Читать книгу Die dunkle Loge: Unsichtbarer Käfig - Mina Miller - Страница 7

Kapitel 4

Оглавление

Frisch geduscht kam Liz aus dem Badezimmer. Sie hatte erstaunlich gut geschlafen, was nur an ihrem Zimmer liegen konnte, in dem sie sich schon seit ihrer Kindheit wohlfühlte. Sie rieb sich die Haare mit einem Handtuch trocken, ein größeres hatte sie um ihren Körper geschlungen.

Plötzlich knurrte ihr Magen, und sie fragte sich, wie spät es war. Sie ging zu ihrem Schreibtisch und nahm ihr Handy in die Hand. Schon auf den ersten Blick erkannte sie die unzähligen Sprachnachrichten. Eine war von Adrian, doch die meisten stammten von Henry. Mit einem Schlag waren alle unterdrückten Gefühle wieder da, und mit einem schlechten Gewissen fragte sie sich, wie es Henry wohl ging. Wie gern würde sie sich jetzt in seine Umarmung schmiegen und sich so vor der ganzen Welt beschützt fühlen.

Sie straffte die Schultern, denn nur weil sie ihn mit jeder Faser ihres Herzens vermisste, hieß das nicht, dass sie ihm so einfach vergab. Am liebsten würde er sie in einen goldenen Käfig sperren, um alles Böse von ihr fernzuhalten. Doch das ließ sie nicht mit sich machen, und das hatte sie ihm auch klipp und klar erklärt. Liz klickte auf Adrians Anruf und wartete gespannt auf seine Nachricht.

„Liz, hier ist Adrian. Wir hoffen, dass es dir gut geht. Bitte ruf mich an, sobald du kannst. Wir alle machen uns große Sorgen um dich. Pass gut auf dich auf.“

Liz nahm das Handy vom Ohr. Sie war überrascht, dass Adrian ihr keine Vorwürfe machte, aber so war er halt. Er hatte immer die ganze Situation im Blick und konnte gut mit Worten umgehen.

Liz ging in ihrem Zimmer hin und her. Dann seufzte sie und kehrte zum Schreibtisch zurück. Das Handtuch aus der Hand legend, setzte sie sich auf den Stuhl und tippte mit klopfendem Herzen auf die Sprachbox. Als Henrys Stimme ertönte, bekam sie eine Gänsehaut und Tränen sammelten sich in ihren Augen. Seine Nachrichten erzählten von den Sorgen, die er sich um sie machte. Er war wütend auf sie, dass sie sich in solche Gefahr brachte, und entschuldigte sich wegen des Streites bei ihr. Die letzte Mitteilung war am kürzesten, und Liz musste sich anstrengen, um Henry zu verstehen. Ihr brach beinahe das Herz.

„Liz, bitte pass auf dich auf und komm heil zu mir zurück. Ich weiß nicht, was ich ohne dich machen soll. Bitte sag mir wenigstens, ob es dir gut geht.“

Sie merkte erst, dass sie weinte, als ein paar Tränen auf die Holzoberfläche ihres Schreibtisches tropften. Sie stellte die Füße auf dem Stuhl ab und vergrub den Kopf zwischen den Knien. Ihre Brust schmerzte, als würde ihr jemand ein glühendes Eisen ins Herz bohren. Früher waren ihre Eltern immer für sie da gewesen, doch mit dem Fortgang ihrer Mutter hatte Liz’ Mauern um sich errichtet und allen die artige Politikertochter vorgespielt. Selbst Viktoria und Stephan hatte sie etwas vorgemacht. Erst als Liz auf Henry traf, verstand sie, was ihr wirklich fehlte. Er lockte sie aus ihrer Höhle, in der sie sich innerlich verschanzt hatte, und zeigte ihr, was es hieß, wieder Vertrauen zu fassen. Er lehrte Liz, sie selbst zu sein, ihre Wünsche nicht zurückzustecken und ihr wahres Ich lieben zu lernen.

