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Gilt Fettnäpfchenlauf eigentlich als Sportart?

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Silvester und seine Folgen sind kaum vergangen, da nimmt das neue Jahr an Fahrt auf und reißt mich gnadenlos mit sich – mein Mann und ich sind auf dem Weg zum Jahreshighlight eines jeden Landwirts in Town: dem Züchterball.

Ich liebe Partys – als ehemaliges Stadtkind vermisse ich jedoch Trockeneisnebel und wummernde Beats, die einen unter Einfluss illegaler Substanzen einfach davontragen. Auf dieser Art Party, der wir gerade entgegenlaufen, wird eindeutig zu viel geredet, was in Anbetracht der Lautstärke der Land- und Wiesenbands nicht immer leicht für mich ist. Aber egal, es wird getanzt. Heute wird gefeiert! Und wann hat man mit Mitte dreißig denn schon noch die Gelegenheit dazu?

»Minchen, denk dran, die Lose kaufe heute ich«, erinnert mich Jonas.

Ich zupfe mein elfenbeinfarbenes Spitzenkleid zurecht, während wir uns in die lange Schlange vor dem Einlass einreihen. »Wieso das?«, frage ich wenig interessiert, während mein Blick unruhig umherwandert und die umstehenden Leute analysiert. Zeig mir dein Make-up und deine Schuhe, und ich sage dir, wer du bist.

»Du ziehst nur Nieten, mein Chaoskeks«, meint Jonas und hebt seine Augenbrauen spöttisch.

»Oh, das meinst du nicht so«, antworte ich grinsend und bemühe mich, das immer wiederkehrende Geräusch der sich öffnenden und schließenden Eingangstür auszublenden. »Denk mal drüber nach. Was würde das für dich bedeuten? Immerhin wärst du dann die älteste Niete, die ich gezogen habe«, ärgere ich ihn, und er kneift mir tatsächlich in meinen Grübchen-Po.

»Nein, das bedeutet, dass du Glück hast in der Liebe und Pech im Spiel«, berichtigt er mich.

Etwas knackt unter meinem Schuh, ein Splitter oder Ähnliches, und ich schabe mit der Sohle so lange über den glatten Boden, bis der Widerstand weg ist.

»Ach, und du nicht?«, will ich wissen und ziehe einen Schmollmund. Eine Frau lacht schrill auf, und ich sehe mich nach ihr um.

»Na gut. Wir lassen Inga ziehen, falls sie da ist«, überlegt er, und wir sind endlich an der Reihe, sodass ich nicht weiter über Jonas’ Cousine nachdenken muss.

Der Kassierer schaut gar nicht auf, während er unser Geld nimmt. Mit einem hübschen Bändchen ums Handgelenk gewährt man uns Einlass in den für meinen Geschmack viel zu stark ausgeleuchteten rustikalen Saal. Eine Welle von lautem Gemurmel und Musik trifft mich hart, und meine Hand angelt unwillkürlich nach den Gratisgläsern Sekt, die recht kunstvoll auf einem Tisch zur Pyramide gestapelt wurden.

»Wir sollten die anderen suchen gehen, oder?«, fragt Jonas.

Für einen Moment halte ich die Luft an, weil ich Mühe habe, ein Sektglas aus dem Aufbau herauszumanövrieren, ohne die anderen umzustoßen. Plötzlich tippt mir jemand auf die Schulter. Ich wirble herum.

»Hey, ihr auch hier«, ruft Hanna, die Frau eines Arbeitskollegen von Jonas. Ein Pfundsweib mit der Kraft von mindestens fünf meiner Sorte. Also, eine Brienne von Tarth – den Game of Thrones-Guckern ein Begriff – um genau zu sein. Sogar die Frisur stimmt. Sie und ihr Mann sind in der Schweinemast tätig. Ich weiß nicht, wieso, aber sie schüchtert mich jedes Mal ein wenig ein, obwohl sie eine der freundlichsten Personen ist, die ich kenne. Und da passiert es: Meine Hand hat es noch nicht geschafft, mein Glas aus der Gefahrenzone zu bringen, und es klirrt. Ich reiße ganze zehn Gläser in die Tiefe. Sekt spritzt in alle Richtungen. Zuerst auf Hannas Kleid, dann auf meines.

