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Reizfilterschwäche

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Reizfilterschwäche ist ein Wort, das allein beim Aussprechen Kopfschmerzen verursacht, womit es hervorragend das veranschaulicht, was es bedeutet. Nämlich, dass alles, was um mich herum geschieht – lärmt, klingt, riecht oder auch nur aussieht –, meine Aufmerksamkeit erregt und von mir beachtet werden will. Alltag mit Reizfilterschwäche fühlt sich also so ähnlich an, als wenn man am Morgen von Heiligabend in die Stadt rennt, um schnell noch Geschenke einzukaufen. Und das an sieben Tagen pro Woche, zwölf Monate im Jahr. Glaubt mir, da hat man ständig dringend Urlaub nötig.

Sofern man ihn denn genießen kann.

Ich bin noch dabei, es mir anzuerziehen. Denn in ungewohnter Umgebung stoße ich grundsätzlich an meine vom ADS gesteckten Grenzen. Und an die Grenzen der Geduld meines lieben Mannes, der zu solchen Gelegenheiten dauerhaft damit beschäftigt ist, kleine und mittlere Katastrophen von mir abzuwenden. Tja, was soll ich sagen? Er wusste, worauf er sich einließ, als er mich heiratete. Und ich liebe ihn dafür, dass er mich so nimmt, wie ich bin.

Ein Beispiel gefällig? Na dann, auf geht’s:

Ich mache einen Ausfallschritt und hake mich bei meinem Schatz ein. Mein Magen fühlt sich noch ein wenig flau an, nach den vielen engen Kurven, die wir fahren mussten, um Funchal zu erreichen. Urlaub auf der Blumeninsel Madeira, das war schon immer mein Traum, und endlich bin ich hier. Ab jetzt heißt es: Vorsicht, Portugal, hier kommt Wilhelmina!

»Alles klar?«, fragt mich Jonas und schmunzelt über meine Aufregung, die ich nur mühsam verbergen kann. Eigentlich meide ich Städte und große Menschenansammlungen. Doch wie heißt es so schön: Solange man nicht tot ist, darf man sich dem Leben nicht entziehen. Oder so ähnlich.

»Natürlich«, antworte ich also cool und blinzle gegen die Sonne an, die mir die Sicht verblendet, als wir aus der Tiefgarage ins Freie treten. Jonas bleibt stehen und versucht, sich zu orientieren. Mein Blick saugt sich derweil an dem gegenüberliegenden Hauseingang fest, der mit Meeresmotiven bemalt ist. Türkis trifft Gold. Meerjungfrauen wiegen sich im Wasser. Ein Gedanke stößt den anderen an. Erinnerungen werden wach und rufen allesamt durcheinander. Verrückt nach Aufmerksamkeit.

»Moment. Wo willst du hin?«, fragt Jonas plötzlich und hält mich am Arm zurück, als ich schon im Begriff bin, einfach loszuwatscheln. Ich schaue irritiert zu ihm auf und wieder nach vorn.

»Mina?«, fragt Jonas ernst. »Du guckst schon, wo du hinläufst, oder?« Er hebt eine Augenbraue.

»Natürlich«, antworte ich leichthin und schiebe mich in seinen Arm. Seine Hände streichen über meinen Rücken, und ich hauche ihm einen Kuss auf die Wange. Erst jetzt erkenne ich die Absperrung, die mich von dem hübschen Meerjungfrauenbild trennt. Hätte bestimmt komisch ausgesehen, wenn ich sie umgerannt hätte und, verheddert in gelb-schwarze Bänder, zu Boden gegangen wäre.

»Komm, wir gehen vom Zentrum aus in die Altstadt«, schlägt Jonas vor und reißt mich aus meinen Gedanken. Ein albernes Glucksen steckt in meiner Kehle, und ich löse mich aus der Umarmung, die mir so viel Sicherheit gibt. Jonas ist mein Puffer zwischen mir und der Welt – kein Wunder, dass ich ihn gern als Schutzschild missbrauche.

»Hey, Minchen? Bereit?«, fragt mein Puffer noch einmal und küsst meine Nasenspitze. Ich lege meinen Arm um seine Hüfte und schmiege mich einen Moment an ihn.

»Bereit, wenn du es bist«, antworte ich und spähe in Richtung Stadtkern. Wie Ameisen tummeln sich die Leute dort und huschen emsig umher. Der Wind weht ein Raunen und Brummen zu uns herüber, und ich denke an die Ruhe, die wir heute Morgen am Meer genossen haben. Bis auf das kräftige Schlagen der Wellen, die gegen den rauen Fels der Küste rollten, war dort nichts zu hören. Nur Gedanken, die mit dem Wind um die Wette flüsterten. Hier würde es anders sein.

