Читать книгу Magierin der Liebe - Monika Auer - Страница 9

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1 - Die Wahl - Rückkehr ins Hier und Jetzt

(8) „Ein Adlerkann siebzig Jahre alt werden. Abermit vierzig muss er eine Entscheidung treffen. Schnabel und Krallen sind so lang geworden, dass erkeine Beute mehr machen kann. Die langen schweren Federn machen das Fliegen fast unmöglich. Er hat zwei Möglichkeiten: zu sterben oder sich einer schmerzhaften Erneuerung zu unterziehen. Hoch oben zieht er sich in eine schützende Felswand zurück, reißt sich Federn und Krallen aus und schlägt sich den Schnabel ab. Nach einigen langen Monaten, wenn alles nachgewachsen ist, schwingt er sich auf - in ein neues Leben. “

Ich bin sieben, als sich meine Eltern scheiden lassen. Seit dem muss ich alle vierzehn Tage zum Papa. Er hat trotz allem Besuchsrecht bekommen. Wenn ich dann am Sonntagabend zu Mama nach Hause komme, empfängt mich diese selten freundlich.

„Mach, das du wegkommst. Am besten gehst du gleich auf dein Zimmer“, faucht sie mich meistens an.

Ich verstehe nicht, was sie so wütend auf mich macht. Ich habe nichts getan. Ihre abweisende Reaktion bestürzt mich. Nach diesen Wochenenden, nach dieser Sonderbehandlung vom Vater habe ich ohnehin schon keinen Boden mehr unter den Füßen. Da stößt mich die unverhoffte Aggression meiner Mutter vollends in den Abgrund. Ich bin ein Kind. Wie soll ich begreifen, warum sie regelmäßig wie eine wild gewordene Tarantel über mich herfällt? Sie tut so, als sei ich die Bedrohung in unserer Familie. Und dabei bin ich es, die vom Papa bedroht wird. Ich brauche dringend Schutz von meiner Mama. Ich sehne mich schrecklich nach ihrer Fürsorge und Liebe.

Was bloß mache ich in ihren Augen falsch? Sogar ihre Aufsicht über meine ersten Schulaufgaben endet für mich in schlimmster Demütigung.

„Bist du zu blöd zum Rechnen?“, faucht sie mich aggressiv an.

Dann verpasst sie mir mit ihrer harten Faust mehrere Kopfnüsse bis der Schmerz wie ein donnernder Zug durch mich hindurchfährt. Ich soll das Einmaleins lösen, aber sie fühlt sich von meiner Konzentrationsschwäche provoziert. Sie weiß nicht, dass diese ein eindeutiges Stresssymptom aufgrund des sexuellen Missbrauchs ist. Ein stummer Hilfeschrei, den meine Mama nicht hört oder hören will. Sie bleibt unbarmherzig, erhebt abermals drohend ihre Faust, während sie brüllt:

„Noch mal. Und jetzt richtig.“

Seit meinem zweiten Lebensjahr missbraucht mich Papa sexuell. Ich habe mich nie getraut, Mama davon zu erzählen. Ich hätte sonst ins Heim zurückgemusst. Aber meine mittlere Schwester verplapperte sich eines Tages. Da war sie gerade mal 3-jährig. Er hat es auch bei ihr versucht. Angeblich war das der Grund für die Scheidung - Inzest. Trotzdem ändert sich für mich danach nichts Wesentliches. Der sexuelle Missbrauch bleibt vorerst in meinem Leben ein fester Bestandteil, da mein Vater auf sein Besuchsrecht insistiert. In diesem Fall unterstützt ihn sogar das Gesetz. Niemand unterstützt mich, schützt mich vor meinem sexuell perversen Vater. Meine Mutter schon gar nicht. Ich darf nicht mehr darüber reden. Seit der Scheidung wird alles tot geschwiegen. Dafür lässt meine Mutter ihre Unzulänglichkeit und Überforderung an mir aus. Sie bedient sich dabei der schwarzen Pädagogik. Eine Erziehungsmethode, die emotionale und körperliche Gewalt gegenüber Kindern geradezu propagiert und meine Mama regelrecht dazu verführt, sich selbst zu erhöhen.

Ich glaube, sie rächt sich unbewusst an mir für ihr verkorkstes Leben. Ich bin ihr auserkorener Sündenbock. Ich bin Mamas Giftmüllcontainer. Mal sind es verbale Demütigungen. Mal heftige Schläge mit einem Kochlöffel, den sie auf meinem nackten Kinderpopo herabsausen lässt. Manchmal bricht er dabei. Dann greift sie zur Hundeleine.

Egal, was ich tue. Es ist falsch. Ich ziehe mich weiter in mich zurück. Im Gegensatz zu meinen Schwestern werde ich zunehmend introvertierter.

„Schau deine Geschwister an, die sind viel offener. Ich möchte gar nicht wissen, was du denkst. Du denkst bestimmt nur Schlechtes“, wirft sie mir ständig vor.

„Schau mich nicht so an. Du hast hässliche Augen“, faucht sie oft böse, als sei ich der Teufel in Person.

Während andere Kinder vergnügt auf ihrer Blumenwiese spielen dürfen, muss ich mich auf meiner vorsehen. Sie ist mit Tretminen verseucht. Kriegsgebiet. Mache ich eine falsche Bewegung, geht eine Bombe unter mir hoch.

Wenn ich lebe, sterbe ich. Ich sitze in einer Existenzfalle, die mich innerlich erstarren lässt. Freeze. Weder Kampf noch Flucht sind möglich.

Ich werde ganz still - mucksmäuschenstill. Verzweifelter Versuch eines kleinen Mädchens, sich durch einen Totstellreflex vor der Auslöschung seiner Existenz zu bewahren. Es gibt aber kein Entrinnen. Meine narzisstische Mutter ersinnt unaufhörlich Vorwände für einen Streit. Und jedes Mal verliere ich diesen ungleichen Machtkampf, wenn sie mich mit Schimpf und Schande auf mein Zimmer verbannt. Dieses liegt zwei Stockwerke über der elterlichen Wohnung, also außerhalb. Es befindet sich neben einem dunklen Dachboden, wo in meiner kindlichen Fantasie böse Geister leben.

Meine beiden Schwestern hingegen teilen sich innerhalb der kleinen Dreizimmerwohnung das Kinderzimmer mit Balkon. Ihnen geht es gut. Sie sind integriert und werden von der Mama beschützt.

Hoch oben unterm Dach sitze ich öfters des Nachts mutterseelenallein in meinem Gefühlschaos. Meine Geschwister besuchen mich selten in meinem Turmzimmer. Isolationshaft. Ich fühle mich einsam und verloren. Und da ist auch noch die harte Gipsschale, in die ich mich jede Nacht hineinlegen soll, wegen meiner krummen Wirbelsäule. Sie verstärkt das Gefühl, in einem Gefängnis zu sein und eine Zwangsjacke zu tragen.

Ein Abgrund öffnet sich in mir, und das, obwohl ich erst sieben Jahre alt bin. „Mama, wieso hasst du mich? Du fehlst mir“, schluchze ich in mein Kissen.

Mein Herzmuskel krampft. Es tut richtig weh in meiner Brust. Schuldgefühle übermannen mich. Bestimmt hat sie einen Grund, mich abzulehnen. Ich bin das böse Kind, die Schande unserer Familie. Vielleicht verdiene ich ihre Strafe. Ich schluchze ins Kissen, bis es nass ist. Dann hebe ich mein Gesicht. Mit tränenerstickter Stimme frage ich laut in den Raum hinein, der so still ist wie ein Friedhof:

„Mama, was soll ich machen, damit du mich wieder lieb hast?“

Anschließend schlage ich einige Male meinen Hinterkopf so heftig an die Zimmerwand, bis ein stechender Kopfschmerz den schrillen Herzschmerz ablöst.

(9) „Hospitalismus kommt überall dort vor, wo Menschen zu wenig oder negative emotionale Beziehungen erhalten. Es ist auch in Familien anzutreffen, in denen die Eltern mit der Pflege der Kinder überfordert sind oder diese aus irgendwelchen Gründen ablehnen und sie deshalb schwerer physischer und psychischer Vernachlässigung oder Misshandlung ausgesetzt sind. “

Ich fange an, mich selbst zu bestrafen. Täterintrojekt.

Wenn ich mich nicht verletze, sitze ich am Kinderschreibtisch. Dieser befindet sich direkt unterhalb des schrägen Dachfensters. Lustlos mache ich Hausaufgaben, die in der ersten Klasse eigentlich leicht sind. Doch ich leide an massiver Konzentrationsstörung. Immer wieder schweife ich mit meiner Aufmerksamkeit ab. Meist starre ich mit leeren Augen aus dem Fenster, vor dem sich ein evangelischer Kirchturm aus dunklem Sandstein aufbaut. Gleich einem Fingerzeig hebt er sich drohend gegen einen lichtgrauen Himmel ab. Seine viereckige Uhr aus goldfarbenen Ziffern springt mir mahnend ins Gesicht.

Ich bin so jung, und bereits in Zeit und Emotion gefangen.

Der Anblick des dunkelbraunen Kirchturms ängstigt mich. Ich öffne das schräge Dachfenster und schaue nach dem anderen Kirchturm. Der gehört einer katholischen Kirche, die sich ebenso in der Nähe unseres Mietshauses befindet. Aus hellbraunem Sandstein erbaut wirkt ihr Turm weniger bedrohlich. Ich lehne mich mit meinem kindlichen Oberkörper weit aus dem Dachfenster, um auf ihn eine bessere Sicht zu bekommen. Ich bin umzingelt von Gotteshäusern. Trotzdem fühle ich mich wie ein verlorenes Schaf. Was für eine Ironie. Noch bevor ich meinen Oberkörper ins Zimmer zurückziehe, überfluten mich Ohnmacht und Trauer. Da lösen die negativen Gefühle auch schon einen spontanen Klartraum aus.

Ich verliere die Balance und falle aus dem Fenster. Mein Körper rollt das Dach hinunter, an der Regenrinne vorbei, die ihn nicht aufhalten kann. Ich stürze in die Tiefe. Ich spüre den Aufschlag auf dem grauen Asphalt, direkt vor der Haustür meiner Mutter. Danach fühle ich nichts mehr. Ich bin eine Wolke, die aus erhabener Distanz alles Weitere beobachtet. Ich sehe Mama herbeieilen. Besorgt beugt sie sich über meinen leblosen Körper. Als sie begreift, dass ich tot bin, weint sie. Ja sie stimmt regelrecht ein Klagelied an. So wünsche ich es mir. Dass meine Mutter endlich Gefühle für mich zeigt.

(10) „Sich als Kind unerwünscht zu fühlen, führt dazu, dass einem als Erwachsener immer wieder das Herz gebrochen wird.“

Ich bin bereit, für die Zuneigung meiner Mutter zu sterben. Ich sehne mich wahnsinnig nach ihrer Liebe. Aber sie erfüllt sich nicht. Auch spüre ich keine Liebe durch Gott. Gibt es ihn überhaupt? Ich kann nicht aufhören, in meiner seelischen Not meine Gebete an ihn zu richten.

„Lieber Gott, bitte hilf mir. Ich bereue meine Sünden“, bete ich fleißig. „Bitte lass Mama mich lieb haben. Bitte, lass Papa mich anders lieb haben.“

Insgeheim wünsche ich mir, dass sich meine Eltern ändern. Alles ist ein Missverständnis. Ich bin ein gutes Kind.

Doch meine Gebete verhallen. Gott hört mich nicht. Und der Terror in meinem Elternhaus geht weiter. Insbesondere die narzisstische Persönlichkeitsstörung meiner Mutter hält mich in Gefühlen der Wertlosigkeit gefangen. Immer wieder erfahre ich ihre Ablehnung, gibt sie mir das Feedback, eine hässliche und unliebsame Person zu sein. Schließlich kann ich gar nicht anders, als mich selbst abzulehnen. Selbsthass.

Ich komme bald in die zweite Klasse. Die Gipsschale ist laut Arzt weiterhin notwendig. Wie ich die hasse! Eines Abends liege ich allein im Dachzimmer rücklings auf meinem Jugendbett, ohne Gipsschale. Die habe ich vors Bett auf meinen weißen Flokati-Teppich. Während ich selbst auf dem Bett ruhe, schaue ich ausgelaugt vom Streit mit meiner Mutter mit leeren Augen auf das Arrangement rund herum. Ich besitze ein braunes Nachttischchen mit einer roten Leselampe darauf. Am Fussende steht ein dunkelbrauner Schrank mit Glasregalen, auf denen einige Kinderbücher zu finden sind. Mein Blick kehrt zurück zum Nachttischchen. Plötzlich fallen mir seine spitzen Ecken auf, die mir durchaus gefährlich werden könnten. Ich schließe meine verheulten Augen, falle in einen Klartraum, wie so oft in letzter Zeit.

Ich will mich umbringen. Mit aller Wucht schlage ich meine kindliche Schläfe in voller Absicht auf eine spitze Ecke meines Nachttisches. Mein dünner Schädelknochen knackt unter dem heftigen Aufschlag. Sogleich versterbe ich an einem Reflextod. Leblos liege ich mit einem Loch im Kopf vor dem Bett auf dem weißen Flokati. Der tränkt sich unaufhörlich mit meinem roten Blut. Mit jedem weiteren Blutstropfen, der aus mir herausfließt, löst sich meine Traumseele vom Körper. Dann sammelt sie sich zu einer Wolke unterhalb der Zimmerdecke.

Von dort oben beobachte ich, wie meine Mama herbeieilt, besorgt ihre verletzte älteste Tochter in den Arm nimmt und dann zu Tode erschreckt, weil diese schon tot ist. So will ich das haben. Dass meine Mutter endlich Gefühle für mich zeigt. Ich denke, dass ich erst sterben muss, damit sie ihre Liebe für mich entdecken kann.

„Siehst du Mutter, ich bin bereit, für dich zu sterben.“

Todessehnsucht. Mein Selbstmord bleibt ein Todeswunsch. Er drückt sich lediglich in einem Klartraum aus. Ich unternehme keinen aktiven Versuch, mich umzubringen, obwohl die Liebe meiner Mutter eine ewige unerfüllte Sehnsucht bleibt und es keinen spürbaren Schutz für mich gibt. So gehen meine Kindheitsjahre dahin, in denen für mich ihre Ablehnung eine unbarmherzige Realität bleibt.

Ich weiß nicht mehr weiter. Wie soll ich den Hass meiner Mutter aushalten? Ich will ihm entfliehen. Doch wohin?

Unbewusst manifestiert sich eine schizoide Abwehr. Ich muss mich aufspalten. Und da ich jeden Tag seelischer und körperlicher Folter ausgesetzt bin, begehe ich ständig Seelenflucht. Leaving the Body. Mein Körper wird zu einem Schreckensort, dem ich vor allem nachts entkommen will. Dann träume ich mich weg.

Eines Abends erscheint in meinem Dachzimmer eine Eule. Sie sitzt hoch oben auf meinem braunen Schrank am Fußende vom Jugendbett. Das Vogelvieh ist nicht physisch präsent. Dennoch sehe ich sie klar und deutlich, als wäre es so. Ich beobachte sie dabei, wie sie mich beobachtet. Dabei wendet sie mir, die ich ausgestreckt auf meinem Bett liege, ihren Kopf zu. Sie blinzelt mit ihren großen Eulenaugen, was auf mich eine hypnotische und beruhigende Wirkung hat. Von etwas in meinem Schmerz gesehen zu werden, tröstet mich. Die Anwesenheit der Eule gibt mir zudem ein Gefühl der Sicherheit. Ich bin nicht mehr allein.

Langsam trocknet es meine Kullertränen, besänftigt es mein flatterndes Kinderherz. Unter der Aufsicht der Eule schlafe ich ein, noch bevor ich mir über ihre Erscheinung Gedanken machen kann.

Von da an soll es dreissig Jahre dauern, bis ich die Bedeutung meiner Eulenvision verstehe. Sie ist eine Tierahnin, eine wachsame Hüterin der Nacht, eine Seelenbegleiterin. Sie wacht über unruhige Seelen, wie die meine, beschützt Grenzgänger, die zwischen der alltäglichen und nichtalltäglichen Wirklichkeit hin und her wandern.

Inzwischen bin ich in der dritten Klasse. Immer noch werde ich von Mama erniedrigt und gekränkt, oft schlägt sie mich. Auch Papa kann seine Finger nicht von mir lassen, muss ich seine Geliebte sein. Ich bin im familiären Terror gefangen. All die überwältigenden Erfahrungen lassen sich kaum noch von der Amygdala verarbeiten. Oft genug bin ich über meine Gefühle und Gedanken verwirrt. Todesangst kriecht in meine Zellen. Ich spüre, dass etwas in mir erstarrt. Die Vision mit der Eule ist weg. Dafür träume ich von anderen Dingen. Es überflutet mich aus meinem Unbewussten gleich einer Druckwelle, die einem Unterwasserlabyrinth entspringt. Neben den sich wiederkehrenden Albträumen mit dem schwarzen Panther und der Inquisition einer jungen Frau, quält mich ein anderer Horror. Ich fürchte mich so sehr vor Spinnen. Diese Krabbelmonster, allen voran Taranteln und Schwarze Witwen, lassen mich instant erstarren. Arachnophobie.

Einmal, da bin ich auf dem Bauch eingeschlafen, seilt sich ein ganzes Geschwader Schwarzer Witwen von der Zimmerdecke ab. An seidenen Fäden schwingen sie in Richtung meines Rückens, wollen sich dort absetzen. Auf meine kindliche Psyche wirkt das wie ein alienhafter Angriff. Ich greife in den Traum ein, werde also luzide, um das Schlimmste zu verhindern, nämlich dass all diese Spinnen auf meinem Körper landen. Ich kann mir nichts Entsetzlicheres vorstellen. Das ist wie sterben.


