Читать книгу Die Farben einer parallelen Welt - Mikola Dziadok - Страница 7
OPJER
ОглавлениеOpjer, der operative Ermittlungsbeamte, ist ein Phänomen der sowjetischen und leider auch der postsowjetischen Realität. Opjer ist das Wort, das jedem vertraut ist, der gerade seiner Freiheit beraubt ist oder es irgendwann einmal war.
Die mit diesem Wort bezeichnete Person kann ein lächelnder junger Typ sein oder ein kurz vor der Rente stehender Herr mit ergrautem Haar und einem müden Blick, er kann ein Schreihals sein, dessen Augen unruhig hin und her rasen, oder auch ein höflicher Intellektueller, der dich ruhig und konzentriert anschaut, er kann ein willensschwacher Faulenzer oder ein fanatischer Profi sein – so unterschiedlich die Erscheinungen, das Wesen war und bleibt gleich: Opjer.
Zu Zeiten des zaristischen Russlands wurden sie Gendarmen genannt, später einfach Mitarbeiter der Tscheka5, des UgRO6 und dergleichen Strukturen. Jetzt werden sie „operative Ermittler“, oder auch „Operative“ genannt. Ich frage mich, wie man sie in anderen Ländern nennt? Agents? Polizeiinspektoren? Detectives? Und ziehen sie eine genauso blutige Spur hinter sich her, wie „unser“ Opjer bereits seit rund hundert Jahren?
Die offiziellen Pflichten eines Operativen, in schönen Gesetzen festgehalten, sind folgende: Sammlung operativer Informationen, Kontrolle der operativen Situation, um Verbrechen aufzuklären und damit „die Rechte und die legitimen Interessen von Bürgern“ zu schützen. Gelächter im Publikum. Denn die reale Tätigkeit dieser Typen mit dem „kühlen Kopf und einem heißen Herzen“ (die Portraits des Urhebers dieser Metapher, des Sadisten Dserschinskij7, sind bis heute ein obligatorisches Kennzeichen eines jeden Arbeitszimmers, in dem ein Operativer sitzt) reicht natürlich sehr viel weiter, als diese trockenen, uninteressanten Formulierungen.
Meine erste Begegnung mit den Operativen fand am 4. September 2010 in den Büroräumen der Untersuchungshaftanstalt von Okrestina statt, gleich am Tag nach meiner Festnahme. Zwei Ermittlungsbeamte mit scharfem Blick und den Gewohnheiten von Herrschern über Leben und Schicksal, Sokolow und Jaroschik, versuchten mir stundenlang zu beweisen, dass es viel besser sei, ein Dreckskerl und Verräter zu werden, als viele Jahre im Gefängnis zu verbringen. Einen nach dem anderen spulten sie ihre psychologischen Standardtricks ab: Sie sagten mir, dass sie ohnehin bereits „alles wissen“ und es an mir läge, „die ganze Wahrheit“ zu sagen und so mein weiteres Schicksal zum Besseren zu wenden. Sie sagten, dass mich alle meine Freunde bereits verraten hätten, dass ich ausgenutzt werde, sie mir aber helfen wollen – ach ja, der Klassiker! Einer von ihnen gestand sogar, dass er tief in seinem Inneren meine anarchistischen Überzeugungen teile. Genau damit eröffnete später ein KGB-Offizier das Gespräch und offensichtlich ist es eine Standardformel, die sie anwenden, wenn sie politische Aktivisten bearbeiten. Die Gespräche beendeten sie aber in der Regel mit bildhaften Beschreibungen der Schrecken, die mich in Gefängnissen und Strafkolonien erwarten, wobei sie mir ein weiteres Mal anboten, Freunde zu verraten und so meine eigene Haut zu retten.
Aber was sind schon Vernehmungen von zehn bis fünfzehn Stunden im Vergleich zu den fünf Jahren, in denen die Operativen zu meinen ständigen Begleitern wurden?
Ob der operative Beamte seinen Dienst im Gefängnis tut, bei der Kriminalpolizei oder beim KGB ist im Grunde egal – sie gehören zur gleichen biologischen Spezies. Sie sind identisch und austauschbar. Doch hier erzähle ich euch von den Operativen in Gefängnissen und Straflagern, denn gerade durch den täglichen Kontakt mit ihnen kann man mit den Poren aufsaugen, es durchfühlen, durchleiden, verstehen und sich für sein ganzes restliches Leben daran erinnern, welche Rolle diese Kreaturen in unserer Welt spielen.
