Читать книгу Die Heimkehr der Jäger - Mitja Peter - Страница 5
III.
ОглавлениеMarie war mit Carla am Eingang eines großen Parks verabredet.
Sie saß auf einem Eisenstuhl neben einem Imbiss-Pavillon, ließ den Stuhl etwas kippen, so dass nur noch ihre Fußspitzen den Boden berührten und aß von einem Crêpe, der mit einer Ecke in einer Papiertüte steckte, die sie mit beiden Händen hielt. Vor ihr auf dem grün lackierten kleinen Tisch stand ein Plastikbecher mit Kaffee. Fast verlor sie das Gleichgewicht, als plötzlich etwas vor ihr Gesicht schnellte. Carla beugte sich lachend von hinten über sie und schloss ein Jo-Jo nach zwei, drei flinken Luftfiguren wieder in ihre Hand.
- "Meine Güte! Du hast mich erschreckt“, rief Marie. – "Wollen wir gleich weiter, oder magst Du einen Kaffee?" und sie rückte dicht an das Eisentischchen heran, während Carla sich rittlings auf einen freien Stuhl setzte und gleich auch wieder das Jo-Jo auf und ab schleuderte. Nach einigen Wirbeln steckte sie es schließlich in eine Tasche ihrer bunten, mit aufgenähten Flicken verzierten Jacke.
- "Wie Du siehst, komme ich von der Arbeit", sagte Carla und deutete auf die Rollschuhe, die sie trug. - "Was ist denn das", fragte Marie.
- "Du meinst die Flügel - sozusagen das Firmenzeichen. Die Agentur heißt 'Hermes'. Alle Boten tragen diese Flügel an den Skates." Sie zog ihren Rucksack ab, auf dem ebenfalls zwei goldene Engelsflügel prangten. - "Ich habe einen Frisbee dabei", sagte sie. - "Was hält uns dann noch hier", rief Marie, trank den Kaffee aus und warf den Becher mit einem gut gezielten Wurf in einen Müllbehälter.
Kurz hinter dem Eingang des Parks versammelten sich wie an jedem Tag viele Straßenartisten und Musikanten, um sich spielerisch ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Klarinetten versprühten gute Laune, zur Gitarre wurden die altbekannten, hoffnungsvollen oder protestierenden Lieder gesungen, die Marie nach einer Weile des Zuhörens jedoch immer deprimierten. Zwei schwarze Jungen, die nichts weiter als Shorts trugen, bemalten sich gegenseitig mit Leuchtfarben; ein Mädchen schluckte Feuer, ein anderes stand mit Schlittschuhen auf einem schmelzenden Eisblock und spielte Violine; ein Mann mit grün gefärbten Haaren schien auf einem Einrad jeden Augenblick am Rande eines Sturzes zu sein, fuhr aber dennoch immer weiter schaukelnd und mit den Armen rudernd seine Runden; jemand jonglierte mit Kugeln, während seine Partnerin neben ihm auf dem Boden hockte und eine Bongotrommel schlug, dabei ihren Kopf wiegend wie ein Elefant. Ein glatzköpfiger, magerer Mensch hämmerte mit dem Stumpf eines Besenstiels auf eine Schlagzeugapparatur ein, die aus dem Deckel eines Plastikmülleimers, einem Stück Autoreifen, einer halben ausgehöhlten Melonenschale und einer gesprungenen Blechdose bestand. Zwischenhinein johlte und schrie er einige schräge Töne oder Wortfetzen oder brüllte die Vorübergehenden an, beschimpfte sie in seiner hellen Trunkenheit.
Sie schauten ein wenig den Darbietungen zu und Carla erzählte Marie von ihren eigenen Erfahrungen als Straßenartistin, denn zeitweise war sie hier gemeinsam mit ihrem älteren Bruder aufgetreten - sie selbst war damals fast noch ein Kind. Ihre Pantomime war ein großer Erfolg gewesen. Ihr Bruder hatte sich als würdiger, älterer Herr verkleidet - mit angeklebtem Schnurrbart und im Frack; und sie war als das Mädchen, das sie war, erschienen. Jacques hatte mit einer Hand einen rosa Luftballon festgehalten, jedoch ohne dass es die Zuschauer bemerkten, denn er tat vielmehr so, als lasse sich der Ballon nicht von der Stelle bewegen, ja als ginge von ihm eine ständige Kraft aus - auch das starre Ruhen des Ballons war nur Schein, denn einmal wurde Jacques Arm in die Höhe gerissen, und daraufhin mühte er sich konzentriert und angestrengt, den Ballon wieder in die alte Position zurückzudrücken. Nachdem Jacques eine Weile so agiert hatte, rief er verschlagen grinsend Carla herbei und ließ sie den Ballon mit beiden Händen fassen. Dem Publikum bedeutete er, dass er die Kleine schon in den Wolken schweben sehe. Doch Carla schob den Ballon sogleich mühelos und seiner Natur gemäß hin und her und auf und ab, er tanzte auf ihrer Handfläche und schwebte sacht in die Höhe. Sobald sie aber Jacques den Ballon zurückgestupst hatte, gab dieser wieder die größte Anstrengung vor, das störrische Ding auch nur minimal zu bewegen, eine Illusion, die ihm vollkommen und zur Verblüffung der Zuschauer gelungen war. Beim anschließenden Applaus holte er Carla noch einmal herbei, wies mit pathetischer Geste auf sie und revanchierte sich jetzt, nachdem er zuvor von ihrer kindlichen Selbstverständlichkeit angeführt worden war, indem er ihr eine Hand auf den Bauch und eine in den Nacken legte, um sie wie eine Marionette zu einem mechanischen Bückling zu nötigen.
Sie waren weiter gegangen. Carla hatte ihre Rollschuhe im Rucksack verstaut und lief barfuss. Im Inneren des Parks kamen sie zu einer großen Rasenfläche.