»Also los«, ermuntert mich Jonas und lässt den Stadtplan in seiner Hosentasche verschwinden. Er greift meine Hand und führt mich auf die Straße.

Ich bin damit beschäftigt, nicht über einen Bordstein zu stolpern, weil meine Aufmerksamkeit temporär bei einer Gruppe einheimischer Mädchen weilt, die sich zu streiten scheinen. Ihre Kleider sind alle weiß oder cremefarben, ihre Haare von dem typisch portugiesischen Dunkelbraun, das in der Sonne einen seidigen Glanz entwickelt. Zwei von ihnen gestikulieren wild. Es erinnert mich an ein Theaterstück, das ich einmal gesehen habe. Die Bilder spielen sich vor meinem inneren Auge ab, und die Dialoge hallen laut in mir wider.

»Kommst du bitte?« Jonas sieht mich auffordernd an, weil ich wieder stehen geblieben bin. Jetzt beeile ich mich, mit ihm in die Gasse zu treten, die sich zwischen verlebten Gebäuden windet und als Tor zum wahren Leben von Funchal fungiert. Ich nehme die Einzelheiten der Umgebung in mich auf. Die Farbe der Häuser, die an einigen Ecken Blasen schlägt. Form und Abweichungen von dem, was ich aus Deutschland kenne. Gerüche: Salz und gebrannte Kastanien. Wenige Schritte und wir erreichen das Zentrum, und plötzlich sind wir mitten in einem Strom von Menschen. Wie ein Fischschwarm zieht er uns mit sich mit, und ich fasse Jonas’ Hand fester. Auf einem Platz rechts von uns steht ein Pulk aus Touristen, die sich deutlich von den Einheimischen abheben. Oder ist es links von uns? Ich konnte rechts noch nie von links unterscheiden. Irgendwo spielt Musicalmusik. Sie verwirrt mich. Ich starre den bärtigen jungen Mann an, der Memory aus Cats schmettert. Immer wieder huschen Menschen durch mein Sichtfeld. Als die Bläser eines kleinen Orchesters einsetzen, übersehe ich einen Hund vor meinen Füßen. Ich verliere den Halt und rudere mit den Armen, der Griff von Jonas’ Hand löst sich. Ein Bus donnert viel zu laut und viel zu nah vorbei. Ein Fahrzeug hupt. Eine Frau verkauft Maronen und ruft es in die Welt. Zwei Männer, die uns entgegenkommen, ein Portugiese mit Lederhaut und einer mit tiefen Furchen im Gesicht, trennen mich endgültig von Jonas. Der Terrier-Mischling mit dem roten Halsband schaut mich immer noch vorwurfsvoll an, weil ich ihn aus Versehen getreten habe.

»Sorry«, hauche ich, und endlich löst er seinen durchdringenden Hundeblick von mir.

Jemand schiebt mich weiter. Meine Augen folgen dem Hund, der seinen Weg fortsetzt. Er bleibt an einer Ampel stehen, wartet darauf, dass die Fahrzeuge für ihn halten. Ein Ford wird langsamer, der Hund setzt eine Pfote auf die Straße, beobachtet den Wagen, der für ihn stoppt. Verrückt, schießt es mir durch den Kopf. Er geht ganz allein hier in diesem Trubel spazieren. Weicht geschickt Leuten aus, hat alles im Griff und ein Ziel. Weiter entfernt kann ich das Meer erkennen. Im Hafen liegen die Aida und die Queen Elizabeth. Der blaue Himmel spannt sein Zelt über diese Kulisse. Ob er dorthin möchte? Der Hund? Wind frischt auf, trägt den Geruch von Fisch und Blumen zu mir herüber. Ein Markt auf der anderen Straßenseite. Die Bläser hinter mir erreichen ihren Gipfel. Das Finale eines Weihnachtsliedes rückt näher, und die Musik wird zu Lärm. Furchtbarer Lärm! Neben mir sagt jemand etwas auf Englisch. Die Stimme klingt wie die meines Lehrers in der neunten Klasse. Ob der noch lebt? Er wurde krank, damals. Sterben. Sterben ist bestimmt nicht leicht. Ich schaue mich hektisch um. Wo ist Jonas? Ich sehe nur noch Farben, die um mich herum huschen. Gesichter, die immer mehr an Bedeutung verlieren. Der Krach lässt mein Herz schneller schlagen, und ich beginne zu schwitzen.