»Verdammt«, schimpft sie und springt erschrocken zurück. Ich tue es ihr gleich, aber nicht, weil es plötzlich nass wird, sondern weil ich Angst habe, sie könnte mir eine ballern. Wahrscheinlich ein alter Reflex aus meiner Kindheit, in der ich öfter mal verhauen wurde.

»Tschuldigung«, murmle ich und schnappe mir eine Serviette von einem der umliegenden Tische.

Hanna versucht zu lächeln, nimmt mir das Papiertuch ab und tupft damit auf dem wirklich großen Fleck auf ihrer Hummelhüfte herum. »Das verspricht doch ein feuchtfröhlicher Abend zu werden, oder?«, scherzt sie freundlich.

Ich atme gerade erleichtert auf, da fange ich von der Seite einen kühlen Blick von Inga, Jonas’ Cousine, auf. »Gott, die ist wirklich auch da«, stöhne ich leise, als ich registriere, dass sie vorhat, zu uns herüberzukommen. Ich sehe schnell weg, schaue die liebenswerte Hanna an.

»Wer ist hier?«, will sie wissen und sieht sich um. Irgendwo lacht jemand schallend über einen Witz.

»Niemand«, antworte ich schnell, ziehe ihre Aufmerksamkeit wieder auf mich und stoße mit ihr an. »Prost!«

Jonas winkt Inga freundlich zu uns herüber, und ich möchte ihm am liebsten vors Schienbein treten.

»Hallo, ihr Lieben«, trällert sie schon von Weitem über eine Ansage des Sängers auf der Bühne hinweg und watschelt in ihrem biederen Kleid auf uns zu.

»Wir feiern heute den 23. Züchterball!«, klingt es aus den Lautsprechern, bevor die Worte in einem für mich ohrenbetäubenden Applaus untergehen.

»Na, wir sehen uns ja gleich noch, oder?«, meint Hanna, die ihre klatschnasse Serviette ablegt und meinen Gesichtsausdruck vielleicht falsch deutet. »Soll ich schon mal eine Runde Cola-Korn für euch mitbestellen?«, fragt sie und drückt meine Schultern einmal fest.

Korn! Bah!

»Klar, das wäre super. Wir werden, so schnell es geht, nachkommen«, sage ich tapfer lächelnd, als Inga auch schon meinen Mann umarmt. Sie hat ihren Freund im Schlepptau, einen unscheinbaren, hageren Typen mit Halbglatze, der zur Begrüßung meine Hand schüttelt. Viel zu fest.

Sehnsüchtig sehe ich Hanna nach, denn ich weiß, dass ich Inga ein Dorn im Auge bin. Peripher bekomme ich mit, wie sie mein Outfit mustert und die Nase kaum merklich rümpft. Ich weiß, was die Gutmensch-Katholikin über mich denkt und schon immer dachte. Seit dem Tag, an dem wir uns kennenlernten, hatte ich von ihr den Stempel aufgedrückt bekommen: zu geschieden, zu speziell, zu sehr Stadtkind, zu nuttig.

Mein Blick gleitet an mir hinab. Mein Spitzenkleid ist hochgeschlossen, gibt einen vagen Eindruck meines Dekolletés und endet etwa zwei Handbreit unter meinem Po. Zu gewagt?

»Hallo, Wilhelmina, wie geht es dir?«, fragt Inga freundlich und legt ihren Kopf mit der Angela–Merkel-Frisur schief.

Die Band spielt unheimlich schlecht Just can’t get enough von Depeche Mode, doch ich für meinen Teil habe bereits jetzt genug. Ich setze mein Glas an die Lippen und trinke es auf ex, bevor ich antworte.

»Sehr gut«, sage ich. »Und dir?« Freund noch da?

