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Für einige Dinge im Leben fehlen einem die Worte. Der weiße Ballon

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Nick hatte sich gerade ein mit Schinken gefülltes Ei in den Mund gestopft, als eine kleine, üppig gepolsterte Rothaarige, deren knallrote Haarfarbe nur aus einer Flasche Clairol stammen konnte, auf ihn zutrat, seinen Kopf mit beiden Händen wie ein Schraubstock umklammerte und sagte: »Unglaublich, wie sehr Sie meinem Joe ähneln. Sie sind größer und muskulöser, aber Sie sehen genauso aus wie er.« Zu seiner Verblüffung gab sie ihm einen schmatzenden Kuss direkt auf den Mund.

Fast wäre Nick an dem Ei erstickt, da er es so schnell wie möglich und mit einiger Mühe hinunterschluckte, bevor er antwortete: »Ich … äh … Nick Caruso. Ich bin ein Freund von Mia.«

Sie wischte seine Vorstellung mit einer äußerst ungeduldigen Handbewegung weg. »Das weiß ich. Ich habe alles über Sie gehört. Joe Perillo war der Mann, den ich liebte, bevor ich Frank Russo geheiratet habe. Er war meine erste Liebe.

Ich hoffe, es stört Sie nicht, dass ich Sie geküsst habe – ich bin verheiratet, also müssen Sie nicht auf falsche Gedanken kommen –, aber wenn ich mir Ihr hübsches Gesicht so ansehe, fühle ich mich in meine Jugend zurückversetzt.« Sie zog ein Taschentuch aus ihrem Ärmel und tupfte sich die Augen damit ab.

»Sie müssen Sophia Russo sein«, sagte Nick. »Von Ihnen habe ich schon viel gehört.«

Die Frau runzelte die Stirn. »Von wem? Sie dürfen nicht alles glauben, was Sie hören. Es gibt genug Menschen, die neidisch auf mich sind. Ich genieße ein gewisses Ansehen in diesem Viertel. Sie wissen ja, wie das ist, nicht wahr?«

Nick verkniff sich ein Schmunzeln. »Ich habe nur das Allerbeste gehört, Mrs. Russo, glauben Sie mir. Ich wohne vorübergehend bei Mia DeNero, die Sie häufig erwähnt hat.«

Sophia verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. »Oh, bei der. Mia macht ihrer Mutter viel Kummer, so viel ist sicher. Natürlich nicht annähernd so viel wie der Vater.« Sie bekreuzigte sich und verdrehte die Augen gen Himmel. »Das Mädchen weiß immer noch nicht, ob es ein Junge oder ein Mädchen sein will, wenn Sie mich fragen. Pausenlos nur Jeans und Turnschuhe. Aber sie ist die Schwester der neuen Frau meines Neffen, so dass ich nicht zu schlecht über sie reden möchte. Ich bin nach wie vor dabei, mich an Angela zu gewöhnen.«

Nick öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber sie überrollte ihn wie eine Dampfwalze und ließ ihm nicht die klitzekleinste Chance.

»All diese Hochzeiten so schnell hintereinander bringen mich völlig durcheinander. Da kommt man kaum hinterher. Und dann ist da auch noch meine Schwiegermutter. Madonna mia, disgrazia.« Sie presste die Hand über das goldene Kreuz auf ihrer Brust und sandte ein Stoßgebet zum Allmächtigen, ihr die schreckliche Last von der Schulter zu nehmen. »Warum ich, lieber Gott? Warum ich? Die alte Frau treibt mich noch in den Wahnsinn. Sie ist nicht nur eine Diebin, sondern zudem total verrückt. Aber wer hört schon auf mich? Alle singen nur Loblieder auf sie, weil sie eine alte Frau ist. Mein Mann Frank verehrt sie geradezu. In seinen Augen kann sie nichts falsch machen. Es heißt ständig nur Mama hier und Mama da. Ich bin eine schwer geprüfte Frau. Schwer geprüft, das kann ich Ihnen sagen.«

»Es hört sich an, als hätten Sie alle Hände voll zu tun.« Von einem Tisch in der Nähe zog er einen Stuhl für sie heran. Sophias Verbindung zu ihrem Bruder Alfredo Graziano könnte sich als nützlich erweisen, und Nick wollte sie nicht vor den Kopf stoßen, sondern sich geduldig ihre Klagelieder anhören. Außerdem mochte er die Frau irgendwie.