»Scheiße«, jammere ich und mahne mich zeitgleich zur Ruhe. Wie ich es hasse, wenn meine Stimme ins Weinerliche kippt. Endlich entdecke ich Jonas nicht weit von mir, und ich steuere nach links (oder rechts?). Seine Augen weiten sich vor Schreck.

Oh, oh! Ich kann meinen Lauf gerade noch stoppen und renne nicht in das entgegenkommende Fahrrad. Puh! Gefahr erkannt, Gefahr gebannt. Ein irres Lächeln zuckt um meinen Mundwinkel. Mein Blick findet den Hund wieder, der bereits auf der Strandpromenade entlangläuft. Er trifft einen guten Bekannten. Einen Schäferhund. Sie begrüßen sich mit wedelnden Schwänzen. Ich muss darüber lachen. Keine Ahnung, warum. Am Rande erkenne ich das Hindernis, als ich eine alte Frau mit schweren Tüten umrunden will. Es knallt. Mein Kopf, allem voran meine Nase, tuschiert einen Laternenmast, und ich sinke augenblicklich in die Knie. Autsch! Das darf doch wohl nicht wahr sein!?

»Minchen!« Vage bekomme ich mit, wie Jonas hilflos die Arme hebt. Die Frau mit den Tüten versucht, mir aufzuhelfen. Wirklich nett. Sie hat zwei verschiedene Augenfarben. Das eine Auge ist fast schwarz, das andere von einem schmutzigen Grün. Sie lächelt.

»Obrigada«, sage ich. Danke. Das einzige Wort auf Portugiesisch, das ich kenne.

»Was machst du denn?«, höre ich Jonas sagen. Er verkneift sich ein Lachen. Muss komisch ausgesehen haben der Unfall. Zwischen meinen Fingern, die ich mir auf den Mund und die Nase presse, quillt dunkles Rot hervor.

»Oh, nein!«, quieke ich wie ein Ferkel, das man über eine grüne Wiese hetzt.

»Kein Problem. Das wird wieder«, sagt Jonas routiniert und hilft mir auf. Die Frau reicht mir ein Taschentuch. Und mir reicht der Ausflug.

Tja, wie gesagt: Urlaub ist eine feine Sache, wenn man weiß, ihn zu genießen. So denke ich, als wir im Behandlungszimmer des Krankenhauses ankommen. Es geht doch nichts über neue Sinneseindrücke. Und dem Leben kann man sich ja schließlich nicht entziehen. Oder so ähnlich.

Vorsichtig schaue ich meinen Mann an, der sich lässig auf einem Stuhl neben mir niederlässt. Dafür liebe ich ihn: dass er den Abbruch unseres kurzen Stadtbummels hinnimmt ohne zu murren und, viel wichtiger, ohne mir einen Vorwurf zu machen. Es gab Menschen in meinem Leben, die hätten mir was erzählt. Jonas nicht. Und dabei ist es ja genauso auch sein Urlaub. Ich werfe meinem Mann einen schmachtenden Blick zu.

Der Arzt kommt herein, grüßt nur knapp und zeigt uns eine Röntgenaufnahme. »Ihre Nase ist nicht gebrochen«, erklärt er und mustert mich lange. Dabei lässt er seine Fingerknöchel knacken. Wie unangenehm.

»Juhu!«, versuche ich, die Stimmung zu heben, und starre zurück. Er ist für einen Portugiesen hochgewachsen und trägt eine Brille. Für einen Moment bleibt er unschlüssig stehen, dann setzt er sich auf einen Hocker mit Rollen und schiebt sich näher an mich heran.

»Das ist doch gut, oder nicht?«, hake ich nach, als er immer noch nichts sagt. Im nächsten Augenblick rührt er sich, zückt eine Taschenlampe und leuchtet mir in die Augen. Ich blinzle.

»Trotzdem siehst du aus, als hättest du einen Zusammenstoß mit einem Omnibus gehabt«, scherzt Jonas.

Der Arzt unterbricht sein Tun und schaut meinen Mann skeptisch an. Er hat wohl nicht viel Sinn für Humor.

»Das kannst du nicht wissen«, antworte ich. »So eine Begegnung blieb mir bis jetzt erspart.« Ich versuche zu grinsen. Meine aufgeplatzte Lippe schmerzt dabei.

»Bitte die Augen geöffnet lassen«, fordert mich der Arzt auf, und ich denke an zu Hause. Wie schön wäre es jetzt daheim.

»Zuletzt sah ich vor etwa einem Jahr so aus, nachdem wir renoviert hatten«, berichte ich dem Arzt in Plauderlaune. »Als wir die alten Tondachpfannen unseres Hauses abnahmen, hat mich eine davon genau hier getroffen.« Ich zeige auf den Knochen oberhalb meines Auges. »Ich war wohl zu lange damit beschäftigt, mich darüber zu wundern, dass sie ins Rutschen kommen können, um zu reagieren.«

Jetzt ziehen sich die Augenbrauen des Arztes zusammen. Grüblerisch. Oder genervt.

