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Vom britischen Societyevent zum brasilianischen Volkssport
Оглавление„Mein Uniabschluss!“, Fußballpionier Charles Miller, bei seiner Landung in Brasilien zwei Fußbälle unter den Armen tragend, auf die Frage seines Vaters: „Was ist das, Charles?“
„Es erfüllt die Beteiligten mit großer Befriedigung oder versetzt sie in große Niedergeschlagenheit, wenn diese Art von gelblicher Blase ein Rechteck passiert, das aus Holzstangen zusammengesetzt ist.“ Ein Journalist berichtet über ein Fußballspiel im Jahre 1896
Die Rolle des Fußballs für das kulturelle Selbstverständnis Brasiliens kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Nicht wenige Wissenschaftler und Schriftsteller beschreiben das im Kern recht simple Spiel zwischen den beiden Toren als den mythischen Ort, an dem sich das brasilianische Volk als eine Nation zu fühlen begann und bis heute fühlt. Darf England zweifelsfrei als das Mutterland des Fußballs gelten, so halten sich doch die Brasilianer zugute, dass dieses Spiel erst durch ihre Interpretation zu sich selbst gekommen sei. Als Sport, als Ausdruck eines Lebensgefühls und als wahrhafte, praktizierte Kunst. Der Weg zu diesem Verständnis des Spiels als ureigene brasilianische Angelegenheit und Erfahrungsraum soziokultureller Identität ist jedoch ein langer gewesen – und durchaus steinig.
Wie so viele Geschichten des südamerikanischen Kontinents ist auch die Geschichte des Futebol eine solche des Kolonialismus – und der kreativen Aneignung importierter Kulturformen der Herrschenden durch die ehemals unterdrückten Massen. Die erste bekannte Ausübung des Sports datiert auf das Jahr 1878, als britische Seeleute vor dem Palast der Prinzessin Isabell in Rio kickten. Kein Mensch wusste, was die Männer dort trieben, und ihren Ball nahmen sie auch wieder mit. Die eigentliche Geschichte beginnt etwas später – und zwar mit zwei Fußbällen.
1894 lief ein gewisser Charles William Miller mit dem Schiff in den Hafen von São Paulo ein. Der junge Mann, Sohn schottischer Einwanderer, kehrte kaum 20 Jahre alt, von seinem zehnjährigen Schulaufenthalt in England zurück. Dessen Vater, John Miller, war als Eisenbahningenieur dem Lockruf des schwarzen Goldes nach Brasilien gefolgt, wie viele Immigranten seiner Zeit. Miller senior arbeitete an dem Ausbau des Schienennetzes in Brasilien. Die Hafenstadt Santos sollte mit den Kaffeeplantagen im Inland des Staates São Paulo verbunden werden, um das lukrative Geschäft mit dem anregenden Heißgetränk zu befördern. Den eigenen Spross hatte der schottische Brasilianer einer soliden Schulbildung wegen im Alter von zehn Jahren gen Hampshire verschifft, wo dieser im Internat lebte und erfolgreich die Schulbank drückte. Besonders sportlich tat sich der junge Student hervor und übte die angesehenste Sportart des Commonwealth, Kricket, mit ebensolcher Bravour aus, wie die in England beliebte und anderswo noch weitgehend unbekannte junge Sportart Fußball.
Als John Miller seinen Sohn im Hafen São Paulos in Empfang nahm, stellte er zu seiner Überraschung fest, dass sein Sohn in jeder Hand zwei große Lederbälle trug. Verwundert stellte er den Filius zur Rede, was dies zu bedeuten habe. „Das ist mein Uniabschluss“, antwortete Charles gelassen, „dein Sohn hat die Fußballprüfung bestanden.“ In der Tat hatte sich Charles Miller in dem an den Universitäten beliebten Sport, der durch die Gründung der Football League 1888 bereits ein gut organisierter Amateursport geworden war, derart hervorgetan, dass er als Linksaußen für St. Mary’s spielte, Vorläufer des FC Southampton.