»Wie immer. Und du sammelst wieder Fettnäpfe?«, stichelt sie und deutet auf die Scherben zu meinen Füßen. Kurz verlieren sich meine Gedanken in einer Welle von Geplapper, die über mich hinwegschwappt.

»Was soll ich sagen: Das Leben ist ein Minenfeld«, erkläre ich irgendwann und nehme mir noch ein Glas von der Pyramide. Diesmal ohne Unglück.

»Minchen, stell dir vor, es gibt ein Kutschgeschirr zu gewinnen«, meint Jonas plötzlich.

Wie bitte? Das ist ja mal etwas Ausgefallenes! Ich verenge misstrauisch die Augen.

»Ja. Eines für Shetlandponys. Du möchtest doch gern eines für Amy und Lotta haben, oder?«, fragt er nach.

Ingas Miene kriegt etwas Lauerndes. Sie ist also auch scharf darauf. Fast unvorstellbar, dass wir doch eine Gemeinsamkeit haben: die Liebe zu Ponys. Na gut, sie züchtet sie gewinnbringend. Ich halte zwei von ihnen einfach nur zum Spaß.

»Der Züchterverein hat es gesponsert«, berichtet Inga. Dann hebt sie eine ihrer dünnen Augenbrauen. »Sag mal, was ich dich noch fragen wollte, wo warst du eigentlich bei der Dorfhelferaktion?«

Ach du Scheiße.

Ich mag das Dorfleben, keine Frage. Die Menschen sind sehr aufmerksam und nett, und es lässt sich angenehm und friedvoll im Schoße einer solchen Gemeinschaft leben, wenn man mal davon absieht, dass ein Dorf auch etwas von einem Überwachungsstaat hat. Jeder bekommt alles von jedem mit. Das passiert einem in der Stadt nicht. Leider habe ich grundsätzlich keine Lust auf diese »Wir machen unser Dorf schöner«-Aktionen mit gemeinsamem Kaffeeklatsch. Besser gesagt, ich habe keine Kapazitäten frei. Denn es kommt immer der Zeitpunkt, an dem die Leute mehr von mir erwarten, als ich bieten kann. Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit zum Beispiel. Außerdem bin ich ein gebranntes Kind, weil ich oft die Hierarchien unter Frauen nicht verstehe. Jedes Mal wird über irgendjemanden, der nicht anwesend ist, schlecht geredet. Was sie wohl über mich sagen, wenn ich nicht da bin?

»Ich hatte Abgabetermine«, verteidige ich mich.

»Was musstest du denn abgeben?«, fragt Inga.

»Ein Skript.«

»Oh, du veröffentlichst mal wieder was?« Ihr Zähnefletschen erinnert mich an die Grinsekatze aus Alice im Wunderland, und ich muss wider meine eigentlichen Gefühle lachen.

»Was ist so komisch?«, will sie wissen.

»Deine Frage.«

»Na ja, deine Schreiberei ist ja eher als Hobby anzusehen. Deshalb habe ich mich halt gewundert, dass du gar nicht mit angepackt hast«, meint sie mit einem Grinsen im Gesicht und trifft mich damit. Und zwar mitten ins Herz.

»Kein Hobby, Inga. Eine Berufung. Und ich hatte wirklich beim besten Willen keine Zeit«, lüge ich und schaue mich Hilfe suchend nach meinem Mann um, der gerade in ein Gespräch mit einem Nachbarn vertieft ist.

»Na, das hört sich ja gut an.« Inga macht eine Pause und angelt sich galant ein Sektglas. Um uns herum wird es voller, jemand drängt sich an meinem Rücken vorbei.

»Hast du eigentlich schon was verkauft, die letzte Zeit?«, fragt sie.

Ja, mein Auto, denke ich. »Natürlich. Ich habe mein Auskommen.«

»Ich dachte, das hätte Jonas«, meint sie spitz, und in meinem Mundwinkel zuckt es nervös. Holler the wood fairy, ist die fies. Jonas kommt wieder zu uns.

»Na, ihr beiden? Wann gibt es denn die Lose?«, fragt er und legt seinen Arm um meine Mitte. Ich schwitze. Mann, ist das warm hier!