Carla warf den Frisbee ziellos in den offenen Raum. Über dem dichten Laubkranz der Bäume, die die Wiese begrenzten, erhob sich im Umkreis die Stadt, die ferneren Bauwerke entrückt ins Wesenlose wie pastellene Theaterkulissen. Die Scheibe flog zwischen ihnen hin und her; die Umgebung erstarrte. Der Tag hauchte seine Spannung aus und schaute nur noch mit den trägen Augen eines satten Raubtiers ihrem Spiel zu. Rundum genossen die Stadtbewohner in den Anlagen die Spätnachmittagsstunde, die ihnen allen ihre im Lärmen des Tages verlorene Würde und Freiheit zurückzugeben schien. Carla fing die Scheibe mit lockerer Hand ab und ließ sie sogleich wieder aus einer Bewegung des Unterarmes davon sausen. Der weiße Kreis durchschnitt die Luft, die goldene Aufschrift blinkte im Sonnenlicht auf.
Marie schnappte zu, brachte einen flachen Wurf an; Carla rannte, ergriff noch knapp über dem Boden den Frisbee, hob triumphierend den Arm. Das gleichmäßige Schweben der Scheibe ließ Maries Gedanken in den Rhythmus der Bewegungen, das Verfolgen der Flugbahnen hineingleiten. Sie sprinteten, wechselten die Positionen, fingen im Sprung, versuchten Trickwürfe, bei denen der Frisbee abrupt stieg oder fiel, so dass der überraschte Fänger manchmal nur noch flink den Kopf einziehen konnte, um nicht getroffen zu werden. Gebannt von der Harmonie des Spiels bemerkten sie nicht, dass ein Gewitter heraufzog. Die Wolken quollen zu einem Gebirge empor, das seinen Schatten über den Garten legte. Während das düstere Grau des Himmels das Grün der mächtigen Baumkronen vertiefte, drangen vom Horizont her die Strahlen der tief stehenden Sonne unter die Wolkendecke und umgaben die Dinge mit einem bernsteinfarbenen Glühen.
Alle flohen vor dem nahen Unwetter. Sportgeräte wurden eingesammelt, Kinder hastig angekleidet, Bücher, Schreibhefte, Zeitschriften und Mappen zugeschlagen, Decken eingerollt, Schirme aufgespannt, dies alles begleitet von ängstlichen Blicken nach dem Himmel. Noch regnete es nicht.
- "Schau nur", rief Carla und beobachtete mit leuchtenden Augen die Veränderungen am Himmel und auf der Erde. Sie lachte über die Heftigkeit einer Windböe, die allerlei Papier und Abfälle über den Rasen fegte.
In der Nähe saß eine junge Frau unter einer einsam stehenden Eiche und stillte scheinbar unbesorgt ihr Kind. Als plötzlich im Einklang mit dem Wind, der bald zum Sturm anschwoll, der Regen herabprasste, zog die Mutter ihren weiten Pullover über den Säugling und trug ihn so geschützt durch den Regen zu einem Zirkuswagen. Dort verstauten die Schauspieler eines Laientheaters, das soeben noch auf einer inmitten der Wiese errichteten Bühne geprobt hatte, gerade ihre Requisiten unter einer Zeltplane. Ein junger Mann in Pluderhosen und mittelalterlichem Wams stand gelassen in einiger Entfernung des Wagens und lehnte, versonnen blickend, einen langen Stab gegen seine Schulter. Doch schließlich hüpfte auch er mit leichtfüßigen Sätzen zu den anderen Schauspielern zurück. Alle verschwanden in dem Wagen.
Der Gewittersturm brach los. Carla ergriff Maries Hand und sie rannten. Es war, als würden über ihnen riesige Metalltüren zugeschlagen und kilometerdicke Stoffe zerrissen. Äste flogen herab; tiefgrün wogte das Laub, geschüttelt vom Wind. Ein durchgegangenes Pferd preschte an ihnen vorbei. Bald danach sahen sie einen Polizisten, der Reitstiefel trug; ein Windstoß fegte ihm die Dienstmütze vom Kopf. Er ließ sie liegen und schrie Carla und Marie im Weiterrennen etwas Unverständliches zu. - "Ich habe keinen Elefanten gesehen", rief Carla ihm nach und hob die Mütze auf. Triefend vor Nässe erreichten sie dann die Treppen zur Metrostation. Die Sirene eines Krankenwagens echote im Regendunst über den Boulevard. In der Höhe schwanden die Konturen der Gebäude. Vereinzelt schritt noch jemand, den Schirm voraus gegen den Sturm an. Auf den Straßen glitten die Autos langsam durch riesige Wasserlachen. Die meisten Wagen hielten aber bereits am Fahrbahnrand, da die Scheibenwischer die Wasserflut nicht mehr bewältigen konnten. Jemand lag im Eingang eines Bekleidungsgeschäfts, seine Füße nackt, und war berauscht von irgendeiner Droge. Daneben hockte ein Clown, dem die Schminke im Gesicht verlaufen war und rüttelte an dem Körper. Das Mädchen, das auf einem Eisblock stehend Violine gespielt hatte, kam hinzu und versuchte gemeinsam mit dem Clown, den Trunkenen in das Geschäft hineinzuziehen. Doch ein uniformierter Portier verwehrte es ihnen.