Liz presste sich eine Hand auf den Mund, um die Schluchzer zu unterdrücken. Henry war ihr während der Jahre auf Adrians Anwesen kaum von der Seite gewichen. Selten war er mal für ein paar Tage verreist, um seiner Modelkarriere außerhalb Europas nachzugehen. Ihr zuliebe hatte er auf die größten Modeevents der letzten Jahre verzichtet. Ihr schlechtes Gewissen hatte er stets mit einem Lächeln zur Seite gewischt. Er verdiene mit den kleineren Aufträgen genug, um nicht auf der Straße zu landen, sagte er, und wenn sie sich jetzt daran zurückerinnerte, hatten diese Gespräche stets in Knutschereien und heißem Sex geendet. Obwohl sie glaubte, alles über ihn zu wissen, war sie sich sicher, dass es etwas gab, was er ihr verheimlichte. Ihr Bauchgefühl tippte auf seine Vergangenheit und die Zeit mit Adrian, Falco und Patrick. Sie wusste, dass alle vier zusammen beim Militär gedient hatten, doch keiner von ihnen sprach von diesem Lebensabschnitt.

Liz zog die Nase hoch und griff nach der Taschentuchpackung auf dem Tisch. Sie tupfte sich die Augen trocken und putzte sich die Nase. Ihr Blick fiel auf ihr Handy, und einen Moment lang überlegte sie, ihm zu antworten. Es war herzlos von ihr, sich nicht zurückzumelden, doch seine Stimme zu hören, würde sie in ihrem Entschluss, bei ihrem Vater zu bleiben, wanken lassen.

Sie atmete tief durch und ging zu ihrem Koffer, um etwas zum Anziehen herauszuholen. Die Sachen im Kleiderschrank mochte sie nicht anfassen. Diese gehörten zu ihrer Vergangenheit und würden ihr sowieso nicht mehr passen. Sie war nicht mehr das naive Mädchen, das sie vor ihrer Entführung gewesen war. Liz entschied sich für ein blaues Shirt mit Glitzerperlen drauf, die ein buntes Muster bildeten, und eine graue Leggings. Ihre Haare band sie vor dem Spiegel des Badezimmers zu einem Zopf zusammen und wusch sich mit kaltem Wasser das Gesicht. Erleichtert sah sie, dass ihre Augen vom Weinen nicht mehr gerötet waren. Sie sah auf das Handy. Es war 9.30 Uhr.

Ob Henry schon aufgestanden war? Sie gab sich einen Ruck und schrieb ihm eine kurze Nachricht.

Mir geht es gut. Mach dir keine Sorgen.

Damit legte sie das Gerät zurück auf den Tisch und ging zu ihrer Zimmertür. Sie brauchte dringend Frühstück, ansonsten konnte sie nicht klar denken. Dabei musste sie sich einen Plan zurechtlegen, wie sie unbemerkt an den Laptop ihres Vaters gelangen konnte.

Sie ging hinunter und war froh, dass ihr niemand der anderen Bewohner begegnete. Es war seltsam still in dem Haus. Früher hallte immer aus irgendeinem der Räume Radiomusik oder die Klaviermusik ihrer Mutter klang zur ersten Etage hinauf.

Liz durchquerte die Eingangshalle und trat in das Esszimmer. Dort und im Wohnzimmer war ebenfalls niemand zu sehen. Sie ging in die Küche und schaute in die verschiedenen Regale und Schränke hinein, um zu erfahren, welche Utensilien und Lebensmittel vorhanden waren. Zum Schluss öffnete sie den Kühlschrank und warf einen Blick hinein. Entschlossen zog sie Margarine und Hafermilch heraus. Das Mehl entnahm sie einem der Schränke und die Bananen aus der Obstschale auf dem Tresen. Dann machte sie sich ans Werkeln. Das Rezept für die weltbesten Bananen-Pancakes ihrer Mutter kannte sie auswendig. Die Ärmel ihre Shirts hatte sie hochgekrempelt, und fleißig rührte sie die Milch in das Mehl, danach gab sie die klein gestampften Bananen hinein. Mit einem Schneebesen vermischte sie die Zutaten und fügte noch etwas Zimt hinzu.

Das Kochen dauerte länger als sonst, da sie sich in der Küche nicht auskannte und alles erst suchen musste.

Schließlich gab sie den Teig in die Pfanne und briet die Pfannkuchen. Aus dem Kühlschrank holte sie ein paar frische Blaubeeren und verteilte sie auf ihnen. Als sie fertig war, richtete sie die vier Minipfannkuchen übereinander auf einem Teller an und goss Ahornsirup darüber. Zum Schluss kam Minze, die sie ebenfalls gefunden hatte, obendrauf. Als sie fertig war, bestaunte Liz ihr Kunstwerk. Ihre Mutter wäre stolz gewesen, war dies doch ihr Lieblingsgericht.

