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DAS REGIME

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Es gibt Phänomene, die grausam sind. Es gibt Phänomene, die sinnlos sind. Aber alles wirkt noch grausamer, wenn es sinnlos ist. Genau dazu zählt das Gefängnisregime – ein Moloch, dem das psychische und physische Wohlbefinden der Gefangenen, ihr Seelenfrieden und ihre Selbstachtung geopfert werden.

Eine Person, die zum ersten Mal im Gefängnis landet, befindet sich zunächst in einem Zustand von Verwirrung und enormer Verwunderung. Mit dem Verstand einer normalen und freien Persönlichkeit kann der neue Gefangene das, was die Kerkermeister von ihm mit Verweis auf rätselhafte „Vorschriften“ verlangen, nicht nachvollziehen.

Alles beginnt mit dem Filzen. Noch im Polizeigewahrsam wundert sich der Gefangene, wenn ihm beim Filzen vor der Unterbringung in der Zelle, der Gürtel und die Schnürsenkel abgenommen werden. Er fragt: „Warum kann ich die nicht behalten?“. „Nicht gestattet“, knurrt der Bulle zur Antwort. Erst später klären ihn erfahrene Zellengenossen darüber auf, dass er sich die Hosen deshalb andauernd wird hochziehen müssen und in den Turnschuhen so rumlaufen wird, als ob sie lustige lose Schlappen wären, weil er sich mit dem Gürtel und den Schnürsenkeln erhängen könnte.

Doch das Interessanteste erwartet ihn im Untersuchungsgefängnis, wenn seine Angehörigen versuchen, Pakete für ihn abzugeben. Zigaretten? Müssen der Packung entnommen und in einen transparenten Beutel gelegt werden. Tee? Auch nur in einem transparenten Beutel. Süßigkeiten? Jede einzelne muss frei von jeglicher Verpackung sein. Und stellt euch dann vor, wieviel Aufwand es bedeutet, damit ein dreißig Kilo schweres Paket eingereicht und übergeben werden kann. Sprudelwasser? Verboten! Quark, Milch, Käse, Butter – verboten! Honig? Verboten! Warum? „Nicht gestattet!“ Irgendetwas in einer Glasflasche? Gott bewahre! „Die werden sich doch gegenseitig abstechen!“ Konserven – verboten, „die werden Stichwaffen basteln“.

Und falls die Angehörigen anfangen sollten, sich bei den verschiedensten Chefbeamten zu beschweren, dann wird man ihnen eine lange Liste verschiedener Erlasse und Anordnungen vorzeigen, die Vollzugsordnung und die Hygienevorschriften der Gesundheitsämter vorlegen, aus denen sie erfahren, dass Milchprodukte aus Sorge vor einer Epidemie verboten sind, Zigaretten umverpackt werden müssen, „falls Sie da etwas versteckt haben“, und aus demselben Grund muss jedes Bonbonpapier entfernt werden, aus demselben Grund wird jeder Apfel und jede Orange, jedes Obst und Gemüse, das ihr dem Gefangenen zukommen lasst, mit einer Ahle durchstochen und es spielt keine Rolle, ob es dann nur noch ein paar Tage übersteht – jede Vakuumverpackung wird durchstochen, jedes Stück Schokolade wird zerbröckelt bis fast nur noch Krümmel übrig bleiben.

