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Kapitel 3

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Liz folgte dem leisen Stimmengewirr in das modernisierte Esszimmer. Wenn sie bislang gedacht hatte, der Flur wäre mit seinen Weiß- und Grautönen kalt eingerichtet, so wurde sie nun eines Besseren belehrt.

Man hatte die Wände der ehemaligen Küche entfernt und eine offene Küche mit frei stehendem Herd eingebaut. Im Wohnzimmer dahinter waren die Möbel ausgetauscht worden. Im Esszimmer standen nun ein langer Tisch und Stühle mit schwarzen Sitzkissen. Große runde Lampen hingen in verschiedenen Höhen über dem Tisch an der Decke. Überall war die Tapete entfernt und der Beton dahinter roh belassen worden. Liz bekam bei dem Anblick eine Gänsehaut.

Sicherlich, die Küche gefiel ihr, denn sie arbeitete gern an einem frei stehenden Herd und einem Küchentresen, doch vermisste sie die zusammengewürfelten Holzschränke aus der alten Küche.

Ihre Mutter hatte überall Kräuter in Gläsern und Dosen verteilt. Der Raum hatte eine heimelige Atmosphäre ausgestrahlt, die Liz stets an die Liebe ihrer Mutter erinnert hatte.

Das Zimmer nun so verändert zu sehen, tat ihr im Herzen weh. Aus dem Wohnzimmer war das alte Klavier verschwunden, an dem ihre Mutter immer so gern gespielt hatte, vor allem wenn Liz darum bettelte, etwas vorgespielt zu bekommen. Das Sofa, auf das sie sich früher mit ihren Eltern gequetscht hatte, war ausgetauscht worden, genauso wie Liz’ Lesesessel und die Wohnzimmerschränke. Zwischen Wohn- und Esszimmer war eine graue Betonmauer errichtet worden, die die Räume aufteilte. Mit einem Kloß im Hals trat sie in das Esszimmer. Ihr Vater saß neben Viktoria. Diese ließ ein Lachen ertönen und rutschte näher an Liz’ Vater, um ihm etwas ins Ohr zu säuseln. Igitt! Reichte es diesem Luder nicht, ihren Vater verführt und ihr Zuhause in einen Betonklotz verwandelt zu haben? Musste sie in Liz’ Gegenwart auch noch mit ihm flirten?

Stephan saß ungestört auf seinem Platz, nahm sich ein Stück Brot und strich sich Butter darauf.

„Stephan, wir fangen gemeinsam an“, sagte ihr Vater.

„Wenn du meinst“, antwortete Stephan, steckte sich das Brotstück in den Mund und lehnte sich im Stuhl zurück. Liz beobachtete, wie sich die Gesichtszüge ihres Vaters verdüsterten, und ein winziges Hochgefühl flatterte in ihrem Magen auf. Viktoria schenkte ihrem Vater ein Glas Rotwein ein und redete weiter, offensichtlich, um ihn von Stephan abzulenken, was leider auch funktionierte. Ihr Vater hatte das Weinglas entgegengenommen und stieß mit seiner Frau an, bevor er einen Schluck trank. Dann stellte er das Glas ab und sah Liz.

„Elisabeth, komm her und setz dich. Du hast uns lange warten lassen. Ich hoffe, das Essen ist noch nicht kalt.“

Sie erkannte am wohlwollenden Nicken ihres Vaters, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, das grüne Kleid anzuziehen.

Viktoria beachtete Liz nicht, als sie auf den freien Platz neben ihrem Stiefbruder zusteuerte, wofür sie sehr dankbar war. Als sie saß, schaute sie ihren Vater an, der nach der Haushälterin rief.

„Frau Reimers, bitte richten Sie den ersten Gang an.“

Jetzt bemerkte Liz die Frau in der Küche, die eifrig anfing, einen Topf und Teller auf einen Servierwagen zu stellen. Stephan nahm sich ein weiteres Stück Brot, und Liz versuchte, ihn so gut wie möglich zu ignorieren.

