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3 Spagat und andere Akrobatik
ОглавлениеLars Baum nickt stumm, während Revierleiter Helmke verkündet, dass ich quasi ein neues Tätigkeitsfeld habe. Nämlich als verdeckte Ermittlerin in der Tabledancebar Moulin Rouge.
»Sie werden das großartig machen, das habe ich im Gefühl«, meint er und faltet seine Hände auf dem wuchtigen Tisch. Herr Legert stimmt ihm zu.
Ich selbst kann mich gerade nur darauf konzentrieren, dass ich zu spät zum Kindergarten komme, um Lou abzuholen. Meine Gedanken rennen alle quer durcheinander, während meine Finger am vertrockneten Blatt einer Pflanze herumfummeln. Herr Baum, der neben mir sitzt, mustert mich von der Seite. Immer wieder verändert er seine Sitzposition, und ich rutsche nicht minder nervös auf meinem Stuhl umher.
»Wenn Sie das sagen«, antworte ich dem Revierleiter, versuche mich an einem Lächeln und schaue zu Herrn Baum, der aussieht, als habe er herzhaft in eine Zitrone gebissen. Wenigstens Herr Legert lächelt zurück und rückt seine Brille auf der spitzen Nase zurecht.
»Sie beide, Lars und Mieze«, beginnt Herr Helmke feierlich, »werden ein hervorragendes Team abgeben.«
Ich spüre, wie sich die Luft in diesem Raum gerade abkühlt. Auf unter null Grad. Immer wieder muss ich daran denken, wie ich beinahe den Einsatz vermasselt hätte, den Herr Baum von so langer Hand geplant und eingefädelt hatte, wie er mir nach seiner Ankunft im Revier lautstark an den Kopf geworfen und mit den charmanten Worten eingeleitet hat: »Sind Sie eigentlich völlig übergeschnappt, Sie Volldröse?« Was bitte?
Mir war nichts Besseres eingefallen als: »Ach, jetzt sind wir wieder beim Sie? Vorhin in der Bar hast du mich noch geduzt.« Ich wette, sogar die Kollegen im öffentlichen Bereich hinter der Glasscheibe haben Herrn Baums ausschweifende Antwort darauf mitgekriegt. Gerade als es mir gelungen war, seinen explodierenden Wortschwall mit einem »Aber wie ich getanzt habe, das hat dir schon gefallen« abrupt zu stoppen, kam Herr Helmke ins Zimmer und rief zu dieser außerordentlichen Dienstbesprechung.
»Super. Dann ist das ja beschlossene Sache«, meldet sich mein Undercover-Kollege jetzt zu Wort und schaut mich ernst an. »Na dann, Michaela Moll. Ein bisschen Nachtarbeit hier und da, bis in den frühen Morgen, das schaffen Sie schon, so als Mutter.« Er setzt sich aufrecht hin und reicht mir die Hand.
Moment mal, woher, verflucht, kennt der meinen Vornamen? Also den scheußlichen, der unvorstellbarer Weise in meinem Ausweis steht und überhaupt nicht zu mir passt? Zögerlich greife ich Herrn Baums Hand, unschlüssig, ob ich sie nicht einfach aus Rache für das »Michaela« zerquetschen soll. Sie fühlt sich warm und rau an. Ganz anders als Fabians, die so weich ist wie von einem Pianisten.
»Woher …«, beginne ich meine Frage, und er hebt eine Augenbraue.
»Wir sind hier bei der Polizei. Ich hab mir mal den Spaß erlaubt, deinen Vornamen bei der Führerscheinstelle zu erfragen. Ist doch hübsch.« Er grinst süffisant. »Ich bin Lars, willkommen im Team. Und bitte, lass dich nicht während meiner Arbeitszeit umbringen. Jetzt, wo wir per du sind.«
Er steht auf, sein Stuhl schabt laut über den Boden, und ich weiß gar nicht, wie mir geschieht. Hat er gerade »umbringen« gesagt? So als Mutter? Nachtschichten?
