Читать книгу Seelensplitter - Mitra Devi - Страница 5
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ОглавлениеVollmond. Mitternacht. Die Kirchturmuhr des falschen Gottes schlug zwölf. Vom Dorf her hörte sie die Glocken läuten, bronzene Klänge, die übers Feld wehten. Sie beleidigten ihr Ohr, waren für andere gedacht, nicht für sie. Niemals würde sie einem männlichen Wesen huldigen, sie verehrte die dunkle Göttin. Die Weise, die Grausame. Sie liebte und fürchtete sie. Brachte ihr Opfer. Tötete für sie.
Ein Ruck ging durch ihren Körper, als der letzte Schlag verhallt war. Sie löste sich aus der Starre. Einen Augenblick reflektierte die Fensterscheibe ihre Gestalt. Ihre wirren, langen Haare verdeckten die Hälfte des Gesichts. Sie wirkte um Jahre älter als siebenundzwanzig, das wusste sie. Doch Äusserlichkeiten hatten für sie noch nie eine Rolle gespielt. Ihre Seele war uralt, abgrundtief, nur noch spinnwebendünn mit ihrem Leib verbunden und würde sich bald von ihrer fleischlichen Hülle lösen. Die Dämonen, die seit ihrer Kindheit nach ihr gierten, würden bald ins Leere greifen.
Sie öffnete das Fenster, liess ihren Blick über den Garten schweifen. Das fahle Licht erhellte die Beete, die die Form von Gräbern hatten. Die Salatköpfe waren bedeckt mit Tausenden von Tautropfen, in denen sich der Mond spiegelte. Drumherum ragten die Holzzacken des Zauns wie Zähne eines riesigen Krokodils in den nächtlichen Himmel.
Sie wandte sich ab und schritt mit bauschendem Rock durch den Korridor. Heute würde sie die Ernte verarbeiten, Wein und Gift zu einem tödlichen Trunk mischen. Ein böser Mensch musste sterben. Noch ein letztes Mal sollte er im Feuertanz zucken, bevor die allmächtige Mutter ihn mit Haut und Haar verschlänge. Zurück in die Erde mit seinem schändlichen Körper! Zurück in den Boden, wo Würmer, Käfer und anderes Getier darauf warteten, seine Überreste zu zersetzen. Wo seine Gedärme faulten und rotteten, bis sie sich in ihre Bestandteile auflösten, wieder zu Staub wurden, und neues Leben daraus entstand. Der ewige Kreislauf der Natur.
Ihre Lippen zuckten, die Rache loderte in ihr. Es war richtig, was sie tat, es war der einzige Weg zum Frieden. Die Stimmen in ihrem Kopf würden endlich zum Schweigen gebracht werden.
Als sie in den Dachstock emporstieg, knarrten die Stufen. In der Hand trug sie eine brennende schwarze Kerze. Kein elektrisches Licht durfte in dieser geweihten Nacht leuchten, ihre todbringenden Geschöpfe reagierten empfindlich auf Helligkeit. Sie öffnete die Tür, trat in den abgeschrägten Raum. Staubfusseln wirbelten auf. Der Mond schien bleich durch die Dachfenster. Die mit Leintüchern abgedeckten Möbel ihrer Grossmutter warfen bizarre Schatten an die Wände. Es roch nach Holz und altem Stoff.
Quer durch den Estrich des Bauernhauses war eine Schnur gespannt. Daran hingen sie, die Zauberkräftigen. Sie hatte die Wurzeln im Herbst ausgegraben und zum Trocknen an der Leine befestigt. In Reih und Glied, wie eine Armee verhutzelter Gnome, warteten sie darauf, zum Einsatz zu kommen. Galgenmännlein hatten die kräuterkundigen Frauen im Mittelalter die Pflanzen genannt, Henkerswurz, Folterknechtund Drachenpuppe.
Die magische Alraune.
Ihre Kräfte konnten Wundbrand lindern, Rheuma kurieren und Unfruchtbarkeit heilen. Ihre Beeren, eingenommen mit Zimt und Wachholderschnaps, liessen einem Flügel wachsen, mit denen man über die Äcker fliegen und die Wolkendecke durchstossen konnte. Sie machte reich und glücklich, die Alraune, steigerte die Lust und den Rausch, liess Weichteile anschwellen und Körpersäfte pulsieren, auf dass sich die heissen Leiber im rituellen Tanz vereinigten.