„Sicherlich hast du schon lange nichts Richtiges mehr gegessen. Auf der Uni gab es bestimmt nur Kantinenessen“, sprach Viktoria und nippte an ihrem Wein.

Liz’ Blick schwenkte zu ihrem Vater, der ihr gegenübersaß. Sie sah, wie sich sein Griff um das Glas verstärkte. Stephan hörte auf, zu essen, und lauschte neugierig ihrem Gespräch. Sie sah ihren Vater an. Würde er die Lüge, sie wäre auf einer Privatuniversität gewesen, weiter aufrechterhalten?

Er nahm das Glas, schwenkte den Wein darin hin und her und sagte: „Die Universität hat einen sehr guten Ruf, und daher kann ich mir nicht vorstellen, dass das Essen dort nicht erstklassig war. Oder, Elisabeth?“ Ihr Vater führte das Glas an seinen Mund, wobei sein Augenmerk auf Liz gerichtet war.

Sie nahm die weiße Stoffserviette von ihrem Teller, faltete sie auseinander und legte sie sich auf ihren Schoß, um Zeit zu gewinnen. Sie könnte ihren Vater vor seiner neuen Familie auffliegen lassen, hielt sich jedoch etwas zurück, denn sie wusste nicht, welche Gründe er für seinen Eintritt in die Loge hatte. Doch eines stand fest: Er war ihr Vater und sie würde ihm nicht vor seiner Familie in den Rücken fallen.

Liz setzte ein Lächeln auf und sah Viktoria an. „Mein Vater hat die beste Hochschule für mich ausgesucht. Ein angenehmer Ort und mit delikatem Essen.“

Viktoria kniff die Augen zusammen. „Du bist so überstürzt abgereist, dass ich mir Sorgen gemacht habe. Du hättest dich ruhig noch verabschieden und deine Sachen mitnehmen können.“

Bevor Liz sich eine Antwort ausdenken konnte, sprang ihr Vater ein. „Der Studienplatz war kurzfristig frei geworden, und du weißt ja, wie das ist. Bei einer solch angesehenen Institution muss man schnell handeln, sonst vergeben sie die Plätze anderweitig weiter.“ Er nahm ebenfalls seine Serviette vom Teller und legte sie sich auf seinen Schoß.

„In welchem Land liegt denn die Schule?“, fragte Stephan, und alle am Tisch sahen ihn an, als hätte man ihn ganz vergessen. Das gefiel ihm anscheinend gar nicht, wie man an seinen zusammengepressten Lippen erkennen konnte.

Liz kam ins Schwitzen, doch auch hier half ihr ihr Vater aus.

„In Großbritannien, in der Nähe von Canterbury. Und jetzt lassen wir die Fragerei. Liz ist erschöpft und ich bin am Verhungern.“

Wie aufs Stichwort kam die Haushälterin mit einem silbernen Servierwagen neben den Tisch gefahren. Sie trug eine Uniform mit weißer Schürze, und Liz versuchte, nicht die Augen zu verdrehen. Früher gab es in ihrem Zuhause nur eine Putzhilfe, eine nette ältere Dame, die froh über den Job bei den Heffners gewesen war. Doch das Essen hatte immer ihre Mutter gekocht, die Küche war ihr Heiligtum gewesen und die hatte sie mit Gabel und Messer verteidigt. Diese Leidenschaft fürs Kochen hatte sie an ihre Tochter weitervererbt. Dabei konnte Liz sich entspannen, und allen ihren Freunden auf Adrians Anwesen hatte ihr Essen immer geschmeckt. Die Gedanken an ihre kleine Gemeinschaft auf Adrians Anwesen schob sie schnell zur Seite. Sie durfte jetzt nicht in Trübsal verfallen.