»Sie wissen noch nicht mal die Hälfte, Nick. Ich darf Sie doch Nick nennen, ja? Ich habe das Gefühl, dass wir uns schon sehr lange kennen, und ich glaube, das liegt daran, dass Sie meinem Joe so ähnlich sehen.

Ich bin eine Frau, die so manches Päckchen zu tragen hatte im Leben. Haben Sie schon meine Tochter Mary kennen gelernt?« Als er nickte, fügte sie hinzu. »Also, sie ist mit einem Iren verheiratet – sie trinken sehr viel, diese Iren – nicht wie meine andere Tochter Connie, die so viel Verstand hatte, auf ihre Mutter zu hören, und einen Proktologen geheiratet hat, der Gott sei Dank Italiener ist. Mary nennt Eddie Hinterndoktor. Aber was soll’s? Er wird gut bezahlt für seine Arbeit.

Mary und Connie sind beide schwanger und möchten, dass ich bei ihnen einhüte, als hätte ich nichts weiter zu tun. Nicht, dass ich mich beschweren will, verstehen Sie mich bitte richtig. Aber ich bin auch nicht mehr die Jüngste.« Sie klopfte sich auf die Brust. »Mein Herz, verstehen Sie.

Und dann Joe, mein Sohn Joe, nicht der andere, von dem ich Ihnen erzählte. Er war Priester, ein Mann Gottes, aber er hat die Kirche verlassen.« Sie bekreuzigte sich wieder. »Und wissen Sie warum?« Nick wusste es zwar, schüttelte aber verneinend den Kopf. »Um diese wilde Frau zu heiraten, die sich wie eine putana anzieht, wie ein Straßenmädchen. Er hat seiner Mutter das Herz gebrochen, und deswegen habe ich von Zeit zu Zeit Schmerzen in der Brust.

Ich erzähle Ihnen das, Nick, weil Sie ein netter Junge zu sein scheinen. Caruso ist ein italienischer Name, also müssen Sie ein paisan sein, und Sie sehen genauso aus wie mein Joe Perillo. Ich hätte Joe heiraten sollen. Das ist mir jetzt klar.«

Nick fühlte sich wie nach einer rasenden Achterbahnfahrt und wartete darauf, dass das Schwindelgefühl nachließ. Er holte mehrmals tief Luft, bevor er sagte: »Es tut mir Leid, dass Sie es so schwer hatten, Mrs. Russo.«

»Ich bin eine Mutter, und das sind nun mal die Bürden, die man zu tragen hat im Leben. Ich will mich nicht beschweren. Wie bei den meisten Müttern werden die Opfer, die ich gebracht habe, nicht richtig gewürdigt. Mein Bruder Alfredo ist der Einzige, der wirklich versteht, was ich alles durchmache. Wir stehen uns sehr nahe.«

Nick beugte sich vor und wusste, dass dies die Gelegenheit war, auf die er gewartet hatte. »Es ist schön, dass Sie und Ihr Bruder sich gegenseitig stärken können. Erzählen Sie mir von ihm.«

»Alfredo ist ein guter Mann. Er ist –«

»Da bist du also, Sophia Graziano. Hier sitzt du mit diesem hübschen jungen Mann und lässt mich allein im Badezimmer. Vaffanculo.« Zu Nicks größter Überraschung fiel die alte Frau ihrer Schwiegertochter einfach ins Wort. »Ich hätte hinfallen und mir den Hals brechen können.«

»Hätte ich doch nur so viel Glück«, murmelte Sophia, bevor sie sagte: »Nick, das ist meine Schwiegermutter, Flora Russo. Die Mutter meines Mannes lebt bei uns. Verstehen Sie? Verstehen Sie, wovon ich geredet habe?«

Nick fluchte innerlich. Verdammt! Hätte Flora nicht eine Minute später kommen können? Bevor sie ihre interessante Unterhaltung unterbrach, hatte er das Gefühl, dass Sophia ihm gerade etwas Wichtiges über ihren Bruder erzählen wollte.

