Читать книгу Meraviglia und der verrückte Erfinder - Mira Micheilis - Страница 4

2. Der tanzende Frosch

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Mit Wasser in den Stiefeln und Algen in den Haaren beschloss Meraviglia, dass sie genug Abenteuer für einen Tag gehabt hatte und dass es an der Zeit war, eine Bleibe zu suchen. Sie war in dieser Hinsicht nicht wählerisch: Jahre auf einem Piratenschiff hatten sie gelehrt, an den unmöglichsten Orten zu schlafen (Holzfässer konnte sie am wenigsten empfehlen).

Doch egal wo sie hinkam, schon an der Tür sagte man ihr, sie solle schleunigst wieder verschwinden. Allem Anschein nach mochte man in Braccio keine Fremden. Natürlich durften Seeleute das Hafenviertel nicht verlassen, aber eine Stadt, die vom Handel lebte, durfte bei ihren Gästen doch nicht so wählerisch sein.

Nicht einmal, als sie den Ohrring abgenommen, den großen Piratenhut unter ihrer Jacke verstaut hatte und sich den Gehrock so tief herunterzog, dass man ihre Hosen nicht sehen konnte – nicht einmal dann wollte sie jemand aufnehmen. Der Tag, der mit großen Hoffnungen angefangen hatte, wollte sich in einem einzigen Desaster zu Bett begeben.

„Und wenn ich im Stall schlafen muss, ich finde etwas!“, rief Meraviglia entschlossen. Sie wollte sich von der Ablehnung nicht unterkriegen lassen. Was für ein Pirat wäre sie sonst?

Ohne es zu bemerken, verließ Meraviglia über eine unauffällige Brücke, die genauso gut ein kleiner Weg hätte sein können, die zentrale Insel der Stadt und geriet in ein weniger belebtes Viertel. Die Straßen wurden enger. Die Häuser wurden kleiner. Traurig blickten die grauen Fenster, hinter denen kein Licht zu sehen war, sie an.

Das Viertel, wie Meraviglia später erfuhr, hieß Blancapella, so benannt nach einer weißen Kapelle, die den Mittelpunkt der kleinen Insel bildete. Diese war in der Vergangenheit tatsächlich einmal weiß gewesen, doch der Staub der Zeit hatte sie in bescheidenes Grau gefärbt.

Den Bewohnern des Viertels war es ähnlich ergangen. Ihre Augen waren müde zu Boden gesenkt, ihre Haltung von schwerer Arbeit gebeugt und eine ungesunde Blässe lag in ihren Gesichtern. Sie hätten Bewohner einer dunklen Höhle sein können, so kümmerlich sahen sie aus. Selbst der Himmel war von einem blassen Dunst bedeckt und nährte sich von dem aufsteigenden Rauch der paffenden Kamine.

Eine trostlose Gegend, wollte Meraviglia fast denken, doch in ihrem Kopf formte sich das triste Stadtbild zu einer grauen Leinwand, die Platz für neue Farben und Muster bot. Alles was es brauchte, war ein Erfinder, der die alten Gemäuer ein wenig in Bewegung brachte. Und Meraviglia würde sich freiwillig von der Planke schubsen, wenn sie nicht irgendwann dieser Erfinder wäre.

Abgelenkt durch die Veränderung im Stadtbild, bog Meraviglia achtlos in eine dunkle Seitengasse. Es war eine dieser Gassen, die geheimen, nächtlichen Treffen als Schauplatz diente und für gewöhnlich von einem dichten Nebel durchzogen war.

Die Häuser waren gegeneinander gelehnt, als steckten sie ihre Köpfe zusammen, um über den Eindringling zu tuscheln. Bis auf zwei turtelnde Katzen und eine bucklige Lumpensammlerin, lag sie vollkommen verlassen dar.

Meraviglia blickte zum Himmel. Das strahlende Azurblau des Tages verfärbte sich zu einem dunklen Kornblumenblau und erinnerte sie daran, dass sie schleunigst eine Bleibe…

„Au!“ Meraviglia stolperte geradewegs über die kleine, bucklige Frau und musste sich an ihr abstützen, um nicht stürzen. Doch diese verlor ihrerseits das Gleichgewicht und plumpste rückwärts in die Gosse.

„Es tut mir Leid!“, rief Meraviglia erschrocken. „Ich habe Euch nicht gesehen. Ich meine, ich habe Euch schon gesehen, vorhin. Nur dann habe ich Euch nicht gesehen und bin einfach weiter gelaufen und…“.

Die kleine Frau achtete nicht auf die Ausflüchte. Ächzend und stöhnend, wie ein altes Schiff, rappelte sie sich auf.