Zu Zeiten des GULAGs belauschten die von einem Operativen angeworbenen Häftlinge die Gespräche der Mitgefangenen oder versuchten, deren Vertrauen zu gewinnen, um sie zum freimütigen Gespräch zu bewegen, was zu neuen Strafverfahren wegen „konterrevolutionärer Verschwörung“, „antisowjetischer Agitation“, „Vorbereitung zur Flucht“ usw. führte. Im Ergebnis bekam das Opfer dieser Opjer-Knechte eine zusätzliche Haftstrafe oder wurde hingerichtet. Und obwohl es so etwas heute nicht mehr gibt, bleiben die Methoden und das Wesen der Arbeit von Operativen die gleichen. Im Gefängnis ist der Operative Zar und Gott in einem. Er entscheidet darüber, wo und mit wem der Gefangene leben wird, ob die Päckchen seiner Angehörigen durchkommen, ob Besuchstermine stattfinden, ob der Gefangene immer wieder in den Strafisolator fährt, ob also der Gefangene ganz generell eine gute oder eine schlechte Zeit hinter Gittern haben wird. Der Operative einer Koloniebaracke zieht über die von ihm rekrutierten Häftlinge die Fäden der öffentlichen Meinung in der Zone, und es kostet ihn gar nichts, es so einzurichten, dass eine unliebsame Person in der Kaste der „Unberührbaren“ landet oder schlicht systematisch fertiggemacht wird. In gewisser Weise ist der Operative sogar wichtiger als der Chef der Strafkolonie, denn der Chef ist weit weg, und der Operative, der ist immer da, gleich in der Nähe. In der unausgesprochenen Hierarchie der Verwaltungsabteilungen einer Vollzugsanstalt – der Abteilung für Vollzugsregime, der operativen Abteilung, der medizinischen, der Spezialabteilung, der Abteilung zur Begleitung des Besserungsprozesses – steht die operative Abteilung ganz oben. Der Operative kann alles. „Willst du in Glück und Freude leben, musst du dem Opjer ein Zeichen geben“; „Denk selbst daran und sag’s dem Anderen, der Weg zum Opjer ist der Pfad, um bald nach Haus’ zu wandern“, – so spottet die Arrestantenfolklore.
Der Operative ist ein Henkersknecht für jeden, der aus seiner Sicht leiden muss und Garant aller möglichen Vorteile und Privilegien für seine Suki. In der Strafkolonie Nr. 15, in Mahiljou, steckte mich der Operative für fünf Tage in die Strafzelle, weil ich mit einem Beamten des GUBOPiK11 „unangemessen“ geredet haben soll. Als formalen Grund gab er an, dass ich beim Betreten seines Büros die Jacke meiner Gefangenenuniform nicht bis oben hin zugeknöpft hätte, obwohl alle immer so bei ihm eintraten.
In der Strafkolonie Nr. 17 (Schklou) durften die Häftlinge eine Zeit lang unbegrenzte Mengen an Obst und Gemüse von den Besuchsterminen mit ihren Angehörigen mitnehmen. Dann hat es die Wachabteilung verboten, einfach als Teil der üblichen und kontinuierlichen Verschärfung des Vollzugsregimes in der Zone. Doch der Operative verbreitete über seine Handlanger ein Gerücht unter den Gefangenen: „Der Vater von Dziadok hat sich beschwert, also haben wir es verboten.“ Eine gemeinere Art, jemand in Konflikt mit dem Kollektiv zu bringen, kann man sich kaum vorstellen.
In Mahiljou, im Gefängnis Nr. 4, beschwerte ich mich einmal bei dem Operativen mit dem hübschen Nachnamen Lihuta, dass der Zensor, der unter seiner direkten Aufsicht arbeitete, mir sechs Postkarten aus der Schweiz nicht ausgehändigt hatte. „Wieso?“, frage ich, „Da stand doch nichts Besonders drin, ganz gewöhnliche Glückwunschkarten!“ „Gut, wir werden das klären“, antwortete er.
In Verlauf der nächsten Woche beschlagnahmte der Zensor drei ganz gewöhnliche Briefe von meinem Vater und meiner Frau. Es war ein Markenzeichen des Gefängnisses von Mahiljou: ein leerer Umschlag mit einem angehefteten Blatt und der Notiz: „Der Brief wurde zensiert“. Es war ein Hinweis ganz im Stil des Operativen: Sei zufrieden mit den Briefen, die du bekommst, sonst kriegst du gar keine mehr.