Liz holte einen zweiten Teller und Besteck aus einer Schublade und setzte sich an den Küchentresen. Sie hatte keine Lust, wieder am Esstisch zu sitzen, nahm sich den ersten Pfannkuchen und steckte sich ein Stück davon in den Mund. Die Süße der Bananen mischte sich mit der Säure der Beeren und der Sirup rundete den Geschmack ab.

Liz fühlte sich gedanklich in der Zeit zurückversetzt. Sie sah sich hier in der alten Küche sitzen, ihrer Mutter dabei zusehend, wie sie wieder einmal ihre grandiosen Bananen-Pancakes zauberte.

Als sie den dritten Pfannkuchen verdrückt hatte, kam Viktoria durch das Esszimmer in die Küche geschneit.

„Ach, hier bist du. Ich dachte schon, du würdest gar nicht mehr aufstehen.“

Liz sah sich nach ihr um. Das hätte sie wohl gern, dachte sie, verkniff sich aber jeden Kommentar. Sie beobachtete ihre Stiefmutter, wie sie in die Küche ging, sich Orangensaft aus dem Kühlschrank nahm und ihn in ein Glas einschenkte. Dabei bedachte sie Liz mit keinem Blick. Als sie das Glas ausgetrunken hatte, stellte sie es in die Spüle.

„Dein Vater ist vor zwei Stunden zur Arbeit gefahren und ich muss jetzt auch los. Nicht jeder von uns hat das Privileg, den ganzen Tag schlafen zu können.“

Liz’ Pfannkuchen fühlte sich in ihrem Mund plötzlich staubtrocken an und Wut kochte in ihr hoch. Sie schluckte sie herunter und fragte ihre Stiefmutter: „Und wo ist Stephan? Ist er auch weg?“

Innerlich hoffte sie, ihrem Stiefbruder heute nicht über den Weg laufen zu müssen, denn sie hatte seit gestern ein komisches Gefühl, was ihn betraf. Viktoria war schon auf dem Weg in die Eingangshalle, als sie kurz anhielt und Liz ansah.

„Stephan ist joggen gegangen.“ Mit einem schnellen Blick auf Liz’ Pfannkuchenteller sprach sie weiter: „Mein Sohn weiß sich zu beherrschen und treibt Sport, um seinen Geist und seinen Körper fit zu halten.“

Der Seitenhieb traf Liz mehr, als sie zugeben wollte. Sie kochte und aß für ihr Leben gern. Und für Henry war es nur wichtig, dass es ihr gut ging und sie gesund war. Die zwei, drei Kilo mehr störten ihn nicht. Früher hatte sie Kickboxen gemacht, aber wegen ihres Studiums damit aufgehört. Auch so eine Sache, auf die ihr Vater damals bestanden hatte. Für Liz gab es nichts Uninteressanteres, als Politikwissenschaft zu studieren. Doch ihre Wünsche hatten nicht mehr gezählt, seit ihre Mutter fortgezogen war. Liz war so in Gedanken versunken, dass sie Viktorias nächste Worte beinahe überhört hätte.

„Du wirst das Haus nicht verlassen, Elisabeth, das ist die Anweisung von deinem Vater. Ich werde die Alarmanlage einschalten, daher werden wir wissen, ob und wann du dieses Gebäude verlässt. Ich muss jetzt los und komme erst gegen Nachmittag zurück.“

Ohne ein Abschiedswort drehte sich Viktoria um und ging in den Flur. Liz hörte, wie die Haustür geschlossen wurde, und seufzte erleichtert auf. Ihre Stiefmutter hatte mit ihrer Bemerkung zu ihrem Essen mal wieder ganze Arbeit geleistet. Liz war der Appetit vergangen. Schnell räumte sie die Küche auf und ging in den kühlen Hausflur. Es war unglaublich, wie sich alles verändert hatte, seit sie von der Loge entführt worden war und danach auf Adrians Anwesen gelebt hatte. Das Haus war nicht mehr das aus ihrer Erinnerung. Sowohl innerlich als auch äußerlich. So, wie sie nicht mehr dieselbe war wie vor vier Jahren, als sie von heute auf morgen von hier verschwunden war.