Marie beobachtete die Szene und wollte eingreifen, doch Carla zog sie mit sich fort hinab in die Station, blieb aber plötzlich an einem Treppenabsatz stehen. Sie blickten über die wogende Schar der in den Untergrund geflohenen Menschen. Der erweiterte unterirdische Raum war von Fahrkartenschaltern und kleineren Läden gesäumt. Carla und Marie setzten sich in halber Höhe einer stehen gebliebenen Rolltreppe auf die Stufen. Carla hatte sich die Polizeimütze über ihr mit allerlei farbigen Spangen hochgestecktes Haar gestülpt. Sie nahm einen runzligen Apfel aus ihrer flickenbedeckten Jacke, biss fast die Hälfte davon ab und bot Marie den Rest an. Über die Köpfe der Menge hinweg leuchtete am anderen Ende der Halle eine Engelsgestalt aus Milchglas oder Kunststoff, die vor der Filiale eines Reisebüros zu Werbezwecken postiert worden war. Marie stellte erschrocken fest, dass das Tagebuch ihres Vaters, das sie in der Innentasche ihrer Jacke mit sich trug, nass geworden war. Sie ließ die Blätter über den Daumen gleiten; die Schrift hatte glücklicherweise nicht gelitten, nur der Einband. Carla überprüfte, ob in ihren Rucksack Wasser eingedrungen war und zog eine aufgeweichte Schokoladentafel hervor. - "Sieh Dir das an", sagte sie, "der Stein der Weisen - geschmolzen." Sie mussten beide lachen. Als sie schließlich in einer Untergrundbahn saßen, strich Marie noch immer mit den Fingern entlang der Blätter des Tagebuchs. Sie schaute aus dem Fenster und versuchte durch die Spiegelungen des Wageninneren zu dringen, um die vorbeifliegende Tunnelwand mit ihren Kabelsträngen zu erkennen.
- "Hast Du eine neue Spur", fragte Carla. - "Nein, ich warte. Vielleicht bringt Cawthra ja etwas aus London mit", sagte Marie. - "Lass uns doch einmal Piero besuchen", sagte Carla. - "Dann müssen wir jetzt umsteigen", rief Marie, denn die Bahn kam gerade in einer Station zum Halt.
Sie mussten noch zweimal die Richtung wechseln, bevor sie in dem Teil der Stadt waren, wo Piero in einer Anfang des Jahrhunderts erbauten Villa lebte. Inzwischen fuhr die Bahn über der Erde, sie befanden sich in der Peripherie. Am Himmel zog die Gewitterfront nach Osten weiter. Die Wolkenmassen ballten sich dort zu einem düsteren Turm zusammen, über den hin und wieder Blitze zuckten. Im Westen klarte es dagegen auf.
An einem menschenleeren Vorortbahnhof stiegen sie aus. Die nassen Straßen, die in einem kleinen baumbestandenen Platz vor dem Bahnhofsgebäude mündeten, glänzten im Zwielicht. Schwarze Tinte schien in der klaren Luft zu schwimmen. Von einer breiten Allee bog nach einigen hundert Metern eine mit Kopfsteinen gepflasterte Gasse ab, die leicht anstieg. Über die hohen Mauern der Gärten wuchsen Sträucher und buschige Kletterpflanzen hinaus; Baumkronen beschatteten den Weg. Bald kamen sie zu einem arabesk geschmiedeten eisernen Tor, das nur angelehnt war; einige Stufen aus Natursteinen führten sie zum Haus. Niemand öffnete auf ihr Läuten, das innen im Leeren verhallte. - "Lass uns vorne im Bistro warten", schlug Carla vor. Marie trat ein paar Schritte zurück, unter dem trüben Glasdach des Eingangs hervor, und betrachtete sich die Villa. - "Und hier lebt er allein", fragte sie.
- "Ja, seit sein Großvater vor drei Jahren gestorben ist", sagte Carla. Die Villa war aus roten Backsteinen gebaut, nicht aus dem hellen Sandstein, wie er in dieser Gegend üblich war. Die alten Bäume des Gartens schmiegten sich mit ihren Wipfeln an das Haus. Es regnete wieder ein wenig, aber still und wie in Fäden. Carla klatschte in die Hände und sprang unter dem Vordach hervor auf Marie zu und umfasste sie mit einem Arm. Beide drehten sich in einer Tanzbewegung im Kreis. Carla summte den Beginn eines bekannten Schlagers, und Arm in Arm liefen sie laut singend durch das Tor hinaus und die Gasse hinab zu einem Bistro an der Platanenallee.
"Nun erzähle mal", sagte Carla, als sie sich schon einige Zeit an dem Tischchen gegenüber saßen, jede an einem Milchkaffee nippend.
- "Ich flog zunächst nach Dublin", begann Marie, "da er und Goldberg ebenfalls ihre Reise dort begonnen hatten. Mit Zug, Bus und per Anhalter ging es weiter bis zur Westküste, in die Nähe der Klippen von Moher. Dort hatten sie gezeltet. Dafür war ich nicht ausgerüstet, also nahm ich mir ein Zimmer in einer Pension, ich glaube der Ort hieß Lisdoonvarna. Ich wanderte zu den Klippen, kam in einen Regenschauer und erkältete mich. Den Blick aus dem Fenster meines Zimmers in der Pension habe ich nicht vergessen, da ich nun drei Tage lang im Bett blieb und auf das helle Viereck starrte. Ich sah einen zierlichen Baum, dessen Laub im Wind bei Sonnenschein schillerte, und neben diesem Baum weideten ein Pferd und ein Esel, die den Rahmen meines Bildes manchmal verließen und wieder betraten. Die Leute der Pension sorgten sich rührend um mich. Die Frau brachte mir wunderbare Suppen ans Bett und an den Nachmittagen Tee und kleine, süße Brötchen mit Butter und Marmelade, die sogar einer Kranken Appetit machten. Ich fragte sie einmal auch nach meinem Vater; ob ihr jemand in der Umgebung bekannt sei, der meiner Beschreibung von ihm entspreche. Sie verneinte. Als ich ihr aber das einzige Foto zeigte, das ich von Vater besaß, huschte etwas über ihr Gesicht, ein Erkennen wäre zuviel gesagt, eine leise Andeutung, vielleicht auch eine Ähnlichkeit mit jemand, den sie vor sehr vielen Jahren geliebt hatte."
- "Geliebt?" fragte Carla.