»Ich habe den anderen auf jeden Fall gesagt, dass du das nächste Mal, wenn wir den Spielplatz neu gestalten, sicher wieder dabei bist. Nicht, dass die denken, du bist dir zu fein dafür«, plappert Inga unschuldig guckend.

»Ja, Schatz. Inga hat recht. Das Dorfleben ist ein bisschen anders als das im Großstadtdschungel«, mischt sich Jonas treudoof ein. »Ist doch nett, dass Inga dir da beispringt«, meint er.

»Ja, sehr«, antworte ich. Mein Lächeln friert ein.

»Na, ich gehe mich mal eben hübsch machen«, sagt Inga nach einem kurzen Blickduell mit mir und wendet sich zum Gehen. Jonas winkt irgendjemandem in der Menge und bekommt davon nichts mit.

»In welcher Klinik denn?«, rutscht es mir raus. Ich beiße mir auf die Lippe, und Inga bleibt stehen. Hab ich das wirklich gerade laut gesagt? Meine antrainierte Schlagfertigkeit, was doofe Sprüche angeht, ist nicht immer passend.

»Wie bitte?«, hakt sie nach. Ihr Ton ist schnippisch.

Ich bekomme wieder einen Stoß in den Rücken und werde nach vorne gedrückt. Näher an sie heran. Meine Härchen auf den Armen stellen sich auf.

»War nur ein Scherz«, entschuldige ich mich, als ich Jonas’ säuerliche Miene sehe. Inga rauscht mit erhobenem Haupt davon, ich stelle mein leeres Glas auf einem der Stehtische ab und folge meinem Mann, der mich einfach stehen gelassen hat. Als ich mich bei ihm einhaken will, dreht er sich über die Schulter zu mir um.

»Musste das sein?«, fragt er leicht genervt.

»Ich weiß nicht, was du meinst.«

»Welche ›Klinik‹?«, erinnert er mich.

»Na und?« Ich umrunde gekonnt eine Kellnerin, die ein Tablett balanciert.

»Du weißt, dass sie einen Unfall hatte und deshalb eine schiefe Nase hat.«

Oh, verdammt. Das hatte ich wirklich nicht mehr auf dem Schirm. Vorsichtshalber sage ich nichts weiter dazu und lasse mein schlechtes Gewissen die Oberhand gewinnen. Beinahe. Schließlich habe ich in vielen Therapiesitzungen ja etwas gelernt: Nicht die Zielscheibe von empathielosen Menschen sein!

Nach ein paar Tänzen auf der voll ausgeleuchteten Tanzfläche fühle ich mich wieder besser. Nicht mehr ganz so frustriert und vorgeführt. Die Männer trinken am Tresen ihre Cola-Korn-Mischungen, und ich bestelle mir einen O-Saft. Nach einer einsamen Weile inmitten der ganzen Menschen und des Lärmes entdecke ich in der Menge eine alte Bekannte.

»Hey, Klara. Lange nicht mehr gesehen«, begrüße ich sie und umarme sie herzlich.

»Mensch, du auch hier?«, fragt sie und drückt mir einen Kuss auf die Wange. »Und, wie läuft es auf eurem Betrieb? Konntest du dich mit der Konkurrenz arrangieren?«

»Welche Konkurrenz?«, frage ich alarmiert und grüble automatisch über jüngere Frauen in Jonas’ Umgebung nach. Manchmal fühle ich mich immer noch bedroht in Anbetracht der Tatsache, dass es auf dem Planeten andere, junge Frauen gibt, die Jonas toll finden könnten.

»Na, die Kühe. Du weißt schon, dein Mann als professioneller Brustmasseur«, scherzt sie und macht anzügliche Bewegungen.

»Jahahah«, sage ich dümmlich, weil ich das panische Gefühl der Eifersucht erst noch abschütteln muss.