„Ja. Ja. Nie sehen sie dich, Alessi. Bist einfach zu klein, Alessi. Musst besser aufpassen, sonst kommst du wieder in die Tonne, Alessi. In die Tonne kommst du dann!“, brabbelte sie, das Gesicht tief hinter einer Kapuze verborgen.

Meraviglia bekam Bammel vor der komischen Frau, aber vielleicht waren ja alle Menschen in Braccio einwenig seltsam.

Die Lumpensammlerin bemühte sich ihre herunter gefallenen Habseligkeiten wieder einzusammeln. Der Korb war davon gerollt und sein Inhalt war auf dem Pflaster verstreut. Meraviglia beeilte sich zu helfen. Sie hob den Korb auf und…

„Nicht!“

Die bucklige Frau riss Meraviglia den Korb aus den Händen und klammerte ihn fest an sich, als beschützte sie einen kostbaren Schatz.

„Ich wollte nur helfen“, versuchte die Piratin zu erklären. „Ich nehm Euch nichts weg.“

Die kleine Frau blieb unberührt stehen.

„Das ist Allesis Korb!“, sprach sie warnend. „Und Alessis Lumpen! Nur Alessi darf sie haben. Sonst kommen die Ratten. Die Ratten kommen und holen Alessi!“

Das war eine Vorstellung, die auch Meraviglia erschauern ließ. Sie konnte die Ratten hören. Hunderte… Tausende! Wie sie sie aus ihren dunklen Löchern beobachteten.

„Ich werde sie nur für Euch aufheben“, beschwichtigte Meraviglia und sammelte die Lumpen, unter dem kritischen Blick der Buckligen, ein. Sie waren feucht und stanken fürchterlich nach verdorbenem Essen und Gerüchen, die sie noch nie zuvor gerochen hatte, aber sie stellte sich vor, dass sie so riechen würde, wenn sie sich hundert Jahre nicht wusch.

Der Piratin drehte sich der Magen um. Sie versuchte nicht durch die Nase zu atmen. Schnell verfrachtete sie die Lumpen in den Korb, wich von der Quelle des Gestankes zurück und wischte sich die Hand am Mantel ab. Erst jetzt hatte sie Gelegenheit die Lumpen-Frau genauer zu betrachten.

Das Alter war, dank der dicken Schicht aus Schmutz und zerrissener Kleidung, nicht zu erraten. Sie konnte hundert Jahre alt sein oder fast noch ein Kind.

Plötzlich kam eine Ratte aus einem Loch in der Mauer geprescht und lief direkt zwischen Meras Füßen hindurch. Die Piratin sprang vor Schreck in die Luft. Sie hatte keine Angst vor Ratten. Die hatte es auf der Levanta zu Hauf gegeben. Aber da hatten die Nager wenigstens Benehmen gezeigt und liefen nicht einfach zwischen den Füßen durch. Außerdem waren die Ratten in der Stadt riesig. Nicht einfach nur Ratten-riesig. Ich-esse-kleine-Kinder-in-der-Nacht-riesig.

Hielten hier die Leute Ratten als Haustiere, dass sie so gut gefüttert waren?

Die kleine Frau nutzte Meraviglias Unaufmerksamkeit und schlich wortlos die Gasse hinunter, den Blick auf den Boden gerichtet, auf der Suche nach weiteren Lumpen.

Komische Frau, dachte Meraviglia, als ihr etwas einfiel.

„Mütterchen!“, rief sie der Frau hinterher und beeilte sich sie einzuholen. „Sagt, Mütterchen, gibt es hier ein Gasthaus oder eine Herberge?“

Die Frau sah nicht auf, hielt aber einen Moment inne.

„Mütterchen…“, wisperte es leise in dem schwarzen Nichts der Kapuze. Wortlos deutete sie mit einem Lumpen in der Hand die Gasse hinunter auf ein altes Haus. Die Piratin erhaschte einen Blick auf die Hand der Frau. Sie war ganz weiß und übersät mit roten Flecken, die sich schuppten.

Meraviglia tat die kleine Frau furchtbar Leid, doch ihr kam ein wundervoller Gedanke.

„Ich lad Euch ein!“, rief sie begeistert und zum ersten Mal schaute die Frau aus ihrer Kapuze heraus. Auch ihr Gesicht war übersät mit roten Flecken, doch in der Mitte leuchteten zwei große Augen, so blau wie die See nach einem Sturm.

Das ist kein Mütterchen! Die Frau konnte nicht älter als sie selbst sein!