»Und davor war ich auf eine Harke getreten. Ganz slapstickmäßig, wie im Bilderbuch. Und davor, ach, ich könnte ewig so weitermachen. Kurzum, eine Unfallversicherung lohnt sich bei mir«, zwitschere ich weiter.

Stille tritt ein. Eine unangenehme Stille. Der Arzt hebt mein Kinn leicht an und tastet anschließend meinen Dickschädel ab.

»Haben Sie Schmerzen?«, will er wissen. Ich lese sein Namensschild: M. Cortez. Das kommt mir spanisch vor.

»Nein, eigentlich nicht sehr stark.«

Dr. M. Cortez brummt. »Möchten Sie mir noch einmal erklären, wie Sie sich diese Verletzung zugezogen haben?«, fragt er, und Jonas wirft mir einen warnenden Blick zu.

Verdammt. Denk nach, Wilhelmina! Wo läuft der Hase gerade hin?

»Ich möchte Sie bitten, draußen auf Ihre Frau zu warten«, fordert der Doktor plötzlich Jonas auf zu gehen. Mein Magen zieht sich alarmiert zusammen.

»Ähm, nein. Mein Mann bleibt hier«, sage ich schnell. Mein Kopf beginnt, Domino zu spielen. Das tut er immer, wenn ich mich krampfhaft versuche zu konzentrieren. Es ist in etwa so, als würden sich Hunderte Gedanken laut in meinem Schädel bemerkbar machen. Natürlich nur die, die fallen. Und es erfordert Fingerspitzengefühl, gezielt einen Gedanken nach dem anderen zu greifen, ohne eine Kettenreaktion auszulösen.

»Ich möchte Sie noch einmal untersuchen. Währenddessen kann sich Ihr Mann schon einmal um die Formalitäten kümmern«, schlägt Dr. M. Cortez in einem seltsamen Tonfall vor. Ich blinzle erneut.

»Aber …«

Jonas erhebt sich umständlich und flüstert mir zu: »Ich bin mir nicht sicher, ob der Arzt dir die Story mit dem Laternenmast abgekauft hat.«

Mir wird schlagartig klar, dass der Vorwurf häuslicher Gewalt die Luft schwängert.

»Oh, nein. Ich glaube, hier entsteht gerade ein Missverständnis«, versuche ich, den Arzt, der sich ausgiebig Notizen macht, aufzuklären. Er sitzt immer noch auf seinem Hocker und entfernt sich rollenderweise von mir. »Mein Mann hat nichts mit meinem Veilchen zu tun.«

»Was meinen Sie?«, fragt Dr. Cortez und runzelt jetzt noch ein wenig mehr die Stirn. Und das, ohne aufzusehen.

»Bei mir handelt es sich um eine neurologische Besonderheit«, beginne ich und schlage mir innerlich vor den Kopf. »Nicht bei mir, bei meinem Gehirn. Ich habe ADS.« Ich straffe mich und versuche, selbstbewusst zu wirken. Guckt der mich jetzt bitte schön einmal an? »Ich leide unter einer ausgeprägten Reizfilterschwäche. Und aus diesem Grund passieren mir manchmal Unfälle«, versuche ich es weiter. Domino! Ich kann es fühlen. Zehn, neun, acht … »Ich weiß es erst, seitdem ich 24 bin, wissen Sie?« Ich räuspere mich. »Früher hatte ich den Verdacht, unter einer besonderen Art der Geisteskrankheit zu leiden. Kein Scherz.« Ich kichere blöd. »Vorsichtshalber hab ich niemandem verraten, dass ich oft das Gefühl hatte, verrückt zu sein, wenn mich alles so überrannt hat. Aber jetzt …« Ich hole Luft. »Bei ADS, kurz für Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom oder Aufmerksamkeitsdefizitstörung – wobei Störung so ein unschönes Wort ist –, handelt es sich um eine neurochemische und neurobiologische Besonderheit, die das Zusammenspiel von Aufmerksamkeit und Motivationssystem beeinträchtigt und falsche Signale sendet«, bete ich herunter. Dr. Cortez schaut mich an. Nachdenklich. »Sie kennen vielleicht den englischen Begriff? Attention Deficit Disorder? ADD?« Ich glaube, bei dem klingelt immer noch nichts, und ich werde ernsthaft unruhig. »Wissen Sie, es gibt ADS oder auch ADHS schon sehr lange. Bekannt ist es seit dem 19. Jahrhundert. Nur nicht unter dem Namen ADS. Sagt Ihnen der Zappelphilipp etwas, von Heinrich Hoffmann? Aus dem Struwwelpeter? Nein?«

Nein? Natürlich nicht. Nur weil der Arzt ein bisschen deutsch spricht, hat er bestimmt nicht unsere Literatur oder Geschichte studiert. Sein Mund kräuselt sich leicht. Was soll das jetzt wieder bedeuten?

