Читать книгу Mieze Undercover - Mina Teichert - Страница 6

2 Willkommen im falschen Film

Оглавление

»Guten Tag. Mein Name ist Mieze Moll, und ich bin die Frau, die Sie suchen!«, knalle ich raus, nachdem man mich vom Empfang durch einen hässlichen Flur in ein kleines Büro geleitet hat.

»Wirklich?« Der junge Typ mit Dreitagebart namens Lars Baum lehnt sich unbeeindruckt in seinem Chefsessel zurück. Sein dunkelblondes Haar fällt ihm verwegen in die Stirn, während er sich vorwärts rollen lässt und vom Tisch gestoppt wird. »Und wie kommen Sie darauf, dass Sie die Richtige für diesen Job sind, Frau Moll? Schon mal im öffentlichen Dienst gearbeitet?«

Will der mich einschüchtern? »Na, das bekomme ich auf jeden Fall hin! Ich denke, die freie Marktwirtschaft ist vermutlich härter.« Autsch! Ich beiße mir auf meine zu schnelle Zunge, als Herrn Baums rechte Augenbraue in die Höhe schießt. Paps hört solche Sätze auch nie gern …

»Ist das so?«

»Nein. Natürlich nicht. Das war ein Scherz, ich scherze gern.« Um Herrn Baum nicht ansehen zu müssen, lasse ich meinen Blick einmal durch den Raum schweifen und entdecke drei Pflanzen, die aussehen, als hätten sie regelmäßig Nahtoderlebnisse, viele Kaffeeflecken an den schlichten Möbeln und Papiere, die sich stellenweise stapeln oder aus Ablagen herausquellen. »Ich will nur sagen, ich bin Stress gewohnt und würde ganz sicher im Handumdrehen alles hier auf Vordermann bringen. Ich habe eine Familie und manage seit Jahren unseren Haushalt und alles, was dazu gehört. Und ich habe gehört, Sie brauchen schnell jemanden.« Ich setze mein gewinnendstes Lächeln auf und ziehe meine Referenzen aus der Tasche. »Ich bin sehr gut in meinem Job. Zuletzt war ich bei Mercedes Heinze angestellt, Sie wissen schon, das Autohaus. Ich hab mich dort nicht nur um die Statistik gekümmert, sondern auch um das Terminmanagement, die Koordination von …«

»Ihre Bewerbungsunterlagen liegen mir vor.« Lars Baum wedelt mit einer Mappe, die identisch ist mit der, die ich in den Händen halte. Arroganter Schnösel!

Ich lächle breit. »Sie haben Glück – ich kann sofort anfangen.«

Einen Moment lang mustert mich Herr Baum, dann setzt er sich aufrecht hin und blättert durch meine Unterlagen.

»Das hört sich ganz okay an«, gibt er zu. »Haben Sie Vorstrafen?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

Er lässt die Mappe sinken. »Wie kann man das nicht wissen?«

Der Typ macht mich echt nervös, Mann. »Selbstverständlich habe ich noch nie was angestellt und war immer ganz gesetzestreu.« Ich probiere es mit einem netten Lächeln und zwirble eine Strähne meines langen Haares. Natürlich so, dass es unbewusst und unschuldig aussieht wie bei Lou und nicht so tussimäßig wie bei Linda (Felix-Mama aus dem Kindergarten).

»So gesetzestreu, dass Sie Ihr Fahrrad einfach auf einen Behindertenparkplatz stellen?«, fragt Herr Baum.

»Wie meinen …?«

»Na, Ihr Fahrrad steht vor dem Haus auf einem ausgeschriebenen Behindertenparkplatz«, erklärt er mir, und ich grüble. Der Fahrradständer war überfüllt, also habe ich mein Bike etwas weiter links …

»Der ist doch riesig, und ich habe es an den Rand gestellt. Da können mindestens noch zwei Autos parken«, verteidige ich mich und kann mich beim besten Willen an kein Schild erinnern, das einen Rollstuhlfahrer gezeigt hätte.

»Ziemlich niedrige Moral, was?«

Oha, der hat aber Haare auf den Zähnen!

»Das kann man so nicht sagen, ich war lediglich etwas abgelenkt.«

»Mh«, brummt er und guckt eine ganze Weile an mir vorbei, als wäre ich gar nicht mehr da. Oder er überlegt gerade, wie er mir begreiflich machen kann, dass für eine Kleinkriminelle wie mich hier einfach nicht der richtige Platz ist …

»Mein Vater ist Kommissar, er saß mal genau dort, wo Sie jetzt sitzen«, platzt es aus mir heraus. »Also, natürlich nicht genau dort, wo Sie sitzen, meine ich. In einem anderen Revier«, füge ich hinzu und grübele darüber nach, wie ich Herrn Baum nahebringen kann, dass ich Moral und Anstand quasi mit der Vater-, ähm, Muttermilch bekommen habe.

»Das ist mir bekannt, Frau Moll, es ist nur …«, beginnt er, als plötzlich die Tür hinter mir aufschwingt und ein sonores »Hallihallo!« in den Raum dröhnt. Ich zucke zusammen und drehe mich um. Ein kräftiger Mann mit Halbglatze grinst mir entgegen, und ich erkenne ihn als Paps’ Angelpartner Herbert Helmke.

»Ah, wie schön, Herr Baum. Sie kümmern sich schon um das junge Fräulein«, poltert er gut gelaunt und legt eine große Bäckertüte auf die Ablage, was Herr Baum mit einem genervten Blick quittiert. Die Fettflecken auf dem obersten Papier lassen zweierlei vermuten: Erstens, Herr Helmke macht das öfter. Und zweitens, das Papier liegt nicht erst seit heute unbearbeitet in der Ablage. Na also, Mieze, lobe ich mich selbst, schlussfolgern kannst du schon mal, da bist du hier genau richtig.

»Sehr schön, sehr schön«, murmelt inzwischen Paps’ Angelfreund. Mit Schwung zieht Herr Helmke seinen Wollmantel aus und reicht mir die Hand. Ich springe sofort von meinem Stuhl auf, verliere fast einen meiner Pumps und knicke um. Herrn Baum entgeht mein Ungeschick nicht.

»Bewerbungsgespräche sind doch was Feines, nicht wahr?«, meint Herr Helmke und quetscht meine Hand zusammen.

»Moll. Mieze Moll«, stelle ich mich vor und muss mich doch wundern, wie sehr mich Herrn Baums abschätziger Blick ins Schwitzen bringt. Ich beschließe, ihn einfach zu ignorieren.

