Читать книгу Neben der Spur, aber auf dem Weg - Mina Teichert - Страница 8

Mit Leichtigkeit planlos

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Zurück zu Hause muss ich nur schnell Weihnachten überstehen, dann kann ich mich in aller ADS-Herrgotts-Hektik dem Silvesterchaos widmen …

»Mama, hast du es bald mal?«, fragt meine dreizehnjährige Tochter Louisa mich, während ich die vorsortierten Äpfel in der Obstabteilung anstarre. Zwanzig Cox, 24 Elstertal. Ich zähle weiter. Bis zum Jahreswechsel sind es nur noch ein paar Stunden, und der Countdown bis Mitternacht läuft bereits laut in mir ab. Mit einer hohen Wahrscheinlichkeit werde ich nicht bis zum Feuerwerk durchhalten, sondern vorher irgendwo im Haus einschlafen – wie fast jedes Jahr – und die nächsten Tage vor Erschöpfung durchschlummern. Weihnachten, das Fest der Liebe? Pah, Weihnachten mit meinem ADHS-Bruder Henry und mir ist das Fest der Supernovas … Ich wundere mich jedes Mal, wenn wir es allesamt mehr oder weniger unbeschadet überstanden haben. Aber – es ist uns auch dieses Jahr wieder geglückt. Wir leben noch.

»Mama?«, höre ich Louisa maulen. Gleich wird sie mit dem Fuß aufstampfen.

»Ja, gleich«, antworte ich und höre auf, über Farbgebung und Geschmack zu sinnieren. Warum ist Golden Delicious nicht halb so deliziös wie Pink Lady? Und warum meinen die Leute, dass sich Boskop am besten zum Backen von Apfelkuchen eignet? Meine Hände kramen das kleine Diktiergerät aus meiner Jackentasche.

»Erna bitten, für meinen Geburtstag Apfeltarte zu backen. Nicht vergessen«, spreche ich mir auf das Band. Mein Geburtstag ist bereits in zwei Wochen, und wenn ich meine Mutter nicht rechtzeitig dafür einplane, wird sie es schlicht nicht für mich tun. Diesbezüglich ist sie stur. Eine unangenehme Eigenschaft unserer Familie, die man auch als Gendefekt bezeichnen könnte. Diese Sturheit vererbt sich eins zu eins auf jede weibliche Person in unserer Familie. Obwohl, meine Mutter bildet da vielleicht eine Ausnahme. Sie ist noch eine Spur sturer. Denn sie wollte bis zuletzt nicht wahrhaben, dass mit mir etwas nicht stimmt. Dass ich ADS haben könnte. Ich war doch so ein liebes Kind. Aber dazu kommen wir später.

»Mama, jetzt komm weiter. Ich möchte heute noch nach Hause«, murrt Louisa weiter und übernimmt den Einkaufswagen. Ich trotte ihr hinterher und stelle fest, dass ich den Einkaufszettel vergessen habe. Wie etwa jedes zweite Mal, wenn einer angefertigt wird, blieb er einsam auf dem Küchentisch zurück.

»Oh nein!«, stoße ich aus.

Louisa bleibt stehen, verengt ihre Augen. »Was geht, Mama?«

Ich lächle schief. »Weißt du noch, was wir aufgeschrieben haben?«

Louisa schüttelt den Kopf, und eine kleine Welle der Verzweiflung droht mich zu überrollen. Müde! Ich werde müde. Und das bedeutet, mein Gehirn schaltet früher oder später auf out of order. Oder es beschwert sich mit fiesen Kopfschmerzen.

Glücklicherweise überspült die Verzweiflung nur meine Füße, denn Louisa beginnt nun doch, die Liste aus dem Kopf aufzuzählen. Gut, dass ich ihr alles diktiert habe! Denn wenn man es selbst schreibt, bleibt es im Gedächtnis.

»Du bist großartig, mein Frosch«, jubiliere ich und stoße mit einem älteren Herrn zusammen, der mich daraufhin komisch ansieht. Ich schaue zu Boden, entschuldige mich.

»Ich weiß«, antwortet meine kleine Retterin zwei Schritte vor mir und beginnt, die Dinge, die wir brauchen, in den Wagen zu räumen.

