Читать книгу Seelensplitter - Mitra Devi - Страница 7
3
Оглавление«Dieser Kerl ist mehr als dreist», sagte Nora.
Es war halb neun Uhr morgens. Jan und sie brüteten über etlichen Fotos, die ausgebreitet auf dem Schreibtisch lagen. Auf den einen waren Laptops, Stereoanlagen und iPods zu sehen, offensichtlich von der teuren Sorte, auf den anderen Porträts von Männern und Frauen. Der Auftraggeber ihres aktuellen Falles hatte ihnen die Bilder zur Verfügung gestellt. Er war der Ladenbesitzer eines Shops für Unterhaltungselektronik, nannte sich Elektro-Luigi und verdächtigte einen seiner Angestellten, Geräte zu stehlen und zu verhökern. Die Überwachungskamera hatte bei jedem Diebstahl eine vermummte Gestalt mit Kapuze aufgezeichnet. Der Dieb schien genau zu wissen, dass er gefilmt wurde, und wandte den Blick keinen Millimeter Richtung Kamera. Ausserdem besass er einen Schlüssel zum Laden. Zwischen zwei und drei Uhr früh schlich er jeweils zu den Auslagen, packte Handys und Computer in eine mitgebrachte Tasche und flitzte unbehelligt davon.
«Dreist ist der Täter allerdings, doch es könnte auch eine Frau sein», meinte Jan. «Die Person ist eher schmächtig. »
Nora wiegte skeptisch den Kopf hin und her. «Wenn ich mir die Bewegungen ansehe, tippe ich dennoch auf einen Mann. »
Seit einigen Tagen versuchten sie, den Einbrecher dingfest zu machen, bis jetzt ohne Erfolg. Zweimal hatten sie eine ganze Nacht in Jans Auto verbracht und das Geschäft vom gegenüberliegenden Strassenrand aus observiert. Doch ausgerechnet dann war nichts passiert. Das hatte Nora auf den Gedanken gebracht, der Ladenbesitzer könnte die Diebstähle aus irgendeinem Grund inszeniert haben, vielleicht um einen Versicherungsbetrug zu begehen. Machte allerdings auch nicht viel Sinn, auf diesen Fall zwei Ermittler anzusetzen. Das Ganze war etwas verworren und äusserst unergiebig.
«Möchtest du einen Kaffee?», fragte Jan.
Sie nickte. Jan ging in die Küche. Während er mit der neuen Espressomaschine hantierte, liess Nora ihren Blick durch das Büro schweifen. Leicht chaotisch sah es aus, wie immer. Nebst all den Fotos von Elektro-Luigi war ihr Pult überhäuft mit diversen Papierstapeln, Heften und Notizen, überall lagen Stifte, Marker und Büroklammern. Neben dem Laptop stand ein Bild ihres Vaters, auf dem er mit verschränkten Armen stolz in die Kamera lächelte – ein junger Kriminalpolizist am Anfang seiner Karriere. Noch immer hoffte sie, dass Vaters Mörder einmal geschnappt würde und sie ihren Seelenfrieden fand. Es war nicht gut, jahrelang Rache- und Trauergefühle in sich zu tragen.
Das erinnerte sie daran, sich wieder einmal bei ihrer Mutter zu melden. Diese hatte nach dem Schock die Schweiz verlassen und wohnte nun allein in einem Häuschen in der Nähe von Montpellier. Sie lebte vom Erbe ihres ermordeten Mannes, das bestimmt bald zur Neige ging, und interessierte sich für nichts anderes als für ihre Aquarellmalerei. Dass sie eine Tochter hatte, schien sie vergessen zu haben. Jedesmal, wenn Nora sie anrief, was alle paar Wochen der Fall war, wirkte sie noch eine Spur zurückhaltender und fremder. Ihr Psychiater hatte es endogene Depression genannt, doch für Nora war ihre Mutter der lebende Beweis, dass unterdrückter Schmerz einen Menschen innerlich zerfrass. Mutter hatte keine Träne geweint, als Vater erschossen worden war, sie war versteinert. Nora hatte sich in Rachephantasien gestürzt und monatelang jede Nacht geträumt, wie sie den Mörder überführte. Welche Methoden sie dabei anwandte, hätte jeden Seelenklempner in Schrecken versetzt. Sie seufzte, dann riss sie sich aus den Erinnerungen und wandte sich wieder den ausgelegten Fotografien zu.