Leaving The Body, 2004, Mischtechnik (Acryl, Kreide, Bleistift) auf Papier, 70 x50 cm

„Mein Körper ist ein wunderbarer Ort zu sein. Er ist mein Besitz, ein wesentlicher Bestandteil meines irdischen Seins. Und ich bin der alleinige Besitzer.“

Ich erwache mit rasendem Herzen. Zu meinem Entsetzen spüre ich die Spinnen aus dem Traum auf meinem Rücken. Wie haben sie es bloß geschafft, mich trotz meiner geistigen Abwehr zu berühren? Freeze.

Ich weißt nicht, was schlimmer ist: zu sterben oder vor Angst zu erstarren.

Unzählige Male flehe ich in meiner Kindheit zu Gott oder rufe Engel an, sie sollen mich vom Albdruck erlösen. Ich bin noch ein Kind. Ich verstehe nichts von Traumdeutung, geschweige denn, dass es wichtige Botschaften einer inneren Heilerin sein könnten. Niemand lehrt mich, meine Träume als wichtige intrinsische Ressourcen anzunehmen, aus denen ich geistig-psychische Kraft schöpfen kann. Sie machen mir große Angst und versetzen mich in Dauerstress. Meine verzweifelten Gebete, die ich in meiner Hilflosigkeit weiterhin an Gott und Engel richte, werden nicht erhört. Ich fühle mich endlos verloren und allein.

„Wieso geschieht mir dies alles?“, weine ich bitterlich in mein Kissen.

Ich denke so oft an Suizid, dass es für mich normal wird. Dieser Gedanke steht mir inzwischen näher als das Leben. Also verlasse ich meinen Körper, um zu den Sternen zurückzukehren. Dorthin, jenseits, wo ich mein wahres Zuhause vermute. Leaving the Body. Ich spalte mich auf. Depersonalisation.

Bald bin ich ein Teenager, noch ein Jahr. Es muss sich endlich etwas ändern. Leider stecke ich nach wie vor im Sumpf aus Gewalt, Intrigen und Missbrauch fest. Inzwischen entwickelt sich mein Körper, bekomme ich Brüste und Schamhaare. Vor den Augen meiner Mutter wachse ich zu einem hübschen Mädchen heran.

Ich bin wie eine Lolita. Und prompt reagiert sie darauf mit schlimmsten Demütigungen. Sie schimpft mich einen männerfressenden Vamp. Wenn sie ganz besonders böse auf mich ist, sogar eine Hure. In ihren Augen bin ich die Femme fatale, die um jeden Preis vernichtet werden muss. Damit stürzt sie mich in eine Identitätskrise meiner Frauwerdung. Meine Mutter möchte unbedingt verhindern, dass ich weibliche Intelligenz entfalte, geschweige denn zu einer erotischen Frau heranwachse, die sexuelle Begehrlichkeiten der Männer weckt.

Mein Vater indessen reagiert mit gesteigertem sexuellen Interesse auf meine Pubertät. Seine abartigen Fantasien führen den sexuellen Missbrauch auf die nächste Stufe seiner Perversion. Er sichert sich das Recht, mich zu entjungfern, möchte mein erster Liebhaber sein. Mein Papa erkennt in seinen perversen sexuellen Bedürfnissen nichts Kriminelles. Er tut so, als sei alles normal.

Inzwischen verstehe ich den Unterschied zwischen einvernehmlichen Sex und Vergewaltigung. Ab und zu werden solche Dinge in der Schule im Sexualkunde-Unterricht thematisiert. Was mein Vater mit mir vorhat, ist eine Schändung. Was er für selbstverständlich hält, ist für mich schierer Horror. Inzest.

Was stimmt nicht mit der Seele meines Vaters? Wo ist seine Empathie? Er kommt nicht mal im Ansatz auf die Idee, ich könne ein Recht auf sexuelle Selbstbestimmung haben. Dafür heißt es allzu oft: „Stell dich nicht so an.“

Da ist immer noch keiner, dem ich mich anvertrauen könnte. Überhaupt ist es schwer, über etwas zu sprechen, das für andere nicht existiert. Sexueller Missbrauch ist ein Tabu, sowohl in meiner Familie als auch in der Gesellschaft. Außerdem glaubt mir eh keiner. Und so bleibe ich mit der Aussicht auf eine bevorstehende Vergewaltigung durch meinen Vater allein. Ohnmacht.

In meiner Verzweiflung weiß ich keinen anderen Rat. Ich muss die Liebe zu meinem Vater töten, damit er sie nicht mehr gegen mich verwenden kann.

„Geh weg. Du bist ein Sexmonster. Ich will deine perverse Liebe nicht“, denke ich wiederholt. Bindungstrauma.

Unbewusst reiße ich mir mit diesen negativen Gedanken jene ätherische Nabelschnur aus meinem Nabel-Zentrum, die mich mit ihm verbindet.

(11) „In jeder Beziehung zwischen zwei Menschen entstehen Bänderzwischen ihren Nabel-Zentren.“

Im Alter von dreizehn erkenne ich die Schreckensherrschaft meiner Mutter das erste Mal mit voller Wucht. Wahrscheinlich liegt es an meiner zweiten besten Freundin, die ich erst kürzlich kennenlernte, und an ihrer tollen Mutter, dass ich zu differenzieren beginne. Zwar hatte ich mit neun Jahren bereits durch meine erste beste Freundin einen Vergleich zu meiner Familie. Doch jetzt, als angehender Teenager, habe ich mehr Klarheit über die Verhältnisse zuhause.

Ich liebe meine Mutter. Aber ich hasse sie für all das, was sie mir antut.

Ich kann ihr nicht entfliehen, da ich eine Schülerin bin, die per Gesetz unter der Obhut ihrer Eltern stehen sollte. Ich bin weiterhin abhängig von der Mutter, die das Sorgerecht hat. Bindungstrauma.

Ich muss die Zähne zusammenbeißen und mich unterordnen. Unbewusst vermeide ich eh alles, was ihren Unmut auf mich ziehen könnte. Ich ziehe mich nicht nur äußerlich von Mama zurück. Die innere Distanz ist bald eine unüberwindbare Kluft in meinem Herzen. Lieber öffne ich mich für meine Ersatzfamilie. Bei meiner zweiten besten Freundin und ihrer Mutter bin ich stets willkommen. Da keift mich niemand ohne Grund an.

Längst lehne ich meine Mutter als Vorbild ab. Ich misstraue ihr in allen Punkten. Unter keinen Umständen möchte ich wie sie werden, eine Emotionstäterin. Meine Mutter ist ein Hausdrachen, der ständig Feuer nach mir spukt und versucht mich zu verschlingen. So jemand verdient meine Liebe nicht.

„Ich hasse dich. Ich hasse dich. Du bist ein Gefühlsmonster“, versuche ich mit diesen Gedanken die mentale Abnabelung zu meiner Mutter voranzutreiben.

Unbewusst reiße ich mir dabei die ätherische Nabelschnur aus meinem Nabel-Zentrum, die mich mit ihr verbindet.

Ich bin eine Jugendliche und muss ein zweites Mal in den Bindungsbruch gehen, um mich und meine Individuation vor Monstern zu schützen. Wiederholt flüchte ich aus einer Beziehung zu einem Menschen, den ich brauche.

Wieso bloß tut Liebe so weh?

Einmal überlege ich mir, freiwillig in ein Heim zu gehen.

„Ob das nicht besser für mein Seelenheil wäre?“, frage ich meine Freundin.

„Da kommst du vom Regen in die Traufe. Besser du kommst zu mir, so oft du kannst“, warnt sie mich vor einer möglichen Fehlentscheidung.

Was meine zweite beste Freundin sagt, leuchtet mir ein. In drei Jahren werde ich volljährig, dann haue ich sowieso ab. Das ist mein heimlicher Plan. Bis dahin sitze ich den Psychoterror zu Hause aus, nicht ohne eine dicke Schutzmauer, um mein Herz zu bauen. Ich schotte mich innerlich gegen den täglichen Zoff ab, in den meine Mutter oft meine mittlere Schwester mit hineinzieht, als bräuchte sie Verstärkung. Längst hat sie ihre zweite Tochter zu ihrer Verbündeten erkoren. Mit ihr fühle sie sich seelenverwandt, muss ich mir oft anhören. Meine mittlere Schwester hingegen lechzt seit ihrer frühen Kindheit, spätestens seit der Scheidung, nach ihrer Zuwendung als Kompensation für einen ablehnenden Vater. Damit bleibe ich innerhalb meines Familiensystems in emotionaler Isolation gefangen. Ich sterbe. Laufend sterbe ich. Dabei bin ich gerade Mal fünfzehn.

Meine Gefühle sind mittlerweile zu Eis erfroren, meine Traumfähigkeit verdampft wie ein kochendes Meer. Zurück bleibt pechschwarzer, zähflüssiger Teer, der meine Lebensenergie lähmt. Funkstille. Zwischen meinem Herzen und meinem Verstand stellt sich eine Disbalance ein, die sich ausgesprochen negativ auf mein körperliches Befinden auswirkt. Erste psychosomatische Beschwerden plagen mich. Inzwischen schlägt mir alles auf den Magen und die empfindliche Magenschleimhaut brennt wie Feuer. Ständig ist mir übel. Ich muss mich oft übergeben.

Zu allem Unglück bekomme ich einen brennenden, dunkelroten Hautausschlag, der wie eine Feuermaske mein ganzes Gesicht bedeckt. Es juckt wie tausend Ameisenbisse. Autoaggression. Ich konsultiere Ärzte. Aber die sind ratlos. Einer glaubt zu wissen, es könne eine gereizte Bauchspeicheldrüse vorliegen. In der Tat stellt sich nach jeder Mahlzeit ein schmerzhaftes Völlegefühl ein, einhergehend mit starken Blähungen. Doch die Medikamente der Schulmedizin bringen keine Linderung.

Nun plage ich mich mit dem Ekzem schon drei Wochen herum, als meine zweite beste Freundin ein zweites Mal Rat weiß. Da sie sich für Alternativmedizin interessiert besitzt sie ein großes Lexikon der Naturheilkunde. Gemeinsam stöbern wir darin nach einer geeigneten Therapie, und werden fündig. Ein Lösungsansatz lautet, mich einer dreiwöchigen Fastenkur mit Brennnesselblättertee zu unterziehen bei gleichzeitiger Anwendung einer Calendula-Wundsalbe. Genauso mache ich es. Und es wirkt. Die Feuermaske verschwindet nach cirka sechs Wochen. Gerade noch rechtzeitig, bevor ich meiner ersten großen Liebe begegne. Ich treffe ihn in einer Disco, die ich ohne das Wissen und die Erlaubnis meiner Mutter aufsuche. Er ist attraktiv, hochgewachsen und Postbeamter der mittleren Laufbahn.

Doch unser Glück wird von meiner eifersüchtigen Mutter überschattet. Eifrig kontrolliert sie unser Zusammensein oder besser gesagt, will sie unsere Liebe stören, in dem sie mir aus unfairen Gründen Hausarrest erteilt.

Ich bin sechzehneinhalb und beginne eine vierjährige Ausbildung, deren erstes Jahr schulischer Natur ist. Zu meinem Glück liegt die Berufsschule nahe der Wohnung meines Liebsten. Ich schwänze also werktags oft den Unterricht, habe Mut zur Lücke, um mit ihm Zeit zu verbringen. Damit wische ich meiner Mutter eins aus.

Da ich bei meiner ersten großen Liebe nicht übernachten darf, flüchte ich an den Wochenenden zu meiner zweiten besten Freundin in ihr großräumiges Dachstudio, so oft ich eben darf. Wir stricken Pullover, stöbern in dem Lexikon für Naturheilkunde oder philosophieren über Gott und die Welt. Mit ihr zu sein, öffnet mir mentale Räume, denn sie entwickelt sich zu einer Intellektuellen. Im Gegensatz zu mir macht sie Abitur und wird danach studieren. Ich bin nicht eifersüchtig auf sie. Vielmehr freut es mich, von ihr als beste Freundin respektiert zu werden.

Vielleicht mag sie mich auch deshalb, weil ihre Mutter sie darin ermutigt. Letztere unterstützt unsere Freundschaft, und insbesondere stärkt sie mein Ich.

„Du bist ein tapferes Mädchen“, sagt diese Mutter viele Male zu mir.

Sie sieht etwas in mir, worüber ich noch kein Selbstbewusstsein habe: die Kämpferin. Inzwischen haben die familiären, überwältigenden Erfahrungen aus mir eine starke Persönlichkeit gemacht. Ganz egal, was passiert: Ich überlebe. Ich bin nicht mehr länger wie ein schutzloses Löwenbaby, sondern wie eine kräftige Raubkatze.

Und noch etwas verändert sich in meinem Leben. Ich beginne, meine sozialen Kontakte auszuweiten. Zum Beispiel gesellt sich bald ein weiterer junger Mann dazu. Er ist sieben Jahre älter und wirkt vielleicht deshalb wie eine väterlich-fürsorgliche Instanz auf mich. Insgeheim taufe ich ihn Psychopompos. Da ich bereits einen Liebhaber habe, gebe ich ihm den Platz eines Seelenbegleiters. Er übernimmt die Rolle des Lebensberaters, wird meine Quelle für Naturwissenschaftliches sowie mein Lehrer für paranormale Phänomene. Letzteres ist sein Steckenpferd.

Mit ihm spreche ich über meinen Mutterkonflikt, den er übrigens mit seiner eigenen Mama hat. Ich erzähle Psychopompos sogar von meinen Albträumen, von denen der Postbeamte nichts weiß.

Mit Verstärkung an meiner Seite starte ich in das zweite Jahr meiner beruflichen Ausbildung. Es ist ein Praktikum, das ich halbjährig einmal im Altersheim und einmal im Krankenhaus ableiste. Die Arbeit im Kreise erwachsener Kollegen fördert gleichfalls mein Selbstbewusstsein. Es tut mir gut von Fremden reflektiert zu werden, und zwar positiv. Sie sehen in mir einen guten Menschen, ein hübsches Mädchen, das ein glückliches Leben verdient. Es hilft mir, mich stärker von der Mutter zu differenzieren. Bald stelle ich mich ihren Kränkungen frontal entgegen. Ich versuche, die emotionalen Machtverhältnisse umzukehren. Ich erkläre meiner Mutter nun offen den Krieg. Sie legt auf meiner Blumenwiese keine Tretminen mehr aus!

„Du kriegst mich nicht klein. Was immer ich dafür tun muss. Du sollst keine Macht mehr über mich haben“, schreie ich sie an, wenn wir uns mal wieder zoffen.

Leider gehe ich mir mit diesem Kriegseifer in die Falle. Ein naiver Teenager, der ich noch bin, ahnt nicht, dass er wie sie geworden ist.

Ich habe eine böse Zunge entwickelt. Ich nutze jede Gelegenheit, meine Mutter zu kränken. Ich will Gleiches mit Gleichem vergelten, darum übergieße ich sie mit beißendem Zynismus. Ich will mit meinen Worten Wunden in ihr Herz schlagen.

Und so wird aus mir eine emotionale Furie, ganz die Mama.

Die psychosomatischen Beschwerden häufen sich. Seit einiger Zeit plagt mich eine starke Migräne. Ich könnte meiner Skoliose oder meiner angeborenen Hüftdysplasie die Schuld dafür in die Schuhe schieben. Doch genau weiß ich es nicht. Vielleicht traumatisierte ich etwas in meinem Kopf, damals, als ich ihn im Schulalter unter dem Einfluss des Hospitalismus an die Wand schlug.

Die Kopfschmerzen bessern sich nicht, unter dem täglichen Psychoterror zuhause. Immer noch zermartert mich die Frage, was ihre wahre Motivation ist, derart auf mich loszugehen. In Wahrheit tue ich weder meiner Mutter noch den Schwestern etwas. Ich habe mich stark aus den familiären Aktivitäten zurückgezogen, gehe ihnen aus dem Weg und will meine Ruhe haben. Aber genau dieser Entzug meiner Anwesenheit, meiner Energie, scheint sie zu provozieren.

Meine krankhaft narzisstische Mutter will mit aller Gewalt das Zentrum meiner Wahrnehmung sein. Ständig fordert sie meine Aufmerksamkeit ein. Ich soll ihr demütig meine Liebe zeigen, sie aufwerten. Tue ich es, überhäuft sie mich mit ihrer ganzen Verachtung, wird unfassbar bösartig, erniedrigt mich. Ich fühle mich jedes Mal wie eine emotionale Prostituierte.

Meine mittlere Schwester verbirgt ihre Eifersucht erst gar nicht mehr. Sie zeigt mir ihre ganze Wut, versucht mir so of es geht zu schaden. Zum Beispiel klaut sie meine Wertsachen. In ihren Augen bin ich dafür verantwortlich, dass der Papa an ihr kein Interesse hat und sie vernachlässigt. Ihre Inzesterfahrung, die sie einmal als 3-Jährige erleben musste, ist längst verdrängt. Sie ahnt nicht, dass ich all die Jahre für sie ins Opfer gegangen war. Für sie und meine jüngste Schwester. Unbewusst wollte ich sie unter allen Umständen vor dem sexuellen Missbrauch bewahren.

Bald bin ich volljährig. Auch die Berufsausbildung ist fast geschafft. Sogar zuhause gibt es Momente von Normalität. Als ungewöhnlicherweise Frieden zwischen uns vier weiblichen Familienmitgliedern herrscht, traue ich mich, einen Schritt zu machen. Ich möchte ihnen meine erste große Liebe vorstellen. In Absprache mit meiner Mutter lade ich ihn zu uns nach Hause zu einem Kaffeekränzchen ein.

Wir sitzen also beisammen, bis auf die Jüngste, die ist außer Haus. Alles verläuft zunächst normal. Nach dem Kaffee bittet uns meine Mutter sogar ins Wohnzimmer, um die Unterhaltung fortzusetzen. Da verleitet es meine 15-jährige mittlere Schwester zu einer irrationalen Handlung.