Jene historisch so wirkmächtigen Utensilien, es ist post festum nicht vermessen, das Bild eines eingeschleppten Virus zu beschwören, landeten jedoch nach Millers Ankunft zunächst im Schrank. Die britische Gemeinde São Paulos befand sich in der Kricket-Saison, wer hätte da Notiz von dieser außerhalb der britischen Inseln kaum bekannten Sportart genommen …
Nach dem Ende der Kricket-Saison begann Charles Miller die ersten Fußballspiele unter Bekannten zu organisieren. Die erste nach Regeln geführte Fußballbegegnung auf brasilianischem Boden fand zwischen britischen Angestellten der Eisenbahngesellschaft und der Gasverwaltung statt. Die Bühne jener legendären Stunde Null des brasilianischen Fußballs bildete eine Weide, die den Maultieren, die die Straßenbahnen São Paulos zogen, ansonsten zum Grasen diente. Charles Miller erinnerte sich 50 Jahre später an die positive Resonanz der Spieler dieses ersten regelrechten Kicks Brasiliens: „Das allgemeine Gefühl war damals: Was für ein großartiger Zeitvertreib, was für ein nettes kleines Spielchen.“
350 Kilometer weiter nördlich sollte ein weiterer Anglo-Brasilianer einige Jahre später parallel an der Etablierung dieses neuen Ballspiels arbeiten. Oscar Cox kehrte 1901 von seinem Studium in Lausanne zurück und führte einen weiteren Fußball in das Riesenreich ein. Bei dem von ihm arrangierten Spiel zwischen Mitgliedern des Kricket- und Leichtathletikverbandes von Rio de Janeiro und jungen Männern aus der Oberschicht bildete sich erstmals so etwas wie eine Fan-Kulisse: Der Vater und die Schwester eines Spielers, zwei Freunde und eine zufällig vorbeischauende Tennis-Mannschaft verfolgten das Aufeinandertreffen. Waren die Anfänge auch bescheiden, so trat der Fußball doch in atemberaubender Geschwindigkeit seinen Siegeszug an.
Anfangs konnte der Fußball noch nicht als brasilianischer Sport gelten. Erst Jahre später wurde der Sport erstmals Brasilianern zugänglich, wenn auch vorerst nur Mitgliedern der Oberschicht: 1898 wurde die College-Mannschaft Mackenzie in São Paulo gegründet, als Spielgerät diente ein aus den USA mitgebrachter Basketball eines Sportlehrers. Ein Jahr später fand das erste Vereinsmatch statt: Mackenzie wurde durch die Mannschaft deutscher Auswanderer, Germania, gegründet durch Hans Nobiling, der als Vereinsfarben gleich diejenigen des HSV mitbrachte, herausgefordert. Auch das ernüchternde Ergebnis von 0:0 konnte das aufblühende Interesse an dem neuartigen Sport nicht stoppen.
1902 wurde die erste Meisterschaft Brasiliens in São Paulo ausgetragen: Das siegreiche Team, der São Paulo Athletic Club, wurde von Kapitän und Torjäger Charles Miller angeführt und bestand aus elf Engländern. Bereits 1904 berichtete Miller brieflich über ein Spiel unter Jugendlichen, zu dem er als Schiedsrichter gebeten wurde: „In jeder Mannschaft waren 20 von ihnen, sie wollten es so. Ich dachte natürlich, dass das Ganze ein wüstes Durcheinander werden würde, aber ich sah, dass ich im Irrtum war ... zu dieser Veranstaltung kamen 1.500 Leute.“ Begeistert stellt er zudem fest: „Mehr als 2.000 Fußbälle sind in den letzten zwölf Monaten verkauft worden. Beinahe jedes Dorf hat nun einen Klub.“
Exklusiver Sport in Weiß
Für die farbigen Einwohner Brasiliens ist es allerdings noch ein weiter Weg in die Fußballmannschaften. Erst 1888 schaffte Brasilien, als letztes Land der westlichen Hemisphäre, die Sklaverei ab. Die ehemaligen Leibeigenen zogen nach dem Ende ihrer Unterdrückung in die Städte und bildeten dort, zwar nun ihrem Status nach freie Bürger, dennoch eine weitgehend marginalisierte Unterschicht, der die Teilhabe am öffentlichen Leben verwehrt wurde. Das eigentlich brasilianische Element kam erst mit dem Zugang der afrobrasilianischen Spieler zu den Mannschaften in den Fußball.