»Revierleiter Herbert Helmke – aber das wissen Sie ja. Freut mich wirklich sehr«, sagt Paps’ Angelpartner, und mir fällt ein Stein vom Herzen. Jetzt wird alles gut.

»Mich auch. Sehr sogar. Ich habe schon viel von Ihnen gehört«, lüge ich. Paps ist alles andere als eine Plaudertasche. Das Babbeln überlasse er lieber den Weibern, wie er gern sagt. Und wenn er dann doch mal redet, wirft er am liebsten mit seinem pfälzischen Vokabular um sich, das Außenstehende nicht verstehen. »Das erspart eine Menge Dischbediere«, meint er.

»Mein Gott, Sie sind ja ein richtiger Sonnenschein in unserem grauen Laden hier«, sagt jetzt Herr Helmke.

Herr Baum grunzt, ich deute einen Knicks an, und endlich gibt Herr Helmkes freundliche Pranke meine Hand wieder frei. Während ich unauffällig meine Finger bewege und auf Funktionsfähigkeit prüfe, mustert mich der Revierleiter ausgiebig, aber nicht unangenehm, bis er sich viel schneller, als ich es ihm zugetraut hätte, auf dem Absatz umdreht.

»Mohnschnecke?«, fragt er, während er nach der Tüte auf der Ablage greift und mich und Herrn Baum hinter sich herwinkt.

»Immer doch«, antworte ich, da Paps mir vorher verraten hat, dass bei Herrn Helmke jede Form von Zuneigung durch den Magen geht. Herr Baum erhebt sich nur widerwillig. Sicherlich hasst er Vetternwirtschaft. Und Mohnschnecken.

»Wie Sie sehen, haben wir hier für eine junge engagierte Mitarbeiterin einiges zu tun. Unsere letzte Verwaltungskraft ist verfrüht in den Mutterschutz gegangen und seitdem stapeln sich die Akten, die dringend geschlossen werden müssen«, erzählt Herr Helmke im Plauderton und lotst uns aus dem kleinen Büro in den Flur. »Außerdem stecken wir gerade in sehr zeitintensiven Ermittlungen.«

Ich bewundere die hohen Decken und die Sprossenfenster in jedem Raum des Altbaus. Durch eine große Glasfront kann man in den öffentlichen Bereich des Reviers gucken, in dem sich Polizisten in Uniform aufhalten. Gott, ist das spannend! Schon als Kind habe ich es geliebt, meinem Papa, dem Kommissar Horst Kowalski, zuzuhören, wenn er von seinen Einsätzen erzählte. Leider kam das viel zu selten vor. Und mit den Jahren und dem steigenden Rang wurde es immer weniger. »Das ist nichts für dich, Mieze.« Gott, wie ich diesen Satz gehasst habe!

»Sie werden sich hauptsächlich hier im hinteren Teil des Reviers bei Herrn Hauptkommissar Baum, Oberkommissar Legert und mir aufhalten, Frau Moll.«

Nur Männer?, frage ich mich und bücke mich nach dem vertrockneten Blatt einer Yucca-Palme, die kränklich ihr Haupt neigt.

»Das hier ist Kollege Legert«, erklärt Herr Helmke und nickt kurz nach links. Ich lächle und winke einem jungen Mann in einem separaten Büro zu, der düster zu uns aufschaut. Bombenstimmung hier. Na ja, das kann ja nur besser werden.

»Und hier habe ich mein Reich.« Herr Helmke balanciert seine Bäckertüte vor sich her in einen Raum hinein, den man als den angenehmsten in diesem Haus bezeichnen könnte. Hell, mit bodentiefen Fenstern und einem wuchtigen Schreibtisch aus Eichenholz. Nicht wie die übrigen Möbel, die mich unweigerlich an Ikea erinnern.

»Baum, seien Sie doch bitte so gut und machen Sie uns dreien einen Kaffee, ja?«

Herr Baum nickt, dreht sich um und macht sich wortlos davon. Ich kann mir ein Schmunzeln nicht verkneifen.

Herr Helmke erklärt mir die Abläufe im Revier und erinnert mich mit seiner ruhigen und freundlichen Art an meinen Opa Helmut. Und wenn ich es mir genau überlege, sieht er ihm sogar ziemlich ähnlich: die eng zusammenstehenden Augen, das leichte Doppelkinn und die gerade Nase.

»Also sind wir uns einig?«, fragt er nach einer Weile und bietet mir noch eine Mohnschnecke an.

»Auf jeden Fall, ich kann es kaum erwarten!« Ich greife mir die kleinste der verbliebenen Gebäcksünden. Gut, dass Ilka, Charlotte und Jasmin das nicht sehen: zwei vollgezuckerte Mohnschnecken vom Mainstreambäcker innerhalb von zwanzig Minuten! Wenn ich hier wirklich anfange, brauche ich dringend eine Vermeidungsstrategie, sonst gehe ich in drei Wochen glatt als Zwillingsschwester vom Michelinmännchen durch.

»Ich bin entzückt«, sagt Herr Helmke, der sich seinerseits an einer Mohnschnecke gütlich tut. »Wir werden uns bestimmt gut verstehen. Ich kenne so viele Geschichten über Sie, da habe ich fast das Gefühl, Sie wären meine eigene Tochter.« Er greift nach einem Papier, das er mir zuschiebt. Mein Arbeitsvertrag – wow! »Übrigens, lustiger Name.«

»Moll?«

Er grinst – gutes Zeichen, er mag meinen Humor. »Nein: Mieze.«

»Ja, das höre ich öfter«, erkläre ich, während ich meine Unterschrift unter den Vertrag setze, ohne auch nur ein einziges Wort gelesen zu haben. »Du bist immer so leichtsinnig und gutgläubig«, höre ich Fabian in meinem Kopf sagen. Aber mal ehrlich, ich bin hier bei der Polizei, was soll mir schon passieren? »Ist natürlich nicht mein Geburtsname – den habe ich abgelegt, da konnte ich nicht mal richtig sprechen.«

Das zumindest erzählt meine Mutter gern. »Die Mieze«, sagt sie zu jedem, der nicht danach gefragt hat, »die wusste schon als Baby, was sie wollte und was nicht. Die Oma hat ihr zur Geburt so ein Stoffkätzchen geschenkt, weiß, mit einem schwarzen Ohr, das hieß Mieze, und die Mieze, also unsere Mieze, hat das Tier so geliebt, dass sie irgendwann auch so heißen wollte. ›Is Miese, is Miese‹, hat sie immer gesagt – und tja, da sind wir eben irgendwann bei geblieben.«

»So?«, macht Herr Helmke. »Verraten Sie mir denn, wie Sie wirklich heißen?«

Ich schaue dem Revierleiter einen Moment lang tief in die Augen, denke an Paps und an meinen Opa und daran, dass ich soeben einen echten Arbeitsvertrag unterschrieben habe und damit ab sofort nicht mehr Hausfrau und Mutter bin, sondern Hausfrau, Mutter und Bullenassi, und ein Strahlen legt sich auf mein Gesicht. »Nur unter Protest, Herr Helmke«, grinse ich.