Aber die Pflanze war auch erbarmungslos. Schon immer hatte ihre menschenähnliche Form Angst und Schrecken verbreitet. Pflückte man sie ohne Respekt, blies sie einem den Hauch des Todes ins Gesicht, bestrafte die Frevler mit Albträumen, Herzrasen und Irrsinn. Sie, die hier stand, wusste das. Sie behandelte ihre magischen Freunde mit gebührender Ehrfurcht. Vor einigen Vollmonden hatte sie sie geerntet. Zwischen Mitternacht und ein Uhr morgens. Mit abgewandtem Blick hatte sie in der Erde gegraben und auf den grauenhaften Schrei des Pflanzengeistes gewartet, der einen zu Stein erstarren liess, doch er war ausgeblieben. Die Alraunen vertrauten ihr. Willig liessen sie sich aus dem Boden ziehen und raunten ihr zu: «Deine Stunde ist gekommen. Tu es, Kind der dunklen Göttin, tu es!»
Sie stellte die Kerze auf den Boden. Vorsichtig löste sie dreizehn Galgenmännlein mit verschrumpelten Beinchen und Ärmchen von der Schnur. Dann raffte sie den Rock, legte die Wurzeln hinein und stieg die Treppe hinunter. In der Küche entzündete sie weitere Kerzen und stellte sie im Halbkreis auf den Tisch. Das Messer lag bereit. Rotwein, Vanilleschoten, Zucker und eine Prise Safran hatte sie daneben plaziert. Sie schüttete den Inhalt der Flasche in eine Schale und gab die Gewürze dazu. Dann schnitt sie die Alraunen in dünne Scheiben. Sie rochen wild und feurig. Die Stückchen schaufelte sie in die Flüssigkeit und vermischte sie. Mit dem Mörser zerquetschte sie alles zu einem bräunlichen Brei, drückte das Gift in den Wein, der es in sich aufnahm.
Jetzt brauchte der Trank Zeit, um seine volle Wirksamkeit zu erreichen. Er musste ziehen und sich entwickeln. In ein paar Tagen war er so weit. Dann würde sie die dicke Masse absieben, den Saft in ein Fläschchen füllen, es zustöpseln und nach Zürich bringen. Und der Mann würde das Gebräu trinken, würde von dieser Welt gefegt werden, nicht wissend, wie ihm geschieht.
Ihr Mund verzog sich zu einem schiefen Lächeln. Sie hörte ein Krächzen aus ihrer Kehle kommen und wusste nicht, ob es Gelächter oder Weinen war. Die Dämonen griffen wieder nach ihr, wisperten hässliche Worte. Sie sah ihre lidlosen Augen mit den roten Pupillen, fühlte die knochigen Finger, die sie würgten und ihr den Atem nahmen. Während ihr die Tränen über die Wangen liefen, breitete sie die Arme aus, die wuchsen und wuchtiger wurden, als wären sie Raubvogelschwingen, die sich bis zum Ende des Firmaments erstreckten. «Ich bin Alruna», flüsterte sie, «Tochter der Finsternis. Alruna, Rächerin der Blutzeugen. »
Jan Berger wischte sich den Schweiss vom Gesicht. «Ich kann nicht mehr», stöhnte er.
«Du hast dein Soll noch nicht erfüllt. » Nora Tabani warf ihm einen aufmunternden Blick zu, was ihr etwas schwer fiel, da sie sich gerade die Lunge aus dem Leib strampelte. Auf der zweithöchsten Stufe des Fitnessclub-Velos zu radeln, war eine Plackerei. Und dabei bewegte man sich keinen Zentimeter vom Fleck. Psychologisch ganz schlecht. Aber sie musste mit gutem Vorbild vorangehen, immerhin war er mitgekommen. Lange genug hatte sie ihm in den Ohren gelegen, etwas für seine Figur zu tun. In den letzten Wochen hatte er vier Kilo zugenommen und sich immer wieder argwöhnisch von der Seite im Spiegel betrachtet. Aus seinem netten Bäuchlein drohte ein üppiges zu werden. Seine ganzkörperliche Verliebtheit verleite ihn dazu, mehr zu essen, behauptete er. Es musste ihn heftig erwischt haben.
