Читать книгу Meraviglia und der verrückte Erfinder - Mira Micheilis - Страница 6

4. Die Gilde der Erfinder

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Als Meraviglia am Morgen erwachte, brauchte sie einen Moment, um sich zu erinnern, wo sie überhaupt war. Geschäftige Geräusche drangen von der Straße ins Zimmer und warmes Sonnenlicht spielte mit den Staubkörnchen in der Luft. Ach ja! Sie war in Braccio. Sie wollte Erfinderin werden.

Rajab protestierte gegen das frühe Aufstehen, aber Meraviglia wollte sich nicht zurückhalten lassen.

„Nicht trödeln! Heute ist unser großer Tag!“

Sie wusch sich in der Wasserschale, die auf der Kommode stand, die Müdigkeit aus dem Gesicht und hechte aufgeregt in den Wirtsraum. Als sie auf dem Flur an dem Zimmer des Fremden vorbei ging, beschleunigte sie ihren Schritt.

Die Tür sah selbst bei Tag unheimlich aus. Das dunkle Holz, das schwere Schloss – es hätte genauso gut eine Zellentür sein können. Und Meraviglia hätte es nicht überrascht, wenn der Fremde genau gewusst hätte, wie so eine Zellentür aussieht.

Meraviglia war ganz erstaunt, als sie den Schankraum des Gasthauses betrat. Er sah bei Tageslicht ganz anders aus, als sie ihn vom vorigen Abend in Erinnerung hatte. Durch die schmutzigen Fenster fiel bunter Sonnenschein auf zerkratze Dielen und ließ den Raum größer wirken.

Links vom Eingang war ein Kamin mit zwei Sesseln und rechts davon ein Dutzend lange Tische in säuberlichen Schlangenlinien angeordnet.

Manche standen direkt am Fenster, für jene Gäste, die gerne vorbeilaufende Menschen beobachteten. Einige in der Mitte des Raumes, für Unentschlossene. Und die meisten nah bei der Wand, wo nur wenig Licht hinfiel und wo zwielichtige Gäste vor den Blicken Neugieriger geschützt waren. Selbst bei Tag waren die Ecken so dunkel, dass sich jemand leicht darin verstecken konnte.

Meraviglia schauderte wieder bei dem Gedanken an den geheimnisvollen Fremden. Doch an diesem Morgen war die Wirtschaft, bis auf Potata, die fröhlich in der Küche ihre Messer schwang, vollkommen leer.

„Was?! Die lachen dich doch nur aus!“, rief Potata überrascht, als Meraviglia ihr bei einer Schüssel Hirsebrei mit Honig von ihren Plänen erzählte.

„Die lachen schon nicht“, entgegnete Meraviglia zuversichtlich, wurde aber ein wenig nervös. „Die brauchen doch gute Leute. Das ist eine große Stadt.“ Potata war fassungslos. Sie hatte gehofft, dass diese seltsame Person gestern Abend nur vor Müdigkeit verrücktes Zeug geredet hatte. Aber das ging ja munter so weiter!

„Jetzt mal ernsthaft! Du bist kein Mann. Du hast keine Empfehlung. Niemanden, der für dich spricht. Wieso sollten die dich nur zur Tür herein lassen? Für einen normalen Burschen ist es schon schwer, eine gute Lehre zu bekommen und du willst einfach so in die Erfinderzunft spazieren und sagen: Hier bin ich, nehmt mich? Die lachen dich aus!“

Meraviglia sank das Herz, aber nicht sehr weit. Natürlich war kein Mann. Aber dafür war sie die Ziehtochter von Kapitän Barbanero, dem Piraten, der es allein gegen fünf Kriegsschiffe des Kaisers aufgenommen hatte. Und sie sollte vor ein paar Zunftmeistern kneifen? Niemals! Sie würde einfach hart-näckig bleiben. Von ihrer Zeit auf der Levanta wusste sie, dass man, fast alles bekam, wenn man nicht locker ließ, nur damit man endlich die Klappe hielt.

„Dir ist nicht mehr zu helfen!“, rief Potata und warf theatralisch die Arme in die Luft. „Na gut. Geh eben hin. Blamier dich bis auf die Knochen. Aber zieh dir etwas Anständiges an! Du kannst da nicht in deinem Piratenkram auftauchen. Die kriegen ja alle Bammel.“

Meraviglia grinste sie an. „Gerade deswegen behalte ich sie an. So eine Aufmachung macht Eindruck.“

Potata seufzte. Was war nur aus der Welt geworden?!