„Elisabeth, unsere Haushälterin Frau Reimers kennst du ja bereits. Sie arbeitet seit einem Jahr bei uns. Frau Schmitt konnte die Arbeit leider nicht weiterführen und so haben wir jemand Neues eingestellt“, sagte ihr Vater.

Liz sah sich Frau Reimers genauer an, deren ernstes Gesicht auf Liz wenig vertrauenerweckend wirkte, und der Blick, den sie mit ihrer Stiefmutter tauschte, verursachte ihr ein ungutes Gefühl im Magen. Liz lief ein Schauer über den Rücken. Musste Viktoria denn alles und jeden im Haus austauschen?

„Was genau hat Frau Schmitt denn? Ich hoffe, es ist nichts Ernstes?“

Viktoria kam ihrem Vater zuvor. „Frau Schmitt war sehr alt und konnte den Haushalt nicht mehr zufriedenstellend erledigen. Und nun bitte ich darum, die Vorspeise zu servieren.“

Damit war das Gespräch beendet, doch Liz war sich sicher, dass Viktoria nicht unschuldig an Frau Schmitts Fortgehen war. Bestimmt hatte sie ihr so viel aufgehalst, dass sie die Arbeit nicht schaffen konnte.

Es gab als ersten Gang eine Tomatensuppe mit getrockneten Tomatenstücken und Basilikum als Garnitur. Liz musste zugeben, dass die Suppe sehr gut schmeckte, außerdem bekam sie ihrem nervösen Magen gut und wärmte sie von innen. Während des Essens herrschte Stille zwischen ihnen. Auf Viktorias Wunsch hin hatte Frau Reimers Musik angemacht und nun hörte man leise ein Klavier im Hintergrund spielen.

Als Hauptgericht gab es Spaghetti mit Oliven und einem Paprikapesto, dazu einen grünen Salat mit Balsamico-Dressing, in dem sich Walnüsse und Apfelstücke befanden. Trotz der Anspannung, unter der Liz litt, aß sie alles auf.

Als Dessert wurde ihnen selbst gemachtes Zitronensorbet mit gezuckerten roten Früchten serviert. Als sie fertig waren und Frau Reimers abräumte, konnte Liz nicht anders, als ihr Essen zu loben, auch wenn die Frau mit ihrer Stiefmutter gut auszukommen schien.

„Das Essen war ausgezeichnet, Frau Reimers. Sie müssen mir unbedingt das Rezept für das Paprikapesto verraten. Haben Sie die Paprika zuvor im Ofen gehabt und sie dann geschält?“

Sichtlich überrascht von dem Lob hielt die Frau inne und schaute Liz an. Dann nickte sie. „Vielen Dank. Ja, ich habe sie auf den Grill auf der Terrasse gelegt und danach geschält. Dass sie das geschmeckt haben, ist beachtlich.“

Liz lächelte die Frau an. „Ich koche auch leidenschaftlich gerne, das habe ich von meiner Mutter.“

War es zuvor schon still gewesen, hätte man nun eine Stecknadel fallen hören können. Ihr Vater räusperte sich und Frau Reimers erwachte aus ihrer Erstarrung. Schnell brachte sie den Servierwagen in die Küche zurück. Liz sah zu ihrem Vater.

„Es ist spät und du bist sicher müde von der Fahrt. Morgen muss ich früh ins Parlament und ich komme erst abends wieder zurück. Wenn du etwas brauchen solltest, wende dich bitte an Viktoria.“

Liz sah, wie ihre Stiefmutter die Lippen schürzte.