Mit Mohnschnecke in der Hand betrete ich kurze Zeit später den Gemeinschaftsraum, zu dem mich Herr Helmke geschickt hat, um mir noch einen Kaffee zu gönnen, bevor ich wieder gehe – der Dienst beginnt erst morgen. Da entdecke ich Hauptkommissar Baum, der gerade eine Auseinandersetzung mit dem Kaffeeautomaten führt. Nicht gerade sanft rückt er das Gerät von der Wand ab und rüttelt daran.

Bekanntermaßen gibt es Männer in zehn verschiedenen Kategorien, und während ich ihm zusehe, wie er auf die verschiedenen Knöpfe einhackt, überlege ich, in welche Herr Baum wohl passen würde. Da hätten wir zum Beispiel den Heimwerker, der viel Lob braucht, genauso wie ständig neue Projekte. Den Schwätzer, der nie die Klappe hält und permanent fürchterlich flache Witze zum Besten gibt. Den Super-Dad, ein flexibles, belastbares und aufopferndes Geschöpf, wie Fabian eines ist (hach!). Dann wäre da noch der Briefmarken- oder heutzutage auch Pokémon-Sammler, ein scheuer Geselle, der die echte Welt als Bedrohung empfindet und gern zu Hause bleibt. Der Fitness-Freak, für den Kalorien und Körperoptimierung das A und O sind, oder der Softie, der zwar gern über Gefühle quatscht, aber eindeutig zu oft heult. Keiner von denen passt auf Lars Baum. Bleiben also das Arschloch, der einsame Wolf, die Sau, der Angeber oder der Ingenieur. Ich mustere Herrn Baum noch mal und tippe schlussendlich auf einsamer Wolf: beziehungsunfähig, nachtaktiv und immer muffelig.

»Kann ich helfen?«, frage ich und lehne mich an den Türrahmen. Er guckt so zornig, dass es gut ist, eine Fluchtmöglichkeit im Rücken zu wissen.

»Ich denke nicht, dass Sie das können«, antwortet er, ohne aufzuschauen. »Ist ein technisches Problem.« Ups, doch ein Arschloch?

»Was stimmt denn nicht?« So leicht lasse ich mich nicht unfreundlich abwimmeln.

Er seufzt. »Hier leuchtet eine Wartungslampe. Und wenn ich die Entkalkungstabletten einlegen will, geht gar nichts mehr«, murrt er mit in Falten gelegter Stirn, während er fleißig weitertüftelt. »Schätze, das Ding ist kaputt. Unsere letzte Schreibhilfe hat sich auch schon über dieses verdammte Ding beschwert und wollte sich eigentlich um ein neues kümmern.«

»Versuchen Sie mal, die Klappe zu öffnen, während Sie auf den Knopf dort drücken.« Ich zeige auf den oberen Teil der Maschine. Herr Baum gehorcht – immerhin. »Dann den Tab einlegen und die Klappe drei Sekunden gedrückt halten.«

»Okay.«

»Und jetzt warten, bis es blinkt und dann den anderen Knopf drücken.« Die Maschine röhrt einmal laut auf – und beginnt den Entkalkungsprozess.

»Wie kompliziert«, stellt Herr Baum fest und trocknet sich die Hände ab. »Haben Sie auch so eine?«

»Nö.«

»Woher wissen Sie dann …?«

Ich deute auf ein Etikett, das hinten an der Maschine klebt. »Steht hier in der Kurzanweisung«, erkläre ich unschuldig und zucke die Achseln. Um mir ein Grinsen zu verkneifen, zücke ich meinen Lippenstift und frische das dezente Rot meiner Lippen auf.

Herr Baum schweigt und angelt in einem kleinen Hängeschrank mit alten Priel-Stickern nach Tassen. »Sie trinken einen Kaffee mit?«, fragt er schließlich, und ich bin mir nicht ganz sicher, ob er heimlich dafür betet, dass ich verneine.

Also sage ich: »Nein danke. Ich muss jetzt los.« Verträgt ja nicht jeder die volle Ladung Mieze gleich am ersten Tag. »Aber wir sehen uns dann ja morgen Früh.« Ich schenke ihm ein breites Lächeln, was ihn dazu veranlasst, sich durch sein welliges Haar zu streichen und mir beinahe verlegen die Hand zu reichen.

»Es war mir eine Lehre, Sie kennenzulernen, Herr Baum.« Offensichtlich kommt der Scherz nicht bei ihm an, denn er verzieht keine Miene, weshalb ich hinterherschiebe: »Ich bin mir sicher, es wird Möglichkeiten geben, wie wir uns gut ergänzen können.«

»Ja, ganz sicher«, antwortet er bemüht freundlich und bringt mich zur Tür.

Am nächsten Morgen bin ich überpünktlich und achte peinlichst genau darauf, wo ich mein Rad abstelle. Während ich vom Fahrradständer Richtung Revier-Eingang laufe, checke ich routiniert meine WhatsApp-Nachrichten. Jasmin schreibt, dass Luis sich seit dem frühen Morgen übergibt und Durchfall hat. Scheiße! Gestern Nachmittag waren Lou und ich noch bei ihnen, haben zusammen Möhrenkuchen gebacken und uns möglicherweise ein paar Viren to go mitgenommen. Ich hasse Magen- und Darmerkrankungen. Jeder hasst sie. Auch wenn Jasmin gern behauptet, sie sei nur noch einmal Norovirus von ihrer Traumfigur entfernt. Ich persönlich brauche nur an Kotze zu denken und mir wird schlecht. Das letzte Mal, als Lou gespuckt hat, musste ich mich allein aus Solidarität mit übergeben.

»Hoppla! Nicht so stürmisch, Frau Moll.«

Ich stoße einen erschreckten Schrei aus – vor mir steht Herr Baum, in den ich hineingestolpert bin, weil er so ungünstig versteckt im Hauseingang steht und eine Zigarette raucht, dass man ihn quasi übersehen muss. Ich schnappe nach Luft und trete zurück. Die Morgensonne spiegelt sich in der Glastür hinter ihm und blendet mich. Herrn Baums dunkelblondes Haar schimmert rötlich im Licht; ein toller Effekt, der mich daran erinnert, dass ich mir mal wieder die Haare tönen könnte. Wenn ich Zeit dafür hätte.