„Alessi will nicht. Alessi darf nicht. Alessi muss brav sein. Sonst kommen die Ratten. Sie kommen und holen Alessi.“

„Nichts da! Ich habe Euch umgerannt, ich lade Euch jetzt auf einen Cidre ein. Ein Pirat zahlt schließlich seine Schuld.“

Bevor die Frau wusste wie ihr geschah, zog sie Meraviglia hinter sich her, die Gasse hinunter. Sie würde ihre neue Freundin nicht einfach so gehen lassen, selbst wenn sie eine Lumpen-Frau war. Ein Pirat konnte bei Bekanntschaften eben nicht wählerisch sein.

Auf See kam es oft vor, dass man drei Monate lang keinem einzigen Schiff begegnete. Immer die gleichen Leute! Irgendwann wurde man verrückt. Deshalb ließ man auch kein Schiff, dessen Fracht man erbeutet hatte, wieder gehen, ohne mit jedem einzelnen Matrosen der Besatzung zu plaudern. Und wegen dieser Piratengepflogenheit musste die kleine, buckelige Frau namens Alessi jetzt leiden.

Das Gasthaus sah ganz anders aus, als all die anderen, aus denen Meraviglia hinaus gejagt worden war. Die großen Fenster aus buntem Glas waren so schmutzig, dass man nicht hinein sehen konnte. Von der hölzernen Tür blätterte Farbe ab, die vor langer Zeit einmal grün gewesen sein mochte. Und über dem Eingang hing schief ein bemaltes Schild.

„Zum tansenden Frosch“, las Meraviglia. Darunter war eine Kröte mit einem überdimensionalen Kopf, die einen Stock mit Blumen in der Hand hielt, aufgemalt. Sie wunderte sich über die Schreibweise, aber wer nicht einmal Fenster putzte, brauchte sich auch nicht um Rechtschreibung zu kümmern.

„Sieht doch vielversprechend aus!“, meinte Meraviglia. Die bucklige Frau wusste noch immer nicht, was gerade geschah. Plötzliche Anflüge von Wohltätigkeit ihr gegenüber waren selten, sodass nur eine Erklärung blieb: sie wurde gerade von einer völlig Verrückten in ein dunkles Gasthaus entführt.

Meraviglia achtete nicht auf den stummen Protest. Sie öffnete die Tür und betrat mit ihrer Begleiterin das kleine Gasthaus.

„Scher dich aus meinem Wirtshaus, Lumpenpack!“, donnerte ihnen eine mächtige Frauenstimme entgegen. Die Piratin und die Lumpensammlerin blieben erstarrt im Eingang stehen.

„Wen nennst du hier Lumpenpack, du geizige Ziege. Verfluchen werde ich dich!“, antwortete ihr eine krächzende Stimme, nicht minder überzeugend.

Der Raum war nur durch zwei Kerzen erhellt, sodass Meraviglia nicht genau sehen konnte, wie groß er war oder wie viele Personen sich in ihren dunklen Ecken versteckten. Doch die zwei Frauen, die an einem Tisch neben dem Tresen stritten, füllten den Raum mit ihrem Geschrei genug aus, um diesen als voll bezeichnen zu können.

Die eine, nicht besonders groß, aber mächtig in der Breite, das leuchtend blonde Haar zu einem Knoten gebannt, bedrohte gerade mit einer Schopfkelle eine in einen alten, geflickten Mantel gehüllten Frau, die versuchte sich zu ihrer vollen Größe aufzubauen, was ihr nicht besonders gut gelang.

„Du! Mich! Verfluchen?“, lies die Wirtin vernehmen. „Dass ich nicht lache! Du könntest nicht mal jemanden verfluchen, wenn der Sensenmann persönlich dich am Schlafittchen hätte. Und ich werde ihm die Arbeit gerne abnehmen, wenn du nicht sofort…“

Die Frau legte eine plötzliche Pause ein.

„Was stinkt hier denn auf einmal so?“

Hurtig versteckte sich die Bucklige hinter Meraviglia, als der Blick der schreienden Furie zum Eingang glitt, auf der Suche nach der Quelle des Übels.

„Hey, ihr! Keine Bettler. Das ist hier kein Armenhaus. Und du“, hierbei wandte sie sich wieder der zerlumpten Greisin zu. „Ich zähle jetzt bis drei und bei drei ist das die Anzahl der Zähne, die du noch haben wirst, wenn du nicht…“

„Wie sind keine Bettler“, unterbrach Meraviglia die Wirtin und zog die flüchtende Lumpen-Frau zurück.

„Ich bin Meraviglia Barbanero und das hier ist… ähm… Alessi, so war doch der Name?“

Die Angesprochene krümmte sich auf einmal so sehr, dass sie zu einem Ball geworden wäre, wären die Füße nicht gewesen.

„Das ist ‘ne Lumpen-Marie“, rief die Wirtin ungeduldig. „Und mir ist egal, wie du heißt. Für Habenichtse gibt’s hier Nichtse.“

Meraviglia kramte aus einem Beutel, den sie unter ihrer Weste versteckte, eine Münze hervor (Nanu? Waren das nicht mal mehr gewesen?) und ließ sie für einen Moment in dem Licht der Kerzen glänzen.