- "Ja, dieser flüchtige Ausdruck ihres Gesichts, ihrer Augen sagten: Du gefällst mir. Sie sagte: Da war ihr Vater aber noch sehr jung und gab mir das Foto zurück. Das Bild wurde während der Europareise damals aufgenommen. Ich habe es hier." Marie zog die Fotografie zwischen den Blättern des Tagebuchs hervor, das vor ihr auf dem Tisch lag, und reichte es Carla. Carla betrachtete es mit etwas spöttischer Miene. - "Und es ist wirklich das einzige Bild, das Du von ihm kennst?" - "Ja, sagte Marie, "er hasste Fotografien. Mama glaubt, dass er die meisten von sich vernichtet hat. Sie selbst hatte gar kein Bild von ihm, dieses hier schickte mir seine ehemalige New Yorker Universität. Sie hatten es in seinem Arbeitszimmer nach seinem Verschwinden gefunden und aufbewahrt, um es für Publikationen verwenden zu können."
Carla betrachtete noch einmal die Schwarz-Weiß-Aufnahme. Sie zeigte ihn aus nächster Nähe. Der Kopf füllte die Bildfläche zu fast drei Vierteln. Der junge John Marr trug ein gestreiftes Matrosenshirt und um den Hals ein nach Cowboyart gebundenes Tuch. Offenbar hatte er sich seit mehreren Tagen nicht rasiert. Die Augen kniff er etwas zusammen, so als schaue er in ein helles Licht. Sie hätte sagen können, er sehe verwegen aus, doch Carla, die eines jeden Charakter sogleich zu durchschauen schien, bemerkte, dass bloß glückliche Umstände, Ferienlaune, die ureigene Schüchternheit und Einsamkeit dieses jedenfalls außergewöhnlichen Menschen verbargen.
- "Er sieht aus wie einer, dem die Mädchen in Scharen nachlaufen," sagte Carla, "doch ich wette, er war zu diesem Zeitpunkt, was das betrifft, noch eine ziemliche Unschuld."
- "Mag sein", sagte Marie überrascht, "ist das aber so wichtig?"
- "Nein", sagte Carla, "Entschuldige."
- "Sprich nur weiter", sagte Marie, "was fällt Dir noch an dem Foto auf?"
- "Ich glaube, es ist im Süden Europas aufgenommen worden. Das Licht auf der Mauer im Hintergrund ist Mittelmeerlicht."
- "Ja", sagte Marie, "und weiter?"
- "Nichts weiter", sagte Carla und gab Marie das Foto zurück, "du liegst also in einer Pension in Irland im Bett und bist krank..."
"Ich lese Dir jetzt eine Passage aus seinem Tagebuch vor", - Marie schlug das kleinformatige, aber dicke, zwischen stabilen Deckeln gebundene Heft auf und las: "Früh am Morgen - ein herrlicher Sonnentag kündigte sich an - bauten wir das Zelt auf der Wiese hinter der Dorfkneipe ab und verließen Doolin. Ich bestand darauf, dass wir uns bereits am Ortsausgang trennten, da für einen allein die Chancen größer seien, von einem Auto mitgenommen zu werden. Ben war davon nicht begeistert. Er wollte, dass wir zusammenblieben, doch ich ließ mich nicht umstimmen. Unser Ziel war zunächst Limerick. Dort wollten wir uns wieder treffen, um dann mit dem Zug weiter nach Killarney zu fahren. Ben wanderte also los, die Strecke bis Lisdoonvarna würden wir wahrscheinlich zu Fuß zurücklegen müssen. Ich blieb noch zurück und brach eine halbe Stunde später auf. Unterwegs auf der Landstraße begleitete mich eine Wegstrecke lang ein Farmer, mit dem ich ein schönes Gespräch über das Wetter hatte. Der Morgenwind strich über die Hecken und Wiesen, von denen einige am Vortag gemäht worden waren; die weiß getünchten Wände der kleinen Cottage-Häuser entlang der Straße leuchteten in der Sonne und bunte Blumen verzierten die Fenster. In Lisdoonvarna setzte ich mich an einer Kreuzung außerhalb des Dorfes ins Gras und wartete.
Lange Zeit kamen weder ein Auto noch ein Pferdefuhrwerk vorbei. Ich legte meinen Kopf gegen den Rucksack und schaute zum Himmel, wo der Wind die Federwolken zerpflückte. Endlich hörte ich ein Motorentuckern. Ein Lieferwagen näherte sich. Ich stand sofort und winkte. Zwei Männer saßen darin, offenbar Vater und Sohn. Sie nahmen mich mit bis Ennis. Während der Fahrt hatte ich ein schlechtes Gewissen wegen Ben. Womöglich steckte er noch in Lisdoonvarna, dachte ich. Er hatte keine Erfahrung im Trampen und war wahrscheinlich in das Ort hineingelaufen, statt am Ortsrand auf einen Wagen zu warten. Der unsinnige Gedanke kam mir, wir könnten uns völlig aus den Augen verlieren. Zum wiederholten Mal während dieser gemeinsamen Reise nahm ich mir vor, ihm alles zu gestehen - doch auch heute Abend, als wir wieder zusammen waren und erst spät eine Unterkunft fanden, gelang es mir nicht. Es kam mir einfach nicht über die Lippen." -
Marie blickte von den Zeilen auf und sah Carla in die Augen.
- "Es gibt noch einige Stellen dieser Art", sagte sie, "aber offenbar hat er es während der gesamten Reise nicht über sich gebracht, sein Geständnis oder was immer abzulegen. Immer wieder klagt er sich deshalb der Feigheit an."
- "Und Du hast keine Vorstellung, was er unbedingt loswerden wollte", fragte Carla. - "Nein," sagte Marie, "wüsste ich es, so wäre vielleicht alles klarer, alles, wo er ist, warum er verschwand."