»Guten Morgen«, stammele ich und lasse mein Handy in meiner kleinen Umhängetasche verschwinden. Dabei fällt mir auf, dass noch Banane von Lous Frühstück auf meiner Jacke klebt. Unschön. Ich starre Herrn Baum etwas zu lang an, und er verengt misstrauisch die Augen.

»Sagen Sie mal, Sie sind doch Mutter, oder?«, will er nach einer Weile unangenehmer Stille wissen.

»Ja, wieso?«

»Na, sollten Sie da nicht eine Vorbildfunktion haben?«, fragt er, als wäre ich irgendwie minderbemittelt. Ich überlege angestrengt und komme zu dem Schluss, dass ich das totale Vorbild für Lou bin. Sie will den gleichen Nagellack wie ich haben, die gleichen Klamotten, die gleichen Handtaschen, und sie übernimmt immer mehr meine Redensart. Und das mit vollem Stolz.

»Wie meinen Sie das, Herr Baum?«, frage ich und trete von einem Bein aufs andere.

»Sie fahren ohne Helm – an Ihrem Lenker baumelt nur ein Kinderhelm. Das empfinde ich als unverantwortlich. Wahrscheinlich schnallen Sie sich auch beim Autofahren nicht an, oder?«

»Tue ich wohl«, protestiere ich halbherzig und klinge dabei wie Lou während ihrer schönsten Trotzanfälle, was mich zu der Frage bringt, was es bedeutet, wenn sie spricht wie ich und ich wie sie. Ich bin noch zu keiner zufriedenstellenden Antwort gekommen, als Herr Baum seine Zigarette an der Hauswand ausdrückt und sie in einem Sandeimer verschwinden lässt.

»Na, dann kommen Sie mal mit, ich werde Sie heute einweisen.«

Ich korrigiere: Einsamer Wolf hin oder her – dieser Typ hat eindeutig Arschlochtendenzen. Und es sind keine Haare, die er auf den Zähnen trägt, das ist ’ne ganze Frisur – pro Zahn!

»Ab sofort gehören Sie zum Team meiner Ermittlungsgruppe in einem Drogenfall und unterstehen mir persönlich.« Na, das kann ja heiter werden! Herr Baum dreht sich über die Schulter zu mir um und wirft mir einen undefinierbaren Blick zu. Ich richte mich unwillkürlich zu voller Größe auf und folge ihm schnellen Schrittes in ein tristes Büro mit angeranztem Drehstuhl, schäbigem Schreibtisch und uraltem Aktenschrank, in dem Papierkram über- und unter- und kreuz- und querquillt.

»Schon mal Recherche betrieben?«, will Herr Baum wissen, während er mich an den Schreibtisch dirigiert, auf dem ein sterbender Kaktus sein trauriges Dasein fristet.

»Schon mal Pflanzen mit Wasser versorgt?«, stelle ich die Gegenfrage und befühle die staubtrockene Erde. Herr Baum verengt die Augen.

»Recherche, Frau Moll?« Ich schwöre, sein Mundwinkel zuckt. Ganz leicht.

»Sicher«, antworte ich und setze mich auf den knarrenden Stuhl aus dem Jahre Anno-Dazumal. Recherche, überlege ich. Natürlich habe ich schon mal recherchiert. Zum Beispiel wie viele Freundinnen ein Ex im Durchschnitt so hatte, wo es die besten Nagelstudios gibt und was der Unterschied zwischen Veganern und Frutariern ist. Im Nachforschen bin ich ziemlich gut.

Der uralte PC fährt hoch, und ich mache mir keine Sorgen mehr, dass ich während meiner Mutterschaftspause irgendwas verpasst haben könnte. Nicht ich lag im Dornröschenschlaf, sondern das ganze Revier hier.

»Für den Anfang möchte ich, dass Sie meine Memos abtippen und mir zur Unterschrift vorlegen«, erklärt Herr Baum. Er wirft einen flüchtigen Blick auf seine Armbanduhr. »Und wenn Sie damit fertig sind, brauche ich Informationen zu einer Person namens Irina Kaminski, geboren am 18. April ’95. Und das im besten Fall, bevor Sie Feierabend machen.«

»Sehr gern, Herr Baum. Darf ich Ihnen vorher noch einen Kaffee bringen?«, antworte ich mit leichtem Sarkasmus.

»Das Angebot nehme ich gern an.« Er zwinkert mir grinsend zu. »Sehr nett von Ihnen. Wir werden uns gut verstehen.« Warum irritiert der Typ mich nur so?

Bevor er aus meinem neuen kleinen Reich verschwinden kann, fange ich mich wieder: »Da fällt mir ein Witz ein, den Sie bestimmt kennen: Was ist die häufigste Sehschwäche?«

»Sie werden es mir sicher gleich sagen.«

»Zuversicht«, sage ich viel zu schnell und halte gespannt die Luft an, da ich fürchte, dass der Scherz nach hinten losgehen könnte.

»Den merke ich mir«, sagt Herr Baum nur und lässt mich allein.

Zu meinem Glück stellt sich bald heraus, dass längst nicht alle in diesem Revier so wenig lachen wie mein neuer Chef. Die meisten mögen meine Scherze genauso wie meinen Kaffee, besonders Herr Legert, der Trauriggucker von gestern, der nur ein bisschen Aufmunterung nötig hatte.

Nachdem ich alle mit Koffein versorgt habe, vertiefe ich mich in die Strafakte eines ziemlich brutal aussehenden Typens namens Alex Herbig und wundere mich, wie jung man schon ins Gefängnis einziehen kann. Anschließend suche ich im Polizeilichen Fahndungssystem nach der 22-jährigen Irina Kaminski, die seit etwa zwei Wochen vermisst wird. Strafrechtlich ist sie lediglich wegen eines Ladendiebstahls vor etlichen Jahren und Beamtenbeleidung in Erscheinung getreten. Nichts Wildes also.

Früher habe ich mich immer gefragt, wie es zu sowas Kuriosem wie »Beamtenbeleidung« kommen kann, denn dafür muss man doch sicher schon etwas mehr auffahren als »Scheiß Bulle«. Seit ich Lars Baum kenne, habe ich jedoch eine ganz gute Vorstellung und fühle mich sogleich solidarisch mit Frau Kaminski. Über die Führerscheinstelle finde ich ihre letzte Adresse heraus und dass sie einen Hund steuerlich angemeldet hat.