Es ist nicht so, dass ich nicht ohne Begleitung einkaufen kann. Meistens komme ich gut allein klar und bringe fast alles mit, was ich vorhatte zu kaufen. Und einige Dinge, die ich nicht vorhatte zu kaufen, natürlich auch. Allerdings sind diese Impulseinkäufe eine Gefahr für meinen Geldbeutel und für mein Zeitmanagement. Denn sie machen mir zusätzliche Arbeit, weil ich die gekauften Artikel später wieder zurückbringen muss.

»Habe ich dir schon einmal gesagt, wie sehr ich es schätze, dass du mit mir einkaufen gehst, Lou?«, frage ich meine Tochter und bücke mich nach einem Knopf, der auf dem Boden liegt. Blau mit Punkten.

»Ja, hast du«, antwortet sie und hebt eine ihrer Augenbrauen, während sie mich beobachtet. »Wir sollten mal über mein Taschengeld sprechen«, schlägt sie grinsend vor und biegt in den nächsten Gang.

»Du Teufelchen«, rufe ich ihr nach. Mein Blick bleibt an einem potenziellen Impulseinkauf hängen. Reduzierte Kuschelsocken. Lila und so fluffig. Oh, die mag ich. Mein Magen beginnt, freudig zu kribbeln, und meine Hände greifen sofort nach dem flauschigen Stoff.

»Hey, das stand nicht auf der Liste, Mama«, erinnert mich mein kleiner Wachhund, als er nachschaut, wo ich bleibe.

»Ich weiß. Aber wir brauchen welche. Du übrigens auch«, sage ich und suche nach dem Preis. 1,99 Euro. Das ist erschwinglich, würde ich meinen.

»Mein Sockenfach ist voll«, antwortet Louisa gedehnt.

»Du musst aber auch mal die Löcher mit Socken wegwerfen, Kind.«

»Was?« Louisa lacht.

»Die Socken, wenn sie kaputt sind«, erkläre ich. »Du sollst sie dann in den Müll schmeißen.«

»Ach so.«

Ich lege vier Paar in den Einkaufswagen.

»Hier, die zwei kaufe ich dir. Magst du sie?«, frage ich fröhlich. Endorphine werden ausgeschüttet.

»Klar. Schanke dön«, sagt sie. Ich blinzle verwirrt.

»Danke schön, meine ich, Mama. War ’ne Wertverwochslung.«

»Witzig«, antworte ich und schiebe Louisa samt Einkaufswagen weiter. Wortverwechslungen sind bei uns ein Highlight solcher Tage, an denen es mir zu stressig wird. Man muss seine Schwächen ja mit Humor nehmen, nicht wahr? Louisa und ich tun das jedenfalls schon immer. Sie hat von Anfang an gelernt, meine Unzulänglichkeiten mit Gelassenheit zu nehmen. So wie ich mittlerweile. Und das war weiß Gott nicht immer so. Das könnt ihr mir glauben!

Louisa hatte schon als Kleinkind ein Vokabular verinnerlicht, das alle dazugehörigen Wort- oder Silbenverdrehungen beinhaltete. Im Kindergarten sprach sie deshalb ein wahres Kauderwelsch, das oft nur wir beide verstanden. Wenn sie zum Beispiel ihre Kindergärtnerin bat, ihr zu helfen, die Hose in die Stummiegiefel zu stecken, weil es sonst basse Neine gebe, verstand diese mein Kind nicht immer auf Anhieb. Dass Louisa dazu auch noch sehr schnell sprach, machte die Sache nicht leichter. Lustig wurde es, wenn sie mit anderen Kindern redete, denn sie klärte die Mitzwerge darüber auf, dass sie nachmittags zum Kundertirnen ging. Wenn sie jedoch erzählte, dass sie nach dem Keksturnen noch Kinder backen wollte, wurde es brenzlig. Es gab tatsächlich ein Mädchen, das uns nach dieser Aussage aus Sicherheitsgründen erst einmal nicht mehr besuchen wollte. Schade eigentlich, denn die Kekse waren uns gut gelungen, nach dem Kinderturnen.

Bald ist der Einkaufswagen voll, und ich will ihn zur Kasse fahren, doch Louisa stoppt mich.

»Hast du nicht etwas vergessen?«, fragt sie und übt einen langen Augenaufschlag.