Unschlüssig stand Liz vor der Treppe ins Obergeschoss. Was sollte sie jetzt machen? Im nächsten Moment fiel ihr Blick auf den schmalen Flur, der zum Arbeitszimmer ihres Vaters führte. Kurz lauschte sie in das leere Haus hinein. Frau Reimers schien nicht da zu sein, vielleicht war sie einkaufen. Egal, jetzt oder nie.

Dass sich ihr die Chance, das Passwort zu suchen, so schnell bot, hätte sie im Leben nicht gedacht.

Rasch ging sie zum Zimmer ihres Vaters und war wenig überrascht darüber, es verschlossen vorzufinden. Doch sie wäre nicht Liz, wenn sie nicht vorgesorgt hätte. Sie holte zwei Nadeln aus ihrem Haar, kniete sich vor die Tür und lächelte, denn David, einer der Sicherheitsmänner auf dem Anwesen, hatte ihr gezeigt, wie man Schlösser knackte.

Liz hatte ihn unheimlich lieb gewonnen und erinnerte sich mit klopfendem Herzen an das erste Mal, als er bei ihrer und Henrys Session dabei gewesen war. Ein erregender Schauer jagte über ihren Rücken. David war ein wunderbarer Küsser und konnte mit dem Rohrstock umgehen. Bei dem Gedanken wurden ihre Brüste schwer und ein Kribbeln erwachte zwischen ihren Schenkeln.

Sie schüttelte den Kopf und versuchte, das Ziehen in ihrem Unterleib zu verdrängen. Sie konzentrierte sich auf Davids Worte und seine Unterrichtsstunden im Schlösserknacken.

Seit er ihr einmal nebenbei verraten hatte, dass er überall hineinkommen würde, hatte sie ihn so lange genervt, bis er sich bereit erklärte, es ihr beizubringen. Es hatte viele Stunden gedauert, bis sie es schaffte, mit dem Dietrich und danach mit zwei Nadeln ein Schloss zu knacken. Der Stolz, den David damals auf sie empfand, brandete bei der Erinnerung heiß durch ihre Venen.

Das Schloss vor ihr war nicht leicht zu öffnen und nach mehreren Fehlversuchen fluchte sie. Sie musste es schaffen!

Beim übernächsten Versuch gelang es ihr endlich und mit einem breiten Grinsen im Gesicht öffnete sie die Tür. David wäre mehr als stolz auf sie.

Erleichtert stand Liz auf, ging hinein und lehnte die Tür hinter sich an. Sie sah sich in dem Raum um. Wo würde ihr Vater Unterlagen zur Loge verstecken? Sie musste bei ihrer Suche vorsichtig sein. Ihr Vater war immer ordentlich und würde sofort merken, wenn etwas nicht an seinem Platz war.

Schnell ging sie an den Bücherregalen vorbei zum Schreibtisch. Fluchend bemerkte sie, dass sein Laptop nicht da war. Er musste ihn mitgenommen haben. Sie war sich sicher, dass er die Passwörter der Loge auf dem Rechner aufbewahrte, also brauchte sie genau den, wenn sie an das Passwort für die gestohlenen Loge-Dateien kommen wollte. Vielleicht fand sie noch weitere Hinweise auf die Loge in seinem Büro.

Vorsichtig sah sie sich die Papiere auf dem Tisch an. Nichts deutete auf die verbrecherische Organisation hin. Es ging lediglich um irgendwelche Abstimmungen innerhalb seiner Partei. Liz öffnete eine Schublade nach der anderen. Doch nirgendwo war das, was sie suchte. Frustriert erhob sie sich und sah sich weiter um. Vielleicht hatte er ja einen Safe, von dem sie nichts wusste.

Liz sah sich die Bücherregale an, doch außer dicken Schinken über Politik und deutsche Geschichte fand sie nichts. Als sie in ihrer Verzweiflung den alten Globus untersuchte, hörte sie ein Hüsteln aus Richtung Tür.

Vor Schreck sprang sie auf und das Herz sackte ihr in die Hose. Sie legte sich die Hand auf die Brust und sah zur Tür. Nicht ihr Vater, sondern Stephan stand in der Tür und hatte sie beim Spionieren erwischt. Mist. Das war nicht gut. Liz nahm ihre Hand herunter. „Du hast mich erschreckt. Die Tür war offen und ich suche ein Buch für das Studium. Ich war sicher, dass Vater es hat, aber ich habe es nicht gefunden.“ Liz konnte nur hoffen, dass er ihr die Lüge abnahm.