»Ja, wir Frauen eines Melkers haben es nicht leicht, nicht wahr?«, meint sie und lacht schallend. Ihre unbekümmerte Art ist ansteckend wie eh und je, und ich fühle mich wohl in ihrer Gegenwart. Wir tauschen auf die Schnelle Neuigkeiten aus, und erst jetzt sehe ich die andere Frau, die Klara im Schlepptau hat.

»Erinnerst du dich noch an Paula?«, fragt Klara, und ich überlege. Gesichter und Namen kann ich mir beim besten Willen erst merken, wenn ich ein Erlebnis mit ihnen verknüpfe.

»Erntefest vor zwei Jahren«, hilft mir Klara auf die Sprünge. Jetzt klingelt da was. Sie war die einzig Nüchterne und ziemlich Schwangere auf einem Wagen voll grölender Weiber. Ach herrje.

»Natürlich. Wie geht es dir?«, frage ich nett. Wie alt mochte das Baby jetzt wohl sein? Anderthalb?

»Gut, danke«, antwortet sie und schiebt sich an Klara vorbei. Oha, was für ein Bauch.

»Mensch, toll. Wie weit bist du denn diesmal?«, frage ich und betrachte die Kugel, die sie vor sich herträgt. Mein Hirn ruft mir leise etwas zu, das sich nach »Vorsicht! Da passt was nicht ins Bild« anhört.

»Wie meinst du das?«, fragt sie irritiert und dreht das Weinglas in ihrer dicklichen Hand.

»Welcher Monat?«, plappere ich weiter. Klara räuspert sich neben mir.

»Mein Sohn ist bald zwei«, antwortet Paula und nimmt einen großen Schluck Wein. Unbehagen macht sich in mir breit.

»Ach so. Du bist gar nicht schwanger«, kommt es mir über die Lippen. Sie hat die Lehre aus der Geschichte Die kleine Raupe Nimmersatt wohl auch falsch verstanden, was?

»Nein«, antwortet Paula schmallippig und streicht sich ihre wirklich schönen Haare über die Schulter zurück.

»Na ja, macht ja nichts«, sage ich. Ich hatte auch einige Probleme, meine Pfunde nach der Schwangerschaft wieder loszuwerden. Und eine zarte Elfe bin ich auch jetzt nicht. Aber Paula ist noch so jung, höchstens 23, in dem Alter klappt es mit der Fettverbrennung doch eigentlich noch.

»Ich komme nicht dazu, Sport zu treiben«, errät sie meine Gedanken und schweigt. Der Drummer auf der Bühne legt ein Solo ein. Bambambabammbamm.

»Ach, das kenne ich. Ich stecke auch im falschen Körper. Meinen hat Gisele Bündchen«, versuche ich, die Stimmung zu heben. Paula versteht den Witz nicht. Oder hat seit unserem letzten Treffen einiges an Humor eingebüßt.

»Wenn doch nur alles so leicht wäre wie dick werden, oder?«, füge ich an und suche Klaras Blick, als Paula immer noch nichts sagt. Eine Weile starren wir drei uns an wie ungebildete Weidedamen. Fehlt nur noch, dass wir wiederkäuen. Mist. Damals, als ich jung war und in die Klubs zog, haben wir getanzt. Und nicht so viel geredet. Wo ist der verfluchte Trockeneisnebel, wenn man ihn braucht?

»Tja, Mädels. Weinchen?«, fragt Klara irgendwann in die lustige Runde, und ich nicke dankbar.

Als es Zeit wird, die Lose zu ziehen, gehe ich in Startposition und halte Ausschau nach den jungen Damen mit den bunten Töpfen in der Hand. Irgendwann entdecke ich sie auf der anderen Seite der Tanzfläche, auf der einige tanzwütige Männer ihre Frauen über das Parkett wirbeln, als wären sie Brummkreisel. Wenn ich mich dort mitten hindurch wage, laufe ich Gefahr, von herumfliegenden Körperteilen erschlagen zu werden. Also klettere ich über eine Rampe zu dem Podest, das in die Bühne übergeht, und halte Ausschau nach meinem Jonas. Endlich erkenne ich ihn und einige andere Landwirte aus unserem Bezirk nicht weit von den Lostöpfen, die bereits spazieren geführt werden, und winke. Dabei steuere ich etwas nach links, Jonas reißt die Hand hoch, seine Lippen bewegen sich – schade, dass ich nicht von ihnen lesen kann –, und ich laufe quer über die Bühne. Genau zwischen die Musiker. Der Schlagzeuger kommt aus dem Takt. Der Sänger verhaut einen Ton, während er mich verblüfft anglotzt. Einige Leute gucken herauf und hören auf zu tanzen. Zögerlich hebe ich eine Hand zum Gruß.