»Haha, Herr Baum ist ein ganz schöner Scherzbold.« Herr Helmke zaubert eine Bäckertüte aus seiner Schublade und überspielt die Situation mit einem Lachen. »Mohnschnecke?« Er hält mir die geöffnete Tüte entgegen. »Gleich am Montag werden Sie in alle Einzelheiten eingeweiht. Es gibt viel zu besprechen, auch was den Spagat zwischen dem Einsatz und ihrem bürgerlichen Leben angeht. Soweit ich weiß, ist das Moulin Rouge vormittags für exklusive Gelegenheiten buchbar, das ist das Besondere an Alex Herbigs Geschäftsmodell. Da können Sie sicher einen Deal bezüglich der Nachtarbeit aushandeln.«
Soll mich das beruhigen? Mit einer Handbewegung lehne ich die Mohnschnecken ab, die immer noch in ihrer Tüte vor meiner Nase baumeln. In diesem Moment fühle ich die leise Muskelüberdehnung in meinen Beinen, die ich der sportlichen Höchstleistung von vorhin zu verdanken habe. So ein Tanz kann ganz schön Kraft kosten.
Als Herr Helmke mich völlig zufrieden nach draußen begleitet und mir großväterlich seine Hand auf die Schulter legt, bin ich zunächst zuversichtlich, dass ich meinen Job im Dienste der Allgemeinheit meistern werde. Das ändert sich, als ich viel zu spät beim Kindergarten ankomme.
»Mieze, wo warst du?«, fragt mich Paps vorwurfsvoll, der Lou auf dem Arm hat und mir gerade aus dem Haupteingang entgegenkommt. Der Spielplatz ist verwaist, und wo sonst Kindergeschrei und Gelächter umherhallen, ist es sehr still. Ich werfe einen flüchtigen Blick auf meine Armbanduhr, und mich trifft fast der Schlag.
»Verdammt«, stoße ich aus. »So spät schon?!« Das fängt ja gut an. »Ich war zu lange im Büro. Es ist etwas total Krasses passiert, Papa«, beginne ich, während ich ihm meine Tochter abnehme, wobei sie ihre Prinzessin-Lillifee-Tasche verliert und zu zappeln beginnt. Ich setze sie in den Fahrradsitz und schnalle sie fest. Lou zeigt auf den Boden und plärrt.
»Mama, meine Tasche! Sie wird ganz mutzig und muss dann in die Waschemine.« Ich setze ihr den kleinen, roten Helm auf und gebe ihr einen Kuss.
»Ich muss jetzt aber nicht regelmäßig als Notfallabholer herhalten, oder?«, fragt Paps skeptisch und klaubt die Tasche vom Boden. »Heute ist eigentlich Angeltag, das weißt du doch. Hier, kleine Maus, halt sie gut fest.« Er drückt Lou ihre Tasche in den Arm, die sie sofort an sich presst und sich freut.
»Nein, natürlich nicht«, beruhige ich meinen alten Herrn, der sich durch seine grauen Haare fährt, wie er es oft tut, wenn er unruhig ist. Seite an Seite setzen wir uns in Bewegung, ich schiebe mein Rad neben ihm her.
»Wie war denn dein erster Tag im Revier?«, erkundigt er sich jetzt beiläufig. »War Herbert freundlich zu dir?«
Uff. Wo soll ich bloß anfangen? »Also, ja, war er. Und ich bin schon befördert worden«, beginne ich. Papas buschige Augenbrauen hüpfen überrascht in die Höhe. Jetzt habe ich seine volle Aufmerksamkeit. Ich erzähle ihm jede Einzelheit meines Fettnäpfchen-Laufes und die anschließenden, durchaus verblüffenden Erfolge. Seine Augen werden immer größer. Schließlich bleibt er stehen.