Er riss sich zusammen, lächelte und ergriff die runzlige Hand der alten Dame. »Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mrs. Russo.«

»Nick sieht Joe Perillo wie aus dem Gesicht geschnitten aus, Flora, der Mann, den ich an Stelle von Frank hätte heiraten sollen.«

Die alte Frau presste ihre Lippen zu einer dünnen Linie zusammen. »Du verdienst meinen Sohn nicht. Er ist zu gut für dich.« Flora warf ihrer Schwiegertochter einen bösen Blick zu. »Sie ist la figlia del diavolo. Diese Frau ist des Teufels«, sagte sie Nick und wies anklagend auf Sophia. »Del diavolo

»Schweig, alte Frau! Joe Perillo ist ein erfolgreicher Olivenölexporteur auf Sizilien. Er verdient sehr viel Geld. Ich hätte ein wunderbares Leben führen können, la dolce vita

»Bah! Mein Frank ist ein Heiliger. Er stellt Dinge mit seinen Händen her. Er ist sehr klug, mein Frank. Haben Sie schon mal auf einem beheizten Toilettensitz gesessen, Nick? Mein Sohn hat den erfunden.«

Der Agent sah sie erstaunt an. Er hatte schon von dem Brötchenwärmer gehört, hätte sich tatsächlich beinahe einen gekauft. »Ihr Sohn hat den ›Brötchenwärmer‹ erfunden? Ich bin tief beeindruckt.«

»Siehst du, Sophia. Nick ist beeindruckt. Oliven kann jeder anbauen. Bah!«

Sophia beachtete ihre Schwiegermutter gar nicht und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Nick zu. »Womit verdienen Sie sich denn Ihren Lebensunterhalt, Nick? Sind Sie verheiratet? Ich sehe keinen Ring«, sagte sie mit einem prüfenden Blick auf seine linke Hand und einem verstohlenen Lächeln.

Sophias Patentochter Gabriella Perillo aus Rom würde sie bald besuchen kommen. Vielleicht sollte sie sie mit Nick bekannt machen. Die beiden gäben ein sehr schönes Paar ab. Und es wurde Zeit, dass Gabriella heiratete.

»Ich bin Schriftsteller. Ich schreibe ein Buch über das organisierte Verbrechen.«

Flora bekreuzigte sich. »La Cosa Nostra. Wir wissen alles darüber, stimmt’s, Sophia?«

»Wirklich?« Nick hob fragend die Augenbrauen und spürte, wie seine Aufregung stieg.

Sophia warf ihrer Schwiegermutter einen tödlichen Blick zu. »Schweig, alte Frau! Du weißt nicht, wovon du redest.«

»Du erzählst doch andauernd, dass dein heiliger Bruder Verbindungen hat, Sophia. Vielleicht sollte Nick sich mal mit ihm unterhalten. Alfredo könnte ihm vielleicht ein paar Dinge erzählen. Ihr Bruder behauptet, dass er Verbindungen zur Gotti-Familie hat.« Flora fuhr sich mit dem Zeigefinger quer über den Hals. »Sie töten Leute.«

»Mein Bruder hat niemanden getötet. Davon bin ich fest überzeugt«, sagte Sophia, obgleich Nick meinte, einen leisen Zweifel in ihren Augen gelesen zu haben. »Und wir haben Alfredo versprochen, nicht mehr darüber zu reden. Lenore gefällt es nicht, und mein Bruder möchte weiterhin Umgang mit ihr pflegen.«

Nick nahm sich im Stillen vor, Alfredos Freundin Lenore zu überprüfen.