„Sollten wir nicht noch besprechen, welchen Weg Elisabeth als Nächstes gehen wird? Wie lange sie hier wohnen bleibt oder ob sie möglichst schnell in eine Studenten-WG ziehen will? Du hast doch gesagt, sie würde in Deutschland weiterstudieren.“

Ihr Vater trank sein Glas aus und erhob sich vom Stuhl. „Das werden wir später besprechen. Momentan hat sie Semesterferien, also können wir in Ruhe überlegen, auf welche Uni sie dann gehen wird.“

Liz stand ebenfalls auf. Das Letzte, was sie wollte, war, mit ihrer Stiefmutter und deren Sohn allein am Tisch zurückzubleiben. Bei dem Gedanken fühlte sie sich wie ein verschrecktes Reh auf offener Lichtung, auf das die Jäger schon mit dem Gewehr im Anschlag warteten. Schnell verabschiedete sie sich ebenfalls von ihnen, ging in ihr Zimmer und schloss erleichtert die Tür hinter sich ab. Ohne an morgen und die nächsten Probleme zu denken, ging sie in das angrenzende Badezimmer. Sie dankte den Göttern dafür, dass sie ein eigenes Bad hatte. Es war zwar klein, aber alles Nötige war vorhanden. Eine Badewanne mit integrierter Dusche, eine Toilette, ein elfenbeinfarbenes Waschbecken und ein hoher Badezimmerschrank. Liz packte ihre Kulturtasche aus und putzte sich die Zähne, dann kämmte sie sich die Haare und zog ihren Schlafanzug an. Müde krabbelte sie in ihr Himmelbett und zog die Gardinen zu. Mit ihrem I-Aah im Arm kuschelte sie sich unter die frisch bezogene Bettdecke. Bevor die Gedanken in ihrem Kopf Karussell fahren konnten, war sie bereits in den Schlaf gedriftet. Das Vibrieren des Handys auf ihrem Schreibtisch hörte sie schon nicht mehr.

Henry warf das Handy auf das Sofa. „Sie geht nicht an ihr Handy. Warum kann sie nicht wenigstens schreiben, ob es ihr gut geht?“

Er ging im Raum umher. Mike saß am Schreibtisch, sah vom Monitor auf, sagte aber nichts. Adrian schaute ihn über seine Unterlagen hinweg an.

Sie befanden sich in einem von Adrians Arbeitszimmern, in dem sich Mike mit seinen Computern eingerichtet hatte. Drei Bildschirme standen vor ihm auf dem Tisch und er tippte unermüdlich auf seiner Tastatur herum. Das Geräusch machte Henry wahnsinnig. Mike war einer der Security-Leute und bewachte das Anwesen. Gleichzeitig war er ein alter Freund von Adrian und ebenfalls dominant. Doch hier auf dem Anwesen arbeitete er meistens nur, seiner Leidenschaft ging er in einem seiner BDSM-Clubs nach, die er in Berlin eröffnet hatte.

Adrian, der an seinem Schreibtisch saß, legte die Papiere zur Seite und sah Mike an. „Bist du weitergekommen?“

Mike lehnte sich zurück und streckte die Arme über den Kopf. „Leider nein. Die Dateien sind mehrfach verschlüsselt. Ich gebe es nur ungern zu, aber momentan schaffe ich es nicht, den Code zu knacken. Tut mir leid.“

„Aber Madeleine konnte doch die Namen am Laptop der Loge sehen. Wieso sind die Dateien jetzt verschlüsselt?“, fragte Henry.

Mike drehte sich zu ihm um. „Es gab wohl einen Sicherheitsmechanismus, welcher die Dateien beim Kopieren verschlüsselt. Anders kann ich mir das auch nicht erklären. Das heißt, wir benötigen das Passwort, sonst kommen wir nicht an die Daten.“

Nachdem Madeleine und Falco vor ein paar Monaten der Loge knapp entkommen waren und es geschafft hatten, wichtige Daten der Logenmitglieder auf einen USB-Stick zu ziehen, waren sie alle großer Hoffnung gewesen, die verbrecherische Organisation endlich auffliegen zu lassen und hinter Gitter bringen zu können. Würde es ihnen gelingen, die Dateien zu entschlüsseln, dann hätte Liz keinen Grund mehr, länger bei ihrem Vater zu bleiben, und Henry könnte sie endlich von dort wegholen.