„Guten Morgen! Guten Morgen! Und was für ein ausgesprochen guter Morgen das ist. Fürstlich, will ich fast meinen! Fürstlich!“

Als wollte das Schicksal an diesem Tag testen, wie viel Unfug die leicht reizbare Wirtin ertragen konnte, bis ihr der Kragen platzte, schickte es eine neue Geduldsprobe. Dieses Mal in Form einer geschmeidigen Gestalt, die tänzelnd, mit einem süffisanten Lächeln auf den Lippen, die Wirtschaft betrat.

An Füßen, Händen und sogar am Hals trug er bunte Schleifchen mit dazu passenden, bunten Holzknöpfen. Kunstvoll holte er aus seiner verzierten Weste ein weißes Tuch hervor, schwenkte es vor ihnen und verneigte sich dabei so tief, man wollte meinen, er beabsichtigte den Boden zu wischen.

„Aber was sehen meine Augen hier? Ein neues, hübsches Gesicht. Etwa ein Gast? Von weit, weit her, müsst Ihr Fräulein gekommen sein?“

Meraviglia wusste zwar nicht, welches Rädchen in seinem Kopf nicht richtig saß, aber die Verrückten waren ihr immer die liebsten gewesen.

„Das ist kein Fräulein, sondern eine Seemannsbraut“, keifte Potata genervt.

Poporano zuckte, wie vor einer Kakerlake, zurück und betrachtete Meraviglia aus einer Entfernung, die er für sicher hielt. Nach einem kurzen Moment strahlte er jedoch wieder.

„Eine Seemannsmaid! Wie aufregend! Was für Geschichten Ihr kennt. Kommt. Ihr müsst mir alles…“ Bevor er fortfahren konnte, hatte Potata ihn an einem seiner Schleifchen gepackt und schleifte ihn unsanft zur Tür.

„Du elende Tratschtante bist schlimmer als jedes Waschweib. Wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich dich hier nicht sehen will!”

Poporano ruderte heftig mit den Armen, aber es gelang ihm nicht, sich aus dem Griff der stämmigen Wirtin zu befreien.

„Wie kannst du es wagen, Weib, so mit einem Pagen des Hofes umzugehen!“

„Ein Hofpage?!“, rief Meraviglia begeistert. In einem günstigen Moment gelang es Poporano, sich aus Potatas Griff zu befreien und zwischen ihr und sich eine sichere Ent-fernung aufzubauen. Ermutigt durch Meraviglias staunenden Blick, setzte er in seiner Rede von Neuem an.

„Ach, entschuldigt, holde Meeresmaid. Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Umberto Trafulgo Poporano. Die Betonung liegt auf –rano! Sprich mir nach, Fräulein: Popo-rano.“

„Dein Popo gibt auch so schon genug Töne von sich und braucht keine Betonung mehr“, meinte Potata schnippisch und lachte über ihren eigenen Witz.

Ohne Potata zu beachten, fuhr der Neuankömmling fort: „Ich bin Hof- und Hauspage am fürstlichen Hof Unseres Erlauchten Herrschers, des Fürsten Césare aus dem Geschlecht der Leobruno. Stets zu ihren Diensten.“

Wieder verbeugte er sich tief vor Meraviglia.

„Ein Türenaufhalter und Papierchenbringer bist du. Nichts weiter. Und du!“

Auf einmal sah Potata Meraviglia ärgerlich an.

„Ich habe dir gesagt, was passiert, wenn du mein Gasthaus in einen Zirkus verwandelst. Fliegen tust du dann.“

Poporano wartete einen Moment ab. Er wollte gerne sehen, wer hier die Oberhand behielt.

„Potti, sei nicht so. Wenn du alle Gäste rausschmeißt, dann kann das wohl kaum ein Gasthaus sein“, schlug Meraviglia einen versöhnlichen Ton an. Verärgere niemals einen Wirt, hatte Barbanero ihr immer gesagt.

„Nenn mich nicht Potti!“, fuhr Potata sie aufbrausend an. „Der Lump hier ist kein Gast, sondern eine Plage.“

„Aber ich bin neu in der Stadt. Ich würde gerne die Geschich-ten hören, die es hier so gibt. Und wer hätte mehr zu erzählen als ein Klatschwei… als ein Hofpage.“

Poporano lief plötzlich zu ungeahnter Höchstform an.

„In der Tat, meine Liebe, gibt es niemanden in der Stadt, der besser informiert wäre, als der gute und treue Poporano.“

Potata stemmte kapitulierend die Arme in die dicken Hüften.

„Dann bestell wenigstens etwas, du eitler Pfau!“

Nachdem der Hofpage mit Brot und Käse versorgt war, über dessen Minderwertigkeit, er die Nase rümpfte, fuhr er fort.