Von der Küche her hörte sie das Zischen der Kaffeemaschine und das Pfeifen des Teekochers.
Ihr Detektivbüro war inzwischen zu einer zweiten Heimat für Jan und sie geworden. Meistens sorgte er für ihr beider leibliches Wohl. Er achtete darauf, dass der Kühlschrank immer voll und die Früchteschale mit Obst gefüllt war. Doch das würde sich vielleicht bald ändern, wenn Jan verheiratet wäre. Wollte er am Ende noch Kinder? Suchte er sich dann einen sichereren Job mit geregelten Arbeitszeiten?
«Jan, was ich dich fragen wollte –»
Er brachte ihr den Kaffee und stellte einen herb riechenden Tee vor sich, der den Duft eines Laubwaldes verströmte. Nora schaute ihn stirnrunzelnd an.
«Birkenblättertee», erklärte er, «gut für die Ausscheidung von Giftstoffen. » Er nahm einen Schluck. «Was wolltest du wissen?»
«Nach deiner Hochzeit – wird sich da beruflich etwas für dich ändern?»
«Nie im Leben», sagte er ernst. «Monika hat eine gute Stelle, ich muss nur für mich selber aufkommen. Und du bezahlst mich doch grosszügig. »
«Ja, aber Abendschichten, Nachteinsätze, Wochenenddienst, du weisst schon. Das ist dem Eheleben nicht so bekömmlich. »
«Im Gegenteil. » Er blies auf sein heisses Gebräu, nippte daran und zuckte zusammen, als er sich die Zunge verbrannte. «Unregelmässige Arbeitszeiten verhindern, dass das Zusammensein selbstverständlich wird. Wir geniessen die wenigen gemeinsamen Stunden umso mehr. Monika ist als Pflegefachfrau in der gleichen Situation wie ich. Sie arbeitet oft nachts. Du wirst mich nicht los, bis ich alt und schwabbelig bin. »
Sie winkte ab. «Dagegen tun wir was!»
«Erbarmen, Chef. Ich habe immer noch Muskelkater. »
Sie grinste.
Da klingelte es. Die Tür wurde geöffnet, leise Schritte ertönten.
«Hast du Elektro-Luigi auf heute bestellt?», fragte Jan.
Nora schüttelte den Kopf. «Wir sollten ihm erst Ende Woche einen neuen Zwischenbericht abliefern. » Sie stand auf und trat in den Empfangsraum mit den roten Sesseln. Eine Frau, zwei, drei Jahre jünger als sie, vielleicht Anfang dreissig, stand unschlüssig herum. Sie hatte ihre Haare hochgesteckt, trug Jeans und unter ihrer dünnen Jacke eine helle Bluse.
«Sind Sie die Detektivin?», fragte sie.
«Nora Tabani. Und das ist mein Partner Jan Berger. » Nora zeigte auf Jan, der dabei war, die herumliegenden Fotos zusammenzuräumen. «Was können wir für Sie tun?»
Die Frau schien aufgewühlt, unter ihren Augen lagen dunkle Schatten, als hätte sie in den letzten Tagen nicht viel geschlafen. «Es geht um einen Todesfall vor vier Tagen. Mein Vorgesetzter ist … ich kann es fast nicht glauben, es kommt mir alles so irreal vor. »
Nora nahm ihr die Jacke ab und hängte sie an einen Bügel. «Treten Sie doch bitte ein, und erzählen Sie von Anfang an. »
Die Frau lächelte entschuldigend. «Tut mir leid, ich bin ziemlich durcheinander. » Sie folgte Nora ins Büro, setzte sich an die andere Seite des Schreibtischs und begann: «Mein Name ist Sarah Dobler. Ich bin … ich war die Chefsekretärin von Maximilian Kowalski, dem Geschäftsführer von ‹Store & Go›, einer Lagerhausfirma in Zürich-Altstetten. » Sie machte eine Pause, um sich zu sammeln. «Ich glaube, ich brauche Ihre Dienste. »
Nora nickte ihr aufmunternd zu. «Sie erwähnten etwas von vor vier Tagen. »
«Ja. Am letzten Donnerstag feierten wir das 20-Jahr-Jubiläum auf unserer Dachterrasse. »
«Wir?»
