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Die Dachterrasse der Lagerhausfirma «Store & Go» neben dem Bahnhof Zürich-Altstetten war mit bunten Lampions dekoriert. Rote, blaue und gelbe Papierkugeln, die in die Nacht hinausleuchteten. Eine Riesengirlande hing am Geländer. Mit Goldbuchstaben waren die Worte «20 Jahre Store & Go» darauf geschrieben. Sarah Dobler brachte die Bowle heraus und plazierte sie mitten auf den Tisch. Daneben drapierte sie die Lachshäppchen, Schinkentriangoli und die Guacamole. Den Wein und die passenden Gläser stellte sie in versetzte Reihen, wie sie es kürzlich bei einer Vernissage gesehen hatte. Zum Schluss streute sie ein paar Rosenblätter auf die weissen Tischdecken, was dem Ganzen eine romantische Note verlieh. Roland und Tim würden sie zwar wieder auslachen, aber schliesslich hatte ihr Kowalski freie Hand gelassen. Ausnahmsweise hatte er sich diesmal grosszügig gezeigt, so dass sie bei den Delikatessen nicht geizen musste.

Sie trug ihre smaragdgrüne Bluse und hatte die Haare wie immer hochgesteckt. Ihr Make-up war dezent. Als einziger Schmuck schimmerte ein perlmuttfarbener Stein an ihrem Finger. Sie hatte damals für den Ring auf einem griechischen Markt nur ein paar Euro bezahlt, doch er war zu ihrem Lieblingsstück geworden.

Seit dem frühen Morgen hatte sie daran gearbeitet, aus dem heutigen Jubiläum einen ganz besonderen Tag zu machen. Das Wetter war für einen Frühlingsabend viel zu warm, so dass sie die Party draussen feiern konnten. Dennoch sorgten mehrere tragbare Elektroöfen in allen vier Ecken der Terrasse dafür, dass auch später niemandem kalt würde. Es war sternenklar. Obwohl die erleuchteten Häuser der Umgebung den Himmel erhellten, konnte Sarah den Grossen Wagen erkennen.

Selten hatte sie Gelegenheit, ihre kreativen Ideen in ihre Arbeit einfliessen zu lassen. Wenn es einmal möglich war wie heute, genoss sie das sehr. Es war zwar nicht wirklich die Aufgabe einer Chefsekretärin, ein Buffet anzurichten, doch sie hatte sich auf die Abwechslung gefreut. Sie arbeitete seit fünf Jahren für «Store & Go». Kowalski wusste, dass er sich auf sie verlassen konnte. Sie war exakt, gewissenhaft und pflichtbewusst. Was nicht gerade sexy auf Männer wirkte, das war ihr klar, doch in einem so grossen Unternehmen waren ihre Fähigkeiten gefragt. Gleich von Anfang an hatte Kowalski ihr viel Verantwortung übergeben, froh, dass er sie nicht selber tragen musste. Gegen aussen spielte er den autoritären Boss, doch Sarah hatte mehr als einmal seine Unsicherheit gesehen. Schon oft war es ihr gelungen, Spannungen im Team, die er mit seiner ruppigen Art verursacht hatte, mit Diplomatie zu lösen.

«Mensch, Mädchen, du hast dir ja wieder Mühe gegeben!», rief Roland Wehr von der Terrassentür her.

Sie hätte schwören können, dass er als Erster auftauchte. Gleich würde er sich wie ein vorwitziger Junge am Buffet bedienen. «Noch nicht!», bat sie und ging auf ihn zu, so dass er seine Finger, die bereits nach den Chips gegriffen hatten, wieder zurückzog.

«Geht klar», sagte er lächelnd, «ich soll die schöne Ordnung nicht kaputtmachen. Sorry. » Er schaute sie mit seinen Hundeaugen an, eine blonde Locke hing ihm in die Stirn. Er trug einen weissen, lockeren Anzug und wirkte darin wie ein kalifornischer Beach Boy. Sie wollte nicht, dass er einmal mehr bemerkte, wie sehr er ihr gefiel, und begann etwas verkrampft, die Servietten rechtwinklig zur Tischkante zu stapeln. Natürlich ahnte er längst, was sie für ihn empfand. Er schien es zu geniessen, machte ihr zwar nie Hoffnungen, wies sie aber auch nicht ab.

«Nur nicht so steif, Sarah», meinte er, «das wird ein prächtiger Abend. Du hast das wirklich toll hingekriegt. Ausser… » Er nahm die Hände aus seinen Hosentaschen und zeigte neckisch zur Dekoration hinüber.