Sie setzt sich meinem 19-jährigen Freund auf den Schoß, legt ihre Arme um seinen Hals und schaut ihm fest in die Augen.

„Ich bin viel hübscher. Nimm mich. Ich bin besser als meine Schwester“, sagt sie betörend und kuschelt sich stärker an ihn.

Ich bin geschockt. Mir bleibt der Atem weg. Aber meine Mutter lacht blöde. Sie greift nicht ein, sondern starrt hypnotisiert auf diese skurrile Szene.

Zum Glück reagiert mein Freund in meinem Sinne. Er lacht verlegen, schubst dabei meine freche Schwester von seinem Schoß und sagt ausdrücklich:

„Ich liebe deine Schwester und für mich ist sie die Schönste.“

Ich bringe meine erste große Liebe noch an die Tür, wo ich mich für das Verhalten meiner Schwester entschuldige. Wir spielen es herunter, wollen es nicht allzu ernst nehmen. Schließlich ist sie erst fünfzehn. Ein törichter Teenager, der verzweifelt nach Selbstbestätigung sucht.

Doch als ich ins Wohnzimmer zurückkehre eskaliert die Lage.

„Dein Freund ist aber hässlich. Doch so eine Hure wie du, hat nichts Besseres verdient“, keift die mittlere Schwester nach ihrer Abfuhr los.

Das Gelächter meiner Mutter ist ihr Beifall. Sie wird nicht in ihrem Fehlverhalten korrigiert, muss sich nicht bei mir für ihren Aussetzer entschuldigen. Stattdessen weidet sich meine Mutter darin, wie ihre Verbündete meine Beziehung zum Postbeamten in den Dreck zieht.

„Der will doch bloß Sex. Danach lässt er dich wie eine heiße Kartoffel fallen“, wertet meine Mutter ebenso seine Liebe zu mir ab.

Ich ertrage ihre Irrationalität nicht mehr. Verletzt ziehe ich mich von ihnen zurück. Trotz meiner verzweifelten Abwehrstrategien trifft mich dieser Nachmittag mitten ins Herz. Aus Frieden wurde zum xten Mal Krieg.

Und zum xten Mal versöhne ich mich mit meiner Mutter.

„Ach komm her. Du bist doch meine Große. Lass uns Frieden schließen“, lockt sie mich aus der Reserve. „Ich habe doch bloß Angst, dass du das Gleiche erleben musst, wie ich mit deinem Vater. Sei nicht so dumm und naiv, wie ich es war. Ich wünschte, ich hätte jemanden gehabt, der mich vor allem bewahrt hätte.“

„Dann wärst du kinderlos“, antworte ich, „bist du nicht froh, uns zu haben?“

„Gerade du, meine Große, warst immer mein Wunschkind“, sagt sie.

Ihre Behauptung straft sie Lügen durch ihr abwehrendes Verhalten.

„Das stimmt nicht Mama. Dein Lieblingskind ist deine zweite Tochter.“

In meiner Naivität, unsere Mutter-Tochter-Bindung könne sich einmal zum Guten wenden, tappe ich erneut in ihre gemeine emotionale Falle.

Seit Tagen stellt mir die Mama bohrende Fragen zur Verhütung.

„Brauchst du die Pille?“, will sie wissen. „Wenn du die Pille brauchst, vertraue dich mir an. Ich will nicht, dass du zu früh schwanger wirst. Du sollst erst deine Ausbildung fertigmachen und von keinem Mann abhängig sein. Mach es anders als ich.“

Zugern möchte ich meiner Mama vertrauen und ihr es abkaufen, dass sie das Beste für meine Zukunft will. Wie sehr wünsche ich mir eine Mutter, die wie eine Freundin ist, und mit der ich über ein so prekäres Thema wie Sexualität und Verhütung sprechen kann.

„Ja Mama, ich bräuchte die Pille. Wir benutzen zwar Kondome, aber diese könnten platzen, oder?“, vertraue ich mich ihr an.

Kaum habe ich es gesagt, läuft das Gesicht meiner Mutter dunkelrot an. Und da wird sie auch schon zu einer Atombombe, ohne jede Vorwarnung ist wieder Krieg.

„Du Hure. Hab‘ ich‘s doch gewusst, dass du eine Schlampe bist“, schreit sie mit bebenden Lippen.

„Du machst auf der Stelle Schluss mit diesem Kerl, sonst sperre ich dich so lange ein, bis er sich aus Frust trennt“, droht sie mir gleich darauf mit Strafe.

Freeze. Mir bleibt das Herz stehen. Ich weiß gar nicht, wie mir geschieht. Ständig diese Vertrauensbrüche, diese Kränkungen. Wie lange kann ein Mensch so was aushalten? Ich spüre mich kaum, höre alles Weitere wie durch Watte. Dissoziation.

„Sei doch nicht so blöd und binde dich gleich an den erstbesten Kerl. Mach‘ nicht die gleichen Fehler. Genieße deine Jugend. Lass‘ dich von vielen Männern ausführen“, muss ich mir ihren irrationalen Tipp anhören.

In mir zerbirst etwas in tausend Stücke. Ich verlasse meinen Körper. Black out.

Als ich wieder bei klarem Bewusstsein bin, liegt meine Mutter mit dem Rücken auf dem Küchentisch. Sie starrt mich mit weit aufgerissenen Augen an. Sie hat Angst vor mir. Und noch etwas sehe ich in ihrem Blick: Respekt. Erst dann realisiere ich, dass ich bäuchlings auf ihr liege, meine Hände an ihrem Hals. Affekthandlung. Ich muss im Blackout wie eine Raubkatze auf sie draufgesprungen sein.

Das macht mir Angst. Schnell steige ich vom Körper meiner Mutter ab. Der Gedanke, ich könnte noch einmal derart die Kontrolle über meine Gefühle verlieren, erschüttert mich. Das Letzte, was ich brauche, ist, ihretwegen zur Mörderin zu werden. Es wird Zeit zu gehen. Einen Tag später verlasse ich dieses zuhause.

Ich bin noch keine achtzehn Jahre alt und obdachlos. Seit der furchtbaren Eskalation stolpere ich wie ein Zombie durch Raum und Zeit.

Warum ich nicht mit meiner ersten großen Liebe zusammenziehe, wo er doch stets tapfer zu mir hielt und mich gegen meine böse Mutter, diese schwarze Tarantel, beschützte, verstehe ich selbst nicht. Seit einigen Wochen bin ich sexuell blockiert, was mich unter starken psychischen Druck setzt. Dass die Blockade eine posttraumatische Belastungsstörung sein könnte, ahne ich nicht im Mindesten. Ich trenne mich von meiner ersten großen Liebe, weil ich denke, die Liebe sei verglüht.

Ich fliehe also vor Bindung. Ich bin innerlich ohne Halt. In meinem Bauch schmerzt es arg. Ich kotze viel. Ich nehme erst einmal ein Angebot einer Bekannten an, bei ihr auf dem Sofa zu schlafen, bis ich eine neue Unterkunft finde. Inzwischen bin ich im dritten Jahr meiner Berufsausbildung, die abermals schulischer Natur ist. Ich brauche Geld. Deshalb nehme ich einen Nebenjob als Bedienung in einem Szenecafé an. Unmittelbar darauf bricht Beziehungsanarchie aus.

Und es geschieht so, wie meine Mutter es wollte. Ich lasse mich von vielen jungen Männern ausführen. Es ist ganz einfach, denn sie laufen mir nach. Ich bin oft am Wochenende in einem Klub, wo ich mir stundenlang die Seele aus dem Leib tanze. Deshalb kommen die Jungs zu mir auf die Tanzfläche, um mir dort einen Drink zu überreichen.

Eines Abends wird der 38-jährige Klubbesitzer auf mich aufmerksam. In meiner hoffnungslosen Lage, immer noch ohne festen Wohnsitz, wirkt sein Interesse an mir 18-jährigen schmeichelhaft. Ich beginne mit ihm einen Flirt. Fast täglich holt er mich mit seinem weißen Porsche ab, zeigt er mir die besten Lokale.

„Wohne bei mir in der Villa. Ich hab genug Platz“, schlägt er bald vor. „Außerdem kannst du bei mir gutes Geld verdienen. Im Café suche ich eine Servicekraft.“

Sein Angebot sollte mich freuen, doch etwas macht mich misstrauisch. Inzwischen zeigt der 38-jährige Klubbesitzer selbstbewusst, was er von mir erwartet. Er verkündet mir seine ersten Bedingungen, als hätte er Rechte an mir. So soll ich ihm jeden Morgen Kaffee ans Bett bringen. Auch sei ich in Zukunft für die Küche verantwortlich. Flashback. Sein dominanter Charakter stürzt mich unbewusst in einen Konflikt. Etwas in mir verschließt sich. Es wird jedoch Jahre dauern, bis ich verstehe wieso: All diese Männerfantasien über die Rollen einer Frau, bevorzugt sexy Putzfrauen, Köchinnen oder Krankenschwestern, die sich, nach abgeleisteter Arbeit versteht sich, in willenlose Sexsklavinnen verwandeln; all das, überführt mich ins Re-Trauma.

Hinzu kommt, dass mein älterer Freund sich selten für meine Bedürfnisse interessiert. Es wird so gemacht, wie er es will. Letzteres durchschaue ich schneller, trotz meiner Jugend. Sein Reichtum, seine Villa, sein Porsche, sein Klub und sein Szenecafé, all das wäre für mich zu einem goldenen Käfig geworden. Ich sollte sein Panther sein, den er gefangen hält, damit er ihn für sich allein haben und ganz nach seinen Vorstellungen abrichten kann. Ich verzichte und wähle beherzt meine Freiheit, obwohl ich da draußen, in der großen weiten Welt, keinen Halt finde. Einen festen Boden unter den Füßen zu haben, täte mir gut. Ich weiß gar nicht, wie sich das anfühlt. Bisher war mein Leben ein einziges Erdbeben.

Da kommt mir das Angebot für einen Unterschlupf bei meiner zweiten besten Freundin und ihrer Mutter wie gerufen. Bei ihnen fühle ich mich sicher. Allerdings möchte ich mich nicht allzu lange einnisten. Inzwischen plagen mich große Schuldund Schamgefühle, ständig auf Almosen anderer angewiesen zu sein, und keine Rückendeckung durch die eigene Familie zu haben.

Darum arbeite ich weiterhin bis spät in die Nacht als Servicekraft. Dieses Mal ist es eine andere Szene-Bar. Ich bin zwar völlig erschöpft von Schule und Job, doch ich brauche dieses Gefühl der Unabhängigkeit. Ich will niemandem etwas schulden. Darum zahle ich der Mutter freiwillig Geld für Essen sowie den Mehrverbrauch an Strom und Wasser.

Ich bin in einem anderen Tanzklub, als ich meiner zweiten großen Liebe begegne. Er ist ein schöner, hochgewachsener, junger Mann mit dunklen Locken, der Erstgeborene einer jüdischen Familie und sechsundzwanzig Jahre alt. Ein bisschen fühle ich mich wie Schneewittchen, das vom Prinzen aus dem Koma wachgeküsst wird. Seine Mutter, die ich im Folgenden Alma Mater nenne, schließt mich sofort in ihr Herz. Mal ist sie mir eine Ersatzmama, mal eine beste Freundin. Mit ihr teile ich oft meine Freizeit. Um mein Wohl besorgt äußert sie sich öfters über meine Wohnsituation, die nach wie vor chaotisch ist.

„Es ist nicht gut, dass du ohne Familie bist. Du musst eine Familie haben“, legt sie mir permanent ans Herz. Als könne ich etwas an meiner Ursprungsfamilie ändern.

Tatsächlich erwartet sie von mir, über eine Aussöhnung nachzudenken, mit beiden Eltern. Noch weiß sie nichts von den schrecklichen Dingen, die mir sowohl der Vater als auch die Mutter angetan haben. Insbesondere der Rückweg zur Mutter ist seit der Eskalation für mich unmöglich geworden.

Die einzige Option ist mein Vater. Sogar die Mutter meiner zweiten besten Freundin hält dies für eine gute Idee. Auch sie ahnt nichts vom Missbrauch. So etwas entzieht sich ihrer Vorstellungskraft.

„Und beantrage elternunabhängiges BAföG, falls du weiter studierst. Du kannst nicht jede Nacht arbeiten. Du bist erst achtzehn!“, legt sie mir zusätzlich ans Herz.

Ich gerate sowohl emotional als auch finanziell unter Druck. Ich muss mein Leben in Ordnung bringen, aber vor allem meine Berufsausbildung sicher stellen. Und so mache ich den Gang nach Canossa. Notgedrungen kontaktiere ich meinen Vater wegen meiner Wohnsituation, obwohl es sich wie Selbstverrat anfühlt.

„Ein knappes Jahr. Dann bist du mit der Schule fertig. Das stehst du durch“, beschwichtige ich mich selbst.

Gott sei Dank, bin ich nicht mehr das kleine Mädchen, das ich einmal war. Ich bin achtzehn. Inzwischen viel erwachsener geworden handele ich mit meinem Vater einen Deal aus. Ich wohne solange bei ihm, bis die Ausbildung abgeschlossen ist. Dafür will er das Kindergeld einbehalten, versteht es als meinen Beitrag zu Kost und Logis. Ich frage ihn, wovon ich das Schulmaterial, meine Kleidung und die öffentlichen Verkehrsmittel bezahlen soll. Da gesteht er mir wenigstens ein kleines Taschengeld zu.

Natürlich reichen die Mittel hinten und vorne nicht. Als mir Alma Mater vorschlägt, bei ihren wohlhabenden Freundinnen gelegentlich zu putzen, sage ich notgedrungen zu. Auch soll ich ihr mit dem Bügeln helfen, wofür sie mir einen guten Stundenlohn zahlen würde. Auch das mache ich.

Zuhause beim Vater tue ich alles, um ihn nicht auf dumme Gedanken zu bringen. Ich trage weite Kleidungsstücke, um meine Kurven zu verhüllen. Ich schließe mich während der Körperwäsche im Bad ein und verhänge das Schlüsselloch mit einem Tuch. Ich verzichte auf Körperkontakt, auf Umarmung und erst recht auf einen Kuss, selbst zur Begrüßung oder zum Abschied.

Die Schichtarbeit meines Vaters kommt mir in meinen Abgrenzungsbemühungen sehr entgegen. Da er oft Nachtdienste einlegt, deshalb tagsüber viel schläft, beschränken sich unsere Begegnungen auf ein Minimum. Ansonsten achte ich darauf, dass seine Lebensgefährtin im Raum ist, so oft es möglich ist.

In diesem Lebensabschnitt kehrt zwar etwas Ordnung zurück. Ich gehe regelmäßig in die Berufsschule, habe vorläufig Unterschlupf. Es gibt Essen auf dem Tisch und Zeit für Aktivitäten mit meinem Freund oder mit Alma Mater. Trotzdem muss ich für Kleidung, Schulbildung und einem Dach über dem Kopf putzen gehen. Ich putze beim Vater, weil er denkt, dies sei ich ihm als Kompensation für die Miete schuldig. Ich putze die Wohnungen reicher Ehefrauen, um mein geringes Taschengeld aufzubessern, das mit Ach und Krach die Kosten für öffentliche Verkehrsmittel sowie Schulmaterial abdeckt. Und zu guter Letzt putze ich nach ergonomischen Regeln sämtliche Räume der Berufsschule, wie Lernküche und Vorratskammer durch, weil das zur Berufsausbildung gehört. Mir fällt auf, das mein Leben von Putzen bestimmt ist, denn ich musste diese Aufgabe auch bei meiner Mutter verrichten.

Als könnte sich das schmutzige Gefühl, das sich in mir manifestiert hat, je durch Putzen auflösen. Es macht alles schlimmer. Putzen lässt mich wertlos fühlen, wie eine erniedrigte Magd. Und obwohl ich wegen des erfolgreichen Abschlusses zur staatlich geprüften hauswirtschaftlichen Betriebsleiterin stolze Gefühle in mir habe, überwiegen die negativen. Sie sind stets stärker. Deshalb schimpfe ich meine Berufsauszeichnung oft zynisch „Putzfrau mit Diplom“. Auf keinen Fall steige ich in diesen Beruf ein, der mir lediglich das Management von Reinigungskräften in diversen Institutionen in Aussicht stellt. Ich will das Thema Putzen loswerden. Aschenputteltrauma. Darum beende ich auch die Putzarbeit bei den reichen Freundinnen von Alma Mater.

Ich strebe nach etwas Höherem.

Leider bleiben mir Jobs in Büros verwehrt, da ich keine Schreibmaschinenkenntnisse habe. So nehme ich vorläufig eine freie Stelle bei einem Halbfabrikat en-Hersteller an. Mit Schweißen, Löten und Stanzen verdiene ich mein erstes Geld. Es ist nicht, was ich wollte. Aber es macht mich finanziell unabhängig. Ich leiste mir eine eigene Wohnung und sogar einen Schreibmaschinenkurs. Die kleine Einzimmerbude befindet sich in der Nähe von Alma Mater und ihrem Erstgeborenen, der immer noch bei seinen Eltern wohnt.

Siebenundzwanzig Quadratmeter mit Bad und Balkon sind von da an meine Schutzhöhle. Selbstbestimmt zu sein, lässt mich genesen. Sogar mein Magen reagiert gut darauf. Die Entzündung heilt ab. Es brennt darin nicht mehr so wie Feuer. Zu meiner Freude kann ich wieder Spaghetti mit Tomatensoße essen, was mein Lieblingsgericht ist. Bis vor Kurzem konnte ich es wegen der schlimmen Magenschmerzen weder riechen noch bei mir behalten, musste ich mich ständig übergeben.

Mein Leben wird schöner. Insbesondere, weil die Familie von Alma Mater mich wie ihre zukünftige Schwiegertochter behandelt. Alle reden von Hochzeit mit dem Erstgeborenen. Ich fühle mich wie in einem Märchen, ein Happy End in Aussicht.