«Alle zweiunddreissig Mitarbeiter. Ich habe das Fest organisiert, eine Bowle gemacht und Wein aufgetischt. » Sie machte eine Pause, dann sagte sie mehr zu sich selbst: «Vielleicht hätte ich das nicht tun sollen. Aber so ein wichtiger Anlass ohne Alkohol – das geht schlecht. »
«Die Leute haben zu viel getrunken?», vermutete Nora.
«Viel zu viel. Vor allem Herr Kowalski hat ein Glas ums andere in sich hineingeschüttet. Er trinkt oft und ist sich das gewöhnt… » Sie merkte nicht, dass sie in die Gegenwartsform gerutscht war. «… Auch bei anderen Gelegenheiten verhält er sich hemmungslos oder wird ausfällig. Er ist ruppig, hat aber einen weichen Kern. Leider lässt er niemanden an sich heran. Er eckt an … » Sie realisierte, dass sie von ihrem verstorbenen Chef sprach, als lebe er noch, und korrigierte sich: «Ich meine, er eckte an, wo er nur konnte. Doch so hatten wir ihn noch nie erlebt. »
«Was ist genau passiert?»
Jan nahm Block und Stift zur Hand und machte sich Notizen, während Sarah Dobler fortfuhr: «Anfangs war die Stimmung locker, dann wurde Herr Kowalski immer seltsamer. »
«Was meinen Sie damit?»
Sarah Dobler schaute aus dem Fenster, wo eine Taube Brosamen vom Sims pickte und mit dem Schnabel klopfte. «Er schien betrunken, aber irgendwie anders. Aggressiver. » Sie schüttelte den Kopf. «Nein, das ist das falsche Wort. Es war nicht Aggression, es war eine Art Hitze, ein inneres Feuer. Sein Gesicht war knallrot, seine Augen flackerten, als hätte er rasende Kopfschmerzen. »
Die Taube flatterte davon und streifte mit ihrem Flügel die Glasscheibe. Eine Feder löste sich und segelte zu Boden. Jan blickte ihr nach, dann schrieb er «Hitze, Augenflackern, Kopfschmerz» in seinen Rapport.
«Dieses Verhalten kann durchaus die Wirkung von Alkohol sein», meinte Nora.
«Ich weiss», gab die Sekretärin zurück. «Aber Herr Kowalski benahm sich merkwürdig. Zuerst fand er die Worte nicht. Dann beklagte er sich, ihm sei zu heiss, und schliesslich rief er, er könne fliegen. Er stürzte über die Terrasse. »
«Sie meinen, er fiel?»
«Nein. Er sprang. »
Nora hob eine Augenbraue. «Sind Sie ganz sicher?»
Sarah Dobler nickte. «Ich habe es aus nächster Nähe miterlebt. Er sprang über das Geländer. Noch während des Sturzes rief er: ‹Ich kann fliegen!› Es war grauenhaft, das mitanzusehen. » Sie schlug die Hände vors Gesicht, als könnte sie so die inneren Bilder verscheuchen, dann murmelte sie: «Er war wie getrieben, nicht mehr er selbst. Irgendetwas stimmt hier nicht. Frau Tabani, Herr Berger. » Sie schaute erst zu Nora, dann zu Jan, und ein verletzlicher Ausdruck huschte über ihr Gesicht. «Ich möchte Sie bitten, dem auf den Grund zu gehen. »
«Wenn Sie das möchten, tun wir das gern», sagte Nora und informierte sie über ihre Honoraransätze. «Bei solch einer Untersuchung können einige Arbeitsstunden zusammenkommen. »
«Geld ist im Moment kein Problem», antwortete Dobler. «Ich habe etwas gespart. Ich dachte zwar nicht, dass ich es jemals so ausgeben würde, aber es ist es mir wert. »
«In Ordnung. Was denken Sie, ist tatsächlich vorgefallen?»