Ihr Stiefbruder stand mit verschränkten Armen in der Tür und rührte sich nicht. Er hatte noch seine enge Trainingshose und sein verschwitztes Sportshirt an. Die Muskeln seiner Oberarme spannten sich an und Liz musste schlucken. Der Blick, mit dem er sie stumm musterte, verursachte ihr ein ungutes Gefühl im Magen.

Sie strich sich eine Strähne, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte, hinter das Ohr. „Ich werde dann mal in mein Zimmer gehen und ihn später nach dem Buch fragen.“

Sie wollte sich gerade an Stephan vorbeidrängen, als sich seine Hand fest um ihren Arm legte und er sie mit einem Ruck an die Wand presste. Bevor sie reagieren konnte, hatte er sich schon breitbeinig vor sie gestellt und ihre Arme seitlich gegen die Mauer gedrückt. Liz hielt die Luft an, als sich sein Gesicht ihrem näherte. Schnell drehte sie den Kopf zur Seite und spürte seinen Atem an ihrem Ohr.

„Was wird dein Vater nur dazu sagen, dass seine Prinzessin in seinem Arbeitszimmer herumgeschnüffelt hat?“

Liz versuchte, sich zu befreien, doch Stephans Griff war wie ein Schraubstock. Sie war gefangen und ihm ausgeliefert. Die Hitze, die von ihm ausging, verbrannte sie regelrecht. Plötzlich spürte sie seine Zunge an ihrem Ohr und alles in ihr erstarrte. Liz hatte das Gefühl, dass ihr jeden Moment das Frühstück wieder hochkommen würde.

„Lass mich los! Hör auf.“ Sie wand sich heftiger in seinem Griff, und er reagierte darauf, indem er sich mit seinem ganzen Körper gegen sie presste. Seine Zunge leckte über ihre Ohrmuschel und Liz sah silberne Punkte vor ihren Augen tanzen. „Das darfst du nicht, du bist mein Stiefbruder.“

Sein Lachen vibrierte an ihrer Brust.

„Wir sind nicht blutsverwandt, also ist nichts falsch daran, wenn wir uns körperlich näherkommen. Jetzt stell dich nicht so an. Auf Lorains Anwesen hast du doch für jeden die Beine breit gemacht.“ Sein Ton wurde schärfer, und kurz fragte sie sich, woher er wusste, dass sie bei Adrian gelebt hatte, und nicht wie Viktoria glaubte, sie wäre auf einer Universität gewesen. Doch gerade als sie ihn das fragen wollte, ließ er einen ihrer Arme los, griff nach ihrem Kinn und hob es grob an, sodass sie ihm ins Gesicht sehen musste.

„Meine Schwester ein Flittchen. Wer hätte das gedacht? Und mir gegenüber tust du so unnahbar. Ist das deine Masche? Du schaust jeden mit deinen großen grünen Augen an und machst sie mit deiner Gegenwehr scharf.“

Liz glaubte, sich verhört zu haben. Sie hatte ihn vom ersten Moment an nicht ausstehen können, doch er hatte sich ihr gegenüber immer distanziert verhalten. Er war zwar arrogant und ein Arsch gewesen, aber so wie jetzt hatte er sich ihr noch nie genähert.

„Ich will das nicht! Hörst du? Lass mich auf der Stelle los!“

Er lächelte sie nur an und presste seinen Mund auf ihren. Liz hatte das Gefühl, der Boden würde ihr unter den Füßen weggerissen. Mit der freien Hand versuchte sie, ihn von sich zu schieben, und bittere Galle stieg ihr die Kehle hoch. Sie wollte weg von hier, fort von ihrem Stiefbruder und seinen sexuellen Annäherungen. Als er seine Zunge in ihren Mund drängte, überlegte sie nicht lange und biss fest zu. Er schrie auf und stieß sich von ihr ab.

Liz ergriff die Chance und rannte durch den Flur, die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Der rasende Pulsschlag dröhnte ihr in den Ohren. Schnell knallte sie die Tür hinter sich zu und schloss mit bebenden Händen ab. Dann ging sie rückwärts, setzte sich auf ihr Bett und versuchte, ihr Zittern zu unterdrücken, doch es wurde nur schlimmer. Plötzlich klopfte es an der Tür und Liz zuckte zusammen.