»Nein, ich glaube nicht«, antworte ich und bin auf der Hut. Immer wenn sie mich so ansieht, möchte sie etwas.

»Wir dürfen doch jetzt im Unterricht Musik hören«, versucht sie, mir auf die Sprünge zu helfen.

Ich runzle die Stirn.

»Das hab ich dir doch erzählt. Alle, die an ihrem Themenblock arbeiten, dürfen mit ihrem MP3-Player Musik hören, und ich möchte neue Songs dafür herunterladen. Dazu brauche ich ein neues Guthaben für iTunes.« Sie wedelt mit einer Gutscheinkarte vor meiner Nase herum. Ich durchwühle mein Hirn nach dem Gespräch, das wir darüber geführt haben müssen.

»In der Schule?«, höre ich mich unsicher fragen.

»Jahaa!«, antwortet sie gedehnt. »Glaubst du mir nicht, oder was?«, fragt sie und rollt gekonnt die Augen. »Zu dem Thema gab es sogar ’nen Elternbrief.«

»Natürlich glaube ich dir«, antworte ich schnell und nehme ihr die Geschenkkarte ab. »Weißt du, was mir noch einfällt? Du und Mieke, ihr wollt doch bestimmt alkoholfreien Sekt zum Anstoßen um zwölf Uhr haben, oder?«

Ihre Augen leuchten auf. »Klaro«, zwitschert sie.

»Holst du dann noch eine Flasche?«, bitte ich sie, und sie flitzt los. Ich zücke mein Diktiergerät. »Memo an mich: Checken, ob ein Elternbrief existiert, der die Mitnahme eines MP3-Players in die Schule thematisiert. Memo Ende.« Sicher ist sicher. Louisa ist ein Schatz. Aber sie ist nicht doof, und dann und wann nutzt sie meine Schwächen für sich.

Als wir aus dem Laden treten, beginnt es tatsächlich zu schneien, und ich fluche innerlich. Schnee auf Fahrbahnen macht mich nervös. Nervöser als ich ohnehin schon werde, wenn ich unterwegs bin.

Louisa schiebt den Wagen an den Kofferraum unseres Autos heran, und ich wühle in meiner Handtasche nach dem Schlüssel. Während ich das tue, beobachte ich, wie sich die weißen Flocken auf Louisas Mütze legen und sie zudecken. Meine Hände suchen die Jackentaschen ab. Ohne Erfolg. Und mir wird unangenehm warm in meiner Winterjacke.

»Nee, oder?«, fragt Louisa und pustet sich eine Locke aus dem Gesicht. Unter langen Wimpern schaut sie mich an. »Du hast den Schlüssel nicht im Laden gelassen, oder?«

Ich grüble. Fast bin ich mir sicher, dass ich ihn nicht in der Hand hatte. Zumindest nicht im Laden. Nicht wie damals im Möbelhaus, als wir ihn nach zweistündiger Suche bei den Ledergarnituren zwischen der Deko wiederfanden. Ich hatte ihn auf einem Bücherregal in eine Muschelschale gelegt, während ich die Preislisten studierte. Anschließend waren wir weitergeschlendert. Ohne Schlüssel.

»Nein, auf keinen Fall«, antworte ich, und Louisa filtert die Unsicherheit aus meiner Stimme.

»Wo hast du ihn denn das letzte Mal gesehen?«, fragt sie routiniert. Meine Gedanken beginnen zu fallen. Einer nach dem anderen, jeder stößt den nächsten an. Domino! Ich denke an den Schnee, der mein Kind einnimmt. An Schneemänner, um genau zu sein, und Karottennasen. An Karotten, die wir nicht gekauft haben, obwohl sich unsere beiden Ponys Lotta und Amy sicher gefreut hätten. Louisa umrundet den Einkaufswagen, murmelt etwas und zieht am Kofferraumdeckel.

»Und siehe da, er geht auf«, höre ich sie wie durch Watte sagen. Im nächsten Moment trifft mich ein Schneeball an der Schulter.

»Erde an Mama!«, ruft meine Tochter. »Guck mal. Der Wagen ist offen.«

Oh, Überraschung!