Fußballpionier Oscar Cox gründete gemeinsam mit neunzehn Freunden 1902 den Klub Fluminense, Rios ersten Fußballverein. Die Spiele waren ein Societyereignis erster Güte, die Damen der Oberschicht führten die neueste Mode aus, die Herren erschienen in Anzug und Krawatte, man gab sich dem britischen Vergnügen in weltläufiger Attitüde hin. Die Spieler waren weiße Studenten und Angehörige der Oberschicht, samt Amateure, die dem modernen Gedanken der Leibesertüchtigung frönten.
Setzen sich heutzutage im deutschen Fußball Fans für den Erhalt günstiger Stehplätze ein, um auch weniger begüterten Liebhabern des Sports Stadionbesuche zu ermöglichen, so verteidigen sie einen Gedanken, der in den Anfangszeiten dieses Sports nicht vorgesehen war: soziale Inklusion als gesellschaftliche Funktion des Sports. Der sich etablierende Fußball Brasiliens war im Gegenteil das exklusive Spiel der britischen Eliten, Brasilianer und ehemalige Sklaven waren nicht erwünscht.
Doch schon bald fanden sich auf den Dächern der umliegenden Häuser immer mehr farbige Zuschauer ein, die als Kiebitze die Spiele auf dem Feld verfolgten. Fußball bot gegenüber dem Kricket den Vorteil, dass es simpel zu erlernen und durchzuführen war und daher auch den weniger begüterten Möglichkeiten zur Ausübung bot. Da man nicht mehr benötigte als einen Ball, begannen auch die schwarzen Brasilianer bald überall zu kicken. Sockenknäuel, mit Papier ausgestopfte Tücher oder aus Gummibäumen abgezapfter und ausgehärteter Kautschuk gaben den Ball, der Rest war pure Freude. Bereits um 1910 war Fußball das beliebteste Spiel Rio de Janeiros, die arme Unterschicht bolzte überall und imitierte so das gepflegte Hobby der weißen Oberschicht auf eine Weise, die den meisten vornehmen Gentlemen des Sports ein Naserümpfen entlockte. Zu jener Zeit soll Rio über mehr Fußball- und Bolzplätze verfügt haben als jede andere Stadt Südamerikas. Dass wir nicht von ordentlichen Sportstätten sprechen, ist dem Bericht des Klubvorsitzenden des englischen Teams Exeter City zu entnehmen, der 1914 Rio besuchte: „Stellen Sie sich den schlimmsten Amateurplatz vor, den Sie je gesehen haben, den werfen Sie nun auf wie einen Teppich, streuen Schotter und Steine darüber und setzen das Ganze der tropischen Sonne aus, dann bekommen Sie eine entfernte Vorstellung von dem Spielfeld hier“, schrieb M.J. Mc Gahey an die Lokalzeitung aus Exeter und empörte sich zudem über einen Strandkick, als er der beteiligten Spieler ansichtig wurde und feststellte, „dass alle Nigger waren. Schwarz wie ein Zylinder, und die meisten spielten barfuß“. Das war eindeutig zu viel für die vornehmen Besucher.
Der erste Club in Rio, der auch schwarze Spieler in seine Mannschaft aufnahm, war Bangu Atlético Clube. Bangu war eine Werksmannschaft, gegründet von den Inhabern einer Textilfabrik, die auch nicht-weißen Spielern die Teilnahme ermöglichte. Da diese ihr Geld als Fabrikarbeiter verdienten, verstießen die Spieler nicht gegen den vorgeschriebenen Amateurstatus. Bangu blieb jedoch einige Jahre eine absolute Ausnahme und verfügte nicht über die sportliche Klasse, um ein wirklicher Stachel im Fleische der weißen Fußballherren zu sein.
