergen oder, wenn es ihm nicht gelingt, irgendwie zu rechtfertigen: mit dem Gesetz, dem Recht des Stärkeren, der „revolutionären Notwendigkeit“, der Moral … Die Wahrheit zu sagen und die Verbrechen aufzudecken, ist hier ein Imperativ, die moralische Pflicht eines jeden Menschen. Zweitens ist wichtig zu dokumentieren, was wir gesehen und erlebt haben. Denn nichts und niemand ist ewig. Viele könnten in Zukunft sagen: „Wir haben nichts getan … Wir haben bloß Befehle befolgt“, oder: „Wir wussten nicht, dass sowas passiert, sonst hätten wir etwas unternommen!“ Oder sie werden gleich alles abstreiten: „Das ist eine Lüge, so was gab es nicht! Wo sind die Beweise?“ Und auch wenn kein Volksgericht und kein Gericht eines Staates je über sie urteilen wird, so ist das Urteil der Geschichte selbst viel wichtiger.
Über das Gefängnis ist schon viel gesagt und geschrieben worden. Und manchmal scheint es schwer, Neues beizutragen, denn Unfreiheit ist Unfreiheit, und in allen Ländern der Welt, von den Diktaturen Asiens bis zu den bürgerlichen Demokratien des Westens, sind die Gefängnisse gefüllt mit Verzweiflung, Bitterkeit, Angst, Schmerz, Gemeinheit und Selbstaufopferung, Freundschaft und Verrat, Barmherzigkeit und Grausamkeit, und natürlich mit der institutionalisierten Gewalt, die eine Art Sprache des Gefängnisses ist. Werde ich also in der Lage sein, etwas Neues beizutragen? Global betrachtet natürlich nicht, denn das belarusische Gefängnis ist nicht etwas Einzigartiges, vor allem nicht für den postsowjetischen Raum, und die allgemeine Logik und Philosophie des Gefängnisses ist, wie gesagt, überall gleich. Doch im lokalen Maßstab schon, denke ich. Ohne falsche Bescheidenheit kann ich sagen, dass meine Erfahrung im Maßstab von Belarus einzigartig war. Meine Freunde und ich waren die ersten Anarchisten in Belarus, die seit der Unabhängigkeit des Landes wegen politischer Aktionen zu Haftstrafen verurteilt wurden. Nicht weniger einzigartig waren auch die Umstände unserer Freilassung. Ich weiß nicht, ob es andere Beispiele in der Weltgeschichte gibt, wo die höchsten Vertreter europäischer Staaten, von Präsidenten und Premierministern bis zu Senatoren in den USA, von einem anderen Staat die Freilassung politischer Gefangener, und zumal von Anarchisten, gefordert hätten, die wegen direkter Aktionen verurteilt worden waren – und interessanterweise wurden wir unter anderem auch aufgrund dieser Forderungen tatsächlich freigelassen – obwohl es auch in ihren jeweiligen Ländern genug „eigene“ Anarchisten gibt, die im Gefängnis sitzen.
In den fünf Jahren meiner Gefangenschaft war ich in vier verschiedenen Gefängnissen und in drei Strafkolonien inhaftiert. Nur wenige Gefangene in Belarus ereilt ein solches Schicksal. Insgesamt mehr als ein Jahr habe ich in Einzelhaft verbracht, konnte aus der Nähe die Subkultur der Kriminellen und ihrer Vertreter beobachten – Berufsverbrecher oder auch „Vagabunden“, wie sie sich selbst nennen. Ich war der zweite Gefangene, der in der zweiundzwanzigjährigen Geschichte des Gefängnisses von Mahiljou nach Art. 411 des Strafgesetzbuches1 verurteilt wurde; erlebte ausnahmslos alle „Besserungsmethoden“, vom Entzug der Paketzustellung bis zur Überführung in ein Hochsicherheitsgefängnis und probierte ausnahmslos alle Methoden des Gefangenenprotests aus, von schriftlichen Beschwerden, über Hungerstreiks, bis zur Selbstverletzung. Deshalb hoffe ich, dass meine Erfahrungen und die Informationen, die ich aus den Kerkern mitgenommen habe, nützlich sein werden. Für die einen, um die kommenden Bewährungsproben zu bestehen, für die anderen, um nicht die Fehler zu wiederholen, die ich gemacht habe, und für andere wiederum womöglich als Material soziologischer und anthropologischer Forschung.
Aus dem Gefangenenjargon sind einige hundert, wenn nicht tausend Wörter in die russische Sprache eingegangen. Dieser Gefangenenjargon wurde in diesem Buch beibehalten.
Danke, dass Sie bis hierher gelesen haben. Ich hoffe dieses kleine Buch wird für Sie von Interesse sein.
Für die Entstehung dieses Buches möchte ich meinem Vater und meinen Genossen danken: Dank ihrer Bemühungen konnte ich ein halbes Jahr früher freikommen, als nach dem Urteil vorgesehen war. Ich danke meinem Lehrer Uladsislaw Iwanow für die Ermutigung und Motivation, meiner Frau Lera für Rezensionen und Kritik. Ich danke Oberstleutnant Aljaxandr Heorhiewitsch Lizwinski – dank dessen Rachsucht und Hass ich dorthin gekommen bin, wo ich war, um zu sehen, was ich gesehen habe. Ebenfalls möchte ich dem gesamten Strafsystem der Abteilung für Strafvollzug des Innenministeriums danken, dessen totale Schwachsinnigkeit und Unmenschlichkeit für mich eine Quelle der Inspiration war und bleiben wird.