Auf ihrem Führerscheinbild blickt sie so traurig in die Kamera, dass ich schwer schlucken muss, als mir eine Ungereimtheit auffällt. Ihre Fahrerlaubnis gilt seit dem fünften Juni 2011 – wie kann sie denn seit sechs Jahren den Führerschein haben, wenn sie erst 22 ist? Dann müsste sie ihren Lappen ja schon mit 16 gemacht haben. Schnell notiere ich den Fehler neben den anderen Informationen, die ich herausgefunden habe, und bin total zufrieden mit mir. Ich habe alles erledigt, was Herr Baum mir aufgetragen hat, und mir bleibt sogar noch Zeit, sämtliche Pflanzen zu versorgen. Was für ein herrlicher Tag.

Als ich die strukturierten, übersichtlichen Ausdrucke ordentlich auf Herrn Baums Tisch lege, sehe ich ihn draußen vor dem Fenster auf sein Mountainbike steigen.

»Na, sieh mal einer an«, sage ich zu mir selbst. »Wer fährt denn da ohne Helm?« Ich kann es nicht fassen, so ein Doppelmoralist! Paps hat recht: Polizisten und Richter sind die Schlimmsten. Er selbstverständlich eingeschlossen. Niemand kassierte in seinem Leben so viele Strafzettel wie Horst Kowalski (der sie hinterher heimlich aus dem Register löschen ließ).

Plötzliches Gedudel reißt mich aus den Gedanken. »Und ein Trottel ist Herr Baum auch noch«, knurre ich und schnappe mir sein Handy, das lärmend auf seinem Tisch liegt. Was für ein nervtötender, beknackter Klingelton. Den kenne ich! Das ist ein Stück von dem Album, das Fabian rauf- und runterhörte, als wir Lous Kinderzimmer gestrichen haben. Wäre fast ein Scheidungsgrund gewesen, denn das Lied klingt, als hätte man Lou und ihre Kindergartenfreunde in einen Raum voller elektronischer Instrumente gesetzt, ihnen Speed verabreicht und gesagt: »Nun spielt mal schön!«

»Was erwartest du?«, fragte Fabian, süße Farbkleckse im Haar, als ich ihm drohte, bis zum Ende der Schwangerschaft zu meinen Eltern zu ziehen, wenn er nicht sofort die grauenhafte Musik abstellte. »Das Stück heißt Elephant Talk – Gespräch zwischen Elefanten.« Nee, ist klar, Schatz!

Und Herr Baum hört denselben Scheiß wie mein IT-Nerd-Ehemann? Holy Shit. Hektisch packe ich meine Sachen zusammen. Seitdem Lou auf der Welt ist, habe ich mich an Kickstarts gewöhnt. ’Ne volle Rindfleischgläschen-Windel beim Brautkleid-Shoppen mit der besten Freundin und kein Ersatz dabei? Zack, Handy raus, die nächste Drogerie gegoogelt und ab dafür. Im nächsten Augenblick bin ich schon hinter Herrn Baum her, um ihm seine Vergesslichkeit vorzuhalten.

Der Geruch von kaltem Zigarettenrauch schlägt mir entgegen, während das fahle Licht einer einzelnen Neonröhre meinen Teint ruiniert. Hinter mir fällt die schwere Tür ins Schloss, und ich schwitze wie ein Ferkel, das man über die Wiese gehetzt hat. Ich sollte wirklich an meiner Kondition arbeiten, dann würde mich mein neuer Vorgesetzter das nächste Mal nicht abhängen. Bin ich hier überhaupt richtig? Sein Rad lehnt draußen an der Hauswand, also bin ich davon ausgegangen, dass er hier rein ist.

Ich puste mir eine Strähne aus dem Gesicht und setze einen Fuß vor den anderen. Ich passiere ein unbesetztes Kassenhäuschen, Gold und Silber zieren die Wände und der Schriftzug Moulin Rouge wird von diffusem Licht in Szene gesetzt. Irgendwie schick, denke ich. Würde super zu meiner neuen Handtasche passen, die ich mir bei meiner letzten Shoppingtour gegönnt habe. Apropos: Warum haben Männer eigentlich keine Handtaschen? Vielleicht würden sie dann ihre Handys nicht überall vergessen, und ich müsste sie nicht hinterhertragen.

»Hallo?«, rufe ich und folge der Musik, irgendwas Wummriges, die von weiter hinten zu mir herüberdringt. Der Gang macht einen Knick, ich tauche durch einen schweren roten Samtvorhang und stehe plötzlich in einem … Etablissement. So nennt man das doch, wenn’s mehr als zwielichtig ist. Hatte mich schon über die Silhouette einer nackten Frau gewundert, die sich draußen über die Fassade rekelt …

»Krasser Scheiß«, hauche ich und bekomme den Mund gar nicht mehr zu, während ich meinen Blick über die in Rotlicht getauchten Sitzgruppen gleiten lasse. In der Mitte des Raumes steht ein Podest mit Stange. Eine Pole-Tänzerin windet sich zur Musik und streckt mir ihren Hintern entgegen, auf den ich sofort etwas neidisch werde – klein und fest. Allerdings sieht die Tänzerin auch verdammt jung aus. Viel zu jung. Die Mutter in mir rebelliert augenblicklich, und ich möchte die Polizei alarmieren. Ha, ist ja gar nicht nötig, der folge ich ja schließlich gerade zwecks Handyübergabe. Oder etwa nicht? Sollte ich mich womöglich getäuscht haben, und Herr Baum ist doch in einem Nachbargebäude verschwunden und findet es nur irgendwie aufregend, sein Rad unter einer barbusigen Wandmalerei zu parken?

Das Mädchen zwinkert mir zu und schwingt die Hüfte. Ich weiche aus, umrunde eine verwaiste Tischgruppe mit lederbezogenen Sesseln und steuere auf die edel aussehende Bar zu, an der zwei Männer sitzen. Und – Überraschung – ich erkenne meinen neuen Chef. Meinen ach so korrekten, ganz schön bissigen Vorgesetzten. Dem ich scheinbar direkt durch den Personaleingang in eine Tabledancebar gefolgt bin. Ich Heldin. Nun gut, manche Situationen sind eben wie Türen – da muss man durch.