Ich atme. Ich lebe. Ich arbeite. Ich putze meine Wohnung, wann und wie ich es will. Mein gebrochenes Herz scheint in Heilung zu gehen. Jedenfalls fühle ich Glück, stellt sich langsam ein Friede ein. Die neue Struktur in meinem Leben gibt mir Halt. Ich denke, ich habe alles unter Kontrolle. Und der gesunde und liebevolle Umgang innerhalb der Familie Alma Maters, der mich vor allem mit einschließt, heilt meine tiefen Bombenkrater in meinem subtilen Nabel-Zentrum. Ich gewinne wieder Vertrauen in Bindungen.

So oft es geht, bin ich bei meinem Verlobten. Doch dieser lässt mich öfters unter dem Vorwand „Geschäftliches“ allein in der Obhut seiner Mutter. Zunächst schöpfe ich keinen Verdacht. Ich bin gerne mit Alma Mater zusammen, die eine schöne, inspirierende Frau ist und sich eifrig in der bildenden Kunst engagiert. Sie malt in ihrer Freizeit oder besucht Kunstausstellungen. Und ich bin die ganze Zeit dabei, ja sie behandelt mich wie ihre Tochter.

Eines Tages pusht sie mich, selbst einmal mit dem Malen zu beginnen. Hierfür schenkt sie mir ein ganzes Bündel ihrer farbigen Wachsmalstifte sowie anderes Zeichenwerkzeug.

Auf diese Weise ermutigt, wage ich mich an mein erstes Bleistiftporträt heran. Das Plattencover von „Nothing Like the Sun“ dient mir als Vorlage. Irgendwie mag ich die schwarz-weiße Abbildung von Stings Gesicht mit seinen melancholischen Augen.

Als ich Alma Mater stolz mein erste Zeichnung präsentiere, klatscht sie in die Hände und ruft aus: „Du bist begabt. Mach weiter so.“

Stolz hänge ich das Bleistiftporträt von Sting über meinem Bett auf.

Ich male noch anderes und fühle mich auf diese Weise mit Alma Mater verbunden. Ohne selbst zu ahnen, welcher Ich-Anteil in mir schlummert, möchte ich instinktiv wie sie sein. Ich identifiziere mich unbewusst mit ihr. Zudem schmelzen Alma Maters Wärme und Zuneigung das Eis in meinem Inneren. Mit ihren kontinuierliche Liebesbekundungen bringt sie die Schutzmauer zum Einsturz, die ich einst um mein Herz errichtet habe, um mich vor meiner narzisstischen Mutter zu schützen.

Kaum gehe ich in die Herzöffnung, wird es abermals bedrohlich.

Mein Vater, mit dem ich seit dem Wohnjahr ein Okay-Verhältnis habe, meldet mich in der Fahrschule an und bezahlt sogleich die erste Fahrstunde. Was als Überraschung gedacht ist, mundet für mich in eine Konfrontation mit einer Prüfungssituation, für die ich nervlich nicht bereit bin. Instinktiv spüre ich etwas Ungutes. Doch ich komme nicht gleich drauf, dass es die Dominanz meines Vaters ist, nämlich mich fremd zu bestimmen, selbst wenn es dieses Mal aus guter Absicht passiert. Ich selbst will mit dem Führerschein warten, bis ich mir dazu auch das Auto leisten kann.

Andererseits reizt es mich, den ultimativen Beweis für Unabhängigkeit, und so sehe ich den Führerschein, bald in Händen zu halten. Seufzend gebe ich ein, denn ich schaffe es nicht, meinen Vater vor den Kopf zu stoßen. Ich kann nicht Nein sagen. So nimmt mein Schicksal seinen Lauf, vor allem, da der Besitzer der Fahrschule der ehemalige Fahrlehrer meines Vaters ist. Die zwei kennen sich. Sie sind vom gleichen Schlag. Schon in der ersten Fahrstunde zeigt mir der Fahrlehrer, wer das Sagen hat.

„Du bist mir zu selbstsicher. Ich werde dich brechen. Dann baue ich dich nach meiner Fasson auf. Du fährst das Auto so, wie ich es für richtig halte“, droht er mir.

Ehe ich mich versehe, werde ich abermals Opfer eines fiesen Machtkampfes. In den kommenden Fahrstunden verliere ich immer öfter die Nerven. Insgesamt brauche ich drei Anläufe, und dreimal scheitere ich. Am Ende gibt es keinen Schein.

Diese sinnlose Psychoterror, der mich wiederholt in meinem Leben erschüttert, lässt mein Nervenzell-Netzwerk vibrieren. Flashback. Durch die brachiale Dominanz des Fahrlehrers gerate ich in Regression, werde zum kleinen Mädchen, das ich einmal war. Jenes Opfer, das sich gegen Gewalt nicht wehren konnte.

In mir birst etwas entzwei. Als werfe jemand ein kostbares Kristallglas mit aller Wucht auf einen Steinboden. Ich fühle mich zerschlagen in tausend kleine Scherben. Ich bin ein Scherbenhaufen. Ich habe mich lange nicht so gedemütigt gefühlt, wie in diesem Moment, als ich meinem Vater unmittelbar nach der dritten gescheiterten Fahrprüfung unter die Augen treten musste. Ich schäme mich fürchterlich für mein Versagen. Ich möchte im Boden versinken. Ich sterbe.

Wie eine schwer verletzte Katze verkrieche ich mich gekränkt vom Leben in meiner Schutzhöhle. Ich gehe aus dem Kontakt, obwohl ich mich gleichzeitig nach zwei meiner engsten Freunde sehne. Sie sind nicht da. In solchen Momenten, wo jeder Mensch Halt, Zuspruch und Trost braucht, erfahre ich Ablehnung. Meine zweite beste Freundin kündigt mir die Freundschaft auf, ohne Angabe von Gründen. Und Psychopompos, der sonst stets zur Stelle ist, wenn es mir schlecht geht, hat eine Freundin und braucht mich nicht mehr.

Doch es kommt schlimmer. Mein Verlobter setzt mich unter Druck, ich solle endlich konvertieren. Er könne nur eine Jüdin heiraten, das sei er seiner Familie und den Ahnen, die im Holocaust umkamen schuldig, ansonsten müsse er sich von mir trennen. Darauf reagiere ich gekränkt und trenne mich gleich. Immer wieder dieses „Wenn-Du-Nicht-Tust-Was-Ich-Will-Dann-Folgt-Strafe“–Ding. Re–Trauma.

Einzig und allein Alma Mater kümmert sich um mich. Sie besucht mich täglich in meiner kleinen Wohnung, bringt Malstifte mit und versucht, mich aufzumuntern.

„Komm, lenke dich ab und male“, ermuntert sie mich. „Lass dich wegen eines solchen idiotischen Fahrlehrers nicht unterkriegen.“

„Aber das ist es nicht allein, was mich traurig macht“, wimmere ich.

„Ach, dass mit meinem Sohn wird schon wieder. Du bist eine von uns und du solltest konvertieren.“

Alma Maters Sohn, mein Verlobter, kommt noch einmal zurück. Und wir haben Sex. Kurz darauf erleide ich einen Spontanabort.

Der Verlust meines Babys, selbst wenn es lediglich ein Zellhaufen war, trifft mich hart. Und im Kontext all der anderen Katastrophen erreicht meine Nervenkrise ihren Höhepunkt. Ich verfalle in eine Katatonie. Ich kann mich nicht mehr bewegen. Ich bin ans Bett gefesselt, als die Depression wie ein großer schwarzer Vogel aus den Tiefen meines Seins emporsteigt und ihren dunklen Schatten über mich wirft.

Suizidgedanken tauchen auf wie Aasgeier am Horizont, die die Witterung eines sterbenden Tieres aufnehmen und geduldig auf dessen Tod warten.

„Ich bringe mich um. Ich kann nicht mehr. Alles ist so schrecklich sinnlos“, denke ich jeden Morgen beim Aufwachen.

Ich spüre schon die Raubvögel, wie sie mein vom Fieber weich gekochtes Hirn mit ihren scharfen Schnäbeln zerhacken.

Tag und Nacht denke ich an den Tod. Er erscheint mir als einzige Lösung, um meinem unerträglichen psychischen Schmerz zu entkommen. Abwechselnd, wie ein Tornado, rast er entweder durch mein gebrochenes Herz oder durch mein hypersensibilisiertes Gedärm. Ich leide an Reizmagen und Reizdarm. Ich weiß nicht, an welcher Stelle der Schmerz gewaltiger ist.

Im Herzen sitzt eine unfassbare Trauer, als ertrinke ich in den Fluten eines großen Flusses. Und im unteren Bauchraum, knapp unterhalb des Nabels, wütet ein Schmerz wie ein Rammbock und löst einen suizidalen Klartraum aus. Harakiri.

Mit vorgebeugtem Oberkörper sitze ich im Fersensitz auf meinen Unterschenkeln. In einer Hand halte ich ein kurzes Schwert. Ich ramme es mir mit einem heftigen Stoß in den Unterleib, dorthin, wo der Schmerz wütet. Dann ziehe ich das messerscharfe Ding quer über meine Bauchdecke, von links nach rechts. Anschließend führe ich das Schwert mit einer schnellen Aufwärtsbewegung durch mein schmerzendes Gedärm hoch zum Bauchnabel.

„Es muss ein Ende haben. All dieses unerträgliche Leid muss endlich ein Ende haben“, denke ich verzweifelt, bevor es mich aus diesem Harakiri-Traum erweckt.

(12) „So bleiben für viele Trauma-Opfer am Ende nur noch die Resignation und der Wunsch, am liebsten tot zu sein. Selbstmordgedanken und Suizidversuche sind, so paradox das klingt, Trauma-Uberlebensstrategien von Trauma-Opfern. “

Für mich stürzte eine Welt ein.

Doch wo ein Ende ist, ist auch ein Anfang. Ich sammle Kräfte und ziehe in eine andere Stadt. Der Anlass ist, einen zweiten Bildungsweg zu beschreiten und meine Fachhochschulreife nachzuholen. Ich gebe meine Idee eines Studiums nicht auf. In einer Wohngemeinschaft finde ich vorläufig bezahlbaren Unterschlupf, den ich mit elternunabhängigem BAföG bestreite, das mir gerade rechtzeitig genehmigt wurde. Trotzdem jobbe ich nebenbei in einem Musikladen, damit ich einigermaßen über die Runden komme.

Das Fieber ist längst abgeklungen und mit ihm alle anderen Symptome meiner Nervenkrise wie die Halluzinationen. Doch der psychische Kollaps brachte etwas ins Fließen, das lange eingefroren war: meine Träume.

Ich träume wiederholt jene Albträume aus frühen Kindheitstagen, wenn auch in modifizierter Form. Auffällig häufig erscheinen da zunächst Träume mit Bombenexplosionen, Flächenbränden und Kriegssituationen.

(13) „Das Bild einer Explosion kann einen seelischen Zusammenbruch andeuten. “

Einmal stresst mich ein Albtraum, den ich lange nicht begreife. Er bringt Erinnerungen vom Mietshaus zurück, in dem ich mit meiner Mutter und den Geschwistern aufwuchs. Als Kind musste ich im Auftrag von Mama in dessen Keller hinabsteigen, immer montags, denn das war ihr Waschtag. Die Waschmaschine, die von allen Hausbewohnern benutzt wurde, lief nur, wenn zu jedem Waschgang eine gewisse Anzahl von 50-Pfennigstücken in den angeschlossenen Münzautomaten eingeworfen wurden. Es kostete insgesamt zwei Deutsche Mark pro Ladung. Meine Mutter schickte mich also zum Nachladen der 50-Pfennigstücke in den dunklen Keller, der von großen Kellerspinnen bewohnt war.

(14) „Der Keller verweist auf das Unbewusste. (…). Die Bedeutung derartiger Traumsituationen ergibt sich aus dem Symbolbegriff des Labyrinths. (…) Im Labyrinth fanden nach vielen Mythen Götterhochzeiten statt, die meist eine inzestuöse Vereinigung darstellten. So kann das Labyrinth im Traum das Signal für einen Mutterkomplex sein. “

Im Traum wandle ich also durch dieses Kellergewölbe. Ich halte den Atem an und scanne ängstlich die Wände und den Boden nach Spinnen ab. Seltsamerweise begegnet mir keine, wo sie sonst überall in Ecken sitzen.

Unvermutet stoppt es mich vor einem Kellerabteil, dessen Tür sperrangelweit offen steht, als erwarte man mich. Ich erkenne die Regale meiner Mutter, die mit Marmelade aufgefüllten Gläsern und verstaubten Gebrauchsgegenständen beladen sind. Und da entdecke ich das Grab. Es ist eine tiefe Erdmulde im Kellerboden. Darin liegt mein Stiefvater wie eine Leiche. Gelähmt vor Schreck starre ich in sein bleiches Gesicht, fassungslos, ihn hier begraben zu sehen.

Der Schock lässt mich im Traum luzide werden. Mit aller Bewusstseinskraft erwecke ich mich aus diesem Albtraum.

Mein Herz pumpt wie ein Berserker. Ich sitze stocksteif im Bett, bin unfähig, mich zu bewegen. Angstschauer jagen über meinen Rücken.

„Nein, nicht. Bitte nicht mein Stiefvater“, rufe ich verzweifelt aus, als wäre der Albtraum nicht zu Ende.

„Ich muss unbedingt die Botschaften meiner Seele verstehen lernen“, schießt es mir durch den Kopf. „Ich muss das große Buch der Traumdeutung finden.“

Wenige Stunden später finde ich es in einer meiner Umzugskisten, wo ich es beinahe vergessen hätte. Ein guter Freund meines Verlobten schenkte mir das Buch zu meinem zwanzigsten Geburtstag. Damals wusste ich nichts damit anzufangen.

„Bitte, lass meinen Traum keine Vorsehung sein“, bete ich im Stillen, bevor ich meine erste Traumanalyse mithilfe des Traumdeutungsbuches starte.

Nervös blättere ich im Anhang von A–Z, wo einige Traumsymbole mit ihrer Bedeutung erklärt sind. Doch ich kann mich schlecht konzentrieren. Ich werde von Erinnerungen an meinen Stiefvater überwältigt. Ich denke an den Moment, als ich ihn das erste Mal sah.

Ich war neun Jahre alt und zuhause bei meiner ersten besten Freundin, in der Küche ihrer Mama. Damals kamen ihr Liebhaber und dessen Geschäftspartner jeden Freitagabend, um das Wochenende mit einem Bierchen einzuleiten. Einer von ihnen brachte uns stets Geschenke mit wie Schokolade oder ein Kartenspiel. Auch lachte und scherzte er mit uns Mädchen. Ich mochte ihn auf Anhieb. Ich wünschte ihn mir als Vater. Später, da war ich circa zwölf Jahre alt, schmiedete ich Pläne, ihn mit meiner Mama zu verkuppeln. Die Mutter meiner ersten besten Freundin half mir dabei.

Nachdem die Erinnerung an die Oberfläche kommen durfte, schaffe ich es, die Traumsymbole zu studieren, die meinen Keller-Albtraum beherrschten. Zu meiner Überraschung sind alle im großen Buch der Traumdeutung beschrieben. Als hätten es die Mächte des Unbewussten für ihre Regie benutzt. Aufgeregt über diese Entdeckung lese ich sogleich über das Traumsymbol nach, das mir am meisten Angst gemacht hat: die Leiche im Keller.

(15) „Die sprichwörtliche Leiche im Keller ist auch im Traum ein äußerst ungünstiges Bild. (…) Im Traum ist es das Signal für eine seelische Vergiftung. Die Leiche erscheint als Symbol einer abgestorbenen, unbeseelten Seite der Persönlichkeit, eines zutiefst im Unbewussten vergrabenen Komplexes, der von der Psyche wie ein zersetzender Fremdkörper mitgeschleppt wird.“

Einerseits beruhigt es mich, dass der tote Stiefvater aus meinem Traum keine Vorsehung ist. Anderseits finde ich die Idee äußerst unangenehm, in meiner Psyche könnte sich ein Komplex wie ein zersetzender Fremdkörper befinden.

Ich blättere weiter im großen Buch der Traumdeutung und stoße auf eine Erklärung der Traumfigur Vater. Sie gilt als Symbol für traditionelle Ordnung und natürliche Autorität. Und im Traum einer Frau entspricht die Vaterfigur dem inneren Abbild des Männlichen. Vom Symbol Keller weiß ich, dass es auf einen Mutterkomplex hinweist. Soweit so gut. Trotzdem erschließt sich mir nicht das große Ganze meines Traumes. Mir fehlt die Erfahrung mit Traumarbeit. Wieso also liegt mein Stiefvater tot im Kellerabteil meiner Mutter?

Es dauert einige Jahre, bis ich zu dem Schluss komme, dieser Traum will mich auf den Ursprung meines Traumas aufmerksam machen: Die böse Königinmutter, die die Prinzessin wegsperrt und vor deren Gewalt auch der stärkste König kapitulieren muss. Vielleicht erhoffte ich mir, im Stiefvater einen Retter zu finden. Tatsächlich mischte sich dieser nie in die Erziehung meiner Mutter ein. So bleibt meine Seele eine ganze Weile wie im Labyrinth einer fürchterlichen schwarzen Tarantel gefangen.

(16) „In der Kindheit und Jugend werden im Gehirn die Nervenzell-Netzwerke angelegt, die später darüber entscheiden, wie eine Person ihre Umwelt einschätzt und interpretiert, wie sie Beziehungen gestaltet und wie sie mit den Herausforderungen umgeht, die das Leben bereit hält. “

Die Sprache meiner Seele bleibt vorerst ein schwer zu entschlüsselnder Code und der sich zersetzende Fremdkörper vergiftet weiterhin mein Ich. Was einmal als Überlebensstrategie gedacht war, die Bildung eines Komplexes (Seelenkapsel), lähmt stetig meine Lebensgeister. Ich bin ständig so müde. Lebensmüdigkeit.