Dobler zögerte eine Sekunde, als wage sie das, was sie vermutete, nicht auszusprechen. Dann gab sie sich einen Ruck. «Ich glaube, er wurde umgebracht. »
Eine Weile herrschte Stille. Nora versuchte, die Informationen einzuordnen, was ihr nicht recht gelang. «Das müssen Sie mir genauer erklären. Sie sagen einerseits, er sprang. Und andererseits, er sei umgebracht worden. Wie passt das zusammen?»
«Ich kann mir vorstellen, wie abwegig sich das für Sie anhört. Für mich wirkte es so, als springe er nicht freiwillig. »
Nora betrachtete Sarah Dobler. Sie wirkte wie eine vernünftige, zuverlässige Frau. Nicht unbedingt eine, bei der Vergnügen und Freizeit an erster Stelle standen. Aber keine, die aus einer Mücke einen Elefanten machte.
Die Sekretärin wühlte in ihrer Handtasche und zog ein durchsichtiges Mäppchen hervor. Darin lagen ein paar zusammengeheftete A4-Papierbögen. Diese reichte sie über den Tisch. «Hier. Ich habe Ihnen alles aufgeschrieben, woran ich mich an diesem Abend erinnere. Zudem die Namen, die Funktionen all unserer Mitarbeiter und andere Informationen. »
Nora staunte. Dass ihr jemand so viel Arbeit abnahm, war noch nie vorgekommen. Sie warf einen Blick auf das Geschriebene.
«Donnerstag, 1. April, 20. 00 Uhr», las sie. «Als Erster betritt Roland Wehr die Terrasse und nascht vom Buffet. Nach ein paar Minuten kommen Maximilian Kowalski und Cedric Stark dazu… »
Nora überflog die Seiten, erfuhr von Kowalskis Ansprache, der mexikanischen Musikgruppe und las den Schluss: «Zwanzig Minuten nach Herrn Kowalskis Sturz trifft die Polizei ein und befragt alle Anwesenden. Cedric Stark bagatellisiert Herrn Kowalskis Trunkenheit. Claudia Campanini weint, Marco Benedetto tröstet sie. Gerhard Furrer sagt, sie solle sich zusammenreissen. Ruth Mäder räumt das Buffet ab, bis einer der Polizisten sie auffordert, alles so zu lassen, wie es ist. Tim Stalder und Roland Wehr reden auf einen Kriminalpolizisten ein, man müsse Kowalskis Frau benachrichtigen. Um halb eins werden wir schliesslich von der Polizei entlassen. Wir sollen uns für weitere Auskünfte bereithalten. Kowalskis Leiche wird in die Gerichtsmedizin gebracht. Am Montagmorgen teilt mir ein Herr Salzmann von der Kriminalpolizei mit, die Obduktion habe ergeben, dass Maximilian Kowalski beim Aufprall auf dem Boden an einem Schädelbruch gestorben sei. Er sei sofort tot gewesen. Seine Leiche würde zur Beerdigung freigegeben. »
Nora legte den Bericht zur Seite. «Sind Sie sicher, dass niemand ihn gestossen hat?»
«Das hätte ich gesehen. Er fiel auch nicht aus Versehen in die Tiefe. Er sprang. Das ist ja das Unverständliche. Aber er sprang aus einem bestimmten Grund, das war keine normale Trunkenheit. Wenn Sie dabei gewesen wären und ihn gesehen hätten, würden Sie mir beipflichten. »
«Sie denken, jemand habe ihn dazu gebracht, das zu tun? Eine Art Selbstmord vor Zeugen?»
Sarah Dobler schienen Noras Zweifel peinlich zu sein. «Ich weiss, es klingt seltsam. Aber ich fürchte, ein Mörder ist unter uns. »
Nora sah auf die Personenliste, die Dobler ihr mitgebracht hatte. «Weshalb sollte jemand von ‹Store & Go› Kowalski umbringen wollen?»
«Mir ist bewusst, dass es nicht nett ist, schlecht über Verstorbene zu sprechen. Ich bin wahrscheinlich die Einzige, die sein aufbrausendes Verhalten durchschaut hat. Aber leider muss ich es sagen: Niemand trauert Kowalski nach. Er war ein… » Sie räusperte sich. «Er war kein einfacher Mensch. »
Nora hätte gern gewusst, welches Wort die Frau verschluckt hatte. Was war ihr Chef gewesen? Ein Ekel? Ein Betrüger? Ein Tyrann? «Warum möchten Sie, dass wir den Fall übernehmen?»