Schnellen Schrittes gehe ich voran, mein Ziel fest im Visier. »Bleib locker, Mieze«, mahne ich mich selbst. »Du gibst diesem Moralapostel sein Telefon, geigst ihm die Meinung und verschwindest wieder. Ganz einfach.«

Herr Baum hockt auf einem Barhocker und nimmt gerade einen Drink von einem riesigen Typen in Schwarz entgegen. Gläser klirren, es wird auf Ex getrunken. Ich denke darüber nach, dass es erst früher Vormittag ist, und schnalze automatisch missbilligend mit der Zunge. Herrn Baums Begleitung hat Schultern so breit wie Lous Kleiderschrank, und der ist gar nicht mal so klein. Tätowierungen bis zum Hals und eine Glatze. Nette Gesellschaft, Herr Kommissar!

»Hallo zusammen«, sage ich mit fester Stimme und baue mich hinter den beiden Männern auf. Herr Baum dreht sich bedächtig zu mir um, Überraschung huscht über seine sonst so kontrollierte Miene. »Das ist ja hübsch hier«, begrüße ich ihn mit einer gehörigen Portion Sarkasmus. Niemand spricht so fließend ironisch wie ich – sagt Fabian.

»Blondi, was willst du?«, knurrt mich mein Chef an und nippt an seinem Glas.

»Ja, das ist natürlich eine sehr gute Frage …«, beginne ich, als ich bemerke, wie seine dichten Augenbrauen sich unheilvoll zusammenziehen.

»Du störst«, sagt er barsch und wendet sich einfach von mir ab. Oha. Netter geht’s nicht. Er kann mich also wirklich nicht leiden.

»Also, hören Sie mal«, protestiere ich, breche dann aber ab, weil mich irgendwas irritiert. Es ist, als hinge etwas Dräuendes in der stickigen Luft hier drinnen. Ich kann nur nicht sagen, was. Der Typ neben Herrn Baum mustert mich jetzt interessiert. Ich habe das Gefühl, dass ich ihn schon mal gesehen habe. Aber das kann unmöglich sein, mit solchen Männern verkehre ich normalerweise nicht und die Papas im Kindergarten sind ebenfalls manierlicher. Der Whiskeygeruch, der die Luft schwängert, lässt meine Gedanken verschwimmen, und mir wird komisch. Seit ich mich als Teenager von so einem Gesöff in Omas Strickkorb übergeben musste, kann ich das Zeug nicht mehr riechen.

»Ich dachte ja nur, dass Sie vielleicht …«, versuche ich es erneut, drehe Herrn Baums Handy in meinen manikürten Fingern – und werde wieder unterbrochen.

»Blondi, lass das Denken sein«, sagt er ärgerlich. Ich schnappe empört nach Luft. Ich fühle mich wieder wie fünf und möchte zu Papa gehen und eine Runde petzen: »Der Lars Baum ist ganz gemein zu mir!« Doch dann spricht mich der andere Typ an. »Wer bist du, und was genau denkst du dir?«, will der Schrank wissen. Seine eisblauen Augen sind stechend.

»Ich …« – bin die Neue im Revier 43, will ich sagen, werde aber bereits beim ersten Wort von Herrn Baum abgewürgt: »Herrgott, Alex, kannst du deine Einstellungsgespräche nicht ein anderes Mal führen? Wir haben ja wohl Besseres zu tun, als Blondinen zu besichtigen.«

Einstellungsgespräch? Ich? Hier? Geht’s noch?

In meinem Leben gibt es immer mal diese Situationen, die sich mit HÄ? ganz gut beschreiben lassen. Dies ist eindeutig so eine. Ich runzle die Stirn. Dann sehe ich die auffällig unauffällige Handbewegung an Herrn Baums Seite, die mir offenbar irgendwas signalisieren soll.

»Kennst du diese Tussi etwa?«, fragt der Schrank und verengt die Augen misstrauisch. Die Atmosphäre um uns herum verdichtet sich, während er die Gläser wieder füllt.

»Nein, ist nicht mein Typ«, antwortet mein Chef. Autsch.

»Willst du mich auf den Arm nehmen?« Mister Schrank lässt seinen kühlen Blick über meinen Körper wandern. Augenblicklich möchte ich meine Jacke enger ziehen und sie bis zum Hals schließen.

»Ich hab nicht ewig Zeit«, knurrt Herr Baum.

»Entspann dich, mein Freund«, antwortet der Schrank, lächelt wölfisch, und ich frage mich, in was für eine seltsame Situation ich da reingeraten bin.

»Na gut, dann geh ich wieder«, schlage ich vor und trete langsam rückwärts. Ich sollte lieber zusehen, dass ich hier wegkomme. Herrn Baum kann ich ja morgen immer noch die Meinung sagen, schließlich habe ich einen Arbeitsvertrag.

»Moment mal, nicht so schnell«, meint der Schrank plötzlich und steht viel zu schnell von seinem Hocker auf.

Hoppla.

Herr Baum fährt sich hektisch durch sein dichtes Haar und presst seine Lippen zusammen.

»Nein, nein. Ich will gar nicht stören. Machen Sie beide ruhig weiter …«, ich wedle mit meiner freien Hand herum, »… mit was auch immer Sie gerade beschäftigt sind.« Ein dümmliches Lächeln schleicht sich auf mein Gesicht. Der Schrank-Typ schnappt sich mein Handgelenk und lässt mich eine unfreiwillige Pirouette drehen. Ich unterdrücke einen Aufschrei. Herrn Baums Miene ist unergründlich.

»Wie heißt du, Kleines?«

»Ähm, ich bin Mieze.« Normalerweise stelle ich mich ja eher nicht mit meinem Spitznamen vor, aber in dieser Situation habe ich zum Glück schnell geschaltet - wäre ja noch schöner, wenn diese Typen hier meinen richtigen Namen kennen würden!

»Na sowas?!«, lacht der Schrank und erinnert mich dabei fatal an die Hyäne, die Lou und ich letztens in einer Tierdokumentation gesehen haben. Lou hatte dieses durchaus hässliche Tier mit viel Interesse verfolgt und versucht, nachzuahmen. Heidenspaß!

»Wenn das mal kein passender Name für unseren Laden ist«, freut sich der Mann. Ich sollte aufhören, ihn mir als Hyäne vorzustellen. Und nicht so schief grinsen.

»Ja, oder?« Ich lächle in die Runde und sehe, wie Herr Baum seine auffällig unauffällige Handbewegung wiederholt, und plötzlich weiß ich, was er mir mitteilen will: »Verschwinde von hier! Sofort!« Ups. Und dann fällt mir auch das Gesicht wieder ein, Schranks Gesicht, beziehungsweise, wo ich es schon mal gesehen habe, vor bloß etwa einer Stunde. In einer Akte! Heilige Scheiße!