Aber was ist schon die Untersuchungshaft! In der Strafkolonie, wo der Arrestant nach der Urteilsverkündung ankommt, erwarten ihn neue Offenbarungen und neue Gründe, verwirrt und verwundert zu sein. Bei Ankunft – das obligatorische Filzen. Alles „Überflüssige“ wird abgenommen und so lange eingelagert, bis die Person aus der Haft entlassen wird. Für jeden Gefangenen ist das ein sehr dramatischer Moment: All das, was in einem Jahr oder mehr mühevoll zusammengetragen wurde, all das, was die Zellengenossen in der Untersuchungshaft ihm mit auf den Weg gegeben haben, all das fliegt in den Lagerraum oder landet auf dem Müll. Wenn es nur Lebensmittel wären, dann wäre es noch halb so schlimm. Viel schlimmer ist es, wenn es dabei um Kleidung oder Schuhe geht, die von Angehörigen gekauft wurden. In der U-Haft, in Haftanstalten für temporäre Ordnungshaft und in einigen Strafkolonien sind nur Schuhe ohne Metalleinlagen erlaubt, weil die wiederum zu Stichwaffen umgeschliffen werden könnten. Um herauszufinden, ob es diese Metalleinlagen gibt, verbiegen die Knastwärter die Schuhe oder Turnschuhe gnadenlos, reißen die Sohle ab, durchleuchten sie mit einem Metalldetektor. Wenn es deine einzigen Schuhe sind, bekommst du Ersatz, die sogenannten Karantinki, und wenn deine Angehörigen Schuhe für dich kaufen und versuchen, sie dir zukommen zu lassen, werden die schlicht zurückgegeben, das Geld ist jedenfalls verschwendet.

Die Vollzugsordnung für Haftanstalten ist sehr raffiniert aufgebaut. Anstatt die Dinge aufzulisten, deren Besitz einem Gefangenen verboten ist, werden jene Dinge aufgelistet, die er besitzen darf. Entsprechend ist alles andere verboten. Und bei Besitz von Dingen, die nicht gelistet sind, kann man im Strafisolator landen.

Zu sagen, die aufgelisteten, erlaubten Gegenstände wären für ein normales, würdiges Leben nicht ausreichend, insbesondere für Gefangene mit langen Haftstrafen, ist eine gnadenlose Untertreibung. Eine Kleinigkeit als Beispiel: Jeder Gefangene, der sich auf dem Lagergelände bewegt, ist verpflichtet eine Gefangenenuniform zu tragen. Doch die Uniform muss von Zeit zu Zeit gewaschen werden. Und wenn du sie gewaschen hast, muss sie trocknen. Und was kannst du dann anziehen, wenn du in die Kantine, zur Arbeit oder einfach nur zu einem Spaziergang im kleinen Hof der Baracke gehst? Dann bleibt nur noch ein Trainingsanzug. Doch hier wird es paradox: Wenn du einen Trainingsanzug anziehst, ist das ein „Verstoß gegen die Uniformordnung“. Dafür kannst du ein Verstoßprotokoll kassieren und in den Strafisolator wandern. Und es interessiert niemanden, dass deine Uniform gerade gewaschen ist und nass auf der Leine hängt. Aber sie nicht zu waschen, das geht auch nicht. Wirst du in einer dreckigen Uniform gesehen, kann es auch ein Verstoßprotokoll geben, denn die Vollzugsordnung besagt, dass „ein Gefangener ein sauberes und akkurates Erscheinungsbild haben“ muss. Und so tun die Häftlinge alles, was sie können, um sich sauber zu halten und nicht im Strafisolator zu landen: Die einen verstecken sich auf dem Weg in die Kantine in der Kolonne der Gefangenen, damit die Aufseher sie nicht erwischen, andere bitten ihre Mithäftlinge und leihen bei ihnen die Uniform aus. Übrigens: Der Besitz von zwei Uniformen ist ebenfalls verboten und sollte das zweite Exemplar beim Filzen gefunden werden, wird es konfisziert und ein Verstoßprotokoll verschafft neue Perspektiven, in der Strafzelle zu landen. Dieses Problem, was man denn anziehen soll, wenn man seine Uniform gewaschen hat, ist schon Jahre alt, aber niemand, von den Chefs der Kolonieabteilungen bis zur Leitung der Abteilung für Strafvollzug, schert sich um die Unannehmlichkeiten des Lebens irgendwelcher Häftlinge. Es ist einfacher, jedes Jahr zehn, zwanzig oder dreißig Gefangene in den Strafisolator zu stecken, als einen oder zwei Sätze in der Vollzugsordnung zu ändern.