„Wir hätten gerne zwei Apfelcidre und für mich ein Bett, wenn noch eines frei ist.“

Ein Biss in das weiche Metall genügte und schon wurden sie an dem Tisch, der eben noch ein Kriegsschauplatz gewesen war und zwei Krüge mit Cidre landeten vor ihnen.

Die Wirtin, Potata mit Namen, konnte zwar den Gedanken nicht ertragen eine stinkende Lumpen-Marie bewirten zu müssen, aber sie war auch Geschäftsfrau und alles, was Geld brachte, durfte bleiben. Die Wirtschaft war so schlecht besucht, dass sie bei Gästen nicht wählerisch sein konnte.

Denn das Gasthaus litt an schrecklicher Verwahrlosung. Von der Decke hingen Spinnweben. Der Boden klebte bei jedem Schritt. Und durch die undichten Wände pfiff der Wind.

Man müsste mal richtig Reine machen, dachte Potata beim Anblick der zerfledderten Lumpen-Marie.

Unentschlossen, was sie mit dem Getränk machen sollte, drehte die Lumpen-Marie, den metallenen Krug vor sich her und beobachtete wie der Inhalt im Licht golden leuchtete.

„Man kann es auch trinken!“, fauchte die Wirtin die Frau an, die sofort begann, an dem Getränk zu nippen.

Dann wandte sie sich wieder der alten Bettlerin zu: „Und du verschwindest jetzt. Du kannst woanders Hellsehen.“

Mit einem entschlossenen Schritt drängte die Wirtin den ungebetenen Gast Richtung Tür. Die alte Frau protestierte zwar, sah aber ein, dass sie sich ihre warme Mahlzeit woanders verdienen musste.

„Hellsehen? Du kannst Hellsehen?“, fragte Meraviglia interessiert. Sofort schlüpfte die alte Frau an der Wirtin vorbei und setzte sich neben den spendablen Neuankömmling.

„Ja, junges Fräulein. Ich kann dir alles über deine Zukunft verraten, was du nur wissen möchtest.“

Mit ihren knochigen Fingern ergriff sie Meraviglias Hand und begann diese unter geheimnistuerischem Murmeln zu betrachten. Doch die Wirtin, die nicht so leicht aufgeben wollte, zog sie am Kragen.

„Und wenn du Tote aus ihren Gräbern beschwören könntest…! Wer kein Geld hat, fliegt raus.“

Die alte Wahrsagerin klammerte sich an Meraviglias Arm und zerrte sie dabei fast von der schmalen Bank.

„Ich zahle für sie“, rief die kleine Piratin und hielt sich am Tisch fest, um nicht selbst hinunter zu fallen. Die Wirtin wartete bis Meraviglia eine weitere Münze auf den Tisch gelegt hatte und fragte widerwillig, was es denn sein durfte.

Indigniert setzte die alte Wahrsagerin sich auf und glättete ihren zerrissenen Rock.

„Eine Bohnensuppe, Potti. Aber fix!“, strahlte sie die Wirtin triumphierend an. Meraviglia war die alte Frau sympathisch. Sie hatte ein freundliches Gesicht mit einer großen, klobigen Nase, vollen Lippen und einer Haut so dünn, dass sie fast durchsichtig war. Sie mochte alt und zerbrechlich wirken, aber Meraviglia wusste, dass niemand ein Methusalem-Alter erreichte, der sich nicht zu helfen wusste.

Die Wirtin lief puterrot an. „Nenn mich nicht…“

„Für mich auch eine Bohnensuppe“, ging Meraviglia dazwischen. Ihr fiel auf, dass sie, seit sie am Morgen von Bord gegangen war, nichts mehr zwischen die Zähne bekommen hatte und ihr Magen begann, es ihr übel zu nehmen.

„Und für Alessi auch einen Teller“, fügte sie hinzu, als sie den Blick der buckligen Frau bemerkte.

Einige genüssliche Minuten später, als alle vor einem bis zur letzten Bohne aufgegessenen Teller saßen und sich zufrieden die Bäuche kraulten, ergriff die Wahrsagerin wieder Meraviglias Hand und begann die Falten nachzufahren.

„Du kommst von weit her“, sprach sie, wie in tiefer Trance.

„Ach, was du nicht sagst. Wie kommst du nur auf den Gedanken!“, rief die Wirtin von der Theke und warf Meraviglia einen abschätzigen Blick zu.