»Schnecke, ganz ehrlich«, nörgelt mich Schrank alias Alex Herbig an, »eigentlich ist doch am Telefon unmissverständlich geklärt worden, wann das Probetanzen stattfinden soll. Ganz helle bist du wohl nicht, was?« Er greift sich eine Haarsträhne von mir, und ich muss mich zusammenreißen, damit ich seine Hand nicht wegschlage. Könnte ins Auge gehen.

»Ich bin halt blond, was soll ich sagen?«, antworte ich und recke mein Kinn kämpferisch vor. Verbrecher hin, Verbrecher her, ganz ohne Reaktion kann ich seine Beleidigung nicht auf mir sitzen lassen. Ich trete ein paar Schritte zurück und erkenne dabei die Waffe Marke Gangster-Knarre, die unter dem Jackett des Typens hervorblitzt. Time to say goodbye. »Ich komme einfach ein anderes Mal wieder«, erkläre ich so ruhig wie möglich und spüre beinahe, wie Herr Baum die Luft anhält, als sein Kumpel seine Augen misstrauisch verengt.

Oh Gott, ich will hier raus. Ich habe Mann und Kind, für die ich sorgen muss. Der Haushalt macht sich nicht von allein, und auch Nahrungsmittelbeschaffung darf nicht unterschätzt werden, geschweige denn die Wichtigkeit von geputzten Fenstern. Ilka und ich haben doch neulich erst darüber diskutiert …

Während ich nach dem Ausgang schiele, fällt mir auf dem Tisch eines anderen Gastes ein kleines Päckchen ins Auge, das verdächtig nach Cannabis aussieht, und mein Herzschlag lässt einen Trommelwirbel los, als mir klar wird, dass ich mich mitten an einem Drogenumschlagplatz befinde. An einem Ort, an dem Verbrechen geplant und ausgeführt werden. Mir wird schwindelig, und ich wünschte, ich hätte mich nie über Bauklötze und Gespräche über die magenfreundlichste Konsistenz von Hirsebrei beschwert.

Der Typ, mit dem mein Chef sich seine Zeit vertreibt, umrundet mich wie ein Tiger. Er hat eine unangenehme Präsenz und mir drängt sich die Frage auf, was er wohl in seiner Freizeit tut. Rentner verprügeln würde passen.

»Also, Mieze, dann wollen wir mal. Ich gebe dir eine einmalige Chance.«

Meine Knie werden weich. Ich rechne damit, dass er seine Knarre zieht und sagt: »Lauf!« In rasanter Geschwindigkeit gehe ich die räumlichen Möglichkeiten durch, während der Flucht Haken zu schlagen wie ein Hase. Dort steht das Podest, sonst überall Tische, Stühle und breite Sessel. Mist.

»Wenn du meine Neue werden möchtest, dann will ich dich jetzt tanzen sehen«, erklärt Alex Herbig gedehnt, und ich atme auf. Obwohl, halt mal. Hat er gerade tanzen gesagt? Mein Blick wandert zu der Tabledancestange, an der sich immer noch das Mädchen rekelt.

»Schade, ist besetzt«, sage ich bedauernd.

»Das ist kein Problem«, meint Mister Schrank und lässt seine Finger knacken. »Chantal, mach mal Pause«, brüllt er durch den Laden. Das Mädel gehorcht wie ein gut dressierter Pudel und trollt sich. »Du hast gesagt, du hast eine Ausbildung an der Stange, also wirst du mir jetzt zeigen, was du so draufhast, Puppe«, stellt er unmissverständlich klar.

Mieze, denke ich noch. Ich heiße Mieze. »Ja, natürlich«, sage ich stattdessen brav und hole tief, sehr tief Luft.

Der Schrank nimmt seinen Drink und geht voraus zu einer Tischgruppe. »Das wird nett, das habe ich im Gefühl«, sagt er zu Herrn Baum, während er sich zu ihm umdreht. »Bring die ganze Flasche mit, Boris.«

Boris? Fuck. Dann ist das also ein Undercover-Einsatz? Und ich bin mitten reingeplatzt. Na bravo!

»Also, Blondi, dann versau es mal nicht«, wirft mir Herr Baum zu, als er sich zu Alex gesellt und Jim Beam auf den Tisch knallt.

Im nächsten Moment steht Chantal, das halbnackte Mädchen, neben mir und zupft an meinem Jackenärmel. »Komm mal mit, ich gebe dir was zum Anziehen«, trällert sie vergnügt. Ich will protestieren, denn schließlich habe ich ja schon was an. Meine Jeans, meine Bluse und die Jacke gefallen mir außerordentlich gut an mir. Mein Apfelpo kommt super zur Geltung und meine Wespentaille … ähm, Hummelhüfte ist gut verpackt. Dann sehe ich Alex Herbigs stechenden Blick auf mir ruhen, lasse schnell Herrn Baums Handy in meiner Tasche verschwinden und wische mir die schweißnassen Hände an der Hose ab.

»Was schwebt dir denn so vor?«, frage ich naiv, während ich mich von dem Mädchen abführen lasse. »Sag mal, wie alt bist du eigentlich?«

»18«, antwortet sie und öffnet eine Tür.

»Und da arbeitest du hier?«

»Holler the wood fairy. Bist du meine Mutti, oder was?« Belustigt dirigiert sie mich in einen Raum mit unzähligen Spiegeln, drei riesigen Schränken, in denen man super Verstecken spielen könnte, und zwei Schminktischen. Mein Herz hüpft in meiner Brust, als ich all die feinen Dessous sehe, die hier so rumliegen. Einige von denen würde ich glatt zu Hause präsentieren, so viel Spitze und Glanz auf Bügeln und an Ständern aufgereiht …

»Na gut, dann wollen wir mal«, verkünde ich für einen winzigen Augenblick beflügelt und greife mir Hotpants und einen Perlen-BH, der farblich zu meinem Nagellack passt. Ich betrachte die Sachen eine ganze Weile, bis Chantal mich anstupst.

»Ich geb dir ’nen Rat«, meint sie. »Lass Alex nicht so lange warten. Das kann er auf den Tod nicht ab. Und er kann fox devils wild werden.« Oh Mann, Leute mit Faible für Denglish gehen mir gehörig auf die Nerven. Weil ich jedoch das ungute Gefühl nicht loswerde, eine Verbündete gebrauchen zu können, schweige ich.

»Alex ist der Schrank … ähm, Chef?«, höre ich mich fragen, während ich nach einer Umkleidekabine Ausschau halte.