Seit der Trennung von meiner zweiten großen Liebe bin ich entweder wochenlang allein oder treibe mich stundenlang abends mit Freunden in Bars herum. Ich fühle mich entweder depressiv oder himmelhoch jauchzend. In dieser bipolaren Phase bricht abermals Beziehungsanarchie aus. Ich bin von vielen Verehrern umgeben, darunter ein Brasilianer, der mich unbedingt heiraten will.

Sogar mein platonischer Freund aus Teenager-Tagen, Psychopompos, bemüht sich, was ich zunächst als Fürsorge missverstehe. Wahrscheinlich verdränge ich seine Verliebtheit, weil ich in ihm den idealen, männlichen Lebensberater sehen will, der mich nicht wie ein Sexobjekt behandeln soll. Ich brauche seine seelische Unterstützung. Ich werde nach wie vor von Albträumen geflutet. Und der Abschluss meines Berufskollegs wird zu einem einzigen Kraftaufwand. Ich bin keineswegs aus meiner Nervenkrise heraus. Demzufolge lasse ich mich des Öfteren krankschreiben. Nur mithilfe dieser kleinen Auszeiten gelingt es mir, den Balanceakt zwischen Lernen, Jobben und den Phasen einer Katatonie zu halten. Beim Lernen muss ich Mut zur Lücke zeigen, mich auf das Wesentliche konzentrieren. Auf diese Weise schaffe ich die Abschlussprüfungen in Biologie, Physik sowie in anderen wichtigen Fächern.

Ich hangele mich durch. Ich absolviere erfolgreich die Fachhochschulreife. Alsbald verschicke ich Bewerbungen für einen Studienplatz. Während ich auf Antwort warte, besuche ich wieder meine Lieblingskneipe. Nach all den Entbehrungen und Büffelphasen möchte ich feiern gehen. Da begegne ich meiner dritten großen Liebe. Er ist in meinem Alter und ein Freigeist. Es gefällt mir, dass er für eine offene Beziehung ist. Damit macht er es mir leicht, mich auf ihn einzulassen. Eifersüchtige Männer sind mir ein Gräuel. Außerdem mag ich meine anderen Liebeleien nicht abrupt beenden. Diese Jungs sind auch meine besten Freunde geworden. Ich mag sie in meinem Leben behalten dürfen.

Dann erhalte ich zwei positive Zusagen für einen Studienplatz. Ich wähle denjenigen aus, der dem Wohnort meines neuen Liebhabers, dem Freigeist, am nächsten ist. Alles deutet auf einen Neuanfang hin, sowohl in meinem beruflichen Werdegang als auch in der Partnerschaft. Ich blicke in eine hoffnungsvolle Zukunft.

Ich bin fünfundzwanzig. Ich erhalte weiterhin BAföG und beginne mein Studium als Chemieingenieurin in der anderen Stadt. Warum ich nicht die Psychologie als Studium wähle, wo dies mein innigster Wunsch ist, bleibt mir lange ein Rätsel.

Meine dritte große Liebe, der Freigeist, bekommt ein Angebot für ein Auslandspraktikum, als ich gerade mal ein Semester lang in der anderen Stadt bin. Ich gönne ihm diese Erfahrung, wenngleich mich der Gedanke Angst macht, das nächste Semester allein in einer fremden Stadt zu sein.

Ich fürchte mich vor Einsamkeit, denn ich kann wenig Freunde machen. Ich jobbe weiterhin viel neben dem Studium, um meine Lebenserhaltungskosten im Griff zu behalten. Zum Beispiel arbeite ich fast jeden Abend als Servicekraft in einem Restaurant. Später nehme ich Aufträge als Laufsteg-Model für eine lokale Modelagentur an und zu guter Letzt arbeite ich als Setzerin in einer Lokalzeitung. Der Schreibmaschinenkurs kommt mir nun doch zugute.

Ich vermisse meinen Freund. Die wenigen Anrufe aus den USA genügen mir nicht als Zuwendung. Mir wird klar, dass ich für eine Fernbeziehung ungeeignet bin. Zuviel Kopfkino, zu viel Raum für Projektionen. Mein Vertrauen in unsere Liebe bekommt erste Risse.

Pünktlich zum Wintersemester bin ich depressiv. Dieser Gemütszustand ist wie eine wiederkehrende Jahreszeit. Besonders im Herbst, wenn die Blätter von den Bäumen fallen sowie im Winter, wenn eine dicke Schneedecke alles Lebendige unter sich begräbt, erhebt sich die Depression wie ein großer schwarzer Vogel aus den Untiefen meines Seins, schlägt ihre Klauen in mein Herz. Mit stetigem Flügelschlag trägt es mich weg von meiner Blumenwiese, direkt in den Höllenschlund hinein.

Von Außen sieht es mir keiner an. Ich halte die Maske einer starken Kämpferin aufrecht. Doch in Wahrheit bin ich eine miese Schwimmerin im großen Ozean des Lebens. Ich halte kaum meinen Kopf über Wasser. Ständig versinke ich vor Erschöpfung in den Untiefen meines Tränenmeeres. In dieser bedrückenden Phase zelebrieren sich erneut Albträume. Manchmal denke ich, sie sind das einzig Lebendige in mir. Und obwohl sie mich nach wie vor stressen und die Traumarbeit kompliziert ist, begrüße ich sie. Ohne meine Träume wäre ich wahrscheinlich tot.

Das große Buch der Traumdeutung kommt inzwischen täglich zum Einsatz. Die Buchseiten sind voller Flecken vom Kaffee oder Tränenfluss. Manchmal möchte ich am liebsten in die Welt der Mythen hineinkriechen, ahne ich doch, ich könne darüber die Kontrolle über meine emotionale Sintflut zurückerlangen.

„Wenn ich meine Träume verstehe, beruhigt sich dann meine flatternde Seele?“, frage ich mich.

Ich bin sechsundzwanzig. Der Freigeist ist aus dem Ausland zurück. Doch es fällt mir schwer, an meine Gefühle für ihn anzuknüpfen. Das letzte Semester, während seiner Abwesenheit, veränderte mich. Seit dem sind mir meine Traumen im Bewusstsein präsenter als je zuvor. Ich denke viel darüber nach, eine Psychotherapie zu machen. Ich traue mich und bespreche meine Pläne in Bezug auf meine seelische Heilung mit dem Freigeist. Es ist mein erstes Outing. Ich spreche zum ersten Mal offen über den sexuellen Missbrauch in meiner Kindheit.

Leider reagiert der Freigeist abweisend. Er spricht sich gegen eine Psychotherapie aus, denn „seine Freundin geht nicht zu einem Psycho-Onkel“.

Warum werde ich jedes Mal verletzt oder im Stich gelassen, wenn ich mich öffne? Re-Trauma. Ein Semester darauf verlasse ich meine dritte große Liebe. Ich kann nicht mit jemanden sein, der mich nicht so nimmt, wie ich bin. Bindungsbruch.

Und wieder stürze ich mich ins Studium und die vielen Nebenjobs, kann den Verlust meines Freundes nicht kompensieren. Obwohl Psychopompos inzwischen in meiner Stadt lebt, sehen wir uns nicht. Er nimmt mir die Beziehung zum Freigeist immer noch übel. Auch ein Kurztrip nach Miami führt nicht zu der Erholung, die ich mir insgeheim erhoffe. Dafür kehre ich nach einer tragischen Begegnung mit einem Native American mit einer größeren Verwirrung im Herzen zurück, als jemals zuvor.

Ich bleibe vorerst solo. Mir schlagen diese Bindungsbrüche auf den Magen. Mein Bauch reagiert gereizt, ist eine chronische Blähkugel gleich einem Kugelfisch in seiner krassen Abwehrreaktion. Obendrein plagt mich die Lumbalgie und hält mich ohne Unterlass im Rückenschmerz gefangen.

Diese Zeit, während meines Studiums, ist eine Leidensphase. Ich komme nicht zur Ruhe. Und dann sind da diese schwierigen Klausuren. Ich habe Angst, zu versagen.

Ich bin 27-jährig, als sich die Ereignisse zu spitzen. In Europa grassiert der Bosnienkrieg, mit dem ich mich nicht auseinandersetze, noch nicht. Vielmehr versuche ich, mich von negativen Dingen abzulenken. Ich gehe mit einer Kollegin, die im gleichen Restaurant als Servicekraft arbeitet, auf eine Uni-Fete. Wir treffen auf einen Bekannten von ihr, den sie mir als Zahnarzt vorstellt. Eigentlich mag ich ihn gar nicht. Trotzdem erlaube ich es ihm, mir Avancen zu machen.

Da steht unerwartet der Freigeist vor meiner Tür. Er möchte mich zurückhaben, bereut seine Ignoranz meinem Trauma gegenüber. Er macht mir sogar einen ernst zu nehmenden Heiratsantrag.

Ich bin gerührt und erlaube ihm, mich zu lieben als wäre es ein letztes Mal. Und tatsächlich wird unsere sexuelle Begegnung zu einem meiner wichtigsten Momente auf dem Weg zur Selbstheilung. Ich wünschte, dies hätte für einen Neuanfang genügt. Doch ich bin mit Siebenmeilenstiefeln vorangegangen. Ich schaffe es nicht zu ihm zurück.

Mein Schicksal ist besiegelt. Ich gehe in die Partnerschaft mit dem Zahnarzt von der Uni-Fete. Bald bereue ich meine Entscheidung, denn dieser Kerl führt mich in den Sumpf von häuslicher Gewalt, und das im Kontext des Bosnienkrieges, in dem Frauen und Mädchen systematisch vergewaltigt werden. Abermals bin ich Opfer sexueller Herrschaft. Re-Trauma. Es nimmt kein Ende.

Auch nach meinem Studium erlebe ich laufend Flashbacks. Mal sind es eifersüchtige Frauen, die mich mobben, wie damals meine Mama. Mal sind es übersexualisierte Männer, die mich in allen Lebensbereichen dominieren wollen, wie damals mein Papa. Wie kann ich diesem verhängnisvollen Opfer-Täter-Dilemma entkommen, wo doch die ganze Gesellschaft traumatisiert ist, und ich mich deswegen ständig neu infiziere? Egal in welche Stadt ich ziehe, das Psychodrama folgt mir oder ist bereits da.

Drei Jahre später schließe ich erfolgreich mein naturwissenschaftliches Studium ab. Ein weiteres Mal lehne ich einen Einstieg in den erlernten Beruf ab, entscheide mich für einen anderen, viel interessanteren Job in der IT-Branche. Auch nehme ich hierfür ein drittes Mal einen Ortswechsel vor. Trotz der Widrigkeiten, die mir wie Pech und Schwefel an den Fersen kleben, baue ich mir ein neues Leben auf. Im Beruf bin ich schnell erfolgreich. Hingegen vergehen drei weitere Jahre, bis ich auf einer der legendären Cebit-Parties meinen Ehemann kennenlerne.

Es ist egal, was ich mache, alles erscheint sinnlos und falsch. Meine Welt steht zum xten Mal auf dem Kopf. Und dabei ist es nicht meine Schuld. Das denke ich jedenfalls. In der IT-Branche kommt es zu einem Finanzkollaps - die Dotcom Blase platzt. Alles war bloß Fake, so auch mein Ehemann. Er bricht sein Versprechen, mit mir eine Familie zu gründen, mobbt mich und plündert hinter meinem Rücken die gemeinsame Haushaltskasse für seine private Schuldentilgung. Er lügt mich an. Aber als er mich mit unserem gemeinsam geplanten Urlaub sitzen lässt, platzt meine Geduld. Ich verlasse ihn, weil ich mich von ihm auf ganzer Linie verraten fühle.

(17) „Die Verratsmentalität, eine der Hauptursachen für ein gebrochenes Herz, entstammt einem alten Verrat-Schuld-Muster. Wenn unsere Ursprungsfamilie keine tiefe emotionale Bindung zueinander hatte, werden immer Elemente des Verrats, Betrugs und des emotionalen Schmerzes vorhanden sein.“

Ich gehe im Fluss meiner Tränen unter. Ich ertrinke. Ich bin wieder depressiv. Mittlerweile habe ich gar kein Vertrauen in meine Fähigkeit, mir ein soziales sicheres Umfeld aufzubauen und meinen Erfolg im Beruf stabil zu halten. Ich verliere das Vertrauen, in meine Menschenkenntnisse und darin, eine tragende Beziehung zu haben. Ich weiß nicht, wer gut oder schlecht für mich ist. Tatsächlich habe ich kaum Erfahrung mit liebevollen und fürsorglichen Menschen, denn weder Mutter noch Vater waren so. Sie haben mir das nicht mitgegeben. Dafür ist alles so schrecklich fragil und zerbrechlich, wie es meine Bindung zu ihnen war.

Ich fürchte, ich werde den Dämonen meiner Kindheit niemals entkommen. Der Gedanke, für den Rest meines Lebens eine Gefangene der schrecklichen Traumen meiner Kindheit zu bleiben, stürzt mich ins Uferlose. Die Blueprints meiner tyrannischen Eltern sind in mein Nervenzell-Netzwerk eingebrannt, da bin ich mir inzwischen sicher. Ja wahrscheinlich veränderte es sogar meine DNA.

Keine Hoffnung zu haben, je ein gewaltfreies Leben führen zu können, zwingt mich in die Knie. Ich bin mit meinem Latein am Ende. Als wäre meine seelische Verfassung nicht schlimm genug, bekomme ich heftige Rückenschmerzen. Schon wieder Lumbago. Er hindert mich unbarmherzig am Voranschreiten. Auch in meinem Magen brennt es wiederkehrend wie Feuer, eine Folge der erlebten Intrigen, sowohl im Privaten als auch im Beruflichen. Alles das schlägt mir derart auf den Magen, dass ich schlussendlich einen Arzt konsultieren muss. Dieser diagnostiziert eine Refluxösophagitis höheren Grades. Er sagt, wegen eines Zwerchfellbruchs fließt der saure Magenbrei zurück in meine Speiseröhre und verätzt ihre Membran.

In der Tat ist alles in meinem Leben ätzend.

Ich bilde ihn mir förmlich ein, diesen sich zersetzenden Fremdkörper in meiner Psyche, und wie er mich langsam aber sicher von innen heraus vergiftet. Oder soll ich besser von einem energetischen Parasiten sprechen, der seine zerstörerischen Botenstoffe in meine Lebensadern absetzt, mich als Wirt benutzt und auf meine Kosten lebt, während es mich zu meinem Nachteil verändert. Ich verliere mich. Mein geistig-psychischer Zustand verschlechtert sich zusehends. Inzwischen sehe ich in allen Mitmenschen nur noch Vampire, die mein Blut wollen oder Zombies, die mich zerfleischen wollen. Ich weiß nicht, wer Freund oder Feind ist. Ich habe große Angst vor Beziehungen, und dass sie immer dann toxisch werden, wenn ich mich öffne.

„Ich bin müde. Ich kann nicht mehr. Lasst mich sterben. All das, muss endlich ein Ende haben. Bitte lasst mich sterben“, zermartert es mein Hirn.

Von großer Niedergeschlagenheit überwältigt, weine ich tagelang.

„Woher kommt bloß diese unendliche Traurigkeit?“, schluchze ich in mein Kissen. „Hört das denn niemals auf?“

Mein Tränenfluss mündet inzwischen in einen riesigen Ozean, in dem ich mich aufzulösen drohe. Ich fühle mich wertlos. Ich fühle mich schuldig für mein Versagen. Aber am schlimmsten ist das Gefühl, nicht geliebt zu sein, und stattdessen wie eine Objekt behandelt zu werden, dass man emotional und sexuell missbrauchen kann.

„Wieso fühle ich mich wie eine Hure, obwohl ich keine bin? Ständig fühle ich mich so“, trauere ich um den Verlust meiner Würde.

Ich kämpfe so sehr um die Liebe, und das obwohl sie jedes Mal so weh tut.

Re-Trauma. Meine Todessehnsucht bricht mit voller Wucht aus, und ich habe abermals einen Klartraum.

Ich liege rücklings in einer Felsmulde, hoch oben im Gebirge. Ich starre in den Himmel, seelisch ausgebrannt und körperlich zerschlagen. Raubvögel ziehen schon ihre Kreise über mir. Verzweifelt rufe ich ihnen zu:

„Bringt es zu Ende. Führt meinen Geist nach Hause.“

Von Geiern und Adlern gefressen zu werden, erscheint mir als das einzig Sinnvolle, was mir in meinem armseeligen Dasein geschehen könnte.

Ich wünschte, ich könnte mit meiner Seele meinen Körper vollständig verlassen. Mit dem Sterben verbinde ich längst die sanfte Lösung meiner Probleme. Das Leben hingegen bedeutet für mich Hölle auf Erden. Ich fühle mich schon lange nicht mehr wie Mensch. Ich komme mir wie ein Geist vor, war ich doch von Anfang an dem Tod näher als dem Leben. Zombie-Dasein. Ich spüre kaum etwas. Meine Sinne sind wie betäubt und meine Gefühle abgestumpft. Ich bin ein leichtes Opfer für Menschen mit vampirischen Eigenschaften, denn mir fehlt die Kraft für diese sinnlosen Machtkämpfe. Sie können mich leicht überwältigen und meinen Lebenssaft vollends aussaugen. Ich wünschte, sie würden mir den Todesstoß geben, mich endlich von dem Leid befreien, das sie mit ihrem ausbeutenden Verhalten aufrecht erhalten. Re-Trauma.

Jedes Mal, wenn das letzte Fünkchen Überlebenswille in Suizidgedanken untergeht, verkrampft sich mein Herz im Schmerz. Dieser erinnert mich daran, dass ich eigentlich nicht sterben will. In meiner Aufregung, man könne an gebrochenem Herzen versterben, google ich im Internet, ob so etwas überhaupt möglich ist. Tatsächlich stoße ich bei meiner Recherche auf das Tako-Tsubo-Syndrom. Demnach könnte durchaus der emotionale Stress, dem ich seit Jahren ausgesetzt bin, zu einer Veränderung der linken Herzkammer führen. Ist es also möglich, an einem gebrochenen Herzen zu versterben?