«Ich weiss», seufzte sie, «die Rosenblätter. »

«Die Rosenblätter, du sagst es. Das ist das Letzte, was zu unserer Firma passt. Rosendornen – ja. Oder besser noch Distelstacheln. Oder Kakteen. Aber Rosenblätter? Das, liebe Sarah, ist reinstes Wunschdenken. »

Sie wehrte ab. «So schlimm ist es nicht. Kowalski hat sich gebessert. Kürzlich hat er sogar –»

«Ach was, der wird immer ärger! Du bist viel zu nachsichtig. Ich könnte dir auf Anhieb zehn Leute aufzählen, die ihn liebend gern um die Ecke bringen würden. Mich inklusive. » Er grinste sie spitzbübisch an, konnte es nicht lassen, sich eine Olive zu schnappen, dann flüsterte er: «Achtung, wenn man vom Teufel spricht … »

Maximilian Kowalski betrat mit forschem Schritt die Terrasse. Mit bald sechzig verfügte er über eine Energie, die ihresgleichen suchte. Seinen massigen Oberkörper hatte er in einen zu engen Zweireiher gezwängt, was auf einige bestimmt ungewohnt wirkte, die ihn nur hemdsärmelig kannten.

In seinem Schlepptau folgte Cedric Stark in perfekt sitzender Kleidung und glänzenden Lederschuhen. Aufmerksam huschten seine Augen von einem zum anderen, verschafften sich in Sekundenschnelle einen Überblick. Stark wartete schon lange darauf, Kowalskis Job zu übernehmen. Doch dieser dachte nicht im Traum daran, sich zur Ruhe zu setzen. Cedric Stark war geduldig wie eine Zecke, die ohne Nahrung auf einem dürren Ast ausharrt, um sich im richtigen Moment auf ihr Opfer zu stürzen. Sarah fürchtete seine scharfe Zunge, seinen Sarkasmus und seine Fähigkeit, andere mit einem einzigen Wort kleinzumachen.

Hinter ihm ging Tim Stalder, der mit Claudia Campanini in ein Gespräch vertieft war. Sie kicherte etwas schrill und wackelte dabei mit dem Kopf, so dass ihre Ohrringe – zwei grosse schillernde Delphine – hin- und herschaukelten. Wie immer war sie gewagt gekleidet, ihr Ausschnitt war tief, ihre mehrfarbige Halskette zog den Blick unwillkürlich auf ihren Busen. Tim schien ihr etwas zu erklären, dann entdeckte er Sarah und nickte ihr freundlich zu.

Die anderen Mitarbeiter der Administration und aus den Lagerhallen folgten ihnen, dann das Reinigungspersonal. Am Schluss traten die Transportleute auf die Terrasse. Es waren hauptsächlich Türken, Albaner und Serben. Zum Team gehörte auch Chandra, ein Tamile, der so feingliedrig war, dass Sarah sich immer wunderte, wie er all die Lasten schleppen konnte, aber er schien keine Mühe damit zu haben. Die anderen waren kräftige Männer, die sich in ihren Arbeitsoveralls sichtlich wohler fühlten als in den Anzügen, die sie jetzt trugen. Mehmet schaute missbilligend auf die Schinkenstückchen, dann hellte sich sein Blick auf, als er den Lachs entdeckte. Er lächelte Sarah augenzwinkernd zu, sie hatte ihm versprochen, nicht allzu viel «Schweinisches» aufzutischen, wie er es nannte.

Sarah zählte schnell nach. Es waren alle gekommen: Zweiunddreissig Personen, darunter sechs Frauen. Anders als in anderen Firmen, in denen sich die weiblichen Angestellten, wenn sie in der Unterzahl waren, mit Vehemenz Gehör verschaffen mussten, wurden sie bei «Store & Go» ebenbürtig behandelt. Kowalski bestand auf gleichem Lohn für gleiche Arbeit. In Norddeutschland, wo er aufgewachsen war, habe es dieses ganze «Frau-Mann-Zeug» nicht gegeben, behauptete er, da wurde gearbeitet, man war genügsam und zufrieden mit dem, was man hatte.

Tim gesellte sich zu Sarah. «Schön hast du’s hergerichtet, wie immer. Sogar Rosenblätter … »

«Ich wusste, dass du dich darüber lustig machen würdest. »

«Mach ich doch gar nicht. » Tim nahm ein Blütenblatt und schnupperte daran. «Sie duften wunderbar. Aber du wirfst Perlen vor die Säue, Sarah. Irgendwann wird er dich ohne Skrupel rausschmeissen und eine andere Sekretärin suchen. »

«Warum sollte er? Ich mache meine Arbeit gut. »

«Das wird dir irgendwann nichts mehr nützen. Bis jetzt hat er noch keine so lange behalten wie dich. Sieben Chefsekretärinnen in zwanzig Jahren. Das ist ein echter Verschleiss. »

«Irgendwie versteh ich das nicht», murmelte sie.

«Nicht?» Tim schien überrascht. «Das ist doch glasklar. Er will Frischfleisch. Hast du denn nie bemerkt, wie er euch anstarrt?»

«Ruth nicht. »

«Ruth ist ihm zu alt, logisch. Aber Claudia und dich. Das fällt sogar mir als Mann auf. Ich hoffe, er ist nie zudringlich geworden. » Er schaute sie mit einem besorgten Ausdruck an.

Sarah hatte von Anfang an gespürt, dass Tim völlig in Ordnung war. Ein integrer Mann, der tat, was er sagte. «Mach dir keine Gedanken. Ich ignoriere solche Dinge. »

«Und falls doch. Du weisst, du kannst dich an mich wenden. »

«Ich weiss. Danke. Aber es ist nicht nötig. »

Tim schien es ihr nicht ganz zu glauben, sagte aber nichts mehr. Er schaute zu Kowalski hinüber, der gerade seine Angestellten im Halbkreis um sich scharte und zu einer Ansprache ansetzte. Augenblicklich verstummten die Gespräche ringsum.

«Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter», begann er in astreinem Hochdeutsch, «ich möchte Sie heute am 1. April – und das ist kein Scherz! – alle ganz herzlich zu unserem 20-Jahr-Jubiläum begrüssen. ‹Store & Go› wurde von mir, wie Sie wissen, als kleine Firma buchstäblich aus dem Dreck gezogen. Inzwischen ist sie eine der bedeutendsten Lager- und Transportunternehmen der Stadt. » Er schaute in die Runde, dann zeigte er mit dem Finger auf Gerhard Furrer. «Sie!»

«Ja?» Gerhard schien überrumpelt.

«Sie gehörten zu den Ersten, die damals durch diese Tore gingen. Erzählen Sie, was sich in all den Jahren verändert hat. » Kowalski nickte ihm auffordernd zu.

«Ähm… »

«Na los, machen Sie schon! Als Sie hier anfingen, waren wir noch zu dritt. Mickrige Räume, harte Arbeitsbedingungen. Sie erinnern sich. Dann die ganze Umstellung auf Digital und Computer. Die neuen Sicherheitsschlösser in den Lagerhallen. Die besseren Hygienemassnahmen. Der Umbau. Vor vier Jahren der Artikel in der NZZ, der einen wahren Ansturm von Mietern nach sich zog. »

«Genau», murmelte Gerhard.

«Danke, Furrer. Sie sehen also», Kowalski liess seinen Blick in die Runde schweifen, schien zufrieden mit der Aufmerksamkeit, die ihm entgegengebracht wurde, und fuhr fort: «Sie sehen also, es lohnt sich, für ‹Store & Go› zu arbeiten. Den ersten Interessenten, die damals Lagerräume bei uns mieteten, standen ganze neun Kubikmeter zur Verfügung. Heute bieten wir ihnen Kleinsträume von sechs bis zu Lagerhallen von sechshundert Kubikmetern zur Auswahl. »

«Das wissen wir doch alles», flüsterte Roland entnervt in Sarahs Richtung. «Bis der fertig ist, verschimmeln die Lachsbrötchen. »

«Nebst Möbeln», fuhr Kowalski fort, «lagern unsere Kunden Kleider, Ordner, Sportartikel, ganze Wohnungseinrichtungen und Restposten von Geschäftsauflösungen bei ‹Store & Go›. Manchmal nur wenige Tage, manchmal über Jahre. Und das für sage und schreibe … » Er schaute erwartungsvoll auf die Anwesenden und hob seine Arme wie ein Dirigent in die Höhe. «Nun, meine Damen und Herren?»

Alle murmelten: «Zwölf Franken pro Kubikmeter!»

«Korrekt!» Kowalski strahlte übers ganze Gesicht.

«Er zieht immer die gleiche Show ab», zischte Claudia leise. «Langsam ist es nur noch peinlich. »

Roland pflichtete ihr bei.

«Darum, werte Mitarbeiter, der langen Rede kurzer Sinn:Ich bedanke mich für Ihr Engagement. Ich fordere weiterhin einen vortrefflichen Einsatz. Das Buffet ist eröffnet!»

«Das ging ja flotter als erwartet», murmelte Tim.

Sarah lächelte. «Er wird durstig sein. »

«Das ist das Stichwort», meinte Roland, «lasst uns anstossen!» Er nahm den Schöpflöffel, tauchte ihn in die Früchtebowle und füllte mehrere Gläser. «Zum Wohl, Sarah! Tim! Gerhard!»

Sie prosteten sich zu, Kowalski schenkte sich bereits zum zweitenmal ein, und sogar Ruth, die älteste der Angestellten, sonst massvoll und zurückhaltend, trank mit sichtlichem Genuss.

«Ausgezeichnet!», meinte Cedric Stark. «Fast wie selbstgemacht. »

«Sie ist auch selbstgemacht», sagte Sarah mit Nachdruck. «Von mir. »

«Tatsächlich? Nur nicht so empfindlich, ‹Fräulein› Dobler. Sie schmeckt trotzdem gut. »

Sarah kam sich blöd vor. Stark hatte es wieder einmal geschafft. Zum Glück hatte sie nicht viel mit ihm zu tun. Sein Büro lag am anderen Ende des Gangs, er war für die PR zuständig.

Der Abend schritt voran, angeregte Gespräche entstanden, wenngleich die Teams sich kaum mischten. Das Reinigungspersonal blieb unter sich. Die türkischen und albanischen Umzugsleute unterhielten sich in ihrer eigenen Sprache. Cedric Stark schleimte sich bei Kowalski ein, der ihn jedoch links liegen liess. Man ass, trank und gab Anekdoten zum besten. Wo immer Kowalski auftauchte, versandeten die Gespräche, da er endlose Monologe an sein Gegenüber richtete.

Sarah sorgte dafür, dass das Buffet immer appetitlich aussah, und brachte mit Ruths Hilfe Nachschub von unten herauf. Gegen zehn tauchte die mexikanische Musikgruppe auf, die Sarah als Überraschung engagiert hatte. Sie war ein voller Erfolg. Fünf Männer mit Sombreros spielten Gitarre, Trommeln und Mandoline, sangen temperamentvolle spanische Lieder und forderten die Frauen und Männer zum Tanzen auf. Nach anfänglichem Zögern wagten es die Ersten, sich zu den feurigen Klängen zu bewegen. Kowalski zog Claudia zu sich heran und schwang das Tanzbein. Sie liess es mit angewidertem Gesichtsausdruck geschehen. Gerhard Furrer wippte unsicher mit dem Fuss zum Takt. Sarah betrachtete sein Geierprofil. Gerhard hatte etwas Unheimliches und Düsteres an sich. Vielleicht kam das daher, dass er seit Jahren in den unterirdischen Lagerhallen arbeitete.

Sarah wandte sich wieder ab und beobachtete die anderen. Tim bat gerade eine portugiesische Dame der Reinigung um einen Tanz, diese stimmte mit kokettem Lächeln zu. Die Stimmung wurde ausgelassener. Sarah plauderte ein bisschen mit Mehmet, konnte ihn wegen der lauten Klänge aber kaum verstehen. Roland in seinem weissen Anzug wirbelte allein zu den südamerikanischen Rhythmen herum, seine Hand balancierte ein halbvolles Glas. Ruth stand am Rand bei einem der Öfen und schien sich auf ihre eigene stille Art über den gelungenen Abend zu freuen.

Gläser klirrten. Das Buffet war nach einer Weile ein weinbekleckertes und ölverschmiertes Schlachtfeld. Oliven, Brosamen und Teigreste waren überall verstreut, was Sarah leider nicht hatte verhindern können. Die Mexikaner trieben mit ihrer Musik auf den Höhepunkt zu. Roland lächelte beschwipst vor sich hin. Tim kippte die Portugiesin im Tangostil nach hinten, was diese mit begeistertem Quietschen quittierte.

«Was hat er denn?», hörte Sarah Marco Benedetto neben sich sagen. Sie hatte heute noch kein Wort mit ihm wechseln können.

«Was meinst du?»

«Der ist ja komplett besoffen», antwortete Marco und zeigte auf Kowalski, «Madonna mia, jetzt übertreibt er aber!»

Sarah folgte seinem Blick und sah, wie ihr Chef herumtorkelte und Claudia grob von sich stiess. Sie prallte gegen den Tisch und hielt sich an der Tischdecke fest. Tim eilte ihr zur Hilfe. Bevor alle Gläser zu Boden fielen, konnte sie sich wieder aufrappeln. «He!», machte sie empört zu Kowalski, doch dieser ging gar nicht darauf ein. Sein Gesicht war gerötet, als hätte er einen Sonnenbrand. Er stammelte unverständliche Worte. So hemmungslos hatte Sarah ihn noch nie gesehen. Hoffentlich endete die Party nicht in einem Desaster. Bereits entfernten sich einige Angestellte und starrten aus sicherer Entfernung auf ihren Chef. Der bewegte sich inzwischen mit fast spastischen Bewegungen zur Musik.

«Vengan y bailan!», schrien die Mexikaner, erfreut über die Wirkung ihrer Lieder, «Bailan! Bailan! Kommt und tanzt!»

Kowalski stolperte, richtete sich wieder auf, rief mit schwerer Zunge: «Es ist heiss!» und fuchtelte mit den Armen.

«Wenn ich so viel intus hätte, wär’s mir auch etwas wärmer», meinte Roland.

In diesem Moment krachte und knallte es in der Ferne. Die Mexikaner spielten wacker weiter, alle anderen schauten Richtung Üetliberg hinüber, wo ein Feuerwerk die ganze Umgebung erhellte und die Musik übertönte. Irgendjemand in Wiedikon oder Albisrieden feierte etwas noch Grösseres. Silberpfeile schossen in den Himmel, rote und orangene Funken rieselten wie Schneeflocken herab. Unwillkürlich entfuhr vielen ein «Oh!» und «Ah!».

«Passt ja wie bestellt», sagte Roland. «Das hast nicht etwa du organisiert, Sarah, oder?»

Sie schüttelte den Kopf und sah beunruhigt zu Kowalski hinüber. Dieser blieb stocksteif stehen, starrte entgeistert auf die farbenprächtigen Formationen am Himmel und rief: «Da sind ja die Rateken … Raketen … für unser Jubä … Jäbilu … Jubiläum!» Er lachte, grölte, schlug sich auf die Schenkel. Plötzlich krümmte er sich, als würde er von einem Krampf gepackt. Er rang nach Atem. Seine Finger krallten sich um den Kragen. Er lockerte seine Krawatte, riss sie sich vom Hals und warf sie zu Boden. Seine Wangen waren inzwischen feuerrot, seine Halsschlagadern pulsierten in rasendem Tempo. Jetzt war Sarah in Alarmbereitschaft. Wenn sich ihr Chef zum Narren machen wollte, war das eines. Wenn er aber vor aller Augen eine Alkoholvergiftung erlitt, musste man ihm helfen.

«Herr Kowalski», sagte sie in besänftigendem Ton, der im Geknalle des Feuerwerks völlig unterging, «setzen Sie sich doch, bevor Ihnen übel wird. »

Kowalski wedelte sie weg und brüllte: «Stellt die Musik ab!», worauf die Mexikaner verstummten. «Stellt die Farben ab!», schrie er zum Himmel, während die bunten Kracher weiterhin über das nächtliche Zürich stoben. «Es ist viel zu hell! Viel zu heiss!» Er wirkte äusserst aufgeregt, ob freudvoll oder in Panik, konnte Sarah nicht ausmachen. Wieviel Bowle und Wein hatte er bloss getrunken? Sie eilte zu ihm, versuchte ihn zu stützen, doch er befreite sich.

«Ich will fliegen!», krächzte er.

«Das ist ja so was von peinlich», murmelte Claudia.

Nun wollte Tim ihm zu Hilfe kommen. Aber Kowalski taumelte am Buffet vorbei, fegte eine Platte mit Brötchen vom Tisch und wankte zur Brüstung. Er ruderte wild mit den Armen, als würde er gleich abheben, und brüllte: «Ich fliege!»

«Kommen Sie zurück!», rief Tim, packte ihn am Ärmel und versuchte, ihn fortzuzerren. Kowalski stiess ihn zur Seite, machte einen Schritt und schwang sich erstaunlich wendig über das Geländer. Ein Dutzend Hände griffen nach ihm. Er schlug sie alle weg, breitete seine Arme aus.

Und sprang.

«Ich fliege!», hörten sie ihn ein letztes Mal krächzen, während er in die Tiefe stürzte.

Sarah hastete zum Rand der Terrasse und starrte auf Kowalskis Körper. Der war acht Stockwerke weiter unten auf dem Asphalt aufgeschlagen. Eine dunkle Silhouette mit verdrehten Gliedern. Nur seine Hände und die Glatze waren helle Flecken in der Nacht.

Sarah spürte, wie das Blut aus ihrem Gesicht wich. «Mein Gott!», flüsterte sie.

Seelensplitter

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