„Nun, wo soll ich nur beginnen? So vieles ist seit gestern passiert. So vieles! Die Preise für Weizen sind wieder gestiegen. Die fürstlichen Ställe haben ein neues Pferd – eine prächtige Stute aus Umbrien. Und dann war da noch dieser Vorfall bei der Meereshochzeit. Die Leute sagen, eine Verwirrte hätte den Bürgermeister angefallen.“

Meraviglia lief rot an und sank auf ihrem Platz zusammen.

„Mit Schaum vor dem Mund und wilden Augen ist sie auf die Bühne gesprungen und hat sich schreiend auf Signore Gorgonzola geworfen. Nur durch das beherzte Eingreifen seiner Leibgarde konnte es gelingen, die Verrückte in den Fluss zu treiben, wo sie wahrscheinlich ertrunken ist.“

Meraviglia atmete auf. Es war ihr nur Recht, wenn man sie für tot hielt.

„Ich selbst war nicht dabei. Aber ich habe das aus erster Quelle. Von Signorina Maltrice Gorgonzola persönlich.“

Hierbei schaute er Meraviglia erwartungsvoll an und diese beeilte sich, sogleich ein ehrfürchtiges Oooh zu äußern.

„Signorina Maltrice ist wahrlich ein Sinnbild von Tugend und Schönheit. Verglichen mit ihr, wirken alle anderen Töchter des Landes wie Bäuerinnen.“

„Alle anderen Töchter des Landes sind auch Bäuerinnen, wenn ihnen das Geld fehlt, Seide und Schmuck zu kaufen“, unterbrach ihn Potata, doch Poporano beachtete sie nicht.

„Außerdem ist sie sehr gebildet. Sie wurde in allen Dingen unterrichtet, die die Tochter einer edlen Familie wissen muss.“

„Lesen, Schreiben und Rechnen?“, riet Meraviglia.

„Bei Gott! Nein! So etwas gehört sich nicht für eine Dame! Das ist die Arbeit von Händlerfrauen und Wechselweibern. Nein! Sie lernt viel wichtigere Dinge: Tanzen, Musizieren, Nähen und was weiß ich nicht noch alles!“

Meraviglia musste sich wundern. Wieso sollte man gerade diese Dinge lernen? Natürlich machte das Tanzbein zu schwingen Spaß und niemand war schneller für ein Liedchen am Schifferklavier zu begeistern als sie. Und auch Wunden zusammenzunähen gehörte zu Meraviglias Repertoire. Aber daraus konnte doch niemand einen Beruf machen.

„Achso! Fast hätte ich die wichtigste Neuigkeit vergessen!“, strahlte Poporano und zwinkerte Meraviglia verschmitzt zu. Diese wusste, was man von ihr erwartete und setzte eine besonders interessierte Miene auf.

„Gestern, ich wag‘ es kaum, davon zu sprechen.“

Poporano rutschte wie ein aufgeregtes Kind auf seinem Stuhl hin und her, als versetzte ihn allein der Gedanke in unendliche Verzückung.

„Also, gestern, da brachte ich dem Fürsten das Nachtmahl ins Studierzimmer – er ist nämlich immer sehr beschäftigt, müsst ihr wissen – da sagte er: Poporano, du leistest hervorragende Arbeit, hat er gesagt. Und das sagt er wahrlich nicht jedem. Hervorragende Arbeit!“

Potata rümpfte die Nase.

„Es ist auch schwer beim Türen aufhalten etwas falsch zu machen. So ein Dummkopf bist nicht einmal du.“

Poporano ignorierte den Einwand mit dem Blick, mit dem er Ratten bedachte, wenn sie es wagten, seinen Weg zu kreuzen.

„Wahrlich“, sprach Poporano, mehr in den Raum hinein, als zu irgendjemandem sonst, „kann nicht jeder Bediensteter am fürstlichen Hof werden. Dafür braucht es elegantes Auftreten und perfekte Umgangsformen – etwas, das nur jene besitzen, die in den höchsten Kreisen der Stadt verkehren. Es wundert mich nicht, dass du nichts davon weißt, Potti.“

Potata ballte die Faust und hätte zum Schlag ausgeholt, wenn Meraviglia nicht dazwischen gegangen wäre.

„Sagt, Signore Poporano, wie ist der Fürst so?“

Der Höfling prüfte sie ktitisch. Machte sie sich über ihn lustig? Es hatte ihn noch nie jemand mit Signore angesprochen. Umberto Poporano war kein überheblicher Mann. Im Gegenteil! Er war niemandem gegenüber so kritisch, wie sich selbst. Überall sah er Flecken und Falten. Ungeknöpfte Jacken ließen ihm die Haare zu Berge stehen. Nicht gekämmte Haare versetzten ihn in Rage.