„Vielleicht bin ich längst tot? Vielleicht starb ich im Bauch von Mama und wandle seitdem als Untote auf dieser Erde umher?“, denke ich bestürzt.

Da entsinne ich mich meines inkompletten Rechtsschenkelblocks.

Ich war neunzehn, als ein Kardiologe während eines Belastungs-EKGs diese Störung der Erregungsleitung in meiner rechten Herzkammer findet.

„Da sind Narben in Ihrem Herzmuskel. Offensichtlich haben Sie einen Herzinfarkt überlebt“, diagnostiziert der junge Arzt.

Ich hörte zwar seine Worte, konnte jedoch diese Information nicht einordnen.

Jahre später, im Kontext meines gebrochenen Herzens, fällt ein neues Licht auf seine Feststellung. Ich rufe kurz entschlossen Mama an. Vielleicht weiß sie, ob und wieso ich einen Herzinfarkt überlebt haben könnte.

„Davon weiß ich nichts. Ihr ward alle kerngesund“, wehrt meine Mutter ab.

Damit verläuft meine Recherche über die Störung einer Erregungsleitung im myogenen Gewebe meines rechten Herzmuskels im Sand. Die wahre Ursache der Narbe, sofern die Aussage des Kardiologen stimmt, bleibt für mich zunächst ein Rätsel. Dafür taucht noch mal eine Erinnerung aus frühen Kindheitstagen auf.

Ich bin circa sechs Jahre alt und sitze auf dem Sofa meiner Mutter. Daneben steht ein kleiner Tisch mit einer Tischlampe, sowie ein Korb mit Strickzeug.

Während ich meine Mama in der Küche klappern höre, untersuche ich gelangweilt die Lampe. Ihr fehlt eine Glühbirne. Nun doch neugierig geworden, blicke ich unter den Lampenschirm, wo ich ein dunkles, metallisches Loch entdecke. Dann fällt mein Blick auf eine Stricknadel, die keck aus dem Strickkorb herausragt. Kurzerhand ergreife ich sie und stecke sie, wie von fremden Fäden gezogen, tief in das metallische Loch. Kurzschluss. Augenblicklich trifft mich ein gewaltiger Blitzschlag, dessen Wucht mich vom Sofa schleudert. Ich pralle hart auf dem Boden auf und stoße einen spitzen, hohen Schrei aus. Noch bevor sein Schall im Wohnzimmer verklingt, steht meine Mutter neben mir. Sie schlägt die Hände über ihrem Kopf zusammen.

„Um Gottes willen, Kind, was machst du da? Man spielt halt nicht mit elektrischen Sachen. Da war noch Strom drauf“, ruft sie entsetzt aus.

Ob meine Mama mich danach in ein Krankenhaus zur Kontrolle und Überwachung meines Gesundheitszustandes verbrachte, behalte ich nicht in Erinnerung.

Auch verhaftet mir nicht im Gedächtnis, ob sie mir den Hintern versohlte oder mich tröstend in die Arme nahm. Zurück bleibt ein dumpfes Gefühl, ich könne an meiner Narbe im rechten Herzmuskel selbst Schuld sein.

Ich bin sechsunddreissig und mittlerweile von einer aufregenden Australienreise zurück. In meiner Küche sitzt ein Freund zu Besuch, der quasi Nachfolger von Psychopompos. Alle nennen ihn Professor, weil er sehr gebildet ist, insbesondere im naturwissenschaftlichen Sektor. Auch für mich ist er wie ein Gelehrter. Das erste Mal begegnete er mir während meiner Diplomarbeit in einem Automobilunternehmen. Das heißt, er ist seit einigen Jahren Zeitzeuge meines turbulenten Lebens. Oft genug versucht er mich zu coachen, wenn meine Lebenspläne mal wieder crashen. Unsere Beziehung ist übrigens rein platonisch. So sehe ich das jedenfalls.

Der Professor befindet sich also bei mir und trinkt Tee, während wir meine Lebenssituation reflektieren. Ich spüre, dass er mir helfen will.

„Du musst etwas tun. Werde endlich aktiv und nimm dein Schicksal in die Hand“, sagt er auch schon, besorgt um mich.

„Ich weiß nicht, wie ich das anstellen soll. Ich bin in einer Sackgasse“, antworte ich, hilflos dreinblickend.

Doch der Professor wäre nicht der Professor, hätte er nicht eine Idee. Mit einem allwissenden Lächeln zieht er ein Kartenset aus seiner Jackentasche. Flink verstreut er dessen Inhalt auf meinem Küchentisch. Ein Gemenge an schwarzen, blauen, orangefarbenen, sowie weißen, grünen und rosafarbenen Karten breitet sich vor mir aus.

„Du meinst, diese Karten erlösen mich von meinem inneren Druck?“, frage ich etwas belustigt.

„Das sind spezielle Karten. Ein mexikanischer Schamane hat damit ein System entwickelt. Er benutzt sozusagen mithilfe der Karten die Kräfte des Unbewussten. Vertraue mir einfach. Schließe deine Augen und ziehe eine“, sagt er lachend.

„Okay, ich hab‘ nichts zu verlieren“, gebe ich ein, meine Augen schließend.

„Stelle währenddessen die Frage nach deinem Anliegen. Was ist dein Thema?“, gibt der Professor weitere Anweisungen.

„Was ist aktuell mein Thema?“, frage ich laut in den Küchenraum hinein.

Hiernach durchforste ich mit beiden Händen das bunt gemischte Gemenge an Karten vor mir auf dem Tisch. Da ist mir, als gäbe es in meinen Fingerspitzen der rechten Hand einen kleinen Sog. Ich greife mir die darunter liegende Karte. Noch bevor ich meine Augen öffne, entreißt sie mir der Professor.

„Wusste ich es doch“, ruft er enthusiastisch aus.

Ich starre ihn verständnislos an. Um was geht es? Endlich dreht er mir die Vorderseite der Karte zu, auf der ein Begriff zu lesen ist: Todessehnsucht.

(18) „(…) Todessehnsucht, die eine Reaktion auf Enttäuschungen darstellt, ein Ringen mit dem Leben oder ein Verwünschen des Lebens. Diese Todesform wird zu einer Art Machtkampf, in dem du bewusst oder unterbewusst zur Selbstzerstörung getrieben wirst. Du hast das Gefühl, allein der Tod könne deinem Schmerz oder der von dir erfahrenen Erschöpfung wirklich ein Ende setzen. Tatsächlich aber stellt deine Todessehnsucht eine Gelegenheit dar, deine Lebensumstände genauerzu betrachten und eine Neugeburt zu erfahren, (…). “

Das Resultat haut mich von den Socken. Ich spüre sofort den Wahrheitsgehalt dieser Karte. Sogleich fängt es an, in meinem Kopf zu arbeiten. Mein Hirn läuft auf Hochtouren, mein Blutdruck steigt. Wild klopft es an meinen Schläfen wie Trommelschläge. Und dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen.

„Schon seltsam. Ich denke jeden Tag an Suizid und war mir dennoch meiner Todessehnsucht nie bewusst.“

(19) „(…) dass einem Menschen zugefügte Schmerzen den Effekt haben, im Gehirn dieses Menschen Gene zu aktivieren, die stark wirksame körpereigene Schmerzdämpfer (so genannte „endogene Opioide“ oder‚‚Endorphine‘) herstellen. “

All die Jahre wusste ich nichts von den physischen Folgen sexueller Gewalt. Dass der Körper im Stress eigene Endorphine ausschüttet, die einerseits den Schmerz dämpfen, andererseits eine Spaltung herbeifuhren. Nun dämmert mir, warum ich mich wie ein Zombie fühle, so dumpf und leer. Obwohl ich mich wegen dieses Zustandes oft umbringen wollte, konnte ich genau deswegen keine suizidale Handlung vornehmen. Körpereigene Endorphine bewahrten mich sozusagen vor einer großen Dummheit.

Ich stimme dem Professor zu. Ich sollte dringend etwas unternehmen, um endlich aus dieser Dissoziation herauszukommen. Ich sollte mich meiner Todessehnsucht stellen. In Wahrheit suche ich einen Neuanfang im Leben.

„Kennst du jemanden, der mir dabei helfen kann?“, frage ich den Professor.

„Ich will meinen Träumen nachgehen, die ich in der Kindheit hatte. Ich glaube, darin liegt eine wichtige Botschaft für mich verborgen, aber kein Psychotherapeut ging je darauf ein“, erkläre ich ihm, was ich brauche.

„Eine Rückführung könnte helfen“, antwortet er prompt. „Ich kenne da einen, der gut ist. Wenn du magst, können wir das bei mir im Wohnzimmer machen.“

Gleich am nächsten Tag telefoniere ich mit einem Schamanen-Novizen, der mir erfreulicherweise sofort einen Termin für meine erste Rückführung gibt.

Ich liege rücklings auf dem grauen Teppich im Wohnzimmer des Professors. Neben mir befindet sich ein roséfarbenes Sofa, auf dem es sich der Schamanen-Novize im Schneidersitz bequem macht. Auf seinem Schoß liegt ein weißer Ringordner, den er mit gespitztem Zeigefinger durchblättert, auf der Suche nach dem richtigen Leitfaden für meine bevorstehende Rückführung.

Er beginnt mit einer autogenen Übung, die mir bereits geläufig ist. Unverzüglich bin ich tiefenentspannt.

„Ich bin ganz warm und schwer“, höre ich seine Stimme bereits aus weiter Entfernung. Es gibt nur mich und diese leere schwarze Leinwand hinter meinen geschlossenen Augenlidern. Dann beginnt auch schon die aktive Imagination.

Ich sehe eine violette menschliche Gestalt. Ihr Rumpf ist abgesenkt, wodurch ihr Becken höher liegt als der Schultergürtel. Ihr Kopf neigt sich zu Boden. Diese seltsame Körperhaltung gleicht einem Sprinter, der auf einen Startschuss wartet.

Und da schießt meine Traumseele in diesen violetten Läufer hinein, wie eine Pistolenkugel. Die Verschmelzung mit dieser lilafarbenen Gestalt ist also der Startschuss. Pfeilschnell, mit angelegten Armen, schießt es mich wie einen Bob-Fahrer ins weite Universum hinein.

Danach sehe, höre und fühle ich nichts mehr.

„Wo bist du? Und wie alt bist du?“, dringt nach einer Weile die Stimme des Schamanen-Novizen zu mir durch.

Noch benommen von meiner ersten außerkörperlichen Erfahrung versuche ich, auf die beiden Fragen einzugehen. Dabei bemerke ich die bleierne Schwere, sowohl meiner Augenlider als auch meines Körpers. Ich kann weder meine Augen öffnen noch meine Gliedmaßen bewegen. Ich lenke meine Aufmerksamkeit wieder auf die Leinwand hinter meinen Augenlidern.

Ich sehe im Close-up bleiche Füße, die auf dem Grund eines Gewässers stehen.

Dann kapiere ich es. Die Füße gehören mir. Ich stehe bis zum Hals im Wasser eines großen Flusses. Mein Kopf hält sich gerade mal so über der Wasseroberfläche, weshalb ich meinen Blick auf eine Brücke richten kann. Sie befindet sich in kurzer Distanz zu mir und überspannt den Flusslauf. Das Viadukt erinnert mich an den Pont Neuf, eine berühmte Brücke in einer berühmten Hauptstadt.

„Bin ich etwa in Paris in der Seine? Und wieso stehe ich bis zum Hals im Wasser?“, denke ich blitzschnell.

„Ich begehe Selbstmord“, rufe ich laut aus.

„Wie alt bist du?“, fragt der Schamanen-Novize.

„Ich weiß es nicht. Ich bin blockiert“, antworte ich benommen.

„Gehe weiter zurück“, weist mich der Novize an, um meine inneren Bilder wieder in den Flow zurückzubringen. Und tatsächlich verändert sich die Szene hinter meinen bleiernen Augenlidern.

Ein 7-jähriger Knabe im Gewand des Spätrokoko taucht auf. Er mutet wie ein kleiner Prinz an.

„Ich glaube, ich befinde mich im 19. Jahrhundert“, leite ich an seiner Mode ab.

Dann wechselt wieder abrupt die Dynamik.

Nun stehe ich in einem dunklen Tunnel. Ich bin unentschlossen, in welche Richtung ich mich bewegen soll. Einmal blicke ich nach vorne in gleißend-weißes Licht, dann hinter mich in eine diffuse Dunkelheit.

„Warum zögerst du?“, dringt die Stimme des Schamanen-Novizen an mein Ohr.

„Ich muss noch einmal zurück zum kleinen Prinzen“, sage ich mit schwerer Zunge. Kaum spreche ich diese Worte aus, befinde ich mich auch schon wieder in der Dimension des kleinen Prinzen, der inzwischen zu einem jungen Mann Anfang Zwanzig herangewachsen ist.

Ich komme gerade im richtigen Moment dazu, wie sich der junge Mann in großem Kummer in den Fluss stürzen will. Instinktiv will meine Hand ihn retten. Und er greift sie. Tropfnass und mit jämmerlichem Gesichtsausdruck steht er vor mir. Da empfinde ich unverhofft großes Mitleid mit ihm. Ich fühle tiefe Empathie und spüre seinen Schmerz, als wäre es mein eigener.

Und dann offenbart sich mir die Ursache für sein ganzes Leid.

Ich sehe eine Prinzessin, eingesperrt im Turmzimmer - die Zwillingsschwester. Und obwohl es die böse Königinmutter ist, die sie gefangen hält, überwältigt es den Prinz mit Schuld- und Schamgefühlen.

Nach dieser letzten Vision schüttelt mich ein Weinkrampf. Ich verliere den Kontakt zu meinem Unbewussten. Der Schamanen-Novize reagiert sofort auf meinen Prozess. Er greift ein, in dem er mir Worte in den Mund legt, die er wahrscheinlich aus seinem weißen Ringordner abliest. Ich soll sie laut aussprechen. Tatsächlich führt es mich zurück in die inneren Bilder.

Ich selbst bin mit einem Mal die Resonanzgeberin des jungen Prinzen. In dieser Funktion stehe ich, wie in einer Aufstellung, der Prinzessin gegenüber. Wir halten uns fest an beiden Händen, schauen uns tief in die Augen. Dabei sage ich jene Worte, die mir vom Novizen aufgetragen wurden. Sie kommen mir wie eine Zauberformel vor, die ein hoffnungsloses Versprechen auflösen soll. Es gilt, loszulassen. Ich soll nicht hinter mich schauen, sondern voranschreiten.

Die Zauberformel zeigt Wirkung. Meine innere Dynamik ändert sich erneut.

Ich bin zurück im Tunnel, der mir wie ein Übergang zwischen Welten erscheint. Da ich jetzt frei bin, bewege ich mich auf das gleißend-weiße Licht zu. Ich komme gerade am Ende des Tunnels an, da erscheint urplötzlich das Gesicht meines Vaters. Sein Anblick löst augenblicklich einen anderen großen Schmerz in meiner Seele aus.

„Papa, ich vermisse dich“, ruft mein gebrochenes Herz ihm zu.

Dann schüttelt es mich wieder im Weinkrampf. Ich ertrinke in den Fluten meiner Tränen. Dann höre, sehe und fühle ich eine Weile nichts mehr.

Indessen wartet der Schamanen-Novize geduldig meinen tränenreichen Reinigungsprozess ab. Ich vermute, er überwacht ebenso meinen Körper, der nach wie vor bleischwer auf dem grauen Teppich liegt. Meine Augäpfel rollen inzwischen hinter den geschlossenen Augenlidern wild hin und her. Gleichzeitig steigt mein Puls an. Auch meine Atmung wird heftiger. REM (Rapid Eye Movement) setzt ein.

Ich sehe Alma Mater auf mich zukommen. Sie gesellt sich zu mir, als wolle sie mich unterstützen. Es ist mir nicht möglich, sie freudig zu begrüßen, weil bereits die nächste Person ins Licht tritt. Sie zieht meine ganze Aufmerksamkeit auf sich. Es ist eine ältere Frau, die sich an die Seite meines Vaters stellt. Es dauert eine Sekunde, bis ich in ihr meine Großmutter väterlicherseits (die Mutter meines Vaters) erkenne, oder besser gesagt „erfühle“. Ich lernte sie nie kennen, weil sie mit neunzehn Jahren bei einem Autounfall verstarb. Sie verließ damals ihren Sohn (meinen Papa) in seinem sechsten Lebensmonat.

Es scheint, alle sind anwesend, die es für den nächsten Schritt braucht.

Ich bemerke, wie meine Großmutter väterlicherseits wild gestikuliert. Sie gibt mir offensichtlich Zeichen, auf meinen Vater zu hören.

„Folge mir“, ruft dieser mir auch schon winkend zu.

Unsicher, wie ich auf diese Aufforderung reagieren soll, suche ich den Blickkontakt zu Alma Mater. Sie steht weiterhin an meiner Seite und ergreift meine Hand.

„Geh nur. Ich begleite dich“, sagt sie aufmunternd.

Während meine Oma indessen im Licht zurückbleibt, heften wir uns Händchen haltend an die Fersen meines Vaters. Er übernimmt die Führung. Pfeilschnell schießen wir allesamt, eine Dreiecksformation bildend, wie man es bei Zugvögeln kennt, tiefer ins Unbewusste hinein.

Während mein Körper weiterhin bleischwer auf dem grauen Teppich zurückbleibt, spannt sich meine Traumseele auf wie ein großer Regenbogen. Mein Bewusstsein ist immens erweitert. Ich orte Geräusche und Düfte in der Wohnung mit meinen normalen Sinnen. Gleichzeitig sehe ich die inneren Bilder meiner nichtalltäglichen Wirklichkeit klar und deutlich.