Ihr konnte man nichts vormachen. Sie kannte solches Volk. Potata hatte viele Menschen durch ihre Türe kommen sehen und erkannte einen Seemann schon an der Schwelle. Die sonnengebräunte Haut. Die vom Salz ausgeblichene Kleidung. Und diese Verschwendung im Umgang mit Geld. So verhielten sich nur Seeleute. Auch wenn sie zugeben musste, dass sie noch nie eine Seefrau gesehen hatte.

„Halt die Klappe, Potata. Ich muss mich konzentrieren!“, fauchte die Wahrsagerin. Ihr Gesicht nahm wieder eine ernste Miene an und ihre Finger wanderten über Meraviglias Handfläche. „Hm. Ich sehe eine große Zukunft, einschneidende Erlebnisse. Aber auch Gefahren und ein großer…“

„Verlust“, beendete Potata den Satz. „Jaja. Du erzählst immer das Gleiche. ‚Du wirst wichtige Menschen kennen lernen. Große Prüfungen zu bestehen haben. Vielleicht sogar an dir zweifeln.‘ Bla. Bla. Jetzt mal ernsthaft! Wie wäre es denn mal mit etwas Originellem? Hä?! Du wirst von einem riesigen Fisch erschlagen! Das wäre mal eine Vorhersage! Mit sowas rechnet keiner! Nicht das Geschwätz, das du da von dir gibst.“

Die Wahrsagerin tat so, als hätte sie die Wirtin nicht gehört, erhob ihre Hand und… ließ sie wieder sinken.

„Nein. So geht das nicht. Ich spüre Feindseligkeit, die meine Gedanken stört. So kann ich dir die Zukunft nicht vorhersagen. Morgen! Vielleicht geht es morgen wieder.“

Mit diesen Worten trank die Frau den letzten Schluck Cidre und war so dramatisch wie schnell aus dem Gasthaus verschwunden.

„Du hast sie verscheucht“, meinte Meraviglia vorwurfsvoll.

„Schau nicht so dumm, kleine Gans“, entgegnete die Wirtin. „Die wollte dir nur eine warme Mahlzeit abschwatzen. Diese Betrüger würden dir das Blaue vom Himmel herunterbeten, wenn du nur bezahlst.“

„Trotzdem. Ich hätte gerne gehört wie es weiter geht. Das hätte eine schöne Geschichte werden können.“

„Die Mitternachtskatze!“, entwichen die Worte der Lumpenfrau, wie kleinen Kesselchen Dampf entwich, wenn der Druck im Inneren zu stark wurde. Meraviglia sah sie verwundert an und die Frau versank augenblicklich wieder über ihrem Krug.

„Ja. Die Mitternachtskatze!“, bestätigte Potata. „Das ist wohl die einzige Möglichkeit, um wirklich seine Zukunft zu erfahren. Nicht das Geschwätz dieser Alten!“

Meraviglia verstand nicht.

„Eine schwarze Katze mit einem weißen Stern auf der Stirn“, flüsterte die Lumpen-Frau, ermutigt durch Potata (oder den Cidre). „Sie weist Menschen zu ihrem Schicksal.“

Meraviglia verstand immer noch nicht. Eine Katze? Schicksal?

„Schau nicht so doof! Die Katze kommt nur bei Mitternacht. Und nur eine Handvoll Menschen haben sie je gesehen. Man sagt: wenn die Katze dich zu deinem Schicksal weist, dann ist dir der Erfolg sicher. Der alte Gorgonzola hat die Katze gesehen. Und? Ist er der reichste Mann der Stadt oder nicht?“

Die Lumpen-Frau nickte zustimmend. Gerne hätte Meraviglia den beiden gesagt, welchen Unsinn sie redeten. Das kam bei Städtern oft vor. In Athen hatte es auch eine Eule gegeben, die den Tod von Leuten vorhersagen konnte.

„Und wenn die Mitternachtskatze dir nicht den Weg weist, dann kannst du gleich aufgeben und mit uns kleinen Würmern in Blancapella modern“, fügte die Wirtin hinzu.

„Ich brauche keine Katze, um Erfinderin zu werden“, gab Meraviglia trotzig zurück. Zu spät bemerkte sie ihren Fehler. Und die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Potata und Alessi klappte die Kinnlade herunter und sie starrten sie mit weit aufgerissenen Augen an.

„Was willst du werden?“, fragte Potata ungläubig. Vielleicht hatte sie sich ja nur verhört und das Mädchen vor ihr war nicht vollkommen übergeschnappt.

„Ich will Erfinderin werden“, erklärte Meraviglia im Flüsterton und fügte mahnend hinzu: „Aber das ist ein Geheimnis. Und ihr dürft es niemandem erzählen.“

Also doch übergeschnappt, dachte Potata.