»Moulin Rouge? Undercover? Das kommt ja gar nicht infrage!« Zeitgleich verdunkelt eine Wolke die Sonne und unterstreicht seine Fassungslosigkeit. »Das ist kein Kinderspiel, Mieze.«
»Weiß ich«, antworte ich. Die weichen Knie und der wilde Herzschlag beim Anblick von Alex Herbigs Knarre sind mir durchaus noch präsent. Genauso wie die dürftige Begeisterung meines Kollegen Baum, als Revierleiter Helmke mich offiziell ins Team aufnahm. »Ich muss nur ein bisschen tanzen und die Augen offenhalten«, sage ich kleinlaut.
»Mieze, ich habe lange im Milieu zu tun gehabt. Es ist eine raue Welt mit vielen Abgründen. Man wird schneller verschluckt, als du es für möglich hältst. Wie kommt dieser alte Dabbschädel bloß auf so eine Schnapsidee? Der kann sich warm anziehen!« Papa knurrt, was Lou ziemlich lustig findet.
»Opa ist ein Hu-hund, Opa ist ein Hu-hund«, teilt sie dem Umfeld singend mit. Dreistimmig, laut, falsch und mit Begeisterung.
»Der sollte dir lediglich einen netten Bürojob geben. Von mehr war nie die Rede!«
»Sag mal, Papa, du traust mir aber auch nicht ganz viel zu, oder?«, frage ich und zucke zusammen, als er sich zu mir umdreht und mich völlig unerwartet bei der Hand nimmt.
»Du sagst denen gleich morgen Früh, dass du da nicht mitmachst, Mieze. Ich meine das todernst!«
Lou unterbricht ihr Lied und blinzelt verwirrt. Ihre Antennen für miese Stimmung sind ultrafein, und sie beginnt zu quengeln. »Mamaaaaa, Hunger.« Na super!
»Ich weiß nicht. Ist es nicht wichtig, dass man etwas von sozialer Wichtigkeit tut, wenn man die Gelegenheit dazu hat?« Gut, das sind große Worte, und ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, wie genau ich im Stringtanga die Welt retten soll … Papa läuft rot an, und ich mache mir augenblicklich Sorgen um seinen Gesundheitszustand. »Ich meine, warum hast du dich damals dazu entschieden, zur Polizei zu gehen?«, frage ich versöhnlich und drücke aufmunternd seine Hand. Er lässt mich los.
»Mieze, das kannst du nicht vergleichen. Ich habe eine Ausbildung. Nahkampf, Selbstverteidigung, Waffenkunde – und was hast du?«
»Mich selbst verteidigen kann ich auch.« Ich schiebe trotzig die Unterlippe vor. Hab ich von Lou, sieht super aus!
»Jemanden mit Deo zu besprühen ist keine Selbstverteidigung, du Grummbeere«, erinnert mich Paps an einen Vorfall aus meiner Jugend, als ich einen Jungen aus meiner Klasse auf Abstand gehalten habe, indem ich ihm eine Ladung Fa ins Gesicht sprühte.
»Hat aber funktioniert.« Immerhin ließ der Typ von mir ab. Und musste sogar zum Arzt. »Müssen wir nicht alle unseren Teil dazu beitragen, dass unsere Welt jeden Tag ein bisschen besser wird?«
»Meine liebe Tochter, du solltest dich darauf konzentrieren, Lou zu einem gesunden und verantwortungsvollen Menschen zu erziehen. Für eine bessere Welt musst du dir keine Kugel fangen.«
»Ich tanz doch nur ein bisschen«, wiederhole ich mich wenig geistreich.
Es beginnt zu regnen.
»Mieze, sei nicht so stur.«
»Ich bin nicht stur, ich bin meinungsstabil«, antworte ich und fühle mich, als wäre ich wieder zehn Jahre alt. Damals wollte ich unbedingt Fußball spielen und Paps schenkte mir ein Ballettkleidchen zum Geburtstag.