Je weiter ich mit meinen Vater und Alma Mater in dieses, wie es scheint unendlich große, Universum eindringe, desto mehr verliere ich das Empfinden für die Schwerkraft meines physischen Körpers. Es ist, als ob der graue Teppich unter mir weggezogen würde. Der Boden unter mir öffnet sich, wie eine Klappe.

Nun bin ich im Himmel und schwebe, wie ein Adler, über nicht enden wollenden Wiesen und Wälder.

Dieser freie Flug berauscht mich. Ich falle wieder in Trance, höre, sehe und fühle für eine Weile nichts. Ich kann nicht sagen, wie lange es dauert, bis ich in meinem Traumbewusstsein wieder klar werde. Das Gefühl für meine Schwerkraft kehrt zurück und gibt mir eine Orientierung in der alltäglichen Wirklichkeit. Ich liege immer noch bleischwer und völlig unbeweglich auf dem grauen Teppich im Wohnzimmer des Professors. Dann setzt ein zweites Mal REM ein und ich sehe ein Burgschloss.

(20) „Oft erscheint das Schloss als archetypisches Muttersymbol. (…) In den meisten Fällen informiert das Traumbewusstsein mit dem Schloss über einen Mutterkomplex. “

Mein Vater fliegt auf es zu, mit seinen hellen Fenstern und seiner ausladenden Steintreppe. Er stoppt an ihrer untersten Stufe und beendet damit unseren Flug. Sogleich werde ich von einem starken Energiesog erfasst, der mich in die erleuchtete Schlosshalle hineinträgt, als wäre ich eine leichte Feder.

Alma Mater und mein Vater folgen mir nicht. Ich bleibe allein.

Und da erkenne ich das Szenario. Es ist die Burg aus meinen Albträumen mit dem großen knisternden Kaminfeuer in der Eingangshalle. Hoch oben im Gebälk entdecke ich zudem jene Eule, die mich vom Kinderschrank aus beobachtete, als ich 7-jährig meinen Suizid visionierte. Auch jetzt beäugt sie mich aufmerksam.

Dann wechselt die Traumdynamik Schlag auf Schlag.

Ich stehe ganz nah vor dem offenen Kaminfeuer, als ich unerwartet einen Stoß von hinten erhalte. Ich stürze ins Feuer. Ich brenne lichterloh.

(21) „Das Feuer ist von höchstem Nutzen. Allgemein gesehen ist das Feuer ein Symbol psychischer Energie. Es kann auch als Symbol für eine seelische Reinigung auftauchen und ebenso als ein Erneuerungs- und Wiedergeburtssymbol. “

Gleichwohl sich der Feuertod im Klartraum abspielt, schießt ein ungeheuerlicher Schmerz wie eine Stichflamme in mein Körper ein. Er kommt mit einer solch gewaltigen Wucht, er könnte Stahl verbiegen. Und so krümmt es mich mit großer Kraft in eine Embryonalhaltung, trotz meiner bleischweren Glieder. Wie in Zeitlupe ziehen sich meine paralysierten Arme und Beine von ganz allein zur Körpermitte hin. Mir wird Angst und Bang. Genauso muss sich Sterben anfühlen. Die Empfindung ist derart präsent, dass sie meine Aufmerksamkeit fesselt. So entgeht mir nicht der Wirbel auf der Höhe meines Bauchnabels. Ich nehme deutlich wahr, wie er im Zentrum Stärke aufbaut, bis es ihn mit einem Ruck aus mir herauskatapultiert. Meine Seele hat mich soeben verlassen. Ich bin von diesem Prozess völlig überrollt. Es dauert etwas, bis ich wieder klar werde und sich der Traum fortsetzen kann.

Ich befinde mich nach wie vor in der Burghalle. Doch dieses Mal schwebe ich wie eine Wolke über dem Kamin. Ich spüre meine physische Auflösung, wie ich zu Asche werde. Und da sehe ich sie - die Person, die mich ins Feuer gestoßen hat. Es ist meine Mutter.

Der Schreck sitzt tief. Ich erlaube mir nicht den Gedanken, meine Mutter könnte Tötungsabsichten gehabt haben. Das ist ja unfassbar. Aber mein Körper weiß es besser. Er reagiert. Alles Blut weicht aus meinen Extremitäten, und sogar aus meinen Lippen, die sich nun zu einem stummen Schrei formen. Genau in diesem Augenblick sehe ich das Bildnis von Edward Munch „Der Schrei“ vor mir. Irgendwie geschieht alles gleichzeitig, nehme ich alles in ein und demselben Moment wahr. Sogar meinen Körper, der inzwischen wie ein toter Fötus starr am Boden liegt.

Dieser Verlauf meines Prozesses beunruhigt den Schamanen-Novizen. Besorgt steigt er vom rosafarbenen Sofa herab. Er legt sich verzweifelt auf mich, um meine Gliedmaßen zu strecken. Ihn beunruhigt meine körperliche Verkrampfung, die weder erwartet noch erwünscht war. Gefahr ist im Verzug.

„Stopp! Komm zurück. Breche die Reise ab! Bitte komm zurück“, ruft er aus.

Zu spät. Ich kann diesen rituellen Sterbeprozess nicht unterbinden. Da erschlaffe ich plötzlich mit einem Schlag. Mein Bewusstsein ist frei. Nun umhüllt mich eine samtene Dunkelheit, die mich geborgen fühlen lässt. Alles ist so friedlich. Diese Stille in mir ist wundervoll. Ich bin ohne Angst und Schmerz. Ich bin klar.

(22) „Denn das Feuer wie die Flamme symbolisieren ebenso die Kraft des Geistes und einer geistigen Welt.“

Und dann sehe ich sie. Ich sehe zuerst eine andere Treppe, die sich unendlich nach oben zu winden scheint. Danach bemerke ich auf der untersten Stufe links den schwarzen Panther und rechts den Löwen. Wie Torwächter sitzen sie da, auf mich wartend. Ich bin fasziniert von ihrem Anblick. Ich habe diese beiden Raubkatzen nicht erwartet. Neugierig beobachte ich sie aus einer gewissen Distanz. Der Panther schaut zurück. Der Löwe indes dreht seinen Kopf zur Seite, als sei er beleidigt.

„Bitte komm zurück“, dringt die Stimme des Schamanen-Novizen an mein Ohr. Er ist zurück auf dem rosafarbenen Sofa und beobachtet von dort meine Reaktionen auf die Rückführung. Er fürchtet wohl, ich könnte mich mit meiner Traumseele in der nichtalltäglichen Wirklichkeit verlieren. Seine Sorge ist begründet. In der Tat möchte ich am liebsten bei den Raubkatzen bleiben, mit ihnen die Treppenstufen hinaufgehen. Ich will doch nichts sehnlicher, als eine neue Welt betreten. Außerdem fühle ich mich in diesem Zustand so geborgen. Ich mag nicht in meinen Körper zurück. Aber etwas in mir drängt zur Rückkehr. Es ist nicht gut, zulange außerhalb seines Körpers zu sein. Mit einem schweren Seufzer werfe ich einen letzten Blick auf die beiden kraftvollen Tiere. Ich muss mich wohl verabschieden. Ich sollte den Schamanen-Novizen nicht länger ängstigen. Als mir ein zweiter Seufzer entweicht, bewegen sich meine Augenlider bereits wie die Flügel eines Schmetterlings im Schwirrflug. Schließlich lassen sie sich öffnen. Der Novize springt aufgeregt vom Sofa.

„Wie geht es dir?“, fragt mich sogleich.

„Gut! Ich fühle mich herrlich ausgeglichen“, antworte ich lächelnd.

Anschließend dehne ich meine Gliedmaßen, die von der langen Traumreise ganz steif geworden waren. Der Professor stürmt ins Wohnzimmer. Er musste während meiner Session mit dem Hund des Novizen in der Küche ausharren und weiß nichts.

„Und? Wie war es?“, fragt er sogleich neugierig.

Ich lächle ihn geheimnisvoll an. Eigentlich ist mir nicht zum Reden zumute.

Noch lange danach strömt eine nie gekannte Kraft in mich zurück. Sie zaubert mir ein inneres Lächeln auf die Lippen. Was auch immer passiert war, es war gut. Ich möchte unbedingt so lange wie möglich diesen inneren Frieden genießen, der sich seit dem eingestellt hat. Deshalb lasse ich mir mit der Analyse Zeit. Es ist nicht immer ratsam, gleich alles kognitiv aufzuarbeiten. Manchmal sollte man abwarten, bis sich die neuen Schwingungen im Energiefeld manifestiert haben.

Es vergehen noch etliche Wochen, bis ich mir das große Buch der Traumsymbole für die Entschlüsselung der vielen Traumfiguren und -metaphern zur Brust nehme. Glücklicherweise findet sich darin fast alles, wie zum Beispiel das Feuer und das Burgschloss. Für die restlichen Symbole, unter anderem der Prinz, die Prinzessin oder die Königinmutter, google ich im Internet. Endlich gelingt mir die Entlarvung eines meiner ersten und schwerwiegendsten Traumen. Der wahre Grund für den zersetzenden Fremdkörper in meiner Psyche. In meiner Rückführung reinigte sich im Feuer meine Seele symbolisch von diesem mütterlichen Täterintrojekt. Mein Schicksal wurde bereits im Bauch meiner Mutter besiegelt. Ihre Ablehnung, ihr Tötungsversuch, unsere traumatische Mutter-Kind-Beziehung legte den Grundstein für das sexuelle Trauma. Auch denke ich inzwischen, dass sie Schuld an meinem inkompletten Rechtsschenkelblock ist.

Ich habe ihren Anschlag auf mein Leben überlebt. Dennoch bildete sich in meinem Nervenzell-Netzwerk eine Art Kapsel, die die mit der Tötung verbundene negative Emotion sowie andere bedrohliche Erfahrungsinhalte einschloß. Mutterkomplex. Was als eine Schutzfunktion gedacht war, entpuppte sich zu einem Problem, das mich mein Leben lang verfolgte. Meine Träume wollten mich all die Jahre auf diese geballte Ladung psychischer Energie aufmerksam machen, bevor sie wie eine Bombe explodiert und mich eventuell in eine endogene Psychose führt.

Meine innere Heilerin griff für die innere Kommunikation auf eine universelle Sprache zurück. Die Sprache der Seele, die aus Bildmetaphern besteht. C. G. Jung decodierte diese Bildrätsel mithilfe der nordamerikanischen Schamanen.

Neben all den schulischen Examen, die ich im Laufe meines Lebens bestehen musste, war meine schwerste Prüfung, die Lizenz für Traumarbeit zu erlangen.

Nach circa zehn Jahren mühsamer Analyse meiner Traumbilder, unter anderem der schwarze Panther, die schwarze Tarantel, das Burgschloss, das Feuer und die Explosionen, dunkle Labyrinthe und Leichen im Keller, aber auch allesfressenden Krokodile, schloß ich mit der Rückführung erfolgreich eine meiner Lebensaufgaben ab.

Tatsächlich entdecke ich in der Aufarbeitung meiner sogenannten Rückführung, dass diese im engeren Sinne meine erste schamanische Reise war. Ich lenkte meine Seelenflucht in eine Rückkehr um. Ich entsandt, wie es typisch bei Schamanen ist, meine Traumseele in die nichtalltägliche Wirklichkeit, um mit neuen Erkenntnissen und vitalisierter Lebenskraft in die alltägliche Realität zurückzukehren.

Bei diesem wichtigen Heilprozess war mir die Traumfigur Alma Mater als Ichstärkende mütterliche Instanz und in ihrer Verkörperung als Künstlerin behilflich.

Warum mir ausgerechnet die Traumfiguren Vater und Oma väterlicherseits mir bei der Aufdeckung meines Mutterkomplexes helfen konnten, wird mir durch eine Familienanamnese verständlich.

Mein Papa litt seit seinem sechsten Lebensmonat unter Deprivation, denn er verlor seine 19-jährige Mutter bei einem Autounfall. Er musste, wenn auch aus anderen Gründen, viel zu früh seine Mama entbehren. Er bekam gleichermaßen weder ausreichend Mutterliebe noch Muttermilch für eine gesunde psychische Entwicklung. Auch mein Vater litt sein Leben lang am Mutterkomplex; und später, ab dem dritten Lebensjahr, an inzestuösen Handlungen seines Großvaters mütterlicherseits.

„Du siehst wie deine Großmutter aus“, sagte er zu mir und meinte seine Mama.

Ich frage mich, ob seine perverse Handlung an mir eine Kompensation war. Ein verzweifeltes Kleinkind auf der Suche nach Wärme und Liebe seiner verloren gegangenen Mutter. Ich weiß es nicht. Ich bin froh, dass mich meine Inzest-Erfahrung nicht zu einer Sexualtäterin machte.

Seit der Rückführung bin ich entschlossener denn je, dieses virale Gift in meinem Körper und Geist zu neutralisieren. Ich bin bereit, dafür zu sterben. Sind es doch rituelle Tode, fernab vom Suizid. Aber dazu brauche ich Mut, viel Mut. Da kommt es mir wie gerufen, dass ich einen Kontakt zu meinen Tierahnen herstellen konnte. Intrinsische Ressourcen. Seit der Rückführung, also meiner ersten schamanischen Reise, sind sie für mich ständig sichtbar, sobald ich meine Aufmerksamkeit nach innen lenke.

(23) „Dass die Hilfsgeister der Schamanen mehrheitlich tiergestaltig sind, kann auf die psychische Ebene symbolisch übersetzt auch bedeuten, dass sich der Schamane mit seinen Instinkten rückverbindet. Tiere in unseren Träumen haben oft etwas mit den Instinkten zu tun. “

Seit einiger Zeit folge ich meinem Instinkt. Es ist, als sei ich mit etwas Neuem rückverbunden. Dieses Etwas besitzt die Kraft, das Schweigegelübde zu brechen. Es dauert noch einige Monate, bis ich verstehe, dass es mein Künstler-Ich ist, das damals durch den sexuellen Missbrauch in die Anderswelt flüchtete, um dann durch eine erst kürzlich erlebte Trauminkubation wieder zu mir zurückkehrte. Seit dieser Nacht, in der ich von meinem Selbstporträt träumte, male ich jeden Tag Papierflächen mit Acrylfarben, Kreide oder Bleistift voll. Mein Künstler-Ich übernimmt ab da, wo ich einst meine Sprache verlor. Mit seiner Hilfe gebe ich preis, was mir als kleines Mädchen passiert ist.

Also bin ich seit einer Weile das Kunstmedium meines machtvollen Unbewussten. Unter seinem Einfluß banne ich sämtliche außergewöhnliche Lebenserfahrungen im Fluss der Farben und Formen auf die Leinwand.

Selbstverständlich möchte ich auch die Wirkung der Rückführung in ein Zeitdokument verwandeln. Und so stehe ich in meinem kleinen Atelier, entblößt und verletztlich, wie zu meiner Geburt. Alles ist nach einem schamanistischen Ritual vorbereitet, das in buddhistischen Bücher auch als eine Sadhana-Praxis beschrieben ist. Danach gebe ich mich völlig meiner Intuition hin. Was oft in eine Trance mündet.

Ich stimme mich auf die Vibration in meinem Nervenzell-Netzwerk ein, die meine zuvor isolierten kindlichen Erfahrungsinhalte, meine unbewussten und unausgereiften Vorstellungen sowie Gedankenverbindungen freigibt. Alles das steigt aus den Tiefen meines Bauchraums empor. Es veranlasst mich, einen Haufen Zeitungsschnipsel im unteren Drittel eines Zeichenpapiers mit weißer Acrylpaste zu einem Brei zu verbacken. Eine Art Landesteg klaren Bewusstseins für einen aus dem Trauma zurückkehrenden Ich-Anteil. Ohne Reflexion der Dinge tunke ich abwechselnd den Pinsel in einen ockerfarbenen oder grünen Acrylfarbtopf. Mit schnellen Gestiken gestalte ich den Hintergrund meines zweiten Seelenbildes (das Allererste ist Mathilden – A Chorus of Angels), hüllt es mich symbolisch in die heilsame Kraft von Mutter Erde.


The Door, 2004, Mischtechnik (Acryl, Kreide, Bleistift, Zeitung) 70 x50 cm

„Ich wünsche mir, von ganzem Herzen Liebe zu spüren, die Leichtigkeit des Seins, Glück und Freude in meinem Leben. Ich komme zurück. Und nehme meinen Platz wieder ein.“

Ich weiß nicht, was mich erwartet. Es ist als wandere ich in einen Wald hinein, ohne jedes Ziel, lasse mich von meiner Intuition leiten, mal rechts mal links abbiegend, stets in geistiger Verbundenheit mit der Natur.

Da fühle ich einen drängenden Impuls, in dunkelbrauner Acrylfarbe zu baden. Braun, wie der Stamm eines Baumes, so stark und geerdet. In gestischer Manier trage ich die Farbe auf meinem Gesäß und meinen hinteren Oberschenkeln auf. Es fröstelt mich, denn das Malwasser ist kalt. Beim nächsten Mal muss ich es anwärmen. Und dann packt mich abermals ein starker Impuls. Unverhofft tunke ich einen weiteren Pinsel in knalliges Orange. Ich ziehe ihn mit einer kurzen, heftigen Bewegung über meine Vulva, als würde ich wie eine Kriegerin das Schwert ziehen, um dem großen Drachen den Kopf abzuschlagen. Wut. Mein Zorn, der sich über Jahre in meiner Genitalie aufgestaut hat, gerät ins Fließen. Er darf sein.

Plötzlich fühle ich mich während meines Malprozesses von einer Klarheit durchdrungen. Ich bin von einer Kraft getragen, für die ich kaum Worte finde. Deshalb geschieht etwas Außergewöhnliches. Ich werde zu einem lebendigen Farbpinsel. Ich setze mich wie von unsichtbaren Fäden gezogen rücklings auf das Zeichenpapier, direkt auf den weißen Landesteg aus Zeitungsschnipseln.