«Wie lange noch?», keuchte Jan und trat etwas verhaltener in die Pedale.
Nora hatte gemerkt, dass er jedesmal einen Zacken zulegte, wenn sie ihn beobachtete, um gleich wieder zu verlangsamen, sobald sie zur Aerobic-Lehrerin auf dem Bildschirm schaute. Die Dame in glänzendem Pink im Sportsender schien über unerschöpfliche Kräfte zu verfügen, tanzte, sprang und hüpfte im Takt und schaffte es dabei, ein immerwährendes Lächeln auf ihren aufgespritzten Lippen zur Schau zu tragen. Und das Ganze in mannigfacher Ausführung. Acht Fernseher hingen nebeneinander vor den Ausdauergeräten an der Wand, auf jedem trieb die Unermüdliche ihr Unwesen und motivierte ihre Schäfchen zu Höchstleistungen.
«Noch zehn Minuten», sagte Nora mitleidlos. «Deine Monika möchte dich rank und schlank. »
«Meine Monika liebt mich, wie ich bin. »
«Sei etwas dankbarer. Keine andere Vorgesetzte lässt ihre Angestellten während der Arbeitszeit Fitness betreiben. »
Jan grinste zu ihr hinüber. «Ich dachte, du wolltest nicht, dass ich dich Chef nenne. Du sagst, wir seien ein Team, gleichberechtigt und souverän, und niemals im Leben würdest du den Macker raushängen. »
«Okay, dieser Punkt geht an dich. Aber vergiss nicht: mens sana in corpore sano. » Sie wollte mahnend den Zeigefinger hochhalten, was sie um ein Haar aus dem Gleichgewicht gebracht hätte. Bevor sie Richtung Lady in Pink stürzte, konnte sie sich an den Griffen festhalten.
«Verlier die Balance nicht, Chef. Ich lebe nach Churchills Motto. Du weisst schon: Sport ist Mord. »
Nora verdrehte theatralisch die Augen. Dann stellte sie den Schweregrad für die letzten Minuten aufs Maximum und gab, was sie konnte. Neben ihnen waren um diese Zeit nur wenige Leute im Fitnessstudio. Dienstagmorgen, kurz nach neun. Yvonne vom Empfang und Mädchen für alles tippte etwas in ihren Computer. Ein paar Frauen machten Yoga auf den Matten, ein Instruktor erklärte einem Neuling die verschiedenen Geräte und Gewichte, eine Handvoll regelmässiger Besucher absolvierte still die Übungen. Neben Nora radelte ein solariumgebräuntes, hageres Männchen, dessen Verfalldatum bereits seit einigen Jahren abgelaufen war, vor sich hin. Immer wieder blinzelte er zu ihr hinüber, da er wohl gemerkt hatte, dass sie und Jan kein Paar waren.
«Lass uns aufhören, Schatz», sagte Nora genüsslich laut zu Jan. Dieser zog verwundert eine Augenbraue hoch. Der alternde Geck zuckte zusammen und wandte sich einer anderen Frau zu.
Als sie das Training auf den Fahrrädern absolviert hatten, kamen die Kraftübungen an die Reihe. Bizeps, Trizeps, Bauch und Beine, dann Dehnen, dann Duschen. Nachdem Nora sich angezogen hatte, brachte sie ihre Haare in Form, wozu zwei, drei Rubbelbewegungen durch ihren dichten, kurzen Schopf genügten. Unter ihren gebleichten Strähnen war der dunkle Haaransatz zu sehen. Die ganze Bleichaktion war ein Reinfall gewesen. Blond passte nicht zu ihr. Und das angespannte Verhältnis zu Gaby, der Coiffeuse im unteren Stock, das Nora versucht hatte, mit der Opferung ihrer ursprünglichen Haarfarbe zu verbessern, war schlecht wie eh und je. Gaby war Kettenraucherin, ihre Kundinnen waren es auch. Der Zigarettengestank zog durchs Treppenhaus an der Seefeldstrasse, machte alle Bewohner verrückt und verpestete Noras Mansarde im Dachgeschoss und ihre Büroräume im ersten Stock.