Das Epos rund um die Bekleidung von Gefangenen endet damit aber nicht. Ein paar Jahre vor meiner Entlassung hat die Leitung buchstäblich in allen Lagern ganze „Kampagnen“ gestartet, gegen Jacken mit Reißverschlüssen, gegen Pullover, gegen Trainingsjacken, die unter der Gefangenenuniform getragen werden. Der Kampf gegen die Reißverschlüsse wurde geführt, um die Kleidung der Häftlinge zu vereinheitlichen. Eine Weile trugen viele im Lager schwarze Jacken mit Reißverschluss, die sie von ihren Angehörigen bekamen, bis ein Beamter von der Abteilung für Strafvollzug zu einer Inspektion kam und fragte: „Warum sind denn bei euch die Gefangenen nicht korrekt uniformiert?“ Denn „korrekt uniformiert“ bedeutet, eine klobige Steppjacke zu tragen, die kein bisschen wärmt, der die Knöpfe abfallen und die aus verrotteter Watte besteht. Und dann ging der Wahnsinn los, erst in der einen Kolonie, dann in allen anderen: Die normalen Zivilistenjacken wurden eingezogen, stattdessen Wattejacken ausgegeben, und wer dagegen zu protestieren versuchte, wurde in den Strafisolator gesteckt.

Der Kampf mit den Hauptfeinden des „Besserungsprozesses“, mit Pullovern und Trainingsjacken, sah folgendermaßen aus: Es ist Herbst oder Frühling, draußen ist es kalt. Eine Gruppe von Gefangenen tritt zur Arbeit im Produktionsbereich des Lagers an und wartet am Kontrollpunkt auf das Filzen. Jeder wird einzeln durchsucht und gezwungen, die Gefangenenuniform aufzuknöpfen. Findet sich darunter eine Trainingsjacke oder ein Pullover – ab in die Baracke, ausziehen. Beschwerst du dich, dann ab in die Strafzelle. Und es spielt keine Rolle, ob draußen gerade nur zehn Grad herrschen und du unter deiner Baumwolljacke nur ein leichtes T-Shirt trägst. Und es spielt keine Rolle, dass nach einer solchen Inspektion die Häftlinge den ganzen Tag im Produktionsbereich des Lagers vor Kälte zittern werden und die Hälfte des Trupps mit Erkältung oder Grippe zur Krankenstation rennen wird. Dafür wird jede Delegation der Kontrollaufsicht, die das Lager besucht, befriedigt sein: „Die Uniformordnung wird eingehalten!“.

Solche Kampagnen werden in jedem Lager häufig, chaotisch und unvorhersehbar initiiert. Wenn es im Kopf von Daroschka, dem (damaligen) Leiter der Abteilung für Strafvollzug, klick macht, geht ein Rundschreiben in die Lager raus, und die Lagerchefs werden sich bereit zeigen, ihren Diensteifer zu demonstrieren. Heute sind die Reißverschlüsse an den Jacken ein Problem, morgen ist es eine nicht genehmigte Art von Schuhen, übermorgen sind Metalllöffel das Problem, und sofort muss jeder unbedingt einen aus Aluminium haben! Darauf folgt dann eine Kampagne gegen die „Brotmitnahme aus der Kantine“, und Disziplinarstrafen werden verhängt, weil jemand seine persönliche Ration, sein eigenes Stück Brot aus der Kantine mit in die Baracke genommen hat. Und so geht es immer weiter … Die Häftlinge erkennen solche Kampagnen an den langen Schlangen am Kontrollpunkt, wo genervtes Flüstern durch die Reihen geht: „Schon wieder? … Verdammt noch mal, was denn diesmal …? Prüfen die jetzt die Etiketten der Unterhosen oder was? Diese Wichser …“.