Doch von Zeit zu Zeit hatte er ein wenig Chaos gern. Wie ein Stück richtig süßem Honigkuchen, den man sich manchmal gönnt. Und dann kehrte er im Tanzenden Frosch ein, dem schlimmsten Gasthaus in dem schlimmsten Viertel von Braccio. Hier fühlte er sich immer so sauber.

„Ach, ich vergaß, Fräulein, dass Sie neu sind und noch gar nichts über unsere wundervolle Stadt wissen.“ Seine Stimme wurde so singend, als spräche er gerade mit einem Kind.

„Nun, unsere Stadt wird von der durchlauchten Familie der Leobruno beherrscht wird. Eine Familie, deren Linie sich bis zu Kaiser Augustus zurückverfolgen lässt. In männlicher Folge, wohlgemerkt. Und Césare Leobruno, Fürst und mein gnädigster Herr, regiert schon seit über dreißig Jahren die Stadt und das gesamte dazugehörige Gebiet der Collina. Obwohl es mich schmerzt, wird er die Herrschaft wohl bald an seinen Sohn Massimo abtreten. Einen feineren und heldenhafteren Prinzen gibt wohl es im gesamten Reich nicht.“

Potata lächelte spitzbübisch.

„Hast du nicht jemanden vergessen?“

Nun war es an Poporano die Nase zu rümpfen.

„Nein, habe ich nicht.“

Potata wandte sich verschwörerisch an Meraviglia.

„Es gibt nämlich jemanden, der Massimo ganz schön zu schaffen macht und ihn gar nicht so glänzen last, wie Poporano es darstellt. Einen verwegenen Schurken, der, egal was der kleine Prinz auch plant, ihm die Suppe versalzt.“

„Sei still, du dummes Weib!“, herrschte Poporano sie an. „Das ist unser Prinz, von dem du da sprichst!“

Aber Potata ließ sich nicht aufhalten. Sie nahm jetzt erst richtig an Fahrt auf.

„Will der Prinz einen Kanal bauen, flutet er ihm die Gruben. Will er die Wölfe aus den Wäldern vertreiben, vertreibt er die Soldaten. Und das ganz allein! Stell dir nur diesen Schelm vor! Den würde ich mal gerne zu Gesicht bekommen. Doch niemand hat ihn bisher gesehen. Niemand kennt auch nur seinen Namen.“

Poporano stand so plötzlich auf, dass der Stuhl hinter ihm zu Boden krachte.

„Dumme Weiber mit euren romantischen Fantasien. Der Prinz hat nur unser Wohl im Sinn und ihr zerreißt euch die Mäuler über einen Halunken! Schämen solltet ihr euch!“

Mit diesen Worten verließ er ungestüm das Gasthaus.

„Auf Wiedersehen!“, rief Meraviglia ihm nach, aber er schien sie nicht mehr zu hören.

„Puh! Den bin ich los“, atmete Potata erleichtert auf. „Du scheinst diese Verrückten magisch anzuziehen. Du kannst von Glück reden, dass er das Essen bezahlt hat. Sonst hätte ich es dir in Rechnung gestellt.“

Meraviglia achtete nicht auf die Standpauke. Sie hatte auf dem Piratenschiff sehr schnell gelernt, wann es sich lohnte zuzuhören, wenn man angeschrien wurde, und wann nicht.

„Warum macht er das wohl? Warum vereitelt er die Pläne des Prinzen, Potti?“

Was für ein hoffnungsloser Fall!, dachte diese und seufzte.

„Wer weiß das schon. Die Leute erzählen viel, wenn der Tag heiß ist, was hier in Braccio jeder Tag ist. Vielleicht hat ihm der Prinz etwas getan und nun will er ihn dafür ärgern.“

Dabei ließ sie es bewenden. Potata grübelte nicht gerne. Das machte nur Kopfschmerzen.

„Vielleicht ist er traurig. Deswegen will er, dass der Prinz es auch ist“, dachte Meraviglia laut. Das schien ihr die logischste Erklärung.

„Was interessiert dich das Schicksal irgendeines Halunken!“, entgegnete Potata. „Kümmer dich mal um dich selbst und suche dir eine anständige Arbeit. Und nicht dieses Hirngespinst, das du dir da in den Kopf gesetzt hast.“

Ach, ja! Sie hatte heute ja noch was vor!

Plötzlich knarzte das Holz über ihren Köpfen. War der Fremde aufgewacht?

Meraviglia war kein Angsthase. Ganz und gar nicht. Sie hatte sich jedoch eine gesunde Portion Bammel angeeignet, die ihr sagte, wann es galt, sich düsteren Gestalten in den Weg zu stellen und wann nicht. Und das war einer dieser Moment, in denen man am besten den letzten Rest Hirsebrei verschlang und sich sehr schnell auf den Weg begab.