»Ich bin mehr der Hans Guck-in-die-Luft. Der wäre beinahe ertrunken, weil er sich allzu oft ablenken ließ und schließlich ins Hafenbecken fiel. Heinrich Hoffmann schrieb die Geschichten 1845 für seine eigenen Kinder. Als Warnung. Ich schätze, er hat versucht, durch Angst ein normales Verhalten seiner Sprösslinge zu erzwingen, die vielleicht ähnlich aus der Art schlugen wie ich zum Beispiel. Keine gute Idee, wenn Sie mich fragen.« Ich stehe auf. »Es besteht in jedem Fall ein erkennbarer Zusammenhang zum Verhalten mit ADS.«

Jonas macht das Zeichen für Sprechdurchfall, das er mir immer gibt, wenn ich nicht aufhöre zu reden. Ich stelle mich neben ihn und versuche, meine Gedanken zu ordnen. Und den Mund zu halten.

»Ich schätze, das hier ist nicht der beste Moment, meine neurologische Besonderheit zur Sprache zu bringen, oder?«, frage ich vorsichtig in die lustige Runde. Jonas schweigt. Der Arzt kritzelt etwas auf einen Zettel.

»Ich überweise Sie«, sagt er plötzlich ernst. Scheiße. Echt jetzt? Ich reiße die Augen auf.

»Mann, Sie verstehen aber auch gar keinen Spaß, oder?«, höre ich mich plappern, weil ich plötzlich Angst habe, dass er mich in eine Nervenklinik einweisen will. Gibt es eine auf Madeira?

»Kein Spaß«, antwortet der Arzt stoisch. Ob er mich überhaupt verstanden hat? »Ihren Schneidezahn sollte sich ein Kollege der Zahnmedizin ansehen.«

Puh! Ich lächle. War mir gar nicht bewusst, dass der Zahn ebenfalls was abbekommen hat.

»Oh, ja. Gut«, sage ich erleichtert.

Dr. M. Cortez gibt mir die Hand, drückt sie leicht, während er uns dezent zur Tür geleitet. Ich habe das Gefühl, er kann uns gar nicht schnell genug wieder loswerden.

»Ich wünsche Ihnen alles Gute«, sagt er knapp. Jonas bedenkt er mit einem Kopfnicken und schon schließt sich die Tür hinter uns.

»Ihnen auch. Vielen Dank«, antworte ich noch. Draußen angekommen atme ich auf.

»Für einen Moment dachte ich, der will mich in die Klapse einweisen«, sage ich lahm und suche mit den Augen unseren kleinen Mietwagen. »Dann hieße es: Au revoir, Meeresrauschen, Palmen und Pizzeria. Hallo, Zwangsjacke.« Ich bekreuzige mich innerlich. Was für eine Horrorvorstellung!

Tatsächlich weiß ich aus meiner Jugend, wie so eine Einrichtung aussieht. Nicht so schlimm, wie man es sich vorstellt. Doch wie es sich in Portugal verhält, will ich lieber nicht herausfinden. Zumal ich in solch einer Einrichtung wirklich fehl am Platz bin. Damals wie heute.

»Lustig. Könnte entspannt für mich werden«, scherzt Jonas, und ich knuffe ihn in die Seite. »Da kann dir zumindest nichts passieren, und ich könnte dich wieder abholen, wenn unser Rückflug geht, Schatz«, plaudert er weiter, und ich mache einen Schmollmund. »Guck nicht so«, fordert er und drückt mich an sich. »Du weißt doch, dass ich ohne dich nicht kann.«

»Ich liebe dich auch«, flüstere ich und gebe ihm einen Kuss. Autsch! Meine Lippe! Die hatte ich vergessen.

Verdammt, jetzt habe ich Heimweh. Zu Hause ist es doch am schönsten. Es ist sicherer als im Dschungel der unbekannten Sinneseindrücke. Mir reichen die Reize, die in der normalen Welt – also daheim – auf mich einwirken ja schon aus, um wahnsinnig zu werden. Und dort kenne ich jede Gefahrenquelle. Und meine Unfallärzte.

Neben der Spur, aber auf dem Weg

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