»Hast du den Schlüssel vielleicht stecken lassen?«

Ich reagiere und jubiliere innerlich, als ich mich in den Wagen beuge und ihn entdecke. »Hab ihn!«, rufe ich und ziehe ihn ab. Kühl liegt er in meiner Hand, und ich lasse ihn einmal klimpern, um zu verinnerlichen, dass er wieder da ist.

Neben uns befördert ein Mann mit Basecap scheppernd Bierkisten und Feuerwerkskörper in sein Auto und erinnert mich daran, dass Louisa und ich losmüssen. Das Mittagessen wartet. Und ich muss es erst noch kochen. Also verstauen wir in Windeseile die Einkäufe und sehen zu, dass wir Platz machen für andere Verrückte, die begriffen haben, dass dies die letzte Möglichkeit in diesem Jahr ist, um an Lebensmittel zu gelangen.

Während ich ausparke, suche ich nach einem Sender, auf dem etwas gespielt wird, mit dem ich Autofahren kann. Nicht jedes Lied eignet sich dazu. Es muss zu meinem Herzschlag passen. Das ist wichtig. Auf keinen Fall Helene Fischer. Das verträgt sich nicht mit meinem Puls, und ich werde nervös. Das gilt für jegliche Art von Schlager, wenn ich so darüber nachdenke. Und Heavy Metal kommt auf der Unmöglichen-Liste gleich danach, dicht gefolgt von Hip-Hop. Wobei man das nicht unbedingt verallgemeinern kann. Gar keine Musik ist jedoch auch keine Lösung, denn dann bekomme ich das Gefühl, keinen Puls zu haben, was sich genauso blöd anfühlt.

Also drücke ich weiter lustig auf den Knöpfen des Radios herum und suche. Hinter mir hupt jemand, weil es ihm zu lang dauert. Ich schaue mich um. Der Fahrer eines BMW gestikuliert wild.

»Vielleicht solltest du erst mal weiterfahren«, schlägt Louisa vor und tippt irgendwas in ihr Handy. Eine Nachricht über WhatsApp an ihre Freundin vermutlich.

Ich entschuldige mich per Handzeichen bei dem ungeduldigen Menschen und lege den ersten Gang ein. Langsam rolle ich vorwärts, und endlich finde ich etwas im Radio. Mr. Brightside von The Killers. Schneeflocken wirbeln durch die Luft, legen sich auf die Windschutzscheibe und werden von den Wischern vertrieben. Mein Blick folgt ihnen.

»Warum schneit es eigentlich immer zu spät? Ich hatte so gehofft, dass wir einmal weiße Weihnachten haben würden«, mault Louisa und starrt hypnotisiert auf ihr Handy. Ich verlasse die Seitenstraße und ordne mich vorschriftsmäßig in den Verkehr ein.

»Das kann ich dir auch nicht sagen, mein Schatz«, antworte ich nachdenklich und schaffe es nicht mehr über die Ampel. Das Rot leuchtet mir viel zu grell entgegen. »Aber Silvester in Weiß kann auch romantisch sein, das kannst du mir glauben.« Ich denke an mein erstes Silvester mit Jonas. Und an die heißen Küsse im kalten Schnee.

»Romantisch? Echt jetzt? Es geht mir nicht um Romantik, Mama. Weihnachten muss weiß sein, weil es so in den Geschichtsbüchern steht«, klugscheißt mein Teenager.

»Ach wirklich? Da steht drin, dass der Schlitten des Weihnachtsmannes nur durch Schnee fahren kann?« Jetzt ernte ich einen kurzen Blick, den ich nicht deuten kann.

»Mann, in der Bibel hat es geschneit, als Josef mit Maria nach Bethlehem gezogen ist«, erklärt sie.

Ich blinke rechts.

»Ja, aber Bethlehem ist nicht Ottersbach«, gebe ich zu bedenken und leide in Gedanken mit der armen Maria. Das muss echt mies gewesen sein, mit Wehen in der Kälte. Scheiße! Ich wollte noch zur Apotheke. Das war einer der Hauptgründe, warum ich mich heute hinters Steuer gesetzt habe. Es wird grün, und ich gebe Gas. Im Radio läuft inzwischen Fettes Brot. Das geht gar nicht. Ich hätte lieber einen MP3-Stick mitnehmen sollen. Dann könnte mich das Radio nicht nerven.