»Also, ich bin da ganz Ohr, Mrs. Russo. Ich würde sehr gern mehr über Ihren Bruder erfahren. Glauben Sie, dass er mir ein Interview geben würde für mein Buch?«

»Alfredo soll in Ihrem Buch vorkommen?«, fragte Sophia erfreut, und er merkte, dass sie sich für die Idee zu erwärmen begann. »Er würde so berühmt werden wie Eddie Fisher.«

»Er würde getötet werden, wenn er über die Mafia auspackt«, korrigierte Flora. »Weißt du, was sie mit denen machen, die singen?« Sie deutete auf Nicks Unterleib. »Sie schneiden ihnen ihre Du-weißt-schon ab. Und vorbei ist es mit dem Gekrähe.«

Nick zuckte zusammen und rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her, sagte aber nichts dazu, weil er wusste, dass die alte Dame Recht hatte.

»Wir wissen nicht genau, ob Alfredo überhaupt Verbindungen hat«, sagte Sophia mehr zu sich selbst als zu jemand Bestimmtem. »Ich muss darüber nachdenken und ihn fragen, ob er interessiert ist.«

»Wenn er lieber anonym bleiben möchte, wäre das kein Problem. Jemand, der aus erster Hand Kenntnisse über die internen Strukturen der Mafia hat, wäre von unschätzbarem Wert für mich. Ich wäre für ewig in Ihrer Schuld, wenn Sie das arrangieren könnten, Mrs. Russo.« Er schenkte ihr sein charmantestes Lächeln.

Das Bild von Nick und Gabriella, die durch den Gang zum Altar schritten, blitzte kurz vor ihr auf, und Sophia lächelte zufrieden und tätschelte Nicks Hand. »Ich werde sehen, was ich für Sie tun kann. Alfredo ist sehr zurückhaltend, aber gewöhnlich tut er mir einen Gefallen, wenn ich ihn darum bitte.«

»Weil du ihm so lange in den Ohren liegst, bis er das tut, genau wie du meinem Sohn keine Ruhe lässt«, sagte Flora und verschränkte laut schnaubend die Arme über der Brust.

Sophia funkelte ihre Schwiegermutter an. »Wer hat dich gefragt?«

Nick lehnte sich zurück und musste lächeln. Er mochte die beiden alten Damen, die sich wie Kampfhennen aufführten. Genau genommen mochte er jeden, den er bisher auf dieser Party kennen gelernt hatte. Oh, sie waren schon unterschiedlich, das war nicht zu leugnen – Sam DeNero in seinem paillettenbestickten Kleid tauchte vor seinem geistigen Auge auf – aber sie waren eine Familie, etwas, was Nick bedauerlicherweise nie gehabt hatte.

Er hatte sich immer eingeredet, dass er gut auf diese Erfahrung verzichten konnte, dass er sich lieber nicht öffnen und das Risiko eingehen wollte, verletzt zu werden, aber im tiefsten Inneren sehnte er sich nach dieser Art von Nähe und fragte sich, ob er so etwas je haben würde.

»Kaum zu fassen, aber meine Mutter scheint richtig vernarrt zu sein in deinen Freund Nick«, sagte Mary zu Mia, als sie zu dem in angeregter Unterhaltung vertieften Paar blickte. »Normalerweise ist Ma Fremden gegenüber eher reserviert, aber mit diesem Mann unterhält sie sich schon sehr lange.«

Mias Blick folgte dem ihrer Freundin, und sie zuckte die Achseln. »Nick ist ein harmloses männliches Wesen. Er ist absolut kein Macho, deshalb fühlt sich Sophia wahrscheinlich wohl in seiner Nähe. Möglicherweise weckt er sogar ihre Beschützerinstinkte. Er hat diese Wirkung auf Frauen.«