»So ein Undercover-Einsatz ist nicht nur gefährlich, er ist auch unvereinbar mit einer Familie. Keiner darf davon erfahren. Du müsstest deine Freunde belügen und, was noch schlimmer ist, du müsstest Fabian belügen. Und Mama auf jeden Fall auch – wenn die das wüsste …!«
»Ist ja nur vorübergehend«, sage ich schwach und fühle mich bei dem Gedanken wirklich nicht wohl. Lügen hatte ich noch nie drauf – wenn der eigene Vater ein Bulle ist und einen mit miesen Verhörtaktiken bei jeder noch so kleinen Flunkerei in Widersprüche verwickelt, geht das eigene Selbstbewusstsein für Münchhausengeschichten unweigerlich zugrunde. Mein Problem ist ja gerade, dass ich immer die Wahrheit sage. Statt lang nicht gesehene Freundinnen mit »Wow, hast du abgenommen?« zu begrüßen, frage ich: »Wow, in welchem Monat bist du?«, nur um dann zu erfahren, dass die Gute gar nicht schwanger ist.
»Du wirst meinem lieben Freund Herbert sagen, dass du im Büro bleibst – wie es dein Arbeitsvertrag vorsieht. Sonst kann er seine Stelle neu besetzen«, befiehlt mein Vater und zieht sich seinen Mantelkragen höher. Der Regen ringelt sich jetzt in Bindfäden vom Himmel, die Lou mit ihren Fingerchen aufzufangen versucht. Unsere Straße kommt in Sicht, und ich muss abbiegen, ohne meinen Paps weitergehen und meine Gedanken sortieren, während Lou ein neues Lied singt: laut, schief und mit Begeisterung.
Am Samstagmorgen beim Mama-Frühstück bin ich mit den Gedanken ganz woanders.
»Du siehst auch aus, als könntest du eher eine Margherita gebrauchen und keinen Kaffee«, stellt die Gastgeberin plötzlich in meine Richtung fest. »Ganz ehrlich, ich selbst bin zur Zeit so durch mit den Nerven, ich könnte mir schon morgens eine genehmigen.«
»Du hast recht. Vielleicht sollten wir alle mal wieder ausgehen«, schlägt Jasmin vor, während sie sich ein Vollkornbrötchen aufschneidet. »Mal so einen richtigen Cocktailabend machen und tanzen gehen.«
Charlotte gähnt demonstrativ. »Und wo wollt ihr den Elan dafür hernehmen? Ich bin abends total fertig.« Mir fallen ihre tiefen Augenringe auf, und ich möchte ihr meinen Concealer anbieten, besinne mich aber gerade noch rechtzeitig, weil ich weiß, wie empfindlich sie auf so eine Geste reagieren kann – ein diplomatisches Abendessen mit dem nordkoreanischen Staatspräsidenten ist easy dagegen. »Ich weiß einfach nicht, was gerade mit Emil los ist. Er schläft keine Nacht mehr durch, und selbst mit der Brust lässt er sich nicht beruhigen.« Charlotte seufzt. »Letztens hat er mich sogar gebissen.«
»Vielleicht solltest du endlich abstillen«, meint Ilka spitz, die gar nicht oft genug betonen kann, wie bescheuert sie Langzeitstillen findet.
Charlotte zieht beleidigt ihre kleine Nase kraus und gießt sich Kaffee nach. »Das Thema hatten wir doch schon. Wir können ja mal eruieren, ob deine Tochter vielleicht weniger krank wäre, wenn du überhaupt gestillt hättest.«
Oh, oh.
»Das ist so unfair. Es war keine Entscheidung, Lotta nicht zu stillen, das weißt du genau. Es ging einfach nicht.« Der Kaffee in Charlottes Tasse läuft über und färbt die gebleichte Tischdecke braun. »Aber ja, du hast recht, ich finde, dass es vollkommen ausreicht, maximal ein Jahr zu stillen«, fährt Ilka fort.