- "Und wie ging es weiter?" - "In Vaters Geschichte oder in meiner eigenen?" - "In Deiner Geschichte," sagte Carla.
"Nun. Auch ich trampte nach Killarney. Sie hatten sich dort wohl entschlossen, ihre Reisepläne zu ändern, um schneller, als sie bisher geplant hatten, nach Südeuropa zu kommen. Zuvor wollten sie aber noch einen Freund in Edinburgh besuchen. Als sie mit der Fähre in Schottland ankamen, war es bereits spät am Nachmittag und sie wussten nicht, wo sie die Nacht verbringen sollten. Ein Nachtzug nach London lockte sie, aber sie entschieden sich doch, den Zug nach Glasgow zu nehmen, auf halber Strecke auszusteigen und irgendwo das Zelt aufzuschlagen." - Marie blätterte und las vor: "Langsam kroch die Bahn hinauf ins schottische Hochland. In der Dämmerung tauchte neben den Gleisen ein langmähnig-düsteres Rind auf, starr, erhobenes Haupt, einem Urtier ähnlich, eine dunkle Masse, bleiche, große Hörner, stand es unvermittelt da, glotzte aus unsichtbaren Augen. Wie einladend schimmerten in den Senken die warmen gelben Lichter aus den Fenstern der Farmhäuser. Es war fast dunkel, als wir in Ayr an der Westküste ausstiegen und uns gleich in die Felder schlugen. Es stürmte und wir hatten große Mühe, bis das Zelt stand. Zu Essen hatten wir nichts mehr. Da wir befürchteten, vom Besitzer des Ackers ertappt zu werden, wagten wir es nicht, das Zelt und unsere Sachen allein zu lassen, um noch einmal in die Stadt hinab zu gehen. Die Mulde am Feldrand bot ebenso wenig Schutz vor dem Sturm wie die Hecke, neben der wir lagerten. Wir krochen in unsere Schlafsäcke. Doch ich fror und konnte nicht einschlafen. Bis zum Morgengrauen flatterte das Zelt unter den nicht nachlassenden Windstößen. Ich nickte kurz ein, träumte wirr, erwachte fröstelnd, so ging es über Stunden. Ben schlief fest, fühlte sich offenbar behaglich wie in einem Vier-Sterne-Hotel. Er hat einen viel besseren Schlafsack als ich. Ich hasste ihn dafür, am unbehaglichsten aller Orte ruhig schlafen zu können. Meine Gedanken kreisten um alles, was geschehen war. Bisher hatte er mir nichts erzählt. Begreiflich, dass ich nicht in ihn drang. Auch er trug Unaussprechliches in sich. Das Schweigen würde unsere Freundschaft aber auf Dauer mehr belasten als die gegenseitig eingestandene Wahrheit. Meine Gedanken rutschten hinab wie auf einer schiefen Ebene. Mir war plötzlich klar, warum es ihm so leicht fiel unter diesen widrigen Umständen einzuschlafen. Einmal in der Nacht zwang mich meine Blase aufzustehen; nachdem ich mich draußen erleichtert hatte, sank ich neben dem Zelt auf die Knie nieder und starrte in die Dunkelheit. Zwischen den windgejagten Wolken blitzten einzelne Sterne. Dort, wo ich das Meer vermutete, war in der Ferne eine dunkle Masse auszumachen, die ich mir nicht erklären konnte. Das Rattern eines langsam durch die Nacht fahrenden Zuges war zu hören. Wieder im Zelt genoss ich für Minuten die trügerische Wärme meines Schlafsacks, die aber bald wieder verflog. Endlich wurde es hell. Ben erwachte und wir bauten das Zelt ab. Wir wanderten wieder hinab in die kleine Stadt. Fast alle Geschäfte und Lokale hatten noch geschlossen. Wir suchten lange, bis wir etwas fanden, wo wir wenigstens einen Tee trinken konnten. Danach kauften wir Toast, Butter und Marmelade, setzten uns an der Strandpromenade auf eine Bank und frühstückten. Der Sturm hatte eine grau-diesige Luft zurückgelassen; der Dunst dämpfte alle Konturen der Strandhäuser, der Klettergerüste auf einem Spielplatz. Der Nebel lag als milchiger Schleier über dem Meer. Nicht weit von der Küste entfernt, zeichnete sich aber darin ein mächtiger schwarzer Felsen ab, wie eine Vision, ein unzugänglicher Nistplatz für Seevögel. Wie der Felsen dort schemenhaft aufragte, schien er ein Überrest aus einer früheren, vormenschlichen Epoche der Erdgeschichte zu sein."
Marie schlug das Tagebuch zu, nippte an ihrem Milchkaffee und schaute in Carlas klares Gesicht mit den immer etwas geröteten Wangen und den olivgrünen Augen. - Carla sah es Marie an der Stirn an, dass sie über einige der soeben vorgelesenen Passagen seit langem nachdachte.
- "Hast Du Angst vor der Wahrheit", fragte sie.
- "Ich würde ihn gerne achten können", sagte Marie.
"Er scheint in seinem Leben das Gute und das Böse bis zum Grund ausgelotet zu haben", sagte Carla. - "Und Deine Mutter," fuhr sie fort, "weiß sie von diesen Andeutungen, diesem Geheimnis, weiß sie vielleicht sogar, welches Vergehen oder was immer er Goldberg gestehen möchte?"
- "Nein", sagte Marie, "er hat ihr meines Wissens nach nichts über die Freundschaft mit Goldberg erzählt; und das Tagebuch fiel ihr erst nach seinem Verschwinden in die Hände."
- "Wie verlief die Reise der beiden weiter?" fragte Carla.