Doch Mike benötigte das Passwort. War ja klar, dass die Loge sich mehrfach absicherte. Sie konnten von Glück sagen, dass Adrian herausgefunden hatte, dass Liz’ Vater zur Loge gehörte und den Geheimcode besaß. Somit hatten sie wenigstens eine geringe Chance, diesen in die Hände zu bekommen.

Henry setzte sich auf das Sofa und ließ den Moment der Enthüllung über Liz’ Vater vor seinem Geist Revue passieren. Adrian hatte Liz und Henry zu sich gerufen und dann war mit einem Paukenschlag die ganze furchtbare Wahrheit ans Licht gekommen. Seit Liz bei ihnen wohnte, hatte Adrian ihren Vater beschatten lassen. Man fand heraus, dass ihr Vater ein Mitglied der Loge war. Doch das war noch nicht alles. Ihr Vater wusste darüber Bescheid, dass sie vor drei Jahren von der Loge entführt worden war.

Das war der Moment, in dem Liz in seinen Armen zusammengebrochen war. Sein Herz verkrampfte sich, wenn er an die Angst dachte, die er damals um sie gehabt hatte. Erst als sie sich ein paar Tage später von dem Schock erholt hatte, erklärte Adrian ihr, dass ihr Vater die Passwörter der Loge verwaltete. Ungefähr zu dem Zeitpunkt begann es, zwischen ihm und Liz zu kriseln. Erst waren es Kleinigkeiten, doch dann sonderte sie sich immer mehr von ihm ab und nach ihrem Streit verschloss sie sich völlig vor ihm. Henry verkrampfte sich, als er daran dachte, wie er die Wut, die sie auf ihren Vater hatte, in ihren Augen sehen konnte. Insgeheim wusste er, dass sie Zeit brauchte, um alles in Ruhe zu verdauen, doch er hatte ihre Dickköpfigkeit unterschätzt. Sie wollte ihren Vater zur Rede stellen. Adrian, Falco und Patrick waren sich einig, dass die Entscheidung, zu ihrem Vater zurückzugehen, Liz in Gefahr brachte. Und nun war sie dort, in der Höhle des Löwen.

Er raufte sich die Haare und griff nach seinem Handy. Zum wiederholten Mal versuchte er, Liz zu erreichen. Er wusste, es war bereits spät und vielleicht schlief sie schon, doch er würde nicht eher ruhen, bis er gehört hatte, dass es ihr gut ging. Er stand auf und begann, im Raum umherzugehen. Die Mailbox meldete sich, und wieder hinterließ er ihr eine Nachricht, die wievielte, das wusste er nicht mehr.

Plötzlich war Adrian neben ihm. „Du solltest versuchen, dich auszuruhen. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass ihr Vater etwas gegen sie unternimmt. Zuerst wird er die Loge über ihre Rückkehr informieren müssen.“

Henry sah seinem Freund fest in die Augen. „Du weißt, dass der Anführer der Loge sie nicht in Ruhe lassen wird. Dunker wird sie als Geisel gegen uns benutzen. Du weißt genau wie ich, dass er vor nichts zurückschreckt und über Leichen geht, wenn es darum geht, die Loge unter Verschluss zu halten.“ Henry hatte die letzten Worte laut geschrien. Er bebte und spürte, wie Hitze durch seine Adern strömte. Mit viel Mühe riss er sich dann aber zusammen und holte tief Luft. „Tut mir leid, ich bin etwas angespannt.“

Die Hand auf seiner Schulter ließ ihn aufschauen. „Das weiß ich doch. Das sind wir alle, glaub mir, aber es macht keinen Sinn, dass du vor Übermüdung und Sorge umfällst. Damit ist niemandem geholfen, und erst recht nicht Liz. Geh zu Alice, sie übernachtet im Gästezimmer und kann dir sicher was zum Schlafen geben, dann geh in dein Zimmer und ruh dich aus.“

Henry nickte müde. Er fühlte sich um hundert Jahre gealtert. Ohne sich nach Mike umzudrehen, ging er aus dem Raum. Er stieß den Atem aus und folgte dem langen Flur, an dessen Wänden verschiedene Gemälde hingen. Adrian liebte die Kunst, etwas, was er von seinen Eltern geerbt hatte, die ein Auktionshaus leiteten.