In der Strafkolonie Nr. 17 in Schklou war und ist vielleicht bis heute, wenn er nicht befördert wurde, ein sehr diensteifriger Typ stellvertretender Lagerchef: Pawel Mikalaewitsch Ehuleuski, Spitzname „Mercedes“. Bei einer solchen Kampagne, gegen Hosen mit falschem Schnitt, stand er mit einem Cuttermesser am Kontrollpunkt und schlitzte den Gefangenen direkt vor Ort die Hosenbeine auf. Einem der Häftlinge schnitt er das Bein blutig. Der Betroffene war jedoch keiner von der weichgeklopften Sorte, er setzte sich für seine Rechte ein und seine Angehörigen reichten Beschwerden bei verschiedenen Instanzen ein. Am Ende führte das alles jedoch zu nichts, Mercedes kam ungeschoren davon.

Die Tendenz zu einer Verschärfung des Regimes dringt in jede Ritze des Alltagslebens eines Gefangenen. Jeder Häftling hat neben seiner Pritsche einen Nachtschrank. Und denkt ihr, man kann da alle offiziell genehmigten Sachen aufbewahren? Falsch gedacht. Vor ein paar Jahren wurde in jedem Schlafraum eine Liste mit Dingen ausgehängt, die ein Gefangener in seinem Nachtschrank aufbewahren darf. Die Liste war sehr kurz: ein Stift, ein Notizbuch, zwei Bücher, ein Umschlag (einer oder zwei, genau kann ich mich nicht mehr erinnern), eine Schachtel Zigaretten und eine Packung Tee. Das war’s! Lebensmittel sind in dieser Liste nicht enthalten. Ihr fragt euch vielleicht: Aber wohin mit all den anderen Dingen? Dafür gibt es laut den weisen Erlassen der Bullen aus der Abteilung für Strafvollzug in jeder Gefangenenabteilung einen „Lagerraum für persönliche Gegenstände“, oder, in der Häftlingssprache: Kesharka, Bobownja, Kaptjorka. Die Aufsicht über diesen Raum hat der Kaptjor, ein Häftling, der auch die Schlüssel dafür hat. Die Macht und die Privilegien eines Kaptjors sind offensichtlich. Mit ihm befreundet zu sein, bedeutet Vitamin B in bester Qualität zur Verfügung zu haben. Aber wo liegt denn das Problem, wenn die Sachen dort eingelagert sind? „Was könnte einfacher sein“, werdet ihr sagen, „kannst jederzeit rein, nimmst, was du brauchst, und so wird auch niemand die Schlafräume vermüllen“. Stimmt alles, doch dieser Raum … öffnet sich zwei Mal am Tag, für zwanzig bis dreißig Minuten. Und dabei bist du natürlich nicht der Einzige von hundert Gefangenen deiner Baracke, der da rein will, um sich etwas zu holen: ein neues Paar Socken, ein Stückchen Speck, ein Buch oder eine Schachtel Zigaretten. Dazu informiert ein Aushang an der Tür: „Der Lagerraum für persönliche Gegenstände ist nur einzeln zu betreten“. Endlich erwischt man den Moment, wenn der Kaptjor die Tür öffnet, steht lange genug in der Schlange und ist endlich in den ersehnten Raum vorgedrungen, um aus der Tasche einen Schokoriegel für einen Teeabend mit einem Lagerkumpel zu holen oder ein Buch, um Zeit in Abgeschiedenheit zu verbringen. Schnappst dir die Sachen, machst die Tasche zu und bist wieder raus? Na klar. In jeder Tasche liegt eine Inventurliste eurer persönlichen Gegenstände, die ihr selbst an dem Tag erstellt habt, als ihr in eurer Baracke angekommen seid. In dieser Liste ist alles aufgeführt, von der Kugelschreibermine bis zur Unterwäsche, vom Karamellbonbon oder einer Zeitschrift bis zu irgendeinem schlichten Stück Hausrat, der sich im Lager angesammelt hat. Hast du etwas genommen, dann streiche es aus der Liste, wenn du etwas reinlegst, dann vermerke es. Hauptsache, man vergisst es nicht, denn alle paar Monate findet eine „Regime-Maßnahme“ statt, genauer: „Inspektion der äußeren Erscheinung mit Vorlage von Sachgegenständen“. Die gesamte Baracke stellt sich auf, ein jeder mit seinen Taschen, und der Chef der Abteilung prüft, ob bei irgendjemand die Inventurliste nicht mit dem Inhalt der Taschen übereinstimmt. Und falls etwas nicht stimmt, wird ein Verstoßprotokoll verfasst. Ein Beispiel, das seinerzeit Lehrbuchqualität erreichte: Mikalai Statkewitsch landete im Strafisolator, weil die Anzahl der Taschentücher in der Inventurliste nicht mit der Anzahl in seiner Tasche übereinstimmte.