„Das ist auch nichts, was du einfach so auf der Straße erzählen solltest“, mahnte die Wirtin. „Die Leute könnten dich für verrückt halten und dann kommst du ganz schnell ins Kloster. Da, wo alle Verrückten hinkommen.“

„Aber ihr habt hier doch eine Gilde. Und die brauchen doch bestimmt Lehrlinge.“

„Ja, aber…“, begann Potata, doch ein dumpfes Glockenläuten, das aus der Nacht zu ihnen herein drang, ließ sie Inne halten. Konzentriert lauschte sie in die Nacht und auch die LumpenMarie horchte aufmerksam.

„Es ist öööölf“, drang das ferne Rufen eines Mannes in das totenstille Wirtshaus. Plötzlich sprang die buckelige Frau auf, so schnell, dass der Stuhl hinter ihr zu Boden fiel. Doch Potata schimpfte sie nicht dafür. Hastig rief sie: „Es ist spät. Wir gehen jetzt ins Bett.“

Meraviglia verstand den plötzlichen Aufbruch nicht. Was war denn los? Wo wollten alle denn so plötzlich hin? Das war aber nicht die feine, piratische Art, einfach zu gehen, wenn das Fass noch voll war.

Doch die Lumpen-Marie stand bereits in der Tür.

„Alessi muss nach Hause. Es ist gefährlich für Alessi!“

„Warum denn?“, fragte Meraviglia überrascht.

„Nach Mitternacht darf sich niemand mehr auf den Straßen aufhalten“, erklärte Potata knapp.

„Aber…“

„Hast du nicht gehört? Es ist gefährlich!“, donnerte die Wirtin. „Und nun verabschiede dich von deiner Freundin.“ Meraviglia wandte sich zu Alessi, die ungeduldig in der Tür stand und schon vor langer Zeit verschwunden wäre, hätte ihr der Anstand nicht geboten, sich zu bedanken.

„Gute Nacht, Alessi.“

Die kleine Frau nickte ihr zu. Wieder kamen unter der Kapuze die diamantenen Augen zum Vorschein.

„Alessandra. Ich heiße Alessandra. Aber meine Freu… Ich meine… Alessi ist auch in Ordnung.“

„Warum nennen dich dann alle Lumpen-Marie?“

Der buckligen Frau stand eine Mischung aus Trauer und Freude ins Gesicht geschrieben.

„Alessi hat niemand vorher nach dem Namen gefragt.“

„Dann freut es mich, dich kennenzulernen, Alessi. Gute Nacht und komm gut nach Hause.“

Alessandra wünschte lächelnd das Gleiche und verschwand zur Tür hinaus. Kaum war sie weg, schob Potata einen hölzernen Riegel vor die Tür und schloss ab. Das Gasthaus wirkte auf einmal noch trostloser als zuvor. Eine drückende Stille schlich sich ein und ließ den Raum bedrohlich wirken. Eine einzige Kerze kämpfte tapfer gegen die umschließende Dunkelheit und konnte doch nicht verhindern, dass Meraviglia ein Schauer über den Rücken lief bei dem Gedanken, wie viele Rattenaugen sie gerade aus den dunklen Ecken der Wirtschaft beobachten mochten.

Die Wirtin begann zügig die leeren Krüge abzuräumen. Der Abend war anstrengend gewesen und sie hatte die Absicht ihn so schnell wie möglich zu Ende zu bringen.

„Wegen dem Zimmer…“, begann Meraviglia.

„Jetzt hör mal zu, du Makrele. Du kannst mit Geld und Bohnensuppe um dich schmeißen so viel du willst“, fauchte die Wirtin und stemmte die Fäuste in die Hüften. „Aber wenn du hier bleiben willst, dulde ich nicht, dass du mir den gesamten Flohzirkus ins Haus schleppst. Ist das klar?“

Die sonst so mutige Piratin wich vor den böse funkelnden Augen zurück.

„Ob das klar ist?“

Meraviglia nickte hörig.

„Gut. Dann komm. Ich zeig dir dein…“.

Plötzlich hörten sie in der endlosen Finsternis des Raumes das wehleidige Knarzen von störrischem Holz. Ein Stuhl wurde verschoben. Erschrocken starrten sie in die dunkle Ecke, aus der das Geräusch gekommen war. Dumpfe, schwere Schritte hallten durch den leeren Raum, immer näher kommend. Aus der klebrigen Finsternis löste sich eine dunkle Gestalt, tief in einen langen Mantel verhüllt, das Gesicht vor dem neugierigen Licht der Kerze schützend.

„Äh… oh… Herr… Euch hatte ich ganz vergessen“, stammelte Potata. „Ihr wollt immer noch ein Zimmer?“

Der Mann nickte. Meraviglia lief ein Schauer über den Rücken. Sie war niemand, den man leicht erschrecken konnte, aber der Gedanke, dass jemand sie die ganze Zeit aus einer dunklen Ecke beobachtet hatte, behagte ihr nicht.