Der Lostopf ist jetzt gar nicht mehr so weit entfernt. Meine Chance! Inga hat ihn allem Anschein nach auch entdeckt, denn sie kommt von links und drängt sich ebenfalls durch die Menge. Ich sprinte vorwärts, stolpere fast über ein Kabel. Gleich bin ich da! Ingas Blick trifft auf meinen. Ihre Miene verhärtet sich, und sie drückt sich energischer voran. Meine Finger angeln bereits nach meiner Minigeldbörse im Umhängetäschchen. Dabei verliere ich Münzen, weil sie nicht ganz geschlossen ist. Mist! Ich bleibe abrupt stehen und sammle das Geld wieder auf. Im nächsten Moment rutscht mein Kleid etwas zu hoch. Wie aufreizend. Ein Mann in der Menge hebt anerkennend seine Brauen und pfeift. Ich werde rot und senke den Blick. Als ich weitergehe, sehe ich, dass die ersten Leute bereits Lose kaufen. Jetzt aber schnell!

Ich hüpfe drei Stufen auf einmal vom Podest hinab und knicke schmerzlich um. Dann knallt es, weil ich mich an einer Trennwand abstütze und sie aus der Verankerung reiße. Sie kippt tatsächlich zur Seite. Nicht ganz, aber so viel, dass ein paar Männer von ihr umgehauen werden. Autsch!

Inga und ihr Freund, der sich das Lachen nur schwer verkneifen kann, stehen fassungslos daneben. Ich weiche zurück, stelle mich dumm, während die Männer die Trennwand wieder aufstellen. Das ist mir gerade echt peinlich.

»Geile Aktion, Minchen«, höre ich Jonas applaudieren, als er hinter Inga auftaucht, die mit den Augen rollt.

Meine Gedanken beginnen, mir wie glitschige Melonenkerne zwischen den Fingern zu entgleiten. Ich rette mich mit einer Entspannungsübung. Einatmen, ausatmen, bis zehn zählen. Puh.

»Lose, Schatz«, höre ich mich irgendwann sagen und stelle mich im nächsten Moment in die Reihe Glücksspielfreudiger.

Inga zieht vor mir. Eine ganze Hand voll.

Ich kaufe für fünfzig Euro Lose und öffne sie alle in Rekordzeit. Jonas steht hinter mir und fängt eine Niete nach der anderen auf.

»Mist. Beim nächsten Mal muss aber ein Treffer dabei sein«, murmle ich und ertappe mich dabei, wie ich prüfend zu Inga hinüberschaue. Sie hat einen Gewinn. Aber es ist nicht das Ponykutschgeschirr. Ha!

»Noch einmal für fünfzig, bitte«, sage ich zu der jungen Losverkäuferin mit Flechtfrisur. Sie lässt mich in ihren Topf greifen. Unschlüssig wühle ich und wühle.

»Sag mal, muss das sein?«, fragt Jonas hinter mir und runzelt die Stirn.

Ich suche weiter nach meinem Glück. Und brauche lange, um mich zu entscheiden, welcher der Schnipsel es sein könnte.

»Fuck«, fluche ich, als ich wieder nur Nieten auseinanderdrehe.

Inga sieht genauso angestrengt aus, wie ich mich fühle. Ihre farblosen Haare rollen sich an ihrer Schläfe zu verschwitzten Locken. Wenigstens hat sie auch noch nicht das richtige Los gezogen.

»Noch mal, bitte«, sage ich und durchforste mein Portemonnaie.