"Zunächst einmal nach Edinburgh, wo sie in einem Villenvorort einen Freund besuchten, der dort seine Ferien verbrachte. Es folgten erholsame Tage, endlich schlugen sie sich wieder einmal den Bauch voll, schliefen in einem festen Bett, konnten duschen. Obwohl sie unangemeldet erschienen waren, wurden sie von der schottischen Gastfamilie ihres Freundes aufgenommen wie alte Bekannte und für alle vergangenen Strapazen entschädigt. Sie fühlten sich sofort wie zu Hause. Noch am Abend ihrer Ankunft nahmen die Töchter ihrer Gastgeber sie mit zu einer Strandparty. Vater hielt im Tagebuch fest, dass er etwas einsam abseits der anderen stand, die zu Gitarrenmusik am Lagerfeuer tanzten, und das Wunder des Nordlichts beobachtete, denn auf der anderen Seite der Bucht leuchtete ein heller Streifen am Horizont auch in der Nacht fort. Nicht nur die Nähe einiger attraktiver Mädchen, sondern auch eine Entzündung der Achillessehne, die er sich wohl bei einem Marsch in Irland zugezogen hatte und die nach der kalten Zeltnacht nun ausgebrochen war, bereitete ihm Sorgen. Drei Tage blieben sie offenbar bei der Familie, die er eingehend charakterisiert. Der Vater muss der Typ des zerstreuten Professors gewesen sein, ein Botaniker, der wochenlang auf der Suche nach seltenen Moosen und Flechten das schottische Hochland durchstreifen konnte, die Mutter war Grundschullehrerin, von der rau-herzlichen Art, im Kontrast und als gute Ergänzung zu ihrem Mann durch und durch praktisch gesinnt, die Töchter, beide in Oxford studierend, keine Schönheiten, aber Mädchen zum Pferdestehlen, wie Vater schreibt. Nach diesem Intermezzo brachte sie ein Nachtzug nach London. Am Morgen in London ging es gleich weiter nach Dover und über den Kanal, und am späten Abend waren sie in Paris, wo sie den Bahnhof wechselten und kurz nach Mitternacht Richtung Bordeaux weiterreisten. Der nächste Tag sieht sie in einem Nest zwischen Bordeaux und Biarritz, wo sie übermüdet von einer Nacht auf dem Gang des überfüllten Zuges, in einem Café sitzen und nicht wissen wie es weiter gehen soll: gleich nach Italien oder erst nach Portugal. Sie entscheiden sich für Portugal. Wieder eine Nacht im Zug und am Nachmittag des folgenden Tages schlafen sie auf einer Wiese in einem Madrider Park. Immerhin bleiben sie einen Tag in Madrid und schauen sich den Prado an. Schließlich erreichen sie Lissabon." Marie besann sich einen Augenblick, und Carla nutzte die Unterbrechung, um zum Telefon an der Bar zu gehen, denn sie wollte in der Agentur nachfragen, wann sie denn am nächsten Tag zum Dienst erscheinen solle. Jacques, der für die Organisation der Boten zuständig war, hielt sie auf; er breitete haarklein den Kummer, den er mit der diplomatischen, konfliktscheuen Indifferenz ihres Chefs hatte vor ihr aus und aus Gutmütigkeit hörte sie sich das alles zum erneuten Mal an. Inzwischen schaute Marie dem Aufklaren des Himmels zu und erinnerte sich an Lissabon, wo sie eines Nachmittags auf einer Mauer des Castello sitzt und die Stadt, das Strohmeer und die Tejomündung mit der großen Brücke vor ihr in der windigen, klaren Luft liegen. Das Licht gleißt und blitzt über den Dächern und die Farben leuchten. Sie lauscht dem Klang eines der seltsamen Blasinstrumente der australischen Ureinwohner, das ein junger Tourist in ihrer Nähe spielt. Ein Reisegefährte begleitet ihn dazu auf der Gitarre. Der Klang des krummen Horns vibriert über dem Stimmengewirr der anderen Touristen, die sich ausruhen, schauen, etwas essen oder trinken. Die Mitglieder einer italienischen Reisegruppe diskutieren aufgeregt - doch selbst ihr Palaver ist wie gedämpft vom Licht, von der Weite im Umkreis. Die wunderlichen Töne aus dem ausgehöhlten Holz und die Stille, die dort oben vom Treiben der mit allen Fernen verbundenen Stadt übrig geblieben ist, versetzen sie in eine träumerische Stimmung. Ein schwarzer Junge steht in ihrer Nähe, an die Brüstungsmauer gelehnt. Obwohl es ein warmer Frühlingstag ist, trägt er eine bunt gestreifte Woll-Pudelmütze auf dem Kopf; er hat die Arme auf der Brust verschränkt. Seine Kameraden - er gehört offenbar zu einer französischen Schulklasse - springen in der Festung umher. Der Junge sieht nachdenklich aus, doch nicht traurig. Irgendetwas fasziniert sie an seiner Erscheinung und Marie spricht ihn an, lehnt sich neben ihn, fragt ihn, woher er komme. Aus Marseille gibt er zur Antwort, also aus einer anderen Hafenstadt. Auf ihre Frage, ob sie nur Lissabon oder auch andere Gegenden von Portugal kennen lernen würden, antwortet er, sie seien bis gestern in Sagres gewesen und zuvor auch in Lagos. Sagres habe ihn sehr beeindruckt, vor allem ein Museum über "Heinrich den Seefahrer", der dort im 15. Jahrhundert eine Akademie für Forscher und Entdeckungsreisende gegründet habe. Stolz präsentiert er ihr sein frisches Wissen.
- "Hier, wollen Sie mal sehen", ruft er, setzt seinen Rucksack ab und kramt ein Buch heraus. Er habe es sich dort im Museum gekauft. Es sei ein Buch über Heinrich und die Schule von Sagres. Sie blättert ein wenig in dem kleinen Band, wobei der Junge mehrmals zwischen die Seiten greift, um sie auf diese und jene Abbildung aufmerksam zu machen. Als sie es schon zuklappt und ihm gerade wieder zurückreichen will, springt ihr der Name des Verfassers in die Augen, der ihr bisher nicht aufgefallen war, da er recht klein gedruckt über dem Titel steht.