Als Henry am Gästezimmer ankam, klopfte er an die Tür, die nach wenigen Sekunden geöffnet wurde. Alice stand vor ihm. Sie hatte ihr Arztoutfit gegen ein dunkelrotes Seidennegligé eingetauscht. Ihr sonst so penibel aufgesteckter Dutt war verschwunden, und nun fielen ihr die schwarzen Haare bis zur Hüfte, wo sie anfingen, sich zu kräuseln. Erstaunt blickte sie ihn an, trat zur Seite und ließ ihn ein.

„Tut mir leid, dass ich dich um diese Zeit noch störe, aber ich brauche dringend etwas gegen meine Kopfschmerzen.“ Schlaftabletten, wie Adrian es vorgeschlagen hatte, wollte er nicht nehmen. Er musste jederzeit bereit sein, wenn es Neuigkeiten von Liz gab. Dr. Angelika Wessler, die lieber Alice genannt wurde, war seit vielen Jahren die Privatärztin von Adrian und eine gute Freundin geworden. Er hatte lange um seine Eltern getrauert, und erst durch Alice’ Kenntnisse in Psychologie und durch sein Vertrauen zu ihr lernte er, mit der Trauer umzugehen. Und da im Kampf gegen die Loge immer wieder Menschen verletzt wurden, ob nun körperlich oder seelisch, hatte sie sich dazu entschieden, Adrian in seinem Kampf gegen die Loge zu unterstützen. So hatte sie bereits Evelin und Madeleine geholfen, mit ihrem durch die Loge entstandenen Trauma fertig zu werden.

Alice ging zu ihrem Arztkoffer und hob ihn auf den Tisch, der gegenüber ihres Futonbettes stand. „Keine Sorge, dafür bin ich ja da.“ Sie nahm nach kurzer Suche eine Tablettenschachtel heraus und drückte sie ihm in die Hand. „Du kannst zwei davon nehmen, aber trink ausreichend Wasser dazu, dann müssten die Kopfschmerzen weggehen. Hast du sonst noch irgendwelche Beschwerden?“

Henry nahm die Tabletten dankbar entgegen. „Danke und nein. Jedenfalls nichts, wobei mir ein Arzt helfen könnte.“ Er versuchte sich an einem Grinsen, merkte aber sofort, wie schief es sich anfühlte.

Alice zog ihn in eine Umarmung und er entspannte sich. „Du wirst Liz wiedersehen, daran musst du glauben.“ Sie strich ihm über den Rücken. Alice hatte die Fähigkeit, ihr Gegenüber zu durchschauen. Sie war etwas Besonderes. Eine normale Ärztin hätte es bei ihnen auch nicht lange ausgehalten.

Alice war eine hervorragende Ärztin und konnte auf Adrians Anwesen auch ihrer Leidenschaft als Domina nachgehen.

Henry löste sich von ihr und trat einen Schritt zurück. „Danke, ich werde jetzt in mein Zimmer gehen und mich hinlegen.“

Sie nickte ihm zu und er verließ den Raum. Nach wenigen Minuten hatte er sein Zimmer erreicht, ging zum Schreibtisch, nahm die Tabletten und trank eine halbe Wasserflasche leer. Dann wankte er zu seinem Bett und ließ sich rücklings darauf fallen. Er sah auf sein Handy. Die Uhr zeigte zwei Uhr nachts an. Stöhnend streckte er die Arme zur Seite aus und spürte, wie ihn Müdigkeit ergriff. Sein Verstand fühlte sich wie in Watte gepackt an, und mit dem nächsten Atemzug war er eingeschlafen.

Die dunkle Loge: Unsichtbarer Käfig

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