»Warum? Weil meine Brüste sexualisiert werden durch Medien und Werbung? Weil wir kein Naturvolk sind?« Charlotte greift ihre Serviette und fängt an, die dunkle Flüssigkeit aufzutupfen. Jasmin hilft ihr wortlos und tauscht einen langen Blick mit mir. Mein Mundwinkel zuckt. Dass es beinahe bei jedem Treffen zu diesem Wortgefecht kommt, ist schon witzig. Oder vielleicht auch traurig.
»Außerdem gibt es mittlerweile Studien, die besagen, dass lang gestillte Kinder weniger anfällig für Darm- und frühkindliche Krebserkrankungen sind«, betont Charlotte – wie schon eine Woche zuvor, und davor, und davor. Gott bin ich froh, dass ich wenigstens bis zum achten Monat gestillt habe, sodass ich mich bei dieser Debatte zurücklehnen kann.
Plötzlich wird es laut im Flur. »Nein, is will das nicht«, kreischt Lou. Es folgt ein Rumpeln. Wir Mütter halten alle gleichzeitig die Luft an, bis gleich darauf schrilles Geheule einsetzt.
Jasmin ist zuerst am Tatort und hebt ihren vierjährigen Luis auf den Arm, der aus voller Kehle brüllt. Die beiden Dreijährigen, Lou und Lotta, stehen unbeteiligt im Türrahmen des Kinderzimmers. Etwas an ihrem Anblick stört mich. Sie tragen seltsamen Ohrschmuck. Bei genauerer Betrachtung erkenne ich ihn als bemalte Tampons. Totschick.
»Lotta, ich habe dir schon so oft gesagt, du sollst nicht an Mamas Sachen gehen«, schimpft Ilka und verlangt ihre Hygieneartikel zurück.
»Und was habt ihr beide mit Luis gemacht?«, will Jasmin wissen. Ihr Bäribär, wie sie ihn nennt, reibt sein Gesicht an ihrer Bluse und hinterlässt einen eleganten Rotzstreifen.
»Er wollt mir was wegnehm«, antwortet Lou und sieht dabei entzückend unschuldig aus. »Is hab nur die Tür zugemacht.« Allem Anschein nach war Luis’ Finger langsamer als der Rest seines Körpers …
»Ach, Süße. Da musst du doch aufpassen. Jetzt hast du deinem Freund ganz schön wehgetan«, sage ich und gehe vor ihr in die Knie. Zur Bestätigung holt Luis noch mal tief Luft und kreischt, und ich stöhne mit, weil mich der Muskelkater in den Oberschenkeln gerade umbringt. »Entschuldigst du dich bitte?«, schlage ich zwischen zusammengebissenen Zähnen vor. Lou schaut zu Boden.
»Nein«, antwortet sie knapp. Was frage ich auch? Da ich jedoch Jasmins bissig-erwartungsvollen Blick im Nacken spüre, setze ich nach: »Warum denn nicht? Das ist aber nicht nett von dir.«
»Luis hat mis gehänselt«, erklärt Lou und sieht jetzt wütend zu dem weinenden Jungen, der oft genug selbst rabiat mit den beiden Mädchen umspringt, weshalb sich mein Mitleid in gesunden Grenzen hält. Ich ziehe Lou zu mir heran, und sie legt ihre Ärmchen um meinen Hals und nickt. Wenn ich nicht bald aufstehe, bin ich es, die als nächstes schreit.
»Aber das ist kein Grund, ihm wehzutun«, mahne ich meine Tochter, ganz zur Zufriedenheit der anderen Mütter. Lou nickt kräftig, was den blau gepunkteten Tamponschmuck an ihren Ohren lustig wackeln lässt, und krakeelt eine Entschuldigung in Luis’ Richtung. Der zweijährige Emil sitzt derweil auf seinem Windelhintern und schaukelt von einer Seite zur anderen, hoch erfreut über den ganzen Trubel.