Nicht selten treten die Anforderungen verschiedener Vorgesetzter, wie in jedem bürokratischen und hierarchischen System, in Widerspruch zueinander. Das wird durch einen Fall aus der Strafkolonie Nr. 4 (Horki) gut veranschaulicht. Jede Haft- und Strafzelle ist mit einem Radio ausgestattet, das vom Kontrollpult der Wärter ein- und ausgeschaltet wird, einen Lautstärkeregler in der Zelle gibt es nicht, und ihr hört das Radio in der Lautstärke, die der Wärter eingestellt hat. Doch plötzlich kam eine weitere Inspektion von der Abteilung für Strafvollzug in die Einrichtung. Der Oberchef schaute auf die Radiogeräte in den Zellen und fragte: „Warum sind die denn ohne Lautstärkeregler? Eine Unordnung ist das!“ Gleich nach dem er weggefahren war, bauten die bediensteten Häftlinge und das Hausmeisterpersonal unter der Anleitung der Lagerverwaltung in jeder Zelle Lautstärkeregler ein. Die Gefangenen waren sehr zufrieden!

Doch nach einiger Zeit kam ein anderer Chef aus derselben Abteilung. Er schaut auf und fällt fast in Ohnmacht: „Ihr habt denen Lautstärkeregler eingebaut? Seid ihr denn verrückt geworden?“ Aus seiner Sicht war das ein ganz unzulässiger Komfort, ein geradezu zügelloser Hedonismus und Sittenverfall. Innerhalb weniger Stunden rissen die bediensteten Häftlinge, dieselben, welche die Regler eingebaut hatten, sie aus jeder Zelle des Strafisolators, von denen es fast 20 gab, wieder heraus.

Aber es wäre naiv zu denken, das Vollzugsregime würde nur materielle Dinge betreffen, also ob die Gefangenen etwas haben dürfen oder nicht. Wie ich schon sagte, sein Sinn besteht darin, jeden Lebensbereich zu durchdringen. Die Vorschriften regeln die Wachzeiten und die Nachtruhe. Hast du ein paar Minuten gezögert, schon kassierst du ein Verstoßprotokoll und landest womöglich in der Strafzelle. Und wenn es in der Strafkolonie, wo Gefangenentrupps geschlossen in die Kantine oder zur Arbeit müssen, noch irgendwie rational erklärbar wäre, so ist die Existenz einer Wach- und Schlafordnung in U-Haft gar nicht nachvollziehbar; zumal dann, wenn die Zellen überfüllt sind und die Hälfte der Insassen keine Möglichkeit hat, nachts zu schlafen und deshalb tagsüber schläft. Doch es nicht nur untersagt, zu schlafen, sondern auch tagsüber auf den Betten zu liegen. Und das Gehirn eines Menschen, der gerade erst im Gefängnis gelandet ist, weigert sich zu verstehen: Warum? Wem schadet es denn, wenn ein Gefangener in der U-Haft, dessen Schuld noch gar nicht bewiesen ist, der erst beschuldigt und noch nicht verurteilt ist, wenn dieser Mensch also sich tagsüber auf die Pritsche legt und etwas schläft? Was soll man denn sonst noch in der Haftzelle tun? Aber nein, versuch es bloß, und der wachsame Aufseher wird sofort mit aller Wucht gegen die Tür treten: „Nicht schlafen!!!“ In der U-Haft in Shodsina gehen die Bullen sogar noch weiter, sie verbieten mit hochgezogenen Füßen auf dem Bett zu sitzen. Doch es ist unbequem, mit den Füßen auf dem Boden zu sitzen – die Kojen bestehen aus Quadratrohren und deren Ecken stechen in die Oberschenkel. Die restlichen „Möbel“, wenn man die überhaupt so bezeichnen kann, sind ganz offensichtlich für alles Mögliche geeignet, bloß nicht für Menschen. Sie sind mit Eisen beschlagen, hart, rissig, entweder zu hoch oder zu niedrig gebaut. Aber was soll’s, man gewöhnt sich daran, lässt sich ja nicht ändern …