»Wieso hältst du ihn für unmännlich?«, fragte Annie. Marys beste Freundin und Schwägerin hatte sich zu den beiden gesellt. »Ich finde ihn irgendwie süß. Ohne diese grauenhafte Brille sähe er wahrscheinlich richtig gut aus. Natürlich nicht so gut wie Joe, aber dennoch gut. Und er hat beachtliche Schultern. Ich wette, seine Brustmuskulatur ist nicht zu verachten. Hast du das schon mal gecheckt, hast du ihn schon mal nackt gesehen?«

»Annie Russo!« Mia sah ihre Freundin an, als hätte sie den Verstand verloren. »Für eine verheiratete Frau sind das ziemlich abartige Fantasien.« Von allen neuen Freundschaften, die sie geschlossen hatte, seit sie nach Baltimore gezogen war, war Annie bestimmt die ausgefallenste und witzigste Freundin. Mia mochte sie sehr.

»Annie hatte immer schon abartige Fantasien«, sagte Mary leichthin und grinste, was ihr einen freundschaftlichen Klaps von ihrer Schwägerin eintrug.

»Nick ist so langweilig wie ein neugeborenes Kind«, sagte Mia. »Ich finde ihn kein bisschen attraktiv.« Lügnerin! »Und ich habe ihn noch nicht gecheckt.« Lügnerin! Lügnerin! »Er ist mein Klient, nicht mein Liebhaber. Obgleich ich einmal ganz kurz einen Blick auf seine Brust erhaschen konnte; sie war muskulös und irgendwie haarig.« Mmmm. Lecker. »Aber das war ganz zufällig. Wir leben schließlich in einer Wohnung. Da gibt’s nun mal solche Zufälle.«

Annie und Mary tauschten wissende Blicke aus.

»Wer ist nicht attraktiv?« Angela tauchte neben Mia auf, legte ihr den Arm um die Taille und küsste sie auf die Wange. »Ich warte schon die ganze Zeit darauf, endlich deinen berühmten Schriftstellerklienten kennen zu lernen. Ich dachte, du wolltest uns Nick Caruso vorstellen.«

Mia lächelte entschuldigend. »Mom und Dad haben uns in Beschlag genommen. Und als du und John schließlich nicht mehr von Gratulanten belagert wurdet, unterhielt Nick sich inzwischen sehr angeregt mit Sophia und Flora, und ich mochte ihn nicht stören. Wahrscheinlich versucht er, Sophia zu überreden, ihm Alfredo vorzustellen, wegen des Buchs, das er schreibt.«

Mary lachte. »Weil mein Onkel behauptet, Verbindungen zu haben? Hast du ihm nicht gesagt, dass der Mann einen Vogel hat, dass er am liebsten möchte, dass jeder ihm die Hand küsst und ihn Don nennt? Du kannst mir glauben, mein Onkel ist nicht Marlon Brando.«

»Ich habe es zwar nicht ganz so unverblümt ausgedrückt, aber Nick gegenüber schon durchblicken lassen, dass Alfredo eher ein harmloser Spinner ist.«

»Dein Dad sieht heute Abend besonders umwerfend aus, Mia«, lobte Annie und blickte in Richtung Tanzfläche, wo Sam und Rosalie Wange an Wange nach dem gleichnamigen Frank-Sinatra-Song tanzten. Obgleich schwer zu sagen war, wer wen führte.

»Ich würde sonst was geben für dieses Kleid. Und ich weiß genau, dass er es nicht bei Goldman’s gekauft hat.«

Das hatte Sid Goldman, der gerade vorbeikam, nicht überhört und sagte zu seiner Tochter: »Weil du nicht aggressiv genug wirbst, Annie.« Er tätschelte ihr liebevoll die Wange. »Aber das lernst du noch mit der Zeit. Diese Kleider haben eine enorme Handelsspanne. Wir könnten gut an Sam DeNeros Käufen verdienen.