„Es tut mir leid, ich weiß nicht, was da über mich gekommen ist. Mach bitte die Tür auf.“

Liz versuchte, ihre bebende Stimme in den Griff zu bekommen, was ihr jedoch nicht gelang. „Nein, geh weg und rühr mich nie wieder an, sonst erzähl ich es meinem Vater, und der wirft dich raus, bevor du bis drei zählen kannst.“

Ein leises Lachen erklang von der anderen Seite der Tür, und Liz überlegte, was an ihrer Aussage so lustig sein sollte. Sie war sich sicher, ihr Vater würde sie vor Stephan beschützen, er war schließlich immer noch ihr Vater.

„Du bist fürchterlich naiv. Ich kann Richard sofort anrufen und ihm erzählen, dass ich dich in seinem Büro beim Herumschnüffeln entdeckt habe und du dich dann an mich rangemacht hast, damit ich deine Tat vertusche.“

Liz atmete hörbar aus. Er verdrehte die Tatsachen. Ein Frösteln kroch über ihre Arme und sie rieb mit der Hand darüber.

„Apropos telefonieren. Ich glaube, du hast ein paar Nachrichten auf deinem Handy.“

Liz’ Kopf schnellte wie ein Gummiband zum Schreibtisch und sie stand hastig auf. Ihr Magen schnürte sich zusammen. Ihr Handy war fort! Hektisch suchte sie danach, auch unter dem Tisch fand sie es nicht, und der schlimme Verdacht bestätigte sich bei Stephans nächsten Worten.

„Ach, sieh mal einer an. Ein gewisser Henry hat aber ganz schön oft versucht, dich zu erreichen. Der Arme. Ob irgendetwas passiert ist? Wie gut, dass du dein altes Passwort nicht geändert hast, sonst hätte ich nie von Henrys Sorge um dich erfahren.“

Liz sah plötzlich rot. Sie war es leid, sich von ihm piesacken zu lassen, raste zu ihrer Zimmertür, schloss sie auf, und bevor Stephan reagieren konnte, hatte sie schon ausgeholt und ihm einen kräftigen Schlag in den Magen versetzt. Ihr Kickboxtraining hatte sich also doch noch ausgezahlt.

Ihr Stiefbruder fasste sich hustend an den Bauch und starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. Liz schnappte sich ihr Handy, das er hatte fallen lassen, und schlug ihm die Tür vor der Nase zu. Dann schloss sie ab und ging ins Badezimmer.

Zitternd legte sie das Telefon auf das Waschbecken und stützte sich daran ab. Sie wollte so viele verschlossene Türen wie möglich zwischen sich und Stephan wissen, denn sie wusste nicht, was er als Nächstes tun würde. Bestimmt würde er sich für den Biss beim Kuss an ihr rächen, doch das war ihr im Moment egal. Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen, als sie an seine schmerzverzerrte Miene dachte. Tja, nun wusste er, dass er sie nicht unterschätzen durfte.

Sie würde sich erst einmal in ihr Bett kuscheln und eine Serie gucken. Irgendwie musste sie sich ja ablenken und so schnell brachten sie keine zehn Pferde mehr aus ihrem Zimmer heraus.

Bei der zweiten Folge Vampire Diaries vibrierte ihr Handy, das sie im Badezimmer zurückgelassen hatte. Liz seufzte auf. Sie fühlte sich momentan nicht in der Lage, mit Henry zu sprechen, vor allem nicht nach dem Vorfall mit Stephan.

Liz stoppte die Folge, stand auf und holte ihr Handy. Ein Blick auf das Display und ihre Vermutung wurde bestätigt. Ihr Herz klopfte schneller. Sie wusste, er litt wegen ihres Weggehens und weil sie sich nach ihrem Streit nicht ausgesprochen hatten. Doch wenn sie jetzt mit ihm redete, würde sie wahrscheinlich einknicken und zu ihm zurückgehen. Unter anderen Umständen würde sie keine fünf Sekunden darüber nachdenken, das Gespräch anzunehmen, aber die Situation war gerade nicht so einfach.

Liz ließ sich aufs Bett sinken und seufzte. Ihr Blick klebte an Henrys Namen, und die Sehnsucht nach ihm schmerzte sie. Das Handy hörte auf zu vibrieren, und erleichtert ließ sie die Schultern sinken. Sie traute sich nicht, seine Nachrichten abzuspielen. Seine Stimme zu hören, würde sie nach dem, was ihr mit Stephan passiert war, zusammenbrechen lassen.