»Ja, der, der dich einstellt, wenn du gut bist. Und du solltest lieber gut sein.«

»Und wenn nicht?« Will ich das überhaupt wissen?

»Than I see black for you«, sagt Chantal und verschränkt ihre dünnen Arme vor der Brust. Na toll. Also tanze ich jetzt um mein Leben, oder was? Ich atme tief durch. Und werde hier heile wieder rausspazieren. Komme, was wolle. Denn niemand trennt mich von meiner Tochter. Und meinem Mann, meiner Mutter und meiner Louis-Vuitton-Handtaschensammlung.

»Wo soll ich mich umziehen?«

Chantal sieht aus, als sei ich es, die unverständliches Kauderwelsch spricht. »Na, hier natürlich«, erklärt sie gedehnt und macht eine ausladende Handbewegung. Logisch. Mein Fehler, hier ist selbstverständlich kein Platz für Verklemmtheit. Also schiebe ich die Gedanken an meine Schwangerschaftsstreifen mühsam beiseite.

»Du brauchst dich nicht zu zieren. Wir sind hier alle ganz unkompliziert«, lässt sie mich schwesterlich wissen.

»Das ist schön. Du wirkst auch echt nett«, flüstere ich und beginne mich auszuziehen.

»Das täuscht«, antwortet die Kleine, und es klingt nicht nach einem Scherz. Hätte nie gedacht, dass ich mich mal nach der Gesellschaft von Dinkelkeks-Doro sehnen würde …

Ich pelle mich aus der Jeans, schlüpfe in eine Perlonstrumpfhose und quetsche meinen Po in die Hotpants. Dann beeile ich mich, meine Möppis in dem entzückenden Perlen-BH zu verstauen, der leider ein bisschen klein ist, sodass ich Angst habe, beim Tanzen versehentlich einen Nippel-Alarm auszulösen.

»Kann ich doch was anderes anziehen?«, frage ich und bekomme als Antwort nur ein knappes Kopfschütteln. »Okay, dann muss das so gehen.« Ich werfe einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel, bevor ich wie ein Lamm zur Schlachtbank gebracht werde. Wie kann es eigentlich sein, dass die meisten Leute in den Sonnenuntergang reiten, ich mich jedoch regelmäßig in die Scheiße?

»Na dann, much luck«, wünscht mir Chantal und schiebt mich auf die Bühne. Die Musik wird wie auf ein stummes Kommando lauter, und ich knicke in den fremden High Heels wenig elegant um.

Die beiden Männer nahe der Bühne unterhalten sich angeregt. Sehr angeregt sogar, denn sie bemerken zunächst gar nicht, wie ich langsam auf sie zu stöckle. Sehnsüchtig schaue ich zum Ausgang, der versteckt hinter dem roten Vorhang liegt. Vielleicht könnte ich einfach … In diesem Moment blickt Alex Herbig zu mir auf. Grinst, lehnt sich zurück.

Okay, ihr habt es so gewollt!

Meine Hüfte beginnt sich zum Beat zu bewegen, und ich greife nach der Stange. Sie liegt kühl in meiner Hand und gibt mir Halt. Nun schaut auch Herr Baum hoch, direkt in mein Gesicht. Seine Augen weiten sich für einen Moment, und seine Gesichtszüge werden weich. Und dann lege ich los. Und zwar so richtig. Mein Haar wirbelt um mein Haupt. Ich tanze um mein Leben. Für meine Lou, für meinen Mann und meine Ehre. Als ich gekonnt in die Knie sinke, kann ich sie knacken hören, man wird ja nicht jünger. Das Gespräch der beiden Männer vor mir kommt gänzlich zum Erliegen. Ich habe ihre volle Aufmerksamkeit, und mein Herz flattert wie der Flügelschlag eines Kolibris. Acht Jahre Ballett zahlen sich aus, als ich mich um mich selbst drehe und die perfekte Balance halte. Aus den Augenwinkeln kann ich Chantal sehen, die mich skeptisch beäugt. In ihrem Blick liegt ein Hauch Verachtung. Echt jetzt? Ich bin saugut und überrasche mich sogar selbst!

Nun lehnt sich auch Herr Baum in seinem Sessel zurück, und in seinem Mundwinkel zuckt ein Lächeln, das sich schwer deuten lässt. Der Schrank sieht weniger begeistert aus. Er verzieht keine Miene und wirkt beinahe gelangweilt. Verdammt! Dir muss noch etwas einfallen, was sie vom Hocker reißt, etwas, das ganz klar sagt: Hier kommt Mieze, die Berufsstangentänzerin! Oder so ähnlich.

Ich hätte ja nie gedacht, dass Sportunterricht einmal meine Rettung sein könnte. Denn ganz ehrlich, wann kommt man schon in eine Situation, in der man denkt: Hey, jetzt kann nur noch ein Spagat helfen? Nun – jetzt! Ich ziehe mich an der Stange hoch, wirble herum, werfe mein Bein in die Gegend, lasse meinen Hintern kreisen, meine Hüfte schwingt, ich recke die Möppis raus. Scheiße, alles was im Fernsehen immer so leicht aussieht, ist eigentlich echt schwer. Ein bisschen an die Stange schmiegen, einmal an ihr hoch- und wieder runterrutschen, noch mal Hintern präsentieren, Haare wirbeln, Beine spreizen und endlich, endlich sinken lassen. Perfekt und anmutig. Meine Fußspitze zeigt direkt auf Herrn Baum, der den Mund nicht mehr zubekommt. Na also, geht doch. Endlich mal ein bisschen Anerkennung.

Die Musik wird leiser, Alex Schrank steht gemächlich von seinem Sitz auf und klatscht in die Hände. Baum versteckt ein Lächeln, indem er seinen Drink an die Lippen setzt. Ich stehe auf und schüttle meine Gelenke. Ich wette, ich habe mir sämtliche Gliedmaßen ausgekugelt, alle Sehnen überdehnt und diverse Fasern zerrissen und merke es aufgrund des ganzen Adrenalins, das durch meine Adern rauscht, nur noch nicht.

»Kann ich jetzt gehen?«, frage ich atemlos.

Alex Herbig lacht. »Du bist echt drollig, man möchte dich am liebsten mit der Hand füttern«, stellt er fest und zaubert ein Papierstück hervor. »Du bist eingestellt, Chat Noir. Gratuliere.«

Chat Noir? Schwarze Katze? Wie beknackt ist das denn?

»Wir sehen uns nächste Woche«, sagt Alex zufrieden.

Auch das noch.

Mieze Undercover

Подняться наверх