Potata sah ihr mit einem tiefen Stirnrunzeln nach.

Das geht nicht gut, dachte sie sich. Ganz und gar nicht.

***

Kaum war Meraviglia zur Tür hinaus, da wehte ihr eine frische Brise um die Nase und warmer Sonnenschein spielte auf ihrem Gesicht. Was für ein wunderschöner Tag es war, um Erfinder zu werden. Das schöne Wetter hob sofort ihre Laune und beschleunigte ihren Schritt. Selbst das düstere und klamme Blancapella wirkte in ihren freudestrahlenden Augen, wie ein verwunschenes, kleines Dorf.

Zielsicher bahnte sie sich ihren Weg durch die Menge, der zur Arbeit eilenden Menschen, Richtung Stadtmitte. Die meisten von ihnen waren junge Mädchen in schlichten Uniformen. Mägde und Küchenhelferinnen, Wäscherinnen, Kinderfrauen – jene, die eine Stadt am Laufen hielten.

Sie eilten, ohne von Meraviglia Notiz zu nehmen, zu den Häusern ihrer Herren. Die Arbeit war lang und der Tag viel zu kurz. Sie hatten keine Zeit, sich nach seltsamen Frauen mit Piratenhüten umzusehen.

Meraviglia fragte sich, wie viele von ihnen wohl einer Zunft angehörten oder gar eine eigene Werkstatt besaßen. Sie war in diesen Dingen furchtbar naiv und wusste nicht, dass in einer Stadt wie Braccio das richtige Handwerk (also die leichteste Arbeit) den Männern überlassen wurde.

So ein Handwerksmeister hatte nicht mehr zu tun, als die Schar seiner Gesellen, Lehrlinge und Knechte zu überwachen. Die eigentliche Arbeit machten andere. Nur bei Erfindern war es anders. Da kam es nicht auf Muskeln, sondern auf Köpfchen an. Man musste sich Dinge ausdenken, verstehen wie etwas funktionierte, Mittel und Wege finden. Das war eine mühsame Denkarbeit. Doch umso befriedigender war es, wenn man etwas baute, das dann tatsächlich funktionierte.

Als Meraviglia die Brücke zum Stadtzentrum überquert hatte, erfragte sie sich ihren Weg zur Erfinderzunft. Es überraschte sie nicht, dass die Menschen sehr zuvorkommend reagierten. Sie lachte sogar innerlich. Ja, so ein Piratenaufzug macht Eindruck!

Auch Barbanero, hatte stets gemeint, dass ein sicheres Auftreten und beeindruckende Kleidung schon die halbe Miete waren.

Vor allem als Pirat war es wichtig, dass die Leute von Anfang an Angst vor dir hatten, sonst konnte das Entern eines Schiffes durchaus unangenehm werden. Womöglich musste man dann sogar kämpfen. Aber wenn man die Leute gleich überzeugte, dass sie überhaupt keine Chance hatten, ja, dann lief alles wie am Schnürchen.

So hoffte auch Meraviglia, dass, wenn sie nur selbstbewusst genug auftrat, die Leute in der Zunft schon merken würden, wie ernst es ihr war.

Es dauerte nicht lang, da stand sie vor dem Zunfthaus der Erfindergilde – der mächtigsten Gilde in ganz Italien. Bereits von Außen sah das Haus beeindruckend aus: Ein vierstöckiger Holzbau mit zwei riesigen, spitzen Türmen an beiden Seiten, die aussahen als stünden sie Wache. Über dem Eingang hing ein großes Zunftschild, mit dem Siegel der Erfinder. Aufwendige Bilder verzierten die Fenster, noch schöner, als die der Kathedrale.

Jedes Fenster zierte das Gesicht eines berühmten Mitglieds. Giacomo Zupetti, ein bekannter Schiffserfinder. Gian Salieri, ein Erforscher auf dem Gebiet der Pferdezugkraft. Hugo Aligeri, der unglaubliche Apparaturen für das Reiten von Tigern gebaut hatte (wider aller Erwartungen starb dieser, nachdem er auf einer Orangenschale ausgerutscht war).

Alle abgebildeten Erfinder waren über die Grenzen des Mittelmeeres hinaus bekannt und wurden für ihre Arbeit bewundert.

Meraviglia flatterte das Herz und ihre Knie wurden weich. Aus dem Inneren des Zunfthauses drangen aufgeregte und heitere Stimmen auf die Straße.

Jetzt nicht die Segel streichen!, sprach sie sich Mut zu. Du bist immerhin Piratin!