Carla schüttelte ungläubig den Kopf, als ihr Marie diese Episode später erzählte. - "Doch, doch", sagte Marie, "der Name des Autors war John Marr."
- "Der Name ist nicht so selten, " sagte Carla.
"Das Buch war in einem Lissabonner Verlag erschienen, der heute nicht mehr existiert. Es war in englischer Sprache verfasst." - Marie schwieg einen Augenblick. - "Ich hatte eine Spur. Zum ersten Mal. Er hatte also nach seinem Verschwinden in Portugal gelebt. Ich weiß noch, dass ich sehr lange in einem schattigen Café hoch über den Dächern der Alfama saß und mir die Sache durch den Kopf gehen ließ. Ich schaute durch die Stäbe eines Geländers in die Ferne. Die Weite des Raums und die Monumente, die ihn waghalsig zu bewältigen suchten, erinnerten mich an Amerika: die über die Hafeneinfahrt gespannte Brücke oder die weiße Christusstatue auf den jenseitigen Hügeln. Ein altes Segelschiff, ein großer Dreimaster aus dem 19. Jahrhundert, lag im Hafen. Seine Takelage schien über den rotbraunen Dächern die Fernsehantennen fortzuspinnen. Dieses Panorama versetzte mich in eine andere Zeit, machte mich zur Hauptdarstellerin in einem Piraten- oder Abenteuerfilm. Die großen Wolkenschatten auf der in der Sonne tatsächlich strohfarbenen Bucht waren längliche, langsam treibende dunkle Formen, so als würde dort knapp unter der Wasserfläche eine Herde von Walen schwimmen. War er vielleicht gar noch in Lissabon; wäre er unter einem dieser unzähligen Dächer, in diesem gebauten Labyrinth der Jahrhunderte aufzuspüren? Am Abend des nächsten Tages war ich in Sagres", sagte Marie, schlug das Tagebuch auf und las eine weitere Passage vor:
"Der Bus, der uns hierher gebracht hat, hielt an einer Kreuzung etwas außerhalb von Sagres, dessen flache, weiße Häuser hinter uns lagen. Vor uns erstreckte sich ein baumloses Plateau, von einer schnurgeraden Straße und einem staubigen Weg durchschnitten. Nichts als Steine, hartes, trockenes Gras, Moose, Flechten, einige kahle, wie versteinerte Sträucher. Die Straße endete westwärts an einem Leuchtturm, wo das Plateau in steilen Klippen zum Meer hin abstürzt. Der Weg mündete in das Tor eines näher gelegenen, mächtigen Forts mit weißen Mauern und Ecktürmen. Das Kap hier galt in der Antike als der Ort, wo die Götter nachts von ihrer Arbeit und ihren Reisen ausruhen. Heiliges Vorgebirge nannten es die Griechen und Römer. Dort endete in ihren Augen die Welt. Weiter hinaus, hinter diesem undurchsichtigen Schleier, denn die immer starken Winde lassen meist einen Dunst entstehen, der den Horizont verhüllt, weiter hinaus, so dachten sie, stieß man auf den Rand der Erde, das Nichts, das jedes dorthin entsandte Schiff verschlingen würde."
- "Ich blieb einige Tage, " sagte Marie, "in der alten Festung befindet sich eine Jugendherberge, gleich nebenan ist das Museum. Dort saß ein Mann an der Kasse, der so alt wie das Jahrhundert sein mochte, und er hatte es nirgendwo sonst verbracht als in diesem äußersten Winkel Europas, dem Meer, dem Wind und dem Licht ausgesetzt. Vaters Buch, warte Carla, warte, Du wirst gleich erfahren, warum ich so sicher darin bin. Vaters Buch lag an der Kasse aus. Ich nahm ein Exemplar, blätterte darin und es entspann sich ein Gespräch mit dem Alten. Sein Englisch war erstaunlich gut. Von sich aus erwähnte er den Namen des Autors und sagte, nicht ohne Stolz, er sei mit ihm befreundet gewesen. Jener habe einige Jahre in Sagres gelebt, in einer Wohnung beim Leuchtturm, sei von Zeit zu Zeit nach Lissabon, Porto und Coimbra gefahren, um in den Bibliotheken dort zu arbeiten und habe sich sehr um den Ausbau des damals noch völlig bedeutungslosen Museums bemüht.
Da ich der einzige Besucher war, schloss der Alte die Tür, und wir setzten uns in einen Innenhof unter ein Orangenbäumchen.