»Mama!«, ruft Louisa aus.

Meine Augen weiten sich, und ich biege vor einem sich viel zu schnell nähernden Fahrzeug, das jetzt scharf bremst, links ab. Links, nicht rechts.

»Holler the wood fairy«, stoße ich aus. »Der war aber flott unterwegs.«

Louisa klammert sich an das Armaturenbrett. »Du hast rechts geblinkt!«, stellt sie klar.

»Alles unter Kontrolle«, beruhige ich sie und wische unauffällig meine feuchten Hände eine nach der anderen an meiner Jeans ab.

»Der war aber echt zu schnell«, meint Louisa und schüttelt den Kopf über die Frechheit des Rasers. Ja, auf den letzten Drücker werden wohl alle ein wenig hektisch.

Die Apotheke kommt in Sicht, und ich fahre auf den Hof. Als der Motor verstummt, atme ich einmal tief durch. Runterkommen ist für mich nicht immer leicht, und ich greife automatisch auf eine meiner Übungen zurück. Ich spanne die Muskeln in den Beinen einige Sekunden lang an und atme dann langsam wieder aus. Anschließend wiederhole ich das Ganze mit meinen Armen und den Händen.

»Das gibt Ärger«, murmelt Louisa plötzlich und deutet nach hinten. Der Wagen, den ich eben geschnitten habe, ein Ford Kuga, ist mir gefolgt und hält unweit von uns. Ein Mann mit silbrigem Haar und einem Oberlippenbart steigt aus und hält in schnellen Schritten auf uns zu. Ich weiß nicht, warum, aber Männer mit Oberlippenbart sind mir grundsätzlich unsympathisch.

Ich beobachte ihn im Rückspiegel und zähle seine Schritte. Fünf, sechs, sieben … bei vierzehn müsste er uns erreicht haben. Deshalb versuche ich, ihn erst einmal zu ignorieren, und tue so, als suchte ich etwas in der Handtasche. Leider klopft es dann doch an der Scheibe meiner Fahrertür.

»Mist«, stoße ich aus und lasse das Fenster runter. Louisa sieht amüsiert aus und hat sogar ihr Handy in ihre Tasche gesteckt. Dieses Szenario scheint interessanter zu sein als Facebook und Co.

»Ja, bitte?«, sage ich freundlich, und der Typ beugt sich zu mir herunter. Der kalte Wind weht sein scharfes Aftershave zu uns herein.

»Sind Sie noch ganz dicht?«, fragt er mich.

Nett. Ich lächle stur weiter. »Natürlich. Und Sie?«, frage ich zurück.

Seine Stimme wird gefährlich leise. »Sie haben mir die Vorfahrt genommen. Das hätte böse ins Auge gehen können.«

»Ist ja alles gut gegangen«, versuche ich einzulenken.

»Einen Führerschein haben Sie schon, oder?«

Ich starre auf seine schmalen Lippen, die eine bläuliche Färbung haben. Ob der Mann Durchblutungsprobleme hat?

»Wie war die Frage noch mal?« Meine Stimme hört sich dünn an, und das ärgert mich sofort.

»Ob Sie eine Fahrerlaubnis besitzen.« Er deutet ein Kopfschütteln an und schnalzt mit der Zunge. Gott, er erinnert mich an meinen letzten ungnädigen Ausbilder im Autohaus Holke, als ich versucht habe, Bürokauffrau zu werden. Das hatte nicht sollen sein. Schon gar nicht mit so einem Vorgesetzten.

»Wer will das wissen? Sind Sie Polizist?«, höre ich mich fragen. Hoffentlich nicht.

»Wenn ich das wäre, hätten Sie die längste Zeit Ihren Lappen gehabt, das können Sie mir glauben.«

»Ist ja gut«, antworte ich lahm. Meine Hände spannen sich an und entspannen sich wieder. Mein Puls bleibt trotzdem hoch.

»Eine Entschuldigung wäre das Mindeste, meinen Sie nicht?«, bohrt er jetzt auf eine unangenehme Art weiter.

»Schade«, sage ich bedauernd. »Ich habe es mir vor langer Zeit abgewöhnt, mich bei Leuten wie Ihnen zu entschuldigen.«

Er steckt seinen Kopf noch ein bisschen mehr durch die offene Fensterscheibe. »Das wird ja immer frecher.«

Gut. Dann kann ich ja jetzt richtig loslegen.