Wohlhabende Amateure
Der verpflichtende Amateurstatus erfüllte eine nicht unwesentliche Funktion bei der Aussperrung der schwarzen Unterschicht vom weißen Fußball. Indem der Fußball als Einnahmequelle per Satzung eliminiert wurde, konnten nur Spieler zu den Teams finden, die auf alternativem Weg Geld verdienten. Anständig bezahlte Lohnarbeit, die nebenbei Zeit für Hobbys ließ, war jedoch für die meisten farbigen Brasilianer kaum erreichbar und so konnten diese nicht im Fußball reüssieren. Dieser gezielte Ausschluss sollte der Sorge Vorschub leisten, es könnten sich farbige Angehörige der Unterschicht finden, die am Ende gar die weiße Oberschicht in ihrem Gentlemen-Spiel übertrumpften. Es bedurfte der Erfahrung einer ehemals als Kolonialmacht herrschenden und nun selbst herabgesunkenen Bevölkerungsgruppe, um das britische Fußballkartell zu sprengen: Die Portugiesen in Brasilien, längst selbst eine sozial marginalisierte Randgruppe aus eng zusammengerückten Handeltreibenden, gründeten in Rio 1915 die Fußballabteilung ihres Sportclubs Vasco da Gama, benannt nach dem portugiesischen Seehelden. Um die Vormacht der großen Clubs in Rio zu brechen, verpflichteten sie Fußballer aller sozialen Schichten und Hautfarben – einfach nach deren Leistungsvermögen.
Um die Amateurklausel zu umgehen, bekam jeder Spieler irgendeine Arbeit in den Läden der Vereinsoberen zugewiesen. 1923 stieg die Mannschaft in die erste Liga der Region Rio auf und besaß die Frechheit, mit einer Mannschaft, in der drei Schwarze und ein Mulatte spielten, auf Anhieb Meister zu werden. Auf dieses als gänzlich unwürdig empfundene Gebaren reagierten die arrivierten Clubs Rios mit der Gründung einer eigenen Liga, in der Vasco nicht mitmischen durfte. Doch angesichts der enormen Beliebtheit der Mannschaft musste der Club auf Druck der Massen wieder in den Spielbetrieb aufgenommen werden.
Nenn mich „Silva“
Die weißen Großklubs ersannen eine neue List, um die Spieler der Unterschicht aus dem Fußball zu drängen und den multiethnischen Rivalen zu schwächen: Neue Vorschrift wurde, dass alle Spieler ihren Namen selbständig auf dem Spielberichtsbogen eintragen mussten. Vasco verfügte mit seinen zahlreichen armen Spielern über die größte Zahl an Analphabeten. Doch abermals zeigte sich der Verein couragiert im Aushebeln der diskriminierenden Regelungen und schickte die gesamte Mannschaft in einen eigens organisierten Lese- und Schreibunterricht. Bei Spielern, deren Name allerdings zu lang oder kompliziert war, als dass der bildungsferne Kicker ihn hätte schreiben können, half leider nichts. Der Name musste also kurzerhand geändert werden, Vasco lief bald mit einigen Spielern auf, die allesamt auf den einfachen Namen „Silva“ hörten.
Vor so viel Erfindungsgeist fürchteten die Großclubs kapitulieren zu müssen und entschlossen sich daher, auch den Besitz eines eigenen Stadions für jeden Club vorzuschreiben. Die Portugiesen sammelten, wild entschlossen, sich auch von dieser Schikane nicht den Ball vom Fuß nehmen zu lassen, unter den Mitgliedern ihrer Gemeinde Geld. Die Solidarität war so groß, dass Vasco bald genug Geld beisammen hatte, um mit dem São Januário das damals größte Fußballstadion Brasiliens zu bauen. Auf diesem Weg gelang es dem Club, den verbindlichen Amateurstatus ins Wanken zu bringen.
Als die europäischen Profiligen in den 1930er-Jahren begannen, Spieler aus Lateinamerika abzuwerben, wurde die Einführung von Profiligen unumgänglich. 1933 führten Rio und São Paulo Profiligen ein, die Menschen aller Hautfarben und sozialer Herkunft offenstanden. In Rio schickte der Club Bonsucesso gleich elf schwarze Spieler in die Auftaktsaison. Fußball war nun Massensport. Den verbohrtesten Anhängern der weißen Oberschicht blieb nur Kricket.