Das Ergebnis ist ein brauner Abdruck meines Allerwertesten, der gleichermaßen wie zwei große Lungenflügel anmutet, als atme ich die Kraft des Lebensbaumes ein. Ich werde wieder lebendig. Das drücke ich sogleich aus unter Verwendung einer türkisblauen Kreide. Ich zeichne ein nach oben geöffnetes Gefäß, das ein Symbol für mein Kronen-Chakra sein soll. Steht es aufrecht, geht es mir gut. Umgekehrt bedeutet es, dass ich dem Abgrund nahe bin.

Da stehe ich nun, am ganzen Körper über und über verschmiert mit Acrylfarbe und betrachte überwältigt mein zweites Seelenbild. Das alles war die ganze Zeit in mir? Ich taufe das Werk intuitiv The Door, ohne recht zu verstehen wieso. Erst Tage später geht mir ein Licht auf. Bereits im Bauch meiner Mutter schwankte ich zwischen Leben und Tod, musste ich mich aufspalten. Da waren Seelenanteile, die ins Jenseits flüchteten, andere erstarrten in meinem Körper. Die Rückführung brachte etwas in den Flow, erlaubte mir, eine Wahl zu treffen. Ich entschied mich für das Leben.

Und so trete ich ein in die Dimension, die da heißt Erde. Nun verstehe ich auch, warum ich unbewusst zu Braun, Ocker und Grün griff. Es sind die Farben der Natur, von der ich ein Teil bin. Und es brauchte noch mehr Zeit, bis ich endlich begriff, dass das Figurative in der Mitte des Seelenbildes die Verletzung meiner Intimgrenze offenbart. Damals, als mich mein Vater zwang, Gonzo-Pornos zu schauen. Diese Bilder sind in meinem Nervenzell-Netzwerk gespeichert, deshalb flossen sie während des Gestaltern ins Bild. Unbewusst wollte ich mich davon frei machen, und projizierte es ins Außen. Ich denke, ich bin soweit. Seit der Rückführung fühle ich mich stark genug, mich dem ganzen Außmaß des Inzests zu stellen.

Selbstverständlich präsentiere ich dem Professor stolz die Ergebnisse einer Salutogenese des Bildlichen. Ich glaube, ich habe einen Weg gefunden, meine psychische, und auch körperliche Starre loszuwerden. Ich werde alles malen.

„Ich freue mich für dich“, ruft er aus. „Bist du bereit für den nächsten Schritt?“

„Du könntest eine Familienaufstellung machen“, inspiriert er mich.

Zufällig kennt er eine Psychologin, die mit meinem Thema therapeutische Erfahrung hat. Ich fasse mir ein Herz. Ich hinterlasse auf ihrem Anrufbeantworter mein Anliegen sowie meine Telefonnummer für einen Rückruf. Letzterer erfolgt schneller als mir lieb ist. Nun gibt es kein Auskommen mehr. Ich werde wieder eine neue Heilmethode kennenlernen: Familienaufstellung nach Hellinger.

Es beginnt mit Warten in einem Stuhlkreis, der recht viele Teilnehmer umfasst. Als die Psychologin schließlich den Therapieraum betritt, fällt mir sogleich der Kontrast zwischen ihrer männlichen Ausstrahlung und ihrer femininen Hochsteckfrisur auf. Ich mag sie. Sie wirkt vertrauenswürdig. Außerdem höre ich gerne ihre rauchige Stimme, die mir ein Gefühl von Geborgenheit vermittelt.

Meine Anspannung fällt etwas nach der Vorstellungsrunde aller Anwesenden ab. Das sind alles nette Menschen, die behutsam mit den aufgestellten Themen umgehen. Jeder darf mit seinem Thema ankommen, was mir Mut macht. Mein erster Eindruck von einer Familienaufstellung ist positiv. Ich habe das Gefühl, hier richtig zu sein.

Nach der großen Pause beginnt mein Herz höherzuschlagen. Denn ich bin an der Reihe, meine Familie aufzustellen. Einerseits kann ich es kaum erwarten. Andererseits bin ich schrecklich ängstlich. Ich kann nicht einschätzen, was mich erwartet. Zudem bin ich es nicht gewohnt, mich derart vor anderen zum Thema sexuelle Gewalt zu öffnen. Noch brauche ich die Malerei als nonverbale Vermittlerfunktion. Der Knebel sitzt immer noch in meinem Mund. Mir fehlen so viele Worte.

Hinzu kommt die Scham, diese schreckliche Scham über das, was mir passiert ist. Als ahne die Therapeutin, welch ein Gefühlssturm in mir losbricht, holt sie mich auch schon mit ihrer rauchigen Stimme aus meinem Gedankenkarussell heraus.

„Bitte stellen Sie ihre Mutter, ihren Vater, ihre Geschwister und ihre Großeltern auf“, fordert sie freundlich lächelnd.

Ich begebe mich in die Mitte des Stuhlkreises, von wo aus ich eine bessere Übersicht über die Seminarteilnehmer bekomme. Sie blicken mich allesamt an. Keine leichte Position für mich. Ich muss tapfer zurückblicken, möchte ich eine geeignete Resonanzgeberin für mich finden. Plötzlich zieht es meine Aufmerksamkeit nach innen. Mir wird leicht schwindelig. Mit glasigen Augen picke ich kurzentschlossen eine Frau heraus die mir für mein Ich geeignet erscheint.

„Würdest du mich vertreten?“, frage ich sie leise.

„Ja, gerne“, sagt sie laut und steht auf.

Sie kommt zu mir in den Kreis, was mich stärkt. Ich sehe wieder etwas klarer und stelle nun recht zügig alle anderen Repräsentant_innen für die Mutter, den Vater, die Schwestern auf. Als ich dem Großvater mütterlicherseits einen Platz zuweisen soll, wird mir zum ersten Mal bewusst, dass ich über ihn nichts weiß. Auch habe ich keine Gefühle für ihn. Die Verbindung scheint tot zu sein. Vielleicht bugsiere ich ihn deshalb vor die Tür des Seminarraumes. Von meiner Mutter habe ich gelernt, dass er nicht zur Familie gehört. Er soll ein Straftäter, ein Vergewaltiger sein. Aber auch mit den anderen Großeltern habe ich keine Verbindung. Da ist null Kontakt zu den Ahnen.

Nachdem ich alles aufgestellt habe, setze ich mich auf meinen Stuhl zurück. Ich soll quasi von außen beobachten, welches unbewusste Bild sich über meine Familie im Inneren manifestiert hat.

Nach einer kleinen Weile stellt sich die Therapeutin zu den Resonanzgeber_innen. Sie befragt alle nach ihrem Befinden. So langsam kommt Dynamik ins System. Allerdings tue ich mich schwer, dem Ablauf zu folgen.

„Ich fühle mich ausgegrenzt, irgendwie verloren“, sagt mein Ich-Surrogat.

Der Wahrheitsgehalt ihrer Worte trifft mich mitten ins Herz. Schon steigen Tränen in mir auf, die alles vor meinen Augen verschwimmen lassen. Ich verliere mich im Schmerz und verpasse, was sich innerhalb des Stuhlkreises abspielt. Es betrifft mich und meine Familie. Doch alle Empfindung ist taub geworden. Ich bin dissoziiert. Wie durch Watte höre ich, was gesagt wird. Innerlich versinke ich in den Fluten meiner Tränen. Alles, was meine Familie betrifft, löst dauernd große Traurigkeit aus. Re-Trauma. Gefangen in alten Gefühlsmustern, verpasse ich jenen Moment, in dem sich meine Familie zu einem Abschlussbild umstellt.

Wie aus dem Nichts taucht die Therapeutin vor mir auf.

„Komm. Jetzt bist du dran“, holt sie mich in meine Aufstellung hinein.

Meine Ich-Vertreterin verlässt den Kreis, macht ihre Position für mich frei. Diese befindet sich frontal vor meiner Mutter. Da will ich nicht hin. Ich schaue hilflos zur Therapeutin, die sich sogleich neben mich stellt. Sie legt fest ihren Arm um meine Körpermitte, um mich zu stärken. Trotzdem gelingt es mir nicht, mein Gesicht hochzuhalten. Eine unsichtbare Macht dreht meinen Kopf zur Seite. Mein Blick ist starr auf den Boden gerichtet. Ich bin von Scham überwältigt.

„Bitte schaue deiner Mutter in die Augen“, tönt die rauchige Stimme der Therapeutin sanft an mein Ohr.

Ich versuche es. Aber die unsichtbare Macht ist stärker. Ich bleibe in der gedemütigten Haltung gefangen.

„Ich kann nicht“, jammere ich.

Da setzen heftige Bauchschmerzen ein. Mir bleibt die Luft weg. Meine Knie werden weich. Ich kann mich nur mit großer Mühe aufrechthalten. Am liebsten möchte ich im Erdboden versinken. Im Augenwinkel registriere ich, wie jemand aus dem Stuhlkreis einen Kotzeimer heranträgt. Zur Sicherheit. Genau in diesem Moment spüre ich stärker den Arm der Psychologin. Sie drückt mich ganz fest an sich.

„Bitte sage ihr, dass du es aus Liebe getan hast“, fordert sie nochmal.

Nun schlägt ein Blitz in meinen Schädel ein. Dieser letzte Satz teilt mein Hirn entzwei. Unter mir öffnet sich ein Abgrund. Mein ganzer Körper wird bleischwer. Ich entgleite der schützenden Umarmung und sinke hinab auf den Boden.

Vornübergebeugt, den Fersensitz einnehmend, halte ich mir meinen Bauch, in dem nun ein Orkan tobt. Mir ist schlecht. Ich halte meinen Kopf über den Kotzeimer, da mich nun lang anhaltende Brechreizwellen wie ein Tsunami überrollen. Mein Nervenzell-Netzwerk brennt wie Feuer, wegen dieses letzten Satzes. Es dauert einige Minuten, bis die Naturgewalten in mir abebben. Indes wartet die Psychologin geduldig auf mich. Sie reicht mir ihre Hand, um mich in den Stand zu ziehen. Sofort legt sie wieder ihren Arm um meine Hüfte, bleibt bei mir. Es ist noch nicht ausgestanden.

„Bitte schaue deine Mutter an und sage ihr, dass du es aus Liebe getan hast. “

Ich werde es sagen. Alles das muss endlich ein Ende haben. Ich hole tief Luft und atme durch. Tapfer schaue ich der Resonanzgeberin meiner Mutter in die Augen.

„Liebe Mutter, ich habe es für dich getan. Ich habe es gerne für dich getan“, presse ich es unter hohem Druck aus mir heraus.

Geschafft! Jetzt ist es raus. Ich opferte mich aus Liebe. Ich war keine Sünderin. Es war nicht meine Schuld. Ich war niemals böse. Meine Motivation war Liebe.

Zurück zu Hause in meinem kleinen Atelier tanzt mein Künstler-Ich wieder im Fluss der Farben. Es drängt mich, die Missbrauchsenergie wie in einem alchimistischen Prozess zu transformieren. Ich will es loswerden, diese falsche Identifikation mit dem Inzest, die meine Mutter noch verstärkt hat. Und schon sprudeln zwei Seelen-Collagen aus mir heraus - The Rape und The Torture. Ich male wie in Trance, bin unbekleidet, die Sinne erweitert durch feinsten Weihrauchduft und meiner Lieblingsmusik Buddha Bar. Intuitiv reite ich auf ihren Klangwellen ins Unbewusste, lege ich Schicht um Schicht das kindliche Trauma frei. Welche Folgen es für mich hatte, zeigt sich im Seelenbild Leaving the Body. Seelenflucht war meine ohnmächtige Reaktion auf die Straftaten meiner Eltern.

Und dann kommt noch etwas aus den Tiefen meines Seins empor. Ich merke es an meinen Atem, der viel schwerer geworden ist. Das passiert in letzter Zeit oft, immer wenn ich kurz vor einem tiefgreifenden Heilprozess stehe. Ich atme also ganz langsam in den Bauch hinein, da bricht ein Klagelied von der Buddha Bar CD die Mauer, die ich in meinem Herzen aufbauen musste, um mich vor dem Psychoterror meiner Mutter zu schützen. Die Tränen fließen, so auch die Farben. Ich begebe mich in den Flow meiner Gefühle und damit auch in die Hände meines Künstler-Ich. Flink drapiert es ein aufgeweichtes Stück Zeitungspapier in die Mitte eines großen Zeichenblatts. Danach packt es den Pinsel und malt die ganze Fläche mit violetter Acrylfarbe aus. Dass diese Farbe eine pychologische Bedeutung hat, lerne ich erst viel später, nach dem Prozess.

(24) „Violett auf der Seelenebene zeigt eine tiefe Verbindung mit dem Geist an.“

Und dann geht alles ganz schnell. Wieder fühle ich mich von unsichtbaren Fäden gezogen. Ich schnappe mir einen großen Rundpinsel, tunke ihn in schwarze Acrylfarbe, die von ganz allein, ohne mein Zutun wie es scheint, eine bestimmte Form auf dem violetten Maluntergrund annimmt. Es zeigt sich der Dämon aus meiner Kindheit in seiner ganzen Kraft. Jener Schmerz, der mich mein Leben lang unbarmherzig gefangen hielt. Er gestaltet sich in der Bildmetapher einer schwarzen Tarantel. Ein achtbeiniges Riesenmonster. Eine Schwarze Witwe. Ein Symbol für die zerstörerische Kraft des Mütterlichen sowie für Schädigungen des autonomen Nervensystems.

Mein ganzes Leben fühlte ich mich im Netz der Spinne gefangen, wie eine Fliege. Eingehüllt in ihren Speisekokon war ich ihrem Hunger nach meinen Lebenssäften ausgeliefert. Ich hatte die Qual der Wahl: Zu sterben oder ein Leben lang im Netz einer gefräßigen Schwarzen Witwe gefangen zu sein. Arachnophobie. Seit ich denken kann, löst der Anblick von Spinnen in meinem vegetativen Nervensystem schmerzhafte Stromschläge aus. Ich bin dabei jedes Mal paralysiert. So auch während meines Malprozesses.

(25) „Eine Spinne im Traum und auch das Spinnennetz sind meist Gefahrensignale. Diese Bedeutung geht aus der Art der Nahrungssuche der Spinne hervor. Für die Insekten, die in ihr Netz geraten, ist sie tödlich. (…) In jedem Fall sind Störungen des autonomen Nervensystems zu erwarten. “

Bereits in frühen Kindheitstagen verfolgte mich die Angst vor Spinnen. Und das nicht nur im Traum. Wann immer das achtbeinige Monster in mein Gesichtsfeld trat, stockte es mir den Atem, geriet ich in einen Freeze-Zustand. Dabei spielte es für mich keine Rolle, ob sie leibhaftig war oder nur ein Foto in einem Magazin. Mein limbisches System konnte diesen Unterschied nicht ausmachen. Es löste Alarm aus.

Auch jetzt beim Anblick meines eigenen Kunstwerkes fühle ich mich noch einmal wie der Embryo im Bauch meiner Mutter – in Todesgefahr. Für einen kurzen Moment verschlägt mir die riesige schwarze Acrylspinne den Atem. Ich bin sprachlos.

Dann fühle ich, wie sich etwas in den Untiefen meines Nabel-Zentrums regt.

So als würde mein Odem sich darin in einer Endlosspirale zurückziehen. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis er zurückkehrt. Ich spüre bereits den Druck aufsteigen, da bemale ich meine Körpervorderseite flink mit weißer Acrylfarbe. Ich bereite mich vor, ein lebendiger Farbpinsel zu sein.

Und kaum bin ich fertig, entlädt sich der aufgestaute Druck in meinem Inneren in einem gewaltigen Aufschrei. Ich schreie mir die Seele aus dem Leib. Und als könnte ich diesen unhaltbaren inneren Stress nur in einer einzigen Bewegung abbauen, werfe ich mich mit meiner Vorderseite auf die schwarze riesige Acrylspinne. Ich sterbe, wohl deshalb taufe ich meine sechste Seelen-Collage: The Death. Der Tod als Transformation des Alten, für die Auferstehung des Neuen.

Der weiße Farbabdruck auf der schwarzen Acryl-Spinne mutet abermals den Umrissen einer Spinne an. Doch diese scheint eine andere Spezies zu sein. Eine Weberin, eine Kreative, eine Magierin, die sich vom Joch ihrer aufoktroyierten Sexualität befreit. Letzteres markiere ich sogleich in knallroter Farbe mit einem Phallussymbol.

Ist es nicht das Patriarchat mit seiner entarteten Vorstellung über weibliche Sexualität und seinem daraus resultierendem schlechten Umgang mit einer Vagina, welches die Entfaltung intuitiver weiblicher Intelligenz bereits im Keim erstickt?

Und als gäbe es hierfür einen Hinweis auf die wahre Ursache dieses Problems, liegen die Spinndrüsen der weißen Spinne - eng verschmolzen mit der männlichen Genitale - vor dem gefräßigen Maul der schwarzen Riesenspinne. Tatsächlich definierte einst der Psychiater Freud diesen Achtbeiner als ein Symbol der alles verschlingenden Mutter. Kannibalismus.

Inzest kommt einem kannibalistischen Akt gleich, mit unheilvollen Auswirkungen auf Psyche und Geist. Sexuelle Gewalt verändert die menschliche DNA, gebärt Vampire, Zombies und andere dämonische Wesenheiten, die nichts anderes wollen, als sich von dem zu ernähren, durch den sie erschaffen wurden - dem Schmerz.

(26) „(…) the history of humanity is founded upon the abuse of children.“

So langsam ahne ich den Albtraum vieler Kinder dieser Erde. Ein Leben, das meist im Bauch einer traumatisierten Mama beginnt. Ein Schicksal, das den persönlichen Schmerzkörper übersteigt, ja vielmehr ein kollektiver Schmerz ist, der seit Beginn unserer Menschheit existiert.

Sexueller Missbrauch ist wie ein Parasit, der bereits die Seelen unsere Ahnen, wer weiß wie lange, schädigte, und der sich noch heute in unserer Gesellschaft viral vermehrt. Immer wieder kommen mir die