Sie holte tief Luft, streckte sich zu ihrer vollen Größe und stieß die mit Hämmern verzierte Tür des Zunfthauses auf. Plötzliche Stille kehrte ein, als Meraviglia den großen Empfangsraum, der sie stark an eine Schenke erinnerte, betrat. An Tischen und Bänken saßen Männer mit Bierschaum in den Bärten und sahen sie neugierig an. Unsicher blieb sie einen Augenblick in der Tür stehen.

Nein! Das ist nicht der Moment, um schüchtern zu sein! Entschlossenen Schrittes ging sie, verfolgt von den Augen der Anwesenden, zu einem Tresen. Ihre Schritte hallten unwill-kommen in der angespannten Stille wider.

Hinter dem Tresen stand ein Jüngling, vielleicht etwas älter als sie selbst, mit einem langen Gesicht und einer unnatürlich großen Knollnase. Er war so vertieft in die Lektüre eines Zettels, dass er Meraviglia zunächst nicht bemerkte. Erst als sie sich auffällig räusperte, schaute er zu ihr auf.

Erschrocken wich der Junge zurück. Seine Augen wanderten von dem Hut, zu dem Ohrring und der Weste. Schlagartig wich ihm das Blut, wie bei einem Wasserfall, aus dem Gesicht und ließ nur ein bleiches Gespenstergesicht zurück.

Meraviglia beachtete sein Erschrecken nicht. Sie hatte zwar nicht mit einer so extremen Reaktion gerechnet, war aber zufrieden, dass die gewünschte Wirkung eingetreten war.

Jetzt nur nichts Falsches sagen! Du hast dafür geprobt!

Doch bevor sie auch nur ein Wort hervor bringen konnte, stammelte der Tresenjunge zitternd: „Ich… habe es nicht angerührt… ich schwöre es…“

„Das macht nichts“, antwortete Meraviglia verwirrt, ohne zu wissen, worum es eigentlich ging. Die Worte waren ihr einfach so rausgerutscht. Gespannt, ob noch eine Erklärung folgen würde, wartete sie einen Moment ab. Aber er rührte sich nicht. Starrte sie nur mit zitternden Lippen weiter an.

„Darf ich fragen, was das hier zu bedeuten hat?“ Wie aus dem Nichts erschien an ihrer Seite ein Mann. Jedenfalls dachte Meraviglia, dass es ein Mann war. Es hätte auch ein Schnurrbart mit Beinen gewesen sein können. Ein sprechender, schwarzer, buschiger Schnurrbart mit Beinen.

Es dauerte einen Moment, bevor sie ihren Blick von dem haarigen Etwas, das wie eine Katze über den dünnen Lippen des stämmigen Mannes thronte, abwenden konnte. Der Mann überragte sie um gut zwei Köpfe und hatte breite Schultern, die ein Pferd hätten tragen können.

Mit eisblauen Erbsenaugen musterte er sie unverhohlen und kräuselte seinen Schnurrbart. Meraviglia ließ sich nicht von dem freundlichen Lächeln täuschen. Das waren die Augen eines Habichts. Augen für unschöne Entscheidungen.

Der Mann blickte er prüfend von Meraviglia zum Jüngling und wartete amüsiert auf eine Antwort. Da von dem zittrigen Espenlaub hinter dem Tresen in diesem Jahrhundert keine Antwort zu erwarten war, startete Meraviglia einen Versuch.

„Mein Name ist Meraviglia Barbanero. Ich bin hier, weil ich Erfinderin werden möchte.“

Wenn dies überhaupt möglich war, wurde es in dem Empfangsraum noch stiller. Meraviglia spürte, wie sich die Blicke der Anwesenden wie Seeigel an sie klebten. Sogar das Espenlaub vergaß für einen Moment, wovor es sich gerade noch gefürchtet hatte.

Auf die Stille folgte ohrenbetäubender Lärm. Meraviglia war sich zunächst nicht sicher, aber als sie sah, wie der riesige Schnurrbart auf den Lippen des Mannes auf und ab hüpfte, wusste sie, dass es Gelächter war. Das ganze Zunfthaus krümmte sich vor Lachen. Selbst das Espenlaub drang sich zu einem nervösen Kichern durch.

Meraviglia verstand nicht. Hatte sie einen Witz erzählt? Als der Schnurrbartmann ihren unverständigen Blick bemerkte, warf er einen Arm über ihre Schulter und drückte sie an sich. Sein Atem stank nach Wein und Tabak.

„Hör mal, Kleine. Du bist ja ganz süß. Aber selbst wenn die Mitternachtskatze höchstpersönlich dich hierher geführt hätte: wir nehmen weder Frauen noch Piraten. Und du bist beides.“

Schlagartig wurde Meraviglia bewusst, dass ihre Kleiderwahl doch nicht die beste Idee war.

Sie wandte sich aus seinem Griff und und verfluchte sich innerlich, dass sie nicht auf Potata gehört hatte.