Jan sass mit gezücktem Stift da und widmete ihr seine volle Aufmerksamkeit.
Sarah Dobler sah Nora lange an, dann flüsterte sie fast lautlos: «Vielleicht geht es nicht nur um Kowalski. Ich weiss nicht, warum, aber ich glaube, das war erst der Anfang. Es wird mehr Tote geben. Ich spüre das. Ich fürchte um mein Leben. »
Nachdem Sarah Dobler das Büro verlassen hatte, öffnete Jan das Fenster und wischte mit einem Papiertuch den Taubendreck vom Sims. «So was Merkwürdiges habe ich noch nie gehört. »
«Geht mir genauso. Aber sie wirkte auf mich weder verwirrt, noch irrational, noch sonst wie schräg. Einzig ihre Angst war spürbar. »
Ein Piepsen ertönte. Jan schmiss das schmutzige Tuch in den Papierkorb und griff nach seinem Handy. Als er die Nachricht las, die hereingekommen war, überzogen sich seine Wangen mit einem zarten Rosa.
«Ich nehme an, es ist nicht Frau Dobler», lachte Nora.
«Nein, ist es nicht. » Er machte Anstalten, sofort zu antworten, dann hielt er inne und sah zu ihr hinüber.
Sie nickte ihm aufmunternd zu. «Na los, schreib Monika schon, dass du sie auch liebst. Frauen hören das gern mehrmals pro Tag. »
Er lachte und begann zu tippen. Nora nahm an, dass er noch ein paar Herzchen mitschickte. Er war um ein Vielfaches romantischer als sie.
Sie nutzte die Zeit, um schnell in ihre Mansarde hochzusteigen und nach Gregor zu sehen. Sie verwöhnte ihr Chamäleon gern mit Grillen und Heuschrecken der Delikatess-Klasse, in der Hoffnung, aus ihm ein beziehungsfähiges Reptil zu machen. Doch nach wie vor ignorierte er sie sträflich. Leise, um ihn nicht zu erschrecken, ging sie zum Terrarium. Er sass stocksteif auf einem Ast, den Schwanz zu einer Spirale gekringelt. Seine Finger umklammerten die Rinde, den Kopf hielt er schräg nach oben, so dass der Höcker hochnäsig zum Himmel ragte. Heute war er grün-gelb mit einem Hauch türkis.
«Schau mal, Gregor», flüsterte sie und hielt ihm einen appetitlichen, sechsbeinigen Happen hin. Das schien ihn nicht im geringsten zu interessieren.
«Komm schon, greif zu, es ist ganz frisch. »
Keine Reaktion.
«Gregor. Bitte. Es zappelt fast noch. »
Er drehte sich zur Wand und zeigte ihr sein Hinterteil. Sie seufzte. Neiderfüllt dachte sie an einen Kollegen, der sich zwei Echsen hielt und ihr triumphierend geschildert hatte, wie anhänglich und schmusebedürftig diese seien. Sie legte das Insekt neben Gregors Kletterwurzel und füllte den Trog mit frischem Wasser. Dann ging sie wieder hinunter ins Büro. Jan hatte seine Liebesbotschaft inzwischen versandt.
Nora schaute auf die Uhr. Vielleicht hatte sie Glück und erreichte Mike. Kurzentschlossen rief sie ihren ehemaligen Kripo-Kollegen an. Tatsächlich nahm er nach dem zweiten Läuten ab.
«Salzmann, kannst du eine halbe Stunde für mich entbehren?»
Mike polterte am anderen Ende: «Tabani! Hättest du unseren werten Verein vor einem Jahr nicht verlassen, sässest du direkt an der Quelle. Steckst du wieder in Schwierigkeiten?»
«Ganz und gar nicht», gab sie zurück. «Mich hat nur ein unwiderstehliches Bedürfnis gepackt, dich wieder einmal zu sehen. »
«Natürlich. Und die Erde ist eine Scheibe. Was willst du diesmal aus mir rausquetschen?»