»Das kommt gar nicht infrage«, macht Jonas Gebrauch von seinem Vetorecht als Ehemann.

»Äh, doch«, sage ich und schnaufe leise auf, als er mich an der Schulter zu sich herumdreht.

»Kannst du mal nicht so anstrengend sein?«, fragt er. Sein Griff um meine Schulter verstärkt sich.

»Hey, Jonas. War das eben deine Frau auf der Bühne?«, lallt jemand laut. »Wollte sie eine Showeinlage bieten?«

»Na toll«, seufzt Jonas, und seine Reaktion reizt mich bis aufs Blut.

»Jedem Menschen stehen seine Momente Ruhm zu, Dieter. Hättest deine nicht schon alle im Kindergarten verschwenden sollen«, rufe ich dem torkelnden Mittvierziger zu.

»Hä? Wie meinst du das denn?«, fragt er und zieht die buschigen Augenbrauen bis zu seinem Haaransatz hinauf.

»So, wie ich es sage«, antworte ich. Im Grunde freue ich mich darüber, dass ich meinen Mund aufmache und nicht wie früher vor anderen kusche. Das war ein hartes Training, bis es mit der Schlagfertigkeit ansatzweise funktionierte. Doch Jonas scheint es nicht zu gefallen.

»Mina, mach keinen Stunk«, fordert er säuerlich.

»Juhu, ich habe den Hauptgewinn«, brüllt ein Schweinebauer nicht weit von uns.

»Na super. Danke auch«, motze ich.

»Was kann ich denn dafür?«, fragt Jonas.

»Hättest du mich nicht abgehalten, dann hätte ich das richtige Los schon noch gezogen«, erkläre ich ihm.

»Das ist mir zu blöd«, meint er und lässt mich einfach stehen.

Inga gefällt, was sie sieht. Ihr doofes Lächeln kann sie kaum verbergen.

Zwei Gläser Wein und eine Stunde später findet mich Jonas im Foyer sitzend und blaue Klamotten zählend wieder. Es ist einfach unfassbar, wie viele Frauen hier das gleiche Modell Ballkleid tragen.

»Da bist du ja. Wir wollen los«, verkündet er und geht vor mir in die Hocke.

»Was heißt denn ›wir‹?«, frage ich und bemerke Inga, die mit ihrem Freund zusammen die Jacken holt.

»Inga nimmt uns mit nach Hause«, erklärt er mir vorsichtig, aber bestimmt.

»Was?«, quieke ich. »Wir wollten uns doch ein Taxi nehmen«, erinnere ich ihn und blicke ihm hoffnungsvoll in die Augen.

»Du hast hundert Euro für Nieten ausgegeben«, gibt er zu bedenken und nimmt von Inga seine und meine Jacke entgegen. »Inga hat sich bereit erklärt, den kleinen Umweg für uns zu machen«, fügt er hinzu. Ich könnte kotzen vor Glück. Ingas Nächstenliebe kennt keine Grenzen. Ganz wohlerzogen bedanke ich mich für ihre Opferbereitschaft und stehe umständlich auf.

»Sag mal, kannst du mir eigentlich mal erklären, was heute Abend mit dir los war?«, fragt Jonas auf dem Weg zum Auto, während er mir in die Jacke hilft. Ich tappe mit meinen High Heels in eine Pfütze und bekomme ein erfrischendes Fußbad.

»Oh Mann«, hauche ich.

»Tu nicht so, als ginge mich das nichts an, okay?«, zischt Jonas, und ich sehe mich irritiert zu ihm um. Inga schließt bereits ihren Volvo auf. Geschmack, was ihr Fahrzeug angeht, hat sie ja.

»Tja, was soll ich sagen«, murmle ich und ziehe gerade noch mein Bein ins Wageninnere, bevor Ingas Freund mir mit Schmackes die Tür gegen das Schienbein wirft. »Das Zusammenspiel zwischen Aufmerksamkeit und Motivationssystem hat mal wieder nicht geklappt.« Umständlich schnalle ich mich an. Jonas hilft mir, und ich haue ihm auf die Finger. Inga startet den Wagen. »Ich hatte die Motivation, schnell an die Lose zu kommen. Und das vor dieser …«

»Minchen«, tadelt Jonas, während Inga den Blinker setzt.