»Wenn Sie nicht mit so viel Gas in Ihrer protzigen Karre unterwegs gewesen wären, hätten Sie nicht so scharf bremsen müssen«, sage ich und drücke mit Schwung meine Tür auf. Er beeilt sich zurückzutreten und stolpert beinahe.

»Sind Sie verrückt?«

»Ist das eine Fangfrage?« Ich spüre, wie mein Blut immer heftiger durch meinen Körper gepumpt wird. Ruhig bleiben ist die Devise! Ich zähle innerlich bis zehn. Die Worte, die aus dem wütenden, schmallippigen Mund des Mannes kommen, werden dumpf und verschwimmen in meinen Ohren zu einem Brei. Acht, neun, zehn. Atmen!

»Jetzt hören Sie mal zu, Fräulein. Sie ziehen mal ganz schnell Ihre Schrauben im Kopf an und …«

Mir fällt auf, dass sein Wagen mit laufendem Motor auf einem Behindertenparkplatz steht.

»Übrigens, netter Parkplatz«, explodiere ich. So viel zur Impulskontrolle. »Sie sind zu doof, um sich an Geschwindigkeitsregeln zu halten, und zu blind, einen Behindertenparkplatz von anderen zu unterscheiden. Ich leide an einer Rechts-links-Wahrnehmungsstörung. Welche Entschuldigung haben Sie?« Ich brülle aus voller Lunge. Mein ganzer Körper bebt, und meine Hände ballen sich an meiner Seite zu Fäusten. Der Mann macht einen Schritt rückwärts, verengt die Augen zu Schlitzen. »Ich habe Sie etwas gefragt«, schreie ich weiter. Ich spüre, wie mir die Hitze in den Kopf steigt.

»Sie sind ja total irre«, stellt er fest.

»Das macht nichts. Sie sind ja ein genauso komplett dämlicher Korinthenkacker mit Affinität zum unangebrachten Maßregeln.«

Er schnappt nach Luft und sagt nichts mehr. Seine Gesichtsfarbe wechselt von grau zu weiß.

Gut. Bevor es Verletzte gibt, sollte ich nach Hause fahren und Apotheke Apotheke sein lassen. Schade. Kopfschmerztabletten wären gut gewesen. Jetzt sofort.

Louisa hält sich die Hand vor den Mund und versucht, ihr Lachen zu verstecken, als ich wieder einsteige. Der Typ steht mit offenem Mund da und schaut zu, wie ich ihm davonfahre.

»Wir könnten die andere Apotheke nehmen, wenn du möchtest«, schlägt meine Kleine vor. Ich zucke die Achseln und biege auf die Straße ein.

»Kommt drauf an, welches Lied gespielt wird«, antworte ich und stelle das Radio wieder an.

Drei Tage später, am 3. Januar, sitze ich gerade an einer Kurzgeschichte und grüble über Grammatik nach, als es an der Haustür klingelt. Vergnügt springe ich auf und hüpfe aus dem Büro. Ich erwarte eine Büchersendung, die ich kaum erwarten kann. Jonas ist schneller als ich und nimmt ein Einschreiben vom Postboten entgegen.

»Kein Paket?«, murre ich und stelle fest, dass mir Jonas’ Gesichtsausdruck nicht gefällt. Die Freude über das Erscheinen des Postboten verpufft gänzlich.

»Was ist los?«, frage ich nervös, und er hält mir das Schreiben entgegen.

»Unfall mit Fahrerflucht? Kannst du mir etwas dazu sagen?« Seine Stimme ist rau. Und mir schießt sofort der Silvestertag durch den Kopf.

»So ein Mistkerl. Der hat mich angezeigt?« Ich stoße ein freudloses Lachen aus und versuche, die Einzelheiten des Zusammentreffens mit Mister Unsympathisch zu rekonstruieren. »Es gab keinen Unfall. Ich habe einem Typen an der Ampel aus Versehen die Vorfahrt genommen, aber es ist gar nichts passiert. Das schwöre ich«, ereifere ich mich und versuche, das Schreiben zu entziffern. Die dämlichen Buchstaben tanzen alle durcheinander und lassen sich nicht in eine sinnvolle Reihenfolge bringen.