Jedes Mal, wenn jemand von der Gefängnisverwaltung die Zelle betritt, muss der Häftling eine Meldung erstatten. Die lautet folgendermaßen: „Herr Vorgesetzter, in der Zelle Nummer so-und-so sind so-und-so viele Insassen anwesend. Der sanitäre Zustand entspricht der Norm. Der diensthabende Zellenälteste heißt so-und-so. Beschwerden und Anträge liegen nicht vor.“ Je nach Anstalt variiert dieser Text unwesentlich. Besonderes komisch klingt dieser Bericht in einer Einzelhaftzelle, wenn du fast jahrelang allein einsitzt und zweimal am Tag bei der Inspektion aufsagst: „Der diensthabende Zellenälteste Dziadok …“ Als ob gestern ein anderer Häftling als Zellenältester im Dienst gewesen wäre.

Von außen betrachtet, mögen all diese Regeln und Auflagen an und für sich unbedeutend erscheinen. Also wirklich, es ist doch überhaupt kein Problem: den Knopf zuknöpfen, wenn man an einem Wärter vorbeikommt, die Unannehmlichkeiten bei der Uniformwäsche ertragen, eine Meldung erstatten, Überflüssiges aus dem Nachtschrank entfernen, zumal es ja ein Gefängnis und kein Kurheim ist! Aber das ist nur auf den ersten Blick so. Das Leben eines Gefangenen setzt sich aus solchen Kleinigkeiten zusammen, und es gibt hunderte davon. Und immer stärker wird alles durch das Vollzugsregime reguliert, was das ohnehin nicht sehr süße Leben verkompliziert. Und so bleibt kein Raum, wo du spontan handeln könntest, selbst wenn es darum geht, das Bett zu machen oder um die Frage, wie du deine Freizeit gestaltest, von der ohnehin nicht viel übrig bleibt. Jede Minute musst du dich umblicken und fragen: „Habe ich es richtig gemacht? Werde ich dafür bestraft?“ Natürlich beachten die Wärter viele Abweichungen vom Regime nicht, bis es soweit ist und eine Anordnung reingeflattert kommt, die feststellt, im Strafisolator seien zu wenig Leute, oder bis ein bestimmter Gefangener nicht anfängt, seine Rechte einzufordern. Dann wirst du schnell daran erinnert, dass du einen Kugelschreiber zu viel im Nachtschrank hast, dass du unrasiert bist oder dass es im Haftraum Spinnweben gibt. Wenn du aber ein politischer Gefangener bist, dann werden sie es dich von Anfang an spüren und wissen lassen. So wie die Vorschriften derzeit formuliert sind, machen sie es sehr einfach, beliebige Gefangene in den Strafisolator zu stecken und sie von allen Seiten unter Druck zu setzen. Man muss sich nichts ausdenken oder verfälschen, warte einfach ein paar Stunden und der Häftling wird von selbst irgendeine Regel verletzen, denn ganz und gar nach den Regeln zu leben ist unmöglich. Die Logik des Vollzugsregimes zwingt die Insassen, jeden minimalen Komfort und jede Möglichkeit, ihre Bedürfnisse zu erfüllen, als Privileg wahrzunehmen, und damit sie das behalten, müssen sie sich still und gehorsam verhalten.