Wenn er Damenkleider haben möchte, sollte er sie bei Goldman’s kaufen. Wir bieten gute Qualität, und ich kann alles bestellen, was er will. Außerdem bekäme er zehn Prozent Rabatt von mir. Das erhält er bestimmt nicht beim Home Shopping Network. Ganz abgesehen davon, dass wir von Goldman’s stolz auf unsere Diskretion sind. Was ist?«, fragte er seine Tochter, die ihn stirnrunzelnd betrachtete.

Angela und Mia grinsten sich an.

»Hallo, Mr. Goldman«, sagte Mia. »Wie schön, Sie zu sehen. Ich rede mit meinem Dad und schlage ihm vor, es demnächst mal in Ihrem Laden zu versuchen.«

Besänftigt durch ihr Angebot nickte Sid und sagte: »Gut.« Dann klopfte er sich gegen die Brust und rülpste so diskret er konnte. »Ich habe Koliken. Diese Hackbällchen waren sehr stark gewürzt, und ich habe einen empfindlichen Magen. Ich muss unbedingt mein Mittel gegen Sodbrennen einnehmen.« Er küsste Annies Wange und ging seiner Wege.

Die vier Frauen sahen sich an und brachen dann in Lachen aus.

»Glaubt ihr, dass es nur unsere Familien sind – oder haben alle anderen ebenfalls einen Knall?«, wollte Mary wissen. »Ich glaube, es hat etwas mit Little Italy zu tun.«

»Du hast wahrscheinlich Recht, aber ich lebe schrecklich gern hier«, gestand Mia. »Es ist eine so verschworene Gemeinschaft, wo jeder sich um jeden zu kümmern scheint. Auf mich wirkt es, als sei ich nach Hause gekommen.«

»Wo jeder seine Nase in fremde Angelegenheiten steckt, meinst du wohl«, korrigierte Mary.

»Wie kommst du mit Mrs. F. zurecht, Mia?«, fragte Annie. »Macht sie dir das Leben schwer?«

Als Mia das Gesicht verzog, sagte Mary: »Das ist einfach ihre Art. Sie würde dich nicht belästigen, wenn sie dich nicht in ihr Herz geschlossen hätte.«

»Tja, ich hätte nichts dagegen, wenn sie mich etwas weniger mögen würde.« Mia blickte sich um. Das Lokal war inzwischen gerammelt voll. »Wo ist Donna Wiseman? Ich hätte sie heute Abend gern mit Nick bekannt gemacht. Man weiß ja nie, vielleicht verknallen sich die beiden ineinander.« Donna war Annies Cousine. Sie hatten das, was man eine Liebe-Hass-Beziehung nennen konnte. Annie liebte es, Donna zu hassen.

»Sie kommt bestimmt später«, antwortete Annie. »Die Primadonna liebt große Auftritte.«

»Himmelt sie noch Lou Santini an? Es ist mir unbegreiflich, was sie an diesem Mann findet«, meinte Mia. »Seine Mutter ist eine Hexe. Könntet ihr euch vorstellen, sie als Schwiegermutter zu haben?«

»Klar, auf Schwiegereltern gibt es nun mal keine Garantie, wenn man sich in jemanden verliebt.«

»So, so, Annie«, sagte Mary und drückte ihrer Freundin die Hand. »Meine Mutter hat sich in letzter Zeit aber etwas gebessert, das musst du zugeben.«

»Sophia toleriert mich wegen Joe, aber sie wird mir nie verzeihen. Sie gibt mir hartnäckig die Schuld, dass Joe sein Priesteramt an den Nagel gehängt hat; sie erwähnt es ständig. ›Mein Sohn, mein Sohn, er hätte Papst werden können‹«, äffte Annie Sophia nach.