»›Gar nichts passiert‹ kann ja nicht sein«, sagt Jonas gedehnt. »Hier ist von einem Auffahrunfall die Rede, am 2. Dezember des letzten Jahres.« Ich werde hellhörig. 2. Dezember ist nicht 31. Dezember.

»Wo steht das denn zum Teufel?«, quieke ich, und Jonas deutet auf eine Zeile.

»Hier steht, dass du den Unfallort einfach verlassen hast, ohne dem Unfallgegner deine Personalien mitzuteilen.«

Meine Beine werden weich, als eine Erinnerung emporsteigt. Es war nicht der Typ von Silvester. Der kleine Unfall, um den es im Brief geht, war eigentlich nicht der Rede wert. Ich stand im Stau und rutschte einmal von der Kupplung ab. Unser Kleinwagen ruckte ein kleines bisschen vorwärts … direkt in die Stoßstange eines Audis. Außer einem kleinen Kratzer konnte ich keinen Schaden erkennen. Abgesehen von dem, den die Fahrerin des Audis offensichtlich hatte, denn die hochgewachsene Blondine in Tweed-Kleid und Mantel geriet völlig aus dem Häuschen und ging ab wie Schmidts Katze. Sie redete so heftig auf mich ein, dass ich nur noch ihren geschwätzigen Mund anstarrte und kein Wort verstand. Die Sirenen einer Feuerwehr und der Lärm der gegenüberliegenden Verkehrsseite füllten mich immer mehr aus. Bis mein Gehirn das Thema wechselte und mich nach Hause schickte. Also stieg ich ins Auto und wendete umständlich. Ein aufwendiges Unterfangen, bei dem ich meinem Auspuff einiges zugemutet habe.

Ich gebe ja zu, diese Aktion war etwas unüberlegt. Aber eben das ist ja mein Problem. Unüberlegtes Handeln. Trotzdem denke ich, es war immer noch genau das Richtige für mich in dieser Situation. Denn die Zicke vor mir begann, mich zu beschimpfen, und ich war kurz vorm Heulen. Und das kommt für mich nur schwer infrage. Vor anderen, am besten noch fremden Menschen, die mich für absolut tiefbegabt halten, anfangen zu flennen.

Übrigens: Ich bin nicht dumm. Ich habe einen guten Durchschnitts-IQ von 115. Das wurde im Zusammenhang mit meinen neurologischen Besonderheiten mehrfach getestet. Wenn ich es schaffe, mich zu fokussieren, kann ich sogar Mathe.

Nichtsdestotrotz entzog ich mich an diesem Tag dieser für mich kaum erträglichen Situation, auch wenn es blöd war, und suchte das Weite. Dass das als Fahrerflucht gilt, war mir bis jetzt nicht bewusst. Schließlich war ja gar nichts passiert.

»Und jetzt?«, frage ich Jonas hilflos.

»Na, du musst dich bei der Polizei melden. Und dann kommt es drauf an. Wahrscheinlich musst du eine saftige Strafe zahlen.«

Ich gehe in die Küche und lasse mich auf einen der knarrenden Küchenstühle fallen. Jonas sieht mich bekümmert an.

»Und alles nur, weil ich mich nicht vernünftig organisiert hatte an diesem Tag«, erinnere ich mich. Wenn ich nicht so ein Schussel gewesen wäre und einen wichtigen Termin vergessen hätte, wäre der Tag ruhiger verlaufen. Und ich wäre so spät nicht mehr unterwegs gewesen. Und nicht so hoch gepowert von meinem andauernden Stresslevel.

Leider passiert es mir immer noch verdammt oft, dass ich Verabredungen oder dergleichen durcheinanderbringe oder total vergesse. Mit weitreichenden Folgen, wie dieser Brief beweist. Ich muss ein schmerzliches Bußgeld bezahlen und ernte drei Punkte in Flensburg wegen unerlaubten Entfernens von einem Unfallort.

Ein paar ganz persönliche Tipps und Strategien im Alltag, um die Fehlerquote zu senken, findet ihr auf Seite 264 in »To-do-Listen und Was-soll’s-Listen«.

Neben der Spur, aber auf dem Weg

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