Ein Pflaster (hilft gegen alles!) und zwei Kühlakkus später sitzen wir wieder am Tisch und Ilka schneidet Gurken- und Tomatenhäppchen für die Kids. »Was Mütter an Kernkompetenzen mitbringen müssen – das schreibe ich alles in meinen Lebenslauf«, lässt sie uns wissen. »Sowas wie Kommunikationsfähigkeit, Initiative, Führungsfähigkeit, Entscheidungsstärke, Einsatzbereitschaft, Problemlösungsfähigkeit und Kooperationsbereitschaft lernt man schließlich nicht an der Uni.«
»Du hast ja so recht«, stimmt Jasmin ihr zu, während sie Luis auf ihrem Schoß hin und her wiegt. Er hat noch Tränen im Wimpernkranz und kaut missmutig an einer Gurkenscheibe.
Ilka fährt fort: »Und die ganzen Entscheidungen, die man treffen muss: welche Windel, welche Nahrung, welchen Arzt. Homöopathie oder andere Naturheilverfahren …«
Charlotte unterbricht sie: »Oder Schulmedizin.«
Ilka rümpft die Nase, bleibt aber stumm. Schade, ich hatte schon überlegt, ob ich mir einen Zettel holen und Bullshit-Bingo spielen soll, denn die Diskussion Globuli versus Ibuprofen führen die beiden mindestens so oft wie die ums Stillen.
»Impfen – ja oder nein?«, zählt Charlotte auf. »Und mit jeder gewählten Entscheidung müssen wir ja auch leben können. Wir leisten so viel. Wir sind Haushälterinnen, Erzieherinnen, Köchinnen, Lehrerinnen …«
»Krankenschwestern«, ergänze ich und schiele zu Luis Finger hinüber, den ein rosa Prinzessinnenpflaster ziert. Weil Jasmin ihre Piratenpflaster für abenteuerlustige Jungs zu Hause vergessen hat, musste sie mit einem aus Mädchen-Mama-Ilkas Vorrat vorliebnehmen, was ihren Sohn weniger zu stören schien als sie selbst.
»Das wären schon fünf Berufsgruppen, und mir fallen noch etliche ein«, sagt Jasmin, während sie den Kopf einzieht, weil Luis gerade versucht, ihr ein hartgekochtes Ei ans Hirn zu donnern. »Es ist erstaunlich, was wir alles schaffen. Und das allzeit bereit. Nachtschichten, Überstunden, Doppelschichten.«
»Wer das schafft, kann auch arbeiten gehen«, überlege ich. Und womöglich auch die Welt retten – mit ein bisschen Pole-Dancing, ein wenig Schauspielerei und Agatha-Christi-Manier. Mit akrobatischen Höchstleistungen zwischen dem Privatleben und dem Dasein einer Geheimagentin. Mein Magen kribbelt vor Aufregung. Denn mein Name ist Moll. Mieze Moll.
»Apropos neuer Job: Wie gefällt’s dir im Kommissariat?«, wirft Ilka völlig unvermittelt ein, als hätte sie meine Gedanken gelesen. Gleichzeitig fängt sie ihre Tochter Lotta ab, die lachend um den Tisch läuft. »Sag mal, musst du mal auf Toilette, Prinzessin?«
»Nee, Mama. Mein Popo ist leer«, antwortet die.
Dafür ruft Lou: »Maaaamaaaa, is muss mal!« Sofort stehe ich auf. Wir sind ja noch nicht so lange im Club der Trockenen, also muss der Toilettengang schnell gehen. »Ist ganz okay«, antworte ich Ilka, »hauptsächlich Schreibkram.« Ich will Lou gerade an die Hand nehmen und zum Klo begleiten, da bemerke ich die Pfütze, die sich unter ihren Füßen bildet.
»Oh, oh«, sagt sie beschämt und blinzelt mich an.
»Ach, Süße. Du sollst doch früher Bescheid sagen.« Behutsam schiebe ich meine Hände unter ihre Achseln und schaue entschuldigend zu Ilka.