„Wieso denn Pirat?“, fragte sie unschuldig.

Der Schnurrbartmann wischte sich eine Lachträne von der Wange und machte wieder einen Schritt auf sie zu.

Er genoss diese Ablenkung. Der Tag war bisher so langweilig verlaufen. Nur trinken und sinnloses Gerede. Da kam dieses kleine Spektakel gerade recht.

Auch die übrigen Anwesenden krochen aus ihren dunklen Ecken und drängten sich näher zum Ort des Geschehens.

„Nun, lass uns mal sehen“, meinte der Schnurrbartmann und umkreiste Meraviglia, wie ein Geier seine Beute. „Dein Rock ist zwar lang, aber du trägst eindeutig Hosen darunter. In deinem Ohr hängt ein Goldring. Auf deinem Hut sitzt ein Affe und zu guter Letzt würde kein normaler Mensch darauf kommen, dass wir Frauen in unserer Zunft aufnehmen!“

Meraviglia war verwirrt.

„Auf meinem Kopf sitzt ein Affe?“

Sie griff nach ihrem Hut und spürte, wie etwas davon sprang. Mit einem Hopp landete ihr kleiner Kapuzineraffe auf dem Tresen und schaute spitzbübisch in die Runde.

„Rajab, du Klette! Wer hat dir gesagt, mir nachzulaufen?!“

Das Äffchen erwiderte mit einem vorwurfsvollen Schrei und sprang auch schon weiter auf einen Dachbalken.

„Du siehst also, Kleine. Du hast hier nichts verloren.“

Gespannt, wie sie nun reagieren würde, hielten die übrigen Erfinder den Atem an.

„So einen Affen kann jeder haben“, entgegnete Meraviglia unbeeindruckt. „Das beweist nicht, dass ich eine Piratin bin.“

Der Schnurrbartmann staunte über ihre Frechheit. Doch er hatte schon ganz andere klein gekriegt.

„Aber du bist immer noch ein Weib und Weiber dürfen hier nicht einmal Böden schrubben. Nicht war, Porriccio?“

Er nickte in Richtung des Espenlaubs.

Meraviglia ergriff das Gefühl bitterer Enttäuschung und machtloser Wut. So viel Borniertheit war nicht zu ertragen.

„Das ist doch absurd!“, rief sie bestimmt, obwohl ihr das Herz schon tief in die Stiefel gerutscht war. „Und willkürlich! Ich bin hier, weil ich Erfinderin werden will. Und ich werde nicht eher gehen, bis ich den Vorsitzenden gesprochen habe.“

Der Schnurrbartmann brach in schallendes Gelächter aus. Und auch die anderen Männer, die nun einen dichten Kreis um sie gebildet hatten, stimmten mit ein.

„Valesco Spizzosa mein Name“, prustete der Schnurrbartmann, „Vorsitzender dieser berühmten Zunft.“

Meraviglia blieb der Atem weg. Ihre Knie wurden immer weicher, aber sie wollte nicht so schnell aufgeben. Sie war doch nicht durchs ganze Mittelmeer gesegelt, um sich von einem Schnurrbart einschüchtern zu lassen.

„Wieso sollte ich schlechter sein, als der nächste, nur weil ich ein Mädchen bin?“

Der Zunftvorsitzende sah sie mit seinen riesigen dunklen Augen ungläubig an. Genauso gut hätte jemand fragen können, warum es eine Gilde gab oder einen Fürsten oder eine Stadt.

„Hm, mal sehen“, sprach Spizzosa. Er musste nicht tief in seinem kleinen Kopf kramen, um eine Antwort zu finden.

„Frauen sind klein und schwach und haben keine Ausdauer. Man gibt ihnen eine Aufgabe und nach zwei Minuten können sie nicht mehr. Frauen können nicht richtig denken. Sie reden und reden, über andere Frauen und über Kleidung und ihre Haare. Sie können nicht denken wie wir.“

Die Männer um sie herum nickten zustimmend. Hier und da grummelten welche ‚sehr richtig‘ und ‚das stimmt!‘.

„Und der wichtigste Grund von allen ist natürlich, und ich zitiere hier den großen Philosophen Smadarin:

Frauen sind gemeine, hinterhältige, verdorbene Biester,

die lügen, betrügen und faul in der Ecke liegen,

stehlen, bei der Arbeit fehlen,

rechtschaffene Männer ablenken,

und den Standard der Arbeit senken.

Sie sind schlecht, schlecht, SCHLECHT!!!“

Der Zunftvorsteher hatte sich in Rage geredet. Er war rot angelaufen. Seine Erbsenaugen sahen so aus, als würden sie gleich aus seinem Schädel heraus schießen. Bei jedem einzelnen Wort spritzte ein Spuckeregen über Meraviglia. Wütend packte er sie an der Weste und zog sie nah vor sein Gesicht.