Die hohe Gestalt, die breiten Schultern – unter dem weitem Umhang und dem wenigen Licht, sah er aus wie ein Wesen aus der Unterwelt. So stellte sich Meraviglia den Sensenmann vor. Gevatter Tod, der arme Seelen zu späten Stunden an unheilvollen Orten ereilte. Und der wollte hier übernachten?

„Äh. Ja. Dann folgt mir nach oben“, stotterte Potata und führte sie mit der einzigen noch brennenden Kerze, durch eine Tür in einen langen Flur. Meraviglia wollte dem Mann Platz machen, damit sie ihn nicht im Rücken hatte, doch er wartete stumm bis sie den ersten Schritt tat. Nur widerwillig folgte sie seine Anweisung und ging voran.

Schweigend tasten sie sich den dunklen Gang entlang. Meraviglia drehte sich nicht um. Ihr Blick war fest auf die schwankenden, dicken Hüften der Wirtin gerichtet. Aber sie konnte spüren, wie der Fremde sie anstarrte. Konnte seinen Atem in ihrem Nacken spüren und hörte seine Schritte, wie sie ihre imitierten.

Sie kamen an eine Treppe, deren Ende Meraviglia nur sehen konnte, da Potata schon vorgeeilt war und oben auf sie wartete. Vorsichtig tastete sie sich an den Wänden entlang, die Schritte des Mannes dicht hinter ihr. Nur nicht umdrehen. Nur nicht…

WUSCH!!! Plötzlich rannte etwas Pelziges zwischen ihren Füßen hindurch. Meraviglia erschrak, verfehlte die nächste Stufe, ruderte mit den Armen, verlor das Gleichgewicht und kippte rücklings nach hinten. Die Dunkelheit schloss sich über ihrem Kopf. Zwei Hände ergriffen ihre Arme und sie blieb Mitten in der Luft hängen.

„Vorsicht“, murmelte eine tiefe Stimme. Sie wurde zurück auf die Füße geschoben. Meraviglia konnte dem Drang zurückzuschauen nicht widerstehen, aber alles was sie sah, war ein bärtiges Kinn unter einer tief herunter gezogenen Kapuze. Und eine tiefe, hässliche Narbe, die sich vom rechten Ohr über den ganzen Hals zog.

Er bemerkte ihren Blick und zog seinen Kragen höher. Ertappt drehte sich Meraviglia schnell um und kletterte, wacklig auf den Beinen, die Treppe hinauf.

Die Wirtin erwartete sie vor dem ersten Zimmer, gleich neben der Treppe und holte einen Bund hervor, an dem ein Dutzend Schlüssel hingen. Es dauerte eine Weile, bis sie den Richtigen gefunden hatte. Meraviglia, die den Blick des Fremden noch immer auf sich spürte, flehte innerlich, sie würde sich beeilen.

„Äh. Ach. Hier. Ja, das ist er.“

Sie übergab dem Fremden den Schlüssel. Eine Hand, in schwarzes Leder gehüllt, drang in das Licht, ergriff den Schlüssel und verschwand wieder im Dunkel.

„Naja. Dann. Gute Nacht. Und. Ähm. Frühstück gibt es bei Sonnenaufgang. Oder. Ähm. Wann immer Sie wollen.“

Der Mann schloss schweigend die Tür auf und spähte in die Kammer, als erwartete er jemanden darin zu entdecken. Dann trat er ein und verschmolz wie ein Schatten mit der Finsternis des Zimmers. Die Tür schloss sich. Kein Geräusch war mehr zu hören.

Potata und Meraviglia standen wie erstarrt da, den Blick auf die Tür geheftet, hoffend, dass sie sich ja nicht wieder öffnete.

„Dein Zimmer ist gleich nebenan“, erklärte Potata.

Meraviglia packte sie erschrocken am Arm und schüttelte eisern den Kopf, mit einem Gesichtsausdruck, als hinge ihr Leben davon ab.

„Dann…“, und Potata flüsterte dies so leise sie konnte. „Dann das Zimmer am Ende des Flurs. Direkt neben meinem.“ Meraviglia war mulmig bei dem Gedanken, allein in einem dunklen Zimmer schlafen zu müssen. Aber was sollte sie tun? Hinaus in die Kälte? Da fiel ihr wieder etwas ein.

„Warum ist es gefährlich nach Mitternacht nach draußen zu gehen?“

Potata seufzte und sah so aus, als wollte sie wieder eine ihrer Tiraden beginnen, doch ein Blick zum Zimmer des Fremden belehrte sie eines besseren. Sie kam ganz dicht an Meraviglia heran und flüsterte so leise, dass sogar die Mäuschen in den Ecken ihre Ohren spitzen mussten.