»Das ist gar kein Problem, das kennen wir. Unser Fußboden ist aus PVC, der kommt mit sowas klar.«
Beruhigt trage ich das tropfende Kind ins Bad. Hinter mir beginnt Ilka routiniert aufzufeudeln.
»Is wollte ja pipimachen gehen, nur später«, entschuldigt sich Lou.
»Ist ja nicht so schlimm.« Ich stelle sie in Ilkas Badewanne. »Aber das war viel zu spät.«
»Is hatte keine Zeit. Is wollt gerne die Welt sehen«, erklärt meine Tochter mit der Ernsthaftigkeit einer Dreijährigen, während ich sie aus den nassen Sachen pelle.
»Das nächste Mal gehst du aber trotzdem gleich auf die Toilette. Sonst muss ich dir wieder eine Windel ummachen«, warne ich sie, und sie zuckt mit den Schultern.
»Na gut. Dann Windel.«
»Oh, Lou. Du bist doch aber ein großes Mädchen, oder?«
Sie jauchzt, weil ich das Wasser anstelle und es an ihren Beinen entlangläuft. Ilka bringt mir ein Handtuch und Ersatzkleidung von Lotta. Lou sieht mich an, legt ihre nassen Hände an meine Wangen und guckt mir ins Gesicht. Sie ist so süß dabei, dass mein Herz ganz weich wird.
»Mama, du hast sagt, wenn is groß bin, krieg is ein Haustier.« Shit. Ich erinnere mich an dieses ganz dumme Versprechen, das ich ihr gab, damit sie wie ein großes Kind in den Kindergarten geht.
»Aber du hast doch Eichi«, versuche ich, mich aus der selbstgestellten Falle zu befreien. Eichi ist das Eichhörnchen, das in der Buche hinter unserem Haus lebt und von dem Lou bislang nie genug kriegen konnte, wenn es auf der Wiese saß und Eicheln knabberte.
»Nein, das ist doof. Is will ein Meah-Schweinschen!«, fordert sie stattdessen.
»Da müssen wir in Ruhe mit Papa reden, ja, Mäuschen?« Mit etwas Glück gelingt es mir, Fabian den Schwarzen Peter zuzuspielen, denn er ist kein großer Haustierfreund. Lou sieht nachdenklich aus. »Und du musst wie ein großes Mädchen auf die Toilette gehen.« Sie gibt mir ihr Wort.
Am Müttertisch zurück platze ich gerade in eine hitzige Unterhaltung zwischen Charlotte und Jasmin.
»Unser Vorort geht langsam, aber sicher den Bach runter«, sagt Charlotte. »Der moralische Verfall ist allgegenwärtig, und wenn wir nicht alle gemeinsam etwas dagegen unternehmen, dann können unsere Kids ihre Kinder hier nicht mehr großziehen.« Energisch packt sie ihren Busen aus. Emil wird ganz unruhig, als die Milchbar öffnet, und schmiegt sich fest an seine Mama. »Den Jungen von Richters haben sie jetzt auch mit Drogen erwischt.«
»Ist der nicht erst 15?«, fragt Ilka, während sie demonstrativ in eine andere Richtung schaut.
»Das ist ja das Erschreckende daran. Als nächstes verkaufen diese Teenager das Zeug auf dem Schulhof, um ihr Taschengeld aufzubessern.«
Von Emil angesteckt hüpft Lou auf meinen Schoß und kuschelt sich an mich. Ich umarme sie und schaue in ihr kleines Gesicht.
»Mami?«, fragt sie.
»Ja, mein Schatz?«
»Is hab dis lieb.«
»Ich dich noch viel mehr«, antworte ich und gebe ihr einen dicken Kuss. Sie lacht. Ihre Augen leuchten, während sie sich eine Tomate angelt und in den Mund schiebt. In diesem Moment beschließe ich drei Dinge: Ich werde den Spagat zwischen Muttersein und Beruf schaffen, ganz nebenbei werde ich Köln, oder zumindest unseren schönen Vorort, besser machen, und Lou werde ich ein Meerschweinchen kaufen.