Der Operative ist hinterhältig und heimtückisch. Als mein Genosse Ihar Alinewitsch von Ermittlungsbeamten des KGB verhört wurde, wollten ihm diese Anarchismus-Experten die Widersprüchlichkeit der anarchistischen Theorie beweisen: „Du machst doch Karate. Und Karate ist hierarchisch!“ Damit versuchten sie, die Moral des erschöpften Gefangenen zu erschüttern und seinen Glauben zu untergraben, im Recht zu sein. In ähnlicher Weise gingen die Operativen in den ersten Tagen nach meiner Verhaftung vor, als sie merkten, dass der „Frontalangriff“ nicht gefruchtet hatte: „Wir werden einfach auf Indymedia schreiben, dass du alle verraten hast!“ Der bereits erwähnte Opjer Lihuta führte ein Gespräch mit mir, als ich, wie ich dachte, noch 3,5 Monate bis zu meiner Freilassung hatte: „Und, welche Pläne hast du für die Zeit danach? Ach, wegfahren willst du, ja? Und wo willst du dann arbeiten? Ach, da ist ja alles so teuer.“ Mit einem freundlichen Lächeln wünschte er mir viel Glück. Wenig später erfuhr ich, dass es zum Zeitpunkt unseres Gesprächs bereits vier Tage her war, dass er Unterlagen ans Ermittlungskomitee8 geschickt hatte, mit dem Ziel, ein neues Strafverfahren nach Art. 411 gegen mich einzuleiten. Er wusste also bestens darüber Bescheid, dass meine Haft um ein weiteres Jahr verlängert würde und wollte mich in voller Absicht mit den Träumereien über meine baldige Freilassung foppen, damit mich dann die Nachricht der Haftverlängerung um so härter und schmerzhafter trifft – ein Beispiel dafür, wie eine Person sich durch eine einzige Handlung erschöpfend charakterisieren lässt.
Der Operative ist ein Lügner. Die Lüge ist sein Haupt- und Lieblingswerkzeug, um andere zu unterjochen und an „operative Informationen“ ranzukommen. „Sobald du uns dieses und jenes sagst, lassen wir dich gleich gehen. Du hast das Wort eines Offiziers!“, sagen die Operativen oft beim Verhör von Verdächtigen. Wie viele naive und leichtgläubige Menschen sind darauf reingefallen und haben sich selbst und manchmal, ohne es zu wollen, andere belastet! Und dann bekommt der Mensch seine fünf, zehn oder beliebig viele Jahre Haft, aber nicht, weil die Ermittlung überzeugende Beweise seiner Schuld zu Tage gefördert hätte, sondern weil er so gutgläubig war. Der Operative wird dir sein Wort geben, er wird dir schwören und alles versprechen, was du willst, er wird dich einen Freund nennen, er wird dir sagen, dass er deine Anschauungen teilt, wird mitfühlend sein, auf die Obrigkeit schimpfen, das alles nur, damit er von dir die Aussagen bekommt, die er braucht, ganz unabhängig davon, ob sie wahr sind oder nicht. Sobald er hat, was er will, lässt er dich zurück in die Zelle bringen. Jetzt bist du verbrauchtes Material und dein seelischer Schmerz aus dem missbrauchten Vertrauen interessiert niemanden, Hauptsache die Ermittler haben einen Fall zusammengeschustert. Wieviele Strafverfahren wurden dank solcher Täuschungen – aus dem Nichts! – fabriziert, wieviele „ungelöste Verbrechen“ landeten so vor Gericht! Und ganz offensichtlich fallen nicht die hartgesottenen Kriminellen darauf rein, sondern leichtgläubige und mehr oder weniger anständige Menschen, die bisher keinerlei Probleme mit dem Gesetz hatten und keine Ahnung, wie unglaublich zynisch „Gesetzeshüter“ lügen können.
Einem Operativen in der Strafkolonie Nr. 15 (Mahiljou), der ständig beteuerte, er habe „nichts damit zu tun“, dass man mich in der Zone unter Druck setzte, entgegnete ich direkt: „Das ist nicht wahr. Sie lügen mich ständig an.“ Worauf er lächelte und antwortete: „Lügen ist mein Beruf.“
So unmenschlich der Operative ist, kann er nicht anderes, als auch noch ein Rassist zu sein.
Der abscheuliche Vertreter des GUBOPiK9 Litwinksij, der mit mir ein Gespräch in der Strafkolonie Nr. 15 (Mahiljou) führte, kritisierte zuerst die Skinheads und meinte sein „Großvater hat im Krieg gekämpft“, und fügte dann hinzu: „Ich mag auch keine Neger. Aber ich verprügele sie doch nicht!“. Der Operative Schamjenow aus der Strafkolonie Nr. 17 (Schklou) erzählte mir ausführlich von seinen Ansichten zum Terroranschlag von Anders Breivik: „Dieser Multikulturalismus, der ist schuld daran!“ und fügte stolz hinzu: „Und in Belarus, da kann ich auf die Straße gehen und sicher sein, dass kein Kanake mich anrührt!“ Gerüchten zufolge wurde dieser Beamte später zum KGB versetzt.