Mary lachte. »Hör auf! Ich krieg ’ne richtige Gänsehaut.« Dann gab ihr das Baby einen Tritt, und sie machte große Augen. »Oh!«

»Los, Mia, wir retten jetzt deinen Klienten aus den Fängen von Sophia und Flora,«, beschloss Angela, »und machen mit ihm die Runde. Es wird langsam Zeit, glaube ich. Das sollte keine Beleidigung sein, Mary.«

»So habe ich das auch nicht aufgefasst. Außerdem darfst du, nachdem du Dan und mir das Sorgerecht für Matthew verschafft hast, über meine Mutter sagen, was du willst.«

Angela lächelte sanft. »Ob du es glaubst oder nicht, aber ich fange an, Sophia gern zu haben. Unter ihrem ganzen Gepolter steckt ein gutes Herz.«

»Wirklich?« Annie sah ratlos aus. »Was mache ich dann falsch? Ich verrenke mich bis zum Gehtnichtmehr, um dieser Frau zu gefallen, aber bisher hat es nicht funktioniert.«

Angela tätschelte der ratlosen Frau den Arm. »Du musst Geduld haben, Annie. Vergiss nicht, dass du es warst, die Sophia den Sohn genommen hat. Priester hin oder her, Joe war ihr Erstgeborener. Abgesehen davon, dass er ihr Sonnenschein, ihr Ein und Alles war. Sophia braucht ein bisschen Zeit, um sich damit abzufinden, dass er eine andere Frau mehr liebt als seine Mutter.«

»Ich glaube, du hast Annie eben sehr geholfen. Jetzt hat sie bestimmt mehr Verständnis für Sophia und kann ihre Situation besser akzeptieren«, sagte Mia, als sie außer Hörweite waren.

»So? Meinst du? Nun ja, ich glaube, ich spreche aus Erfahrung. Adele Franco ist auch nicht gerade begeistert, dass ich ihren Sohn geheiratet habe oder dass John das Kind eines anderen Mannes aufziehen wird.« Angelas Exverlobter war der biologische Vater ihres Babys. Er war ein betrügerischer, hinterhältiger Frauenheld und der größte Fehler ihres Lebens. Gleich nach dem Kind war John das Beste, was ihr je passiert war. »Obgleich sie es anscheinend gar nicht erwarten kann, wieder Großmutter zu werden. Also findet sie sich eventuell beizeiten damit ab.«

»Das alles bestärkt mich mehr denn je, nie zu heiraten. Was für ein Theater. Nicht nur, dass du dich mit einem Mann arrangieren musst, der dir erzählt, was du zu tun und zu lassen hast, und wie – du kriegst es zusätzlich mit all den anderen Familienmitgliedern zu tun, zum Beispiel mit verärgerten Schwiegermüttern. Das ist die Sache einfach nicht wert. Da lebe ich lieber in Sünde.«

»Und ist dieser Nick Caruso der Kandidat, mit dem du vorhast zu sündigen?«, fragte Angela.

»Ha, ha, ha.« Mia bemerkte, wie Nicks Jackett über seinem Rücken spannte, als er sich über den Tisch beugte, um mit Sophia und Flora zu reden. Er gestikulierte mit den Händen, und sie stellte des Weiteren fest, dass er lange Finger und schön gepflegte Fingernägel hatte – gepflegter als ihre – und dass sein dunkles Haar ihm auf sehr einnehmende Art und Weise in die Stirn fiel.

Hör auf, Mia! Bist du verrückt? Der Mann ist dein Klient.

Aber er ist so süß. Sie fragte sich, warum sie ihn anfangs mit völlig anderen Augen gesehen hatte. Jeder Mann, der sich so ungezwungen so lange mit zwei alten Frauen unterhielt, musste außerdem doch einfach nett sein, oder?

Oder dumm wie Bohnenstroh.

Aber aus irgendeinem Grund hielt sie Nick Caruso nicht für dumm. Im Gegenteil, er schien alles in allem interessanter und intelligenter zu sein, als sie anfangs geglaubt hatte.

Interessant, intelligent und gut aussehend.

Du bist in großen Schwierigkeiten, Mia.

Süße Lügen

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