„Lieber würde ich die ganze Gilde abbrennen und jeden einzelnen Erfinder von der Stadtmauer hängen, als dich hier auch nur putzen zu lassen.“

Schneller als irgendjemand gucken konnte, sprang Rajab von dem Dachbalken auf den Kopf des Schnurrbartmannes und biss ihm mit seinen spitzen, kleinen Zähnen ins linke Ohr.

„Aargh!“, schrie Spizzosa vor Schmerz. „Nimm ihn runter!“ Doch bevor ihm die anderen zu Hilfe eilen konnten, sprang Rajab schon zum Nächsten und Übernächsten und kratzte und biss alles, was ihm in die Quere kam. Erst nachdem kein Gesicht ohne tiefe Kratzer geblieben war, kehrte er zu Meraviglia zurück und versteckte sich unter ihrem Mantel.

„Du kleine Göre!“, donnerte der Zunftvorsteher und hielt sich das blutende Ohr, von dem ein großes Stück fehlte. Zerstörerische Wut lag in seinem Blick. Plötzlich packte er sie am Kragen und zog sie hoch, sodass sie einen halben Meter über dem Boden hing.

„Wir werden dir und deinem Äffchen schon zeigen, was wir mit Ruhestöreren machen.“

Meraviglia zerrte an seiner Hand, aber Spizzosa ließ nicht locker. Ihr blieb keine andere Wahl. Sie holte mit dem Fuß aus und kickte dem Angreifer in den Bauch.

Der mächtige Zunftvorsteher keuchte vor Schmerz. Meraviglia fiel unsanft zu Boden, verschwendete aber keinen Moment. Hier gab es nichts mehr, was man mit Worten hätte retten können.

Geschwind sprang sie auf und wich den Erfindern aus, die sich auf sie stürzen wollten. Doch so leicht kam sie nicht heraus. Von überall her griffen prankenartige Hände nach ihr und drängten sie immer weiter in die Ecke.

„Ich habe die Tür abgesperrt!“, rief einer. „Hier entwischt sie uns nicht mehr!“

Meraviglia stand die Panik ins Gesicht. Was jetzt? Wohin fliehen? Plötzlich sah sie ihre Chance. Eine verrückte und verzweifelte Chance, aber die einzige, die sie hatte.

So schnell sie konnte, rannte sie direkt auf die Fenster zu und krümmte sich, kurz bevor die Meute sie eingeholt hatte, zu einem Ball.

AU! Wie weh das tat, als einer nach dem anderen über sie stolperten und krachend durch das Fenster flogen. Bunte Scherben regneten auf sie herab. Einige Erfinder versuchten noch auszuweichen und prallten geradewegs gegen die Wand.

Meraviglia kämpfte sich unter der Last der Körper hervor, kletterte durch das zerbrochene Fenster, hinaus ins Freie. Eine große Menge hatte sich bereits neugierig vor der Zunft versammelt, aber die Piratin durchbrach ihre Kette, eilte die Straße hinunter und lief und lief und hielt erst an, als ihr das Herz aus dem Hals zu springen drohte.

Keuchend schnappte sie nach Atem. Sie warf einen Blick um die Ecke. In der Menge war niemand zu sehen. Aber bis auf Schnurrbartmann und Espenlaub hatte sie die Gesichter der anderen nicht behalten. Sie könnten direkt vor ihr stehen, sie wüsste es nicht. Und mit ihren Hosen und dem Affen war sie ein nicht zu übersehendes Ziel.

„Das ist alles deine Schuld!“, rief sie Rajab vorwurfsvoll zu, der es sich auf einem Fenstersims über ihr bequem gemacht hatte. „Es lief so gut, bevor du aufgekreuzt bist!“

Rajab erwiderte mit einem erbosten Schrei. Beleidigt drehte er sich um, sprang auf eine Regenrinne und war verschwunden.

„Nein! Komm zurück! Ich habe es nicht so gemeint!“, rief Meraviglia ihm nach, doch es nützte nichts. Sie blieb allein zurück.

Niedergeschlagen nahm sie den Hut ab und knöpfte, wie sie es bereits gestern getan hatte, den Mantel wieder zu.

Es gab nichts daran zu rütteln. Sie hatte es selbst vermasselt. Und nun hatte sie auch noch ihren einzigen Freund vertrieben.

Mit vor Enttäuschung gesenktem Kopf, machte sie sich auf den Heimweg. So hatte sie sich das nicht vorgestellt. Ganz und gar nicht. Aber dies war erst der Anfang.

Meraviglia und der verrückte Erfinder

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