'Mit Heinrich habe es begonnen,' sagte er, nachdem wir eine Weile gemeinsam der Stille des Hofes, in der nichts als das Rieseln eines kleinen Brunnens erklang, gelauscht hatten, 'der Drang nach Erkenntnis, diese abendländische Krankheit habe nach den Menschen unaufhaltsam die Erde selbst angegriffen.' - Die Akademie sollte die Eroberung der unbekannten Gegenden, für deren Existenz und Reichtum es inzwischen genügend Hinweise gab, vorbereiten. Von weither kamen die Wissenschaftler jener Zeit nach Sagres. Astronomen, Mathematiker. Philosophen, Geographen, Kartographen, Kapitäne und Schiffsbauer versammelten sich, um Heinrichs Vision zu dienen. Damals sei die Erde noch groß gewesen und die Wächter an den Grenzen der Königreiche hätten nicht gewusst, was hinter den unzugänglichen schneebedeckten Bergen lag. Wie weit seien allein die Strecken gewesen, die die Gelehrten zurückzulegen hatten, um bis nach Sagres zu kommen. Aus Paris, Köln, Florenz, Genua, Krakau, wo immer sie herstammten, ihre Anreise dauerte Wochen. Von Heinrichs Palast, dem Observatorium, den Forschungswerkstätten und Schiffswerften ist nichts mehr erhalten geblieben als eine aus Steinen gelegte Windrose. Zwischen deren Radien war ich am Morgen lange umhergegangen. Er habe mich dabei beobachtet, sagte der Museumswärter. Ich fragte ihn nach Marr, ob er wisse, wo dieser inzwischen lebe. Er verneinte und fuhr fort zu erzählen: Marr habe oft zu ihm gesagt, er wäre gern einer von Heinrichs Bande gewesen, Jacome de Mallorca etwa, der den Wal entdeckte. Den Wal, fragte ich verwundert. Jacome, dessen Vater den berühmten Katalanischen Atlas für König Karl V. von Frankreich angefertigt habe, sei eines Tages an einem der weiten Strände nördlich des Kaps spazieren gegangen, als er in der Ferne einen grauen Haufen oder Sandhügel erblickte, der sich zu bewegen schien. Ihn packte ein Grauen, aber seine Neugier war stärker und so näherte er sich vorsichtig. Was er dann vor sich sah, raubte ihm den Atem, ein gewaltiger Fisch, wie er niemals einen gesehen hatte, lag dort am Strand. Ja, er hatte wohl Seeleute von solchen Ungetümen berichten hören, es aber als Fabeln abgetan. Was da lag, war zweifellos noch lebendig. Es atmete, irgendwo an diesem Körper prustete es von entweichender Luft. Mehrere Male umkreiste Jacome das Tier und wollte sich gerade etwas näher heranwagen, als sich abrupt die Schwanzflosse erhob und klatschend auf den nassen Sand schlug. Da rannte Jacome, bis er keuchend in der Akademie ankam, um den anderen seinen Fund zu melden. Alles brach sofort auf. Sie ließen ihre Instrumente, Messgeräte, Schreibfedern, Karten, Manuskripte, womit sie auch immer beschäftigt waren, liegen und folgten Jacome. Von den Fischerhütten in der Nähe der Festung, wo man die wunderliche Prozession der Gelehrten, die das Plateau überquerte, beobachtete, schlossen sich ebenfalls noch Neugierige an. Die Kinder tollten in dichter Schar vor ihnen her. Heinrich, der beim Bau der Sternwarte gewesen war, blieb gelassen, machte dennoch aber einige seiner Soldaten zur Begleitung mobil. Als sich die Gesellschaft dann auf dem ebenen, winddurchmessenen Strand dem Ungeheuer näherte, bemerkte Jacome, dass es nun reglos dazuliegen schien. Das blasende Geräusch war verstummt. Der Wal war tot. Die Soldaten stießen den Kadaver mit ihren langen Lanzen an. Heinrich und Abraham Cresques, Jacomes Vater, wagten sich langsam bis zum Kopf des Fisches vor (sie wussten nicht, dass es streng genommen ja kein Fisch war).
Oberhalb des schiefen, im aufgewühlten Sand steckenden Mauls entdeckten sie ein Auge. Es glotzte, und Heinrich konnte sich lange nicht von seinem Anblick lösen. Es war ihm, als wolle ihm der Wal etwas mitteilen, doch er verstand nicht. Irritiert, ja voll Scham wandte er sich Abraham Cresques zu, der erschrak, als er Heinrichs bleiches Gesicht sah. Besorgt erkundigte er sich nach dem Befinden des Prinzen, verwies auf den nun stärker werdenden Gestank des Tieres als mögliche Ursache einer Übelkeit. In der Menge, die noch immer in einigem Abstand wartete, war das anfängliche Raunen einem unnatürlichen Schweigen gewichen; selbst die Kinder hockten im Sand und starrten mit ernsten Gesichtern auf den Koloss. Der Wind brauste und die Kämme der tosenden Brandung glänzten im Spätnachmittagslicht, weit entfernt von dem toten Tier. Plötzlich sprang einer von Heinrichs Kapitänen vor, bekannt als gottesfürchtiger Mann, der schon häufig die Pläne des Infanten als sündhaft und gotteslästerlich abgelehnt hatte und schrie etwas von einem Zeichen, alle seien nun gewarnt, was sie da draußen auf See erwarte. Er sei gewiss, dass es frevelhaft sei, zu weit hinaus zu fahren. Möglicherweise gebe es noch mehr bewohnbare Erde, doch dies hier sei ein Zeichen, sich zu bescheiden; die Wahrheit, sie sei nicht in fernen Ländern zu finden."
Carla sagte: "Er hat es aber ganz schön ausgeschmückt, der alte Mann." - "Er zitierte mir fast wörtlich eine Passage aus Vaters Buch, die ich seither immer wieder gelesen habe," sagte Marie, "Vater hat da wohl selbst eine alte Quelle, die er in Coimbra in einem Archiv entdeckt hatte, in eine anschauliche Geschichte verwandelt. Die Quelle berichtet von einem gestrandeten Wal bei Sagres zur Zeit von Heinrichs Regierung in der Provinz Algarve. Plötzlich aber unterbrach der Alte seine Erzählung und fragte mich, ob ich Marrs Tochter sei. Ich sah ihn an und nickte, und er sagte, der Klang meiner Stimme habe ihm das verraten. Da bemerkte ich erst, dass er blind war. Er hatte bisher eine Sonnenbrille getragen und sich wie ein Sehender bewegt. Nun setzte er die Brille ab. Mein Vater sei der ungewöhnlichste Mann gewesen, den er je kennen gelernt habe, aber auch der einsamste, sagte er. Er wünsche ihm, dass er von mir gefunden werde, fügte er noch hinzu, dann stand er auf und ging zurück in sein kleines Museum. Ich glaube, er wusste, warum Vater dieses Leben eines Verschollenen führt."
Carla blickte nach draußen und rief: "Da ist er ja!" - Marie sah ebenfalls hinaus und erkannte Piero, der auf der anderen Seite der Straße unter den Platanen über Pfützen springend entlang rannte.