„Es ist so:

Hat die zwölfte Stund‘ geschlagen,

sollte niemand es mehr wagen,

auf die Straßen raus zu gehen,

will er nicht um sein Leben flehen.

Drum eile heim, eh es Mittnacht schlägt,

und Nacht und Nebel sich um dich legt,

hat dich das Dunkel erst umschlossen,

werd‘n nur noch Tränen für dich vergossen.

Das hat vor einiger Zeit angefangen. Menschen verschwan-den. Spurlos. Die Leute hörten seltsame Geräusche vom Fluss. Manche hörten es in der Nacht an der Tür klopfen und als sie sie öffneten, war niemand da und sie waren auf einmal auch nicht mehr da. Und dann, vor fünf, sechs Jahren verschwand ein ganzer Trupp der Nachtwache. Mit Schwert und Pferd. Ihre Mäntel fand man im Fluss treiben.

Seither hat der Fürst verboten, sich nach Mitternacht auf der Straße aufzuhalten. Kommst du auch nur eine Sekunde nach dem letzten Schlag der Glocke an ein Haus, egal wie sehr du bettelst und flehst, es wird dir niemand die Tür öffnen.“

Meraviglia stellten sich die Nackenhaare zu Berge. Sie versuchte den Gedanken an Alessi, die gerade durch einsame Straßen eilte, zu verdrängen und ließ sich von Potata zu ihrem Zimmer führen.

„Du kannst von innen abschließen“, flüsterte die Wirtsfrau und übergab ihr den Schlüssel. „Und schließ die Fensterläden, bevor du schlafen gehst. Und hier. Du kannst die Kerze haben. Ich finde mich auch im Dunkeln zurecht.“

Sie wollte Meraviglia die Kerze reichen, aber diese lehnte ab.

„Nein, nein. Behalt sie nur. Ich komme schon zurecht.“

Potata zuckte mit den Schultern und verschwand in ihrem Zimmer. Tastend trat Meraviglia in das Dunkel ihrer Kammer. Sie lauschte. Alles war still. Das Gasthaus hatte sich zu Bett begeben. Plötzlich umstrich etwas Haariges ihre Beine.

„Rajab, du elender Flohsack! Ich werde dich umbringen!“, fauchte Meraviglia das kleine, schwarz-weiße Kapuziner-Äffchen an, das sich unbeeindruckt auf dem Bett ausbreitete. „Und wer hat dir eigentlich gesagt, dass du mir nachlaufen sollst?! Geh sofort zurück aufs Schiff!“

Der Affe erwiderte mit einem schmatzenden Gähnen und kuschelte sich in das Kopfkissen. Erst jetzt fiel ihr ein, dass die Levanta wahrscheinlich schon abgelegt hatte. Sie war nun wirklich auf sich allein gestellt.

Meraviglia ging zum Fenster und schaute hinaus auf den unförmigen Mond, der durch die Wolken zu schweben schien und hinunter auf die Straße. Einsame, schwarze Gestalten huschten eilig durch die Nacht, verschwanden in engen Gassen und hinter schweren Türen. Irgendwo in der Ferne hörte sie das Glockenläuten des Nachtwächters.

Was für eine seltsame Stadt, dachte sie sich.

Ohne sich auch nur auszuziehen, ließ sich Meraviglia ins Bett fallen. Ihr war, als fiele die Last der ganzen Welt von ihren Schultern direkt auf ihre Augenlider. Doch kaum hatte sie die Augen geschlossen, da schaukelte es sie hin und her. Die beständigen Bewegungen des Schiffes, die sie so lange nachts in den Schlaf gewogen hatten, fehlten ihr auf einmal.

Rajab kuschelte sich an ihre Brust. Sie legte ihre Hand auf seinen weichen Bauch und deckte ihn mit ihrem Mantel zu.

„Die Leute in der Stadt sind wirklich ganz anders als auf dem Meer, Rajab.“ Der kleine Affe atmete langsam und tief, seine erbsengroßen Finger in ihr Hemd gekrallt, aber Mera wusste, dass er noch nicht schlief. Niemand schlief so schnell ein.

„Sie sind wie kleine Inseln. Alle für sich und ganz allein. Vielleicht sollten sie auch mal aufs Meer fahren, dann wüssten sie die Menschen um sich besser zu schätzen.“

Rajab antwortete mit einem zustimmenden Grunzen.

„Aber keine Sorge. Das wird schon. Das wird schon. Auf eine Nacht folgt immer ein neuer Tag. Und morgen bin ich Erfinderin. Ganz bestimmt“, murmelte sie, bis der Schlaf sie übermannte.

Meraviglia und der verrückte Erfinder

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