Liz gab sich einen Ruck. Sie würde ihm eine Sprachnachricht schicken, mehr traute sie sich momentan nicht zu. Sie drückte auf den Aufnahmeknopf und begann zu sprechen.

Henrys Handy piepste und verkündete eine neue Mitteilung. Abrupt stolperte er auf dem Laufband, hielt sich schnell an der Stange vor ihm fest, sprang vom Band und angelte sich sein Handy vom runden Glastisch. Atemlos sah er auf das Display und legte sich sein Handtuch um die Schulter. Er hatte eine Sprachnachricht von Liz erhalten. Endlich! Mit wackeligen Knien setzte er sich auf den gepolsterten Stuhl neben dem Tisch.

Seit er heute Morgen aufgewacht war, versuchte er, sich von den unguten Gedanken, die in seinem Kopf waren, abzulenken. Ruhelos war er durch die Villa gewandert und hatte gehofft, der zentnerschwere Felsblock auf seinem Herzen würde verschwinden.

Falco hatte es irgendwann nicht mehr ausgehalten und ihn in den Fitnessraum geschleppt. Henry hatte sich zuerst geweigert, mitzugehen, denn er wollte immer in der Nähe von Adrians Arbeitszimmer sein, falls sie etwas von Liz erfuhren, und der Fitnessraum befand sich in einem abgelegenen Winkel des Hauses. Adrian bestärkte ihn jedoch darin, zu gehen, und versprach, ihn anzurufen, wenn er etwas Neues von Liz hörte.

Mike hatte die ganze Nacht am Computer verbracht und versucht, die Dateien doch noch ohne das Passwort zu knacken. Es hatte nicht funktioniert, sie mussten sich etwas anderes überlegen.

Henry drückte auf die Nachricht und hielt sich das Handy ans Ohr. Liz’ Stimme ließ sein Herz schneller schlagen.

„Henry, es geht mir gut. Mach dir bitte keine Sorgen um mich.“ Sie seufzte und zögerte kurz, bevor sie weiterredete. „Ich konnte mich heute Morgen in das Arbeitszimmer meines Vaters schleichen.“

Henrys Hand umklammerte das Handy fester.

„Er hat sein Laptop mitgenommen, und ansonsten habe ich in seinem Zimmer nichts gefunden, was auf die Loge hindeutet. Ich werde versuchen, irgendwie an seinen Laptop zu kommen. Es tut mir leid, dass ich, ohne ein Wort zu sagen, gegangen bin, und kann mir vorstellen, dass du schrecklich wütend auf mich bist. Aber ich muss herausfinden, wie tief mein Vater in den Machenschaften der Loge steckt. Sobald ich etwas erfahre, melde ich mich, und wenn ich das Passwort für die Dateien habe, komme ich so schnell wie möglich zurück.“

Henry atmete schwer. Der Gedanke, dass sie bei ihrem Vater, der ohne Zweifel zur Loge gehörte, rumgeschnüffelt hatte, bereitete ihm Bauchschmerzen.

„Bitte versteh, dass ich dich nicht anrufen kann. Erst will ich meine Mission beenden und dann werden wir miteinander über alles reden können. Grüße die anderen von mir. Bis bald.“

Damit war die Nachricht beendet. Henry ließ den Arm sinken und starrte auf das Handy. Er holte tief Luft. Liz ging es gut, und das war das Wichtigste für ihn. Doch wie wollte sie es ohne einen Plan schaffen, an das Passwort zu gelangen? Ihre Mission, wie sie es nannte, war jetzt schon zum Scheitern verurteilt.

Entschlossen stand er auf und wählte eine Nummer, die er nie wieder hatte anrufen wollen. Er griff das Handy so fest, dass es knirschte. Nach einer gefühlten Ewigkeit ging die Mailbox an, und Henry stellten sich die Nackenhaare auf, als er die Stimme aus seiner Vergangenheit hörte.

„Jason, hier ist Henry. Ich brauche deine Hilfe.“ Nun hatte er die Tür zur Hölle aufgestoßen, doch es blieb ihm nichts anderes übrig, wenn er Liz wiederhaben wollte.

Die dunkle Loge: Unsichtbarer Käfig

Подняться наверх