Noras Arbeit als freie Detektivin lief nach anfänglichen Schwierigkeiten inzwischen recht gut. Die Aufträge trafen nicht gerade im Rudel ein, doch nebst kleineren Überwachungen und Abklärungen hatte sie in letzter Zeit zwei grosse Fälle gelöst. Was für die Miete, Jans Lohn und ein Olivenbäumchen beim Eingang gereicht hatte. Jan war ein echter Lichtblick.
Seit bald einem Jahr arbeiteten sie schon zusammen, und er schaffte es immer wieder, sie zu überraschen. In ihm steckte viel mehr, als auf Anhieb erkennbar war. Vielleicht sogar mehr, als er selber ahnte.
Nora packte ihre Sporttasche und trat aus der Garderobe. Ihr Kollege sass bereits an der Bar und schwatzte mit Yvonne. Nora setzte sich zu ihm und bestellte einen frisch gepressten Orangensaft, wie er einen vor sich stehen hatte.
«Na», bemerkte sie, «das hat doch einmal mehr so richtig gut –»
«Sag jetzt nichts», gab er zurück. «Du hast ja Recht. Ich werde weiterhin Fitness treiben, auch wenn es mein Gemüt angreift. »
«Das hört man gern. » Sie nahm einen Schluck Saft und sah ihn eindringlich an. «Und was wolltest du mir wirklich mitteilen?»
«Wie meinst du das?» Er begann, seine Brille mit dem Ärmel zu putzen.
«Komm schon. Seit ein paar Tagen druckst du herum, und ich hab keine Ahnung, was es sein könnte. »
«He, Chef! Intuition war immer mein Gebiet, fang nicht auch noch damit an. »
«Also?»
«Nun gut. » Er setzte die Brille wieder auf. «Ich wollte dich um zwei Wochen Ferien bitten. Im Mai. »
«Verreist du?»
Er machte eine bedauernde Handbewegung. «Es tut mir leid. Ich weiss, wir hatten vor, unsere Homepage zu aktualisieren, die neuen Visitenkarten und Briefumschläge drucken zu lassen und all das. »
«Kein Problem!», sagte sie. «Damit komm ich auch allein klar. Das heisst, ich werd’s vor mir herschieben, bis du zurück bist. Wohin fährst du denn?»
Er strich sein spärliches Haar zur Seite und schaute sie so herzerwärmend an, dass sie verstand, was Monika an ihm fand. «In die Flitterwochen nach Madeira. Ich heirate. »
«Was, jetzt? Ich meine, wann? Warum so schnell?»
«Nora! Ich hab gedacht, du freust dich für mich. »
«Natürlich freu ich mich. Ich dachte nur, ihr kennt euch erst fünf Monate –»
«Vier. »
«Na eben. Ist das nicht ein bisschen überstürzt?»
Jan seufzte. «Ich bin neununddreissig. Monika wird im August vierzig. Wir wollten einfach noch in den Dreissigern heiraten. Verstehst du das nicht?»
«Doch, klar, Jan. Ich gönne es dir von Herzen, dass du einen Menschen hast, mit dem du den Rest deines Lebens verbringen möchtest. » Oh, Gott, klang das pathetisch. Während sie es sagte, dachte sie an ihre Männergeschichten, die nichts anderes gewesen waren als genau das: Geschichten. Ein paar kurze, heftige Affären und eine längere Beziehung mit Joël aus Genf, der sich als Enttäuschung des Jahrzehnts herausgestellt hatte.
«Hallo? Jemand zu Hause?» Jan wedelte vor ihren Augen herum. «Vertreib Joël aus deinem Hirn. Ein Kerl, der dir seine Frau und Kinder verschwiegen hat, wäre eh nichts für dich gewesen. »
«Scheisse, hab ich laut geredet?»
Jan lachte. «Echt, Nora, manchmal bist du so was von durchschaubar. Bekomme ich nun die zwei Wochen im Mai?»
«Aber sicher. » Sie schüttelte die Vergangenheit ab und stürzte den letzten Rest Saft hinunter. «Trink deine Vitaminbombe aus, ein Stapel Arbeit wartet auf uns. »
«Aye, aye, Chef. »