Der Operative ist ein Henker der menschlichen Seelen. In der Strafkolonie Nr. 15 klagte mir ein junger Kerl, dass der Operative ihn zur Zusammenarbeit zwingt und von ihm verlangt zu berichten, worüber die Häftlinge untereinander reden, wo jemand was Verbotenes versteckt und ähnliches. Andernfalls, so versprach der Opjer, würde er ihm das Leben zur Hölle machen. Und nicht umsonst versuchte er gerade diesen jungen Typen unter Druck zu setzen. Der brauchte dringend eine vorzeitige Entlassung, denn draußen in der Freiheit hatte er einen kleinen Sohn und seine Frau, tja, die saß in der Waladarka10 ein. Mit aller Kraft versuchte der junge Mann, jegliche Art von Regelverstoß zu vermeiden, arbeitete eifrig im Produktionsbereich der Kolonie und machte sich den ganzen Tag Sorgen um seine Familie. Zweifelsohne wusste der Operative all das und genau deshalb hatte er ihn ausgewählt. Ich konnte die moralischen Qualen dieses Häftlings aus nächster Nähe beobachten, sein Hin- und Herschwanken zwischen seiner Familie und seinem Gewissen, dem Wohlergehen seiner Verwandten und den möglichen Konsequenzen, eine Suka11 zu werden. Er versuchte, aus dieser Zwickmühle rauszukommen und erzählte dem Beamten einige unbedeutende und allgemein bekannte Dinge. Dieser Versuch missglückte jedoch. Ich wurde bald aus dieser Strafkolonie verlegt und habe nie herausgefunden, wie dieses kleine Drama ausgegangen ist. Ich hoffe nur, dass der Bursche letztlich verstanden hat, dass man kein halber Verräter sein kann.
Man sollte nicht diejenigen fürchten, die den Körper töten, aber der Seele nichts antun können, sondern diejenigen, die deine Seele töten – das versteht man mit der Zeit. Im System des Innenministeriums gibt es solche, die den Körper und solche, die die Seele töten. Sie alle, die Henker vom Erschießungskommando und die „Ermittlungsbeamten“, bekommen jeder ihren eigenen Lohn für ihre eigene Art von Mord.
Ja, der Operative lässt den Körper am Leben, einen Organismus, der Kraft seiner Instinkte und Grundbedürfnisse weiter existiert, doch um eine Persönlichkeit im vollen Sinne des Wortes handelt es sich dabei nicht mehr. Die Krux bei der Sache ist die: Wenn es im Charakter eines Menschen, der hinter Gitter geraten ist, auch nur die kleinste Fäulnis gibt, ein Körnchen von Gemeinheit und Unehrlichkeit, dann wird es unter den wachsamen Augen eines Operativen und mit seiner steten Fürsorge wachsen und all das Gute, das sonst im Menschen ist, aus ihm saugen. Dazu trägt auch die Atmosphäre bei, die in Gefängnissen und Lagern herrscht, jenes moralische Klima mit dem Imperativ: „Tritt nach unten und spuk auf deinen Nächsten.“ Und ohne Zweifel wird der Operative das Wachstum dieser Samen beschleunigen, wobei er für einen jeden einen ganz individuellen Dünger zubereiten wird, ganz auf den Charakter der Person abgestimmt: Für den einen wird es ein zusätzlicher Besuchstermin der eigenen Frau sein, für einen anderen ist es die Angst um die eigene Sicherheit, für den dritten die Sorge um die eigene Autorität, für jemanden die Aussicht auf Bewährung und für jemand anderen werden ein Päckchen Tee und eine Schachtel Zigaretten völlig ausreichen. Doch das Ergebnis ist immer das gleiche: Diese Person wird das Gefängnis innerlich verfault, frei von Prinzipien und ohne irgendeinen Glauben verlassen. In der Weltwahrnehmung dieser Person ist die Grenze zwischen Gut und Böse ausgelöscht. All das ist der Arbeit der „operativen Abteilung der Strafvollzugsanstalt“ zu verdanken.
Manchmal frage ich mich, wie sind die Operativen denn in ihrem ganz normalen Alltagsleben? Die werden doch nicht alle ihre Ehefrauen und Kinder schlagen, ihre Freunde belügen … Vermutlich sind auch sie fähig, ihre Angehörigen zu lieben, sich um sie zu sorgen, gut zu ihren Ehefrauen und Müttern zu sein, von Herzen zu lachen, Freundschaften zu pflegen, ganz normale menschliche Empfindungen zu haben. Bei Festen und Feiern haben sie vermutlich ganz einfach Spaß. Sie umarmen ihre Freunde und Kollegen, singen mit einem Gläschen in der Hand ihre Lieblingslieder: „Und wenn der nächste Tag viel härter wird, als der schon gestern war, dann sagen die Operativen: Ja! Wir schaffen das, na klar!“
Natürlich werdet ihr es schaffen. Munter und im Gleichschritt. In die Hölle.
März 2015