Hinter seiner rauhen Art schimmerte eine Fürsorge durch, die Nora vom ersten Tag an gespürt hatte, nachdem ihr Vater getötet worden war. Carlo und er waren mehr als Polizeipartner gewesen, sie waren auch privat durch dick und dünn gegangen. Mit ihren Familien zusammen hatten sie Wanderungen unternommen und die Skiferien verbracht, so dass Nora ihn irgendwann Onkel Mike nannte. Davon wollte er allerdings nichts wissen und behauptete, es würde ihn schlagartig um Jahrzehnte altern lassen.
«Kowalski», sagte sie nur.
Mike schnaubte. «War ein Unfall, hättest du sogar in der Zeitung lesen können. »
«Ich habe etwas anderes gehört. Treffen wir uns im ‹Clipper›?»
«In Ordnung, Tabani. Aber du schuldest mir was. »
Das sagte er jedesmal, verhielt sich jedoch seit Jahren so, als sei er ihr etwas schuldig. Nora wusste, dass er sich für Carlos Tod verantwortlich fühlte. Und dass er seine kaputte Kniescheibe als gerechte Strafe für sein Versagen betrachtete. Irgendetwas war damals am Tatort geschehen, über das er niemals sprach, das ihm aber das Leben schwer machte.
«Wir sehen uns», sagte Nora.
Nachdem sie aufgelegt hatte, meinte sie zu Jan: «Finde so viel wie möglich über die Firma ‹Store & Go› heraus. Jahresberichte, Schulden, Umsätze. Wer sie gründete, wer welche Lagerräume mietet. Geh die einzelnen Personen auf Sarah Doblers Liste durch. »
«Okay. »
Nora zog ihre Lederjacke an und verliess das Büro. Ein warmer Wind blies durch die Seefeldstrasse. Zwei junge Mütter schoben ihre Kinderwagen vor sich her. Es roch nebst Autoabgasen ganz leicht nach den Blüten eines Baumes. Nora versuchte, den Duft zu erkennen, doch er war zu schwach. Jetzt, wo die Bauarbeiten endlich beendet waren, war es fast idyllisch in diesem Stadtteil. Der Lärm und der Dreck der letzten Monate waren unerträglich gewesen. Die Läden, die während des Ratterns, Knatterns, Bohrens und Asphaltierens über finanzielle Einbussen geklagt hatten, kamen Nora frisch herausgeputzt vor. Zumindest entstaubt. Der Stadtkreis 8 war vor vielen Jahren Teil des Strassenstrichs gewesen, hatte sich kurzfristig in ein Trendquartier für Künstler und Alternative verwandelt, um vor ein paar Jahren immer mehr zu einer Hochburg für Gutbetuchte zu werden. Junge Familien mit Kindern zogen weg, weil sie die horrenden Mieten nicht mehr bezahlen konnten. Die ehemals lockere Durchmischung von Einheimischen und Zugewanderten, Jung und Alt, Spiessern und Ausgeflippten machte einem von Geld dominierten Einheitsbrei Platz. Noras Haus war inzwischen eines der wenigen unrenovierten, das wie ein Bastard in der Reihe der teuren Gebäude stand. Immer mehr Alteingesessenen wurde gekündigt, die Wohnungen wurden danach aufwendig umgebaut und für das Doppelte vermietet. Seefeldisierung wurde das Phänomen bereits genannt und inzwischen sogar für andere Quartiere verwendet, denen Ähnliches drohte.
Nora war bis jetzt noch nicht davon betroffen. Für die tiefe Miete musste sie einen tropfenden Wasserhahn in der Küche und undichte Fenster hinnehmen. Und einen Boiler im Bad, der gerade mal für eine dreiminütige warme Dusche reichte. Nach ihrem Einzug war sie mehrmals mitten in der Haarwäsche von eiskaltem Wasser überrascht worden. Sie hatte sich darauf eingestellt und hoffte, die Immobiliengeier würden ihr Haus noch lange verschonen.