»Und darunter hat meine Aufmerksamkeit allem Anschein nach gelitten und mich gegen dieses …«, ich suche nach dem richtigen Begriff, »… dieses Ding laufen lassen.«

»Du weißt genau, dass das nicht mit ›Störung des Zusammenspieles von Motivation und Aufmerksamkeit‹ gemeint ist, oder?«, fragt Jonas. Inga fährt ruckartig an.

»Klar weiß ich das.« Doch genau genommen habe ich die Zusammenhänge meiner Besonderheit noch nie ganz verstanden. Es hat etwas mit Neurotransmittern zu tun, die die Kommunikation der grauen Zellen steuern: Noradrenalin und vor allem Dopamin, das Glückshormon schlechthin. Was genau mit diesen Stoffen bei Leuten wie mir mit ADS oder ADHS falsch läuft, wird unter Wissenschaftlern immer noch heiß diskutiert. Fakt ist, dass Dopamin, das Glück, in meinem Oberstübchen zu schnell abtransportiert wird, sodass in der Folge ein chronischer Dopaminmangel herrscht. Tatsächlich konnten Tests in AD(H)S-Hirnen eine erhöhte Menge des »Dopamin-Transporters« und eine genetische Veränderung im »Dopamin-Transporter-Gen« nachweisen.

Das wiederum könnte eine Ursache für die sogenannten Verhaltensauffälligkeiten sein, die ich oder mein Bruder an den Tag legen. Warum wir zum Beispiel Probleme haben, am Ball zu bleiben, wenn Aufgaben nicht gerade belohnend sind, sondern langweilig und uninteressant.

Und ich habe gelesen, dass nicht nur die Belohnungs- und Motivationszentren von der Dopamin-Signalstörung betroffen sind, sondern auch Bereiche wie der Hypothalamus. Und da muss ich mich doch gerade mal fragen, was das wohl so alles durcheinanderbringt. Denn soweit ich weiß, ist dieses kleine Örtchen im Oberstübchen an so profanen Dingen wie der Regulierung von Körpertemperatur, Blutdruck, Schlafrhythmus und Wasser- und Nahrungsaufnahme und sogar an dem von meinen Eltern früher so gefürchteten Sexualtrieb beteiligt.

Das Aufmerksamkeitsdefizitmonster scheint echt viele Bereiche im Hirn zu betreffen. Um das wirklich zu verstehen, muss man sich damit erst mal anständig auskennen. Und das tut die Menschheit meiner bescheidenen Meinung nach noch lange nicht.

»Wie geht’s dir?«, fragt Jonas mich irgendwann, als ich lange stumm aus dem Fenster starre.

»Gut«, antworte ich knapp.

»Weiß dein Gesicht davon?«, will er wissen.

Meine Hände verknoten sich auf meinem Schoß. Wenn ich nur wüsste, was mein Gesicht so alles verrät, von dem ich nichts weiß, wäre ich schlauer.

»Ich habe Kopfschmerzen«, antworte ich gedehnt. Vielleicht bin ich aber auch nur wütend oder traurig, weil der Abend so in die Hose gegangen ist. Negative Gefühle kann ich einfach nicht auseinanderhalten. Beim besten Willen nicht. Sie vermischen sich zu einem Brei. Ein schlechtes Gefühl überlagert das andere. Habe ich Hunger oder Durst? Bin ich Fisch oder Fleisch? Oder komme ich gerade um?

»Schon wieder«, stellt Jonas fest und legt den Arm um mich. Er weiß, was das bedeutet: Die nächsten Tage keinen Sex. Vielleicht eine Woche oder länger. Je nachdem, wie schnell ich meine Anspannung, die sich zu heftigen Schmerzen hochschaukeln kann, wieder ablege.

Neben der Spur, aber auf dem Weg

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