Auf der anderen Seite hat das Vollzugsregime den Zweck, die Gefangenen zu demütigen und ihnen das Gefühl zu geben, rechtlos und von der Vollzugsverwaltung abhängig zu sein, selbst bei der Erfüllung ihrer grundlegendsten Bedürfnisse.

Warum, glaubt ihr, gibt es in der Hälfte der U-Haft-Zellen des KGB (Amerikanka)12 keine Toiletten? Fehlen etwa Mittel und Möglichkeiten, sie auszustatten, stehen deshalb im 21. Jahrhundert in den Zellen Pisseimer, und fürs große Geschäft wirst du zwei mal am Tag rausgeführt? Die Antwort ist simpel: Der Gefangene soll das Gefühl haben, dass selbst die Erfüllung seiner natürlichsten Bedürfnisse vollständig von der Vollzugsverwaltung abhängt, weshalb sich ihr zu unterwerfen die bestmögliche aller Entscheidungen ist.

Und so ist es mit allem. Ich werde nie vergessen, wie wir uns in der Zelle von Waladarka die Nägel geschnitten haben. Für diese einfache hygienische Prozedur, die draußen in der Freiheit eure Aufmerksamkeit kein bisschen beanspruchen würde, musste man dort eine ganze Geheimoperation vollziehen. Wir hatten einen Nagelknipser in unserer Zelle – natürlich ein verbotener Gegenstand. Zuerst musste der Knipser unbemerkt vom Wärter, der jeden Augenblick durch den Türspion schauen konnte, aus dem Versteck geholt werden; dann musste er zur Toilette in die „tote Zone“, die vom Guckloch aus nicht einsehbar war, gebracht werden; die Wasserhähne mussten aufgedreht werden und erst dann konnten wir anfangen die Nägel zu schneiden. Die Wasserhähne wurden aufgedreht, damit das Rauschen des Wassers für die Wärter die charakteristischen Geräusche übertönt – „klack! klack!“ – durch die sie erraten würden, dass sich ein verbotener Gegenstand in der Zelle befindet. Danach musste der Knipser auf die gleiche Weise wieder versteckt werden.

Es ist bezeichnend, dass die Bullen jedes Verbot auf der offiziellen Ebene mit irgendwelchen rationalen Gründen zu erklären versuchen: Die Gürtel sind nicht erlaubt, damit sich keiner erhängt; Quark ist nicht erlaubt, damit sich keiner vergiftet; Kleidung mit Reißverschlüssen ist nicht erlaubt, weil alle gleich aussehen sollen; Lebensmittel sind nicht im Nachtschrank gestattet, wegen „unhygienischer Zustände“ und so weiter. Doch nicht jedes Verbot kann rational begründet werden, egal wie sehr man es versucht. Warum soll man die Meldung erstatten: „In der Zelle befindet sich ein Häftling, der diensthabende Zellenälteste ist der Gefangene so-und-so.“? Warum lassen sie die Gefangenen nicht mit den Füßen auf dem Bett sitzen? Würde das denn jemanden in Gefahr bringen? Antworten auf diese Fragen kann man finden. Zur Hilfe kommen interne Unterlagen einer Haftanstalt, die mir persönlich zu Gehör kamen. Während meines Aufenthalts in der Strafkolonie Nr. 17 (Schklou) wurden uns, „gemäß den geltenden Regimevorschriften“, Auszüge aus der internen Vollzugsordnung und verschiedene andere Erlasse über Lautsprecher verlesen. Einiges davon habe ich wortwörtlich notiert. Leider kann ich mich nicht an den genauen Titel dieses Erlasses erinnern. Da sitze ich also in Einzelhaft und eine metallene Stimme schallt aus dem Lautsprecher:

„Das Vollzugsregime für Besserungsanstalten […]. Die Besserungsfunktion des Vollzugsregimes besteht in der Festlegung von Verboten und Beschränkungen gegenüber dem Verurteilten. Ziel und Zweck von Verboten und Beschränkungen besteht darin, dem Gefangenen Leid und Kummer zu bereiten13, die dazu bestimmt sind, ihn zu zwingen, über sein bisheriges Verhalten nachzudenken.“

Als ich das das erste Mal hörte, traute ich meinen Ohren nicht. Und was ist mit dem Strafgesetzbuch, wo schwarz auf weiß geschrieben steht, dass „Strafen und andere Maßnahmen strafrechtlicher Sanktionierung NICHT14 das Ziel verfolgen, physisches Leid zuzufügen oder die menschliche Würde herabzusetzen“? Aber in seinen „internen“ Vorschriften reißt das System sich schließlich die Maske weg und zeigt offen, was der wahre Zweck des Vollzugsregimes ist. Und der Gefangene, der sich seit seinem ersten Tag in Haft fragt, wozu all diese Regeln, die in keiner Weise erklärt, gerechtfertigt und rationalisiert werden können, sieht auf einmal klar. Die sind dazu da, damit du leidest. Und all das offizielle Geschwätz der Kerkermeister über „unhygienische Zustände“, „Sicherheitsmaßnahmen“ und so weiter ist nichts weiter als Staub in deine Augen, dazu da, um einem kannibalischen und unmenschlichen System den Anschein von Legitimität und Menschlichkeit zu verleihen, dessen einziges Ziel darin besteht, dir Leid zuzufügen, um deinen Willen zu brechen.

Bemerkenswert ist, dass das Vollzugsregime und seine Anforderungen aus dem ohnehin nicht sehr klugen Personal der Strafvollzugsanstalten richtige Idioten macht. Eines Tages war es uns im Gefängnis in Shodsina irgendwie gelungen, einen Fernseher in die Zelle zu bekommen. Aber in dieser Betonkiste von Zelle hatte der einen sehr schlechten Empfang, und ihn näher ans Fenster zu stellen war unmöglich: Das Netzkabel war zu kurz und ein Verlangerungskabel war natürlich „nicht gestattet“. Und so stand der also mitten in der Zelle. Aber wenn er auf dem Boden stand, konnte man nichts sehen und wir mussten ihn irgendwie anheben. Wir hatten keine große Auswahl, und so stellten wir ihn auf eine umgedrehte Waschschüssel. Nach einer Weile kamen die Wachen zum Filzen. Deren Chef trat unverschämt auf, wandte den Kopf hin und her, suchte irgendetwas, um uns anmachen zu können. Seinem geschulten Auge fiel eine Abweichung von der Norm auf: der Fernseher auf einer umgedrehten Waschschüssel.

„Und warum steht der Fernseher da, auf der Waschschüssel?“

„Man kann nichts sehen, wenn der auf dem Boden steht, und das Kabel reicht nicht bis zum Tisch.“

Unzufriedenheit im Gesicht des Bullen. Die Schablone ist kaputt, eine Situation außerhalb des Reglements, dringender Handlungsbedarf:

„Aber das führt doch …“ – für eine Sekunde spiegelt sein Gesicht intensive Gedankenarbeit, die Suche nach einem relevanten und plausiblen Vorwand für eine Schikane – „… zum Verschleiß der Waschschüssel!“

Als sich die Tür schloss, lachten wir uns über diesen Bullen noch eine halbe Stunde lang schlapp, der hatte uns den Tag gerettet. Unsere Schlussfolgerung: Was für ein Leben! Hast es bis Mitte dreißig geschafft und rennst von einer Zelle zur anderen, um den Häftlingen was vom „Verschleiß der Waschschüssel“ zu erzählen. Das Regime haben sie für uns erschaffen, doch jetzt sind sie es, seine Diener, die noch weniger frei sind als viele Gefangene hinter Gittern.

Juli 2016

Die Farben einer parallelen Welt

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