Nora überquerte die Strasse und erwischte gerade noch ein 2er-Tram. Sie setzte sich, nahm eine der herumliegenden Gratiszeitungen und blätterte sie durch. Nichts über einen Unfall. Vielleicht war in den letzten Tagen darüber berichtet worden, und sie hatte es verpasst. Sie fuhr am Bellevue und am Paradeplatz vorbei und stieg an der Station «Sihlstrasse» aus. Den Rest ging sie zu Fuss.
Mike sass an seinem gewohnten Tisch vor einem Glas alkoholfreiem Bier und winkte ihr, als er sie entdeckte. Seine Löwenmähne leuchtete silbergrau, sein Schnurrbart war zu Kringeln gezwirbelt. Er stand auf – er überragte sie um Haupteslänge – und schlug ihr zur Begrüssung herzhaft auf die Schulter. «Schön, dich zu sehen, Tabani!», dröhnte er. «Auch wenn ich weiss, dass dein Interesse nicht dem alten Mike gilt, sondern den Informationen, die du ihm gleich entlocken wirst. »
Nora versuchte, sich zu verteidigen, kam aber nicht zu Wort.
Kaum hatten sie sich gesetzt, legte er los: «Also? Was hast du mit Kowalski am Hut?»
Die Bedienung kam, und Nora bestellte den vierten Kaffee heute. «Seine Chefsekretärin hat mich gerade aufgesucht. Sie glaubt, er wurde umgebracht. »
«Unmöglich», gab er zurück. «Die Autopsie lässt keine Zweifel zu. Schädelbruch, sofort tot. Von seinem Gesicht war nicht mehr allzu viel übrig. Er stürzte kopfvoran aufs Trottoir. »
«Das würde passen», sagte sie.
«Wozu?»
«Meine Auftraggeberin erzählte mir, Kowalski habe das Gefühl gehabt, fliegen zu können. »
«Das macht aus dem Ganzen noch keinem Mord», meinte Mike.
Die Kellnerin stellte eine Tasse vor Nora hin, und sie nahm einen Schluck Kaffee.
«Wie sieht’s mit Alkohol im Blut aus?», fragte sie weiter. «Haben die Rechtsmediziner den Schnelltest trotz der klaren Todesursache vorgenommen?»
Mike zog seine buschigen Augenbrauen zusammen, so dass er aussah wie ein grimmiger Kosak. «Du weisst, dass wir uns jetzt den Bereichen nähern, über die ich dir keine Auskunft mehr geben darf. »
«Klar, Onkel Mike», feixte sie. «Ich könnte auch direkt das Institut für Rechtsmedizin anrufen. Ich habe einen ausgezeichneten Kontakt zur Präparatorin. Wir gehen oft zusammen joggen. »
«Du bist eine Landplage, Tabani», knurrte er, betrachtete sie aber mit väterlichem Blick.
«So sind Detektivinnen. Wenn sie nett sind, erfahren sie nichts. Also, was ist mit Kowalskis Blut?»
«Ich sehe so viel von Carlo in dir», sagte er mit unerwartet leiser Stimme. «Deine Zielstrebigkeit, deine Hartnäckigkeit. Er wäre stolz auf dich und würde sich gleichzeitig masslos über dich ärgern. »
Sie lächelte.
Dann beantwortete er ihre Frage: «Der Schnelltest ergab nur für eine Substanz ein positives Ergebnis. »
«Alkohol. »
«Genau. Alles andere – Cannabis, Kokain, Benzodiazepine, Methadon und so weiter – war negativ. »
«Wie viel Promille hatte er intus?»
«Viel», sagte Mike. «Ich weiss es nicht auswendig, da es für uns keine Rolle spielte. Er starb nicht an einer Alkoholvergiftung, sondern an der Kopfverletzung. Glaub mir, deine Zeit kannst du besser nutzen. Ich habe niemals einen so eindeutigen Fall gehabt. »
«Wir werden sehen. » Sie stand auf und schob den Stuhl zurück. «Danke, Salzmann. Ich hab mich gefreut, dich zu sehen. »
«Ganz meinerseits, Tabani. » Er trank sein Glas leer, wischte sich über den Mund und sagte: «Wo immer diese Geschichte dich hinführt, ich will dich nicht wieder im Spital besuchen müssen. Versprich mir das. »
Nora hob bedauernd die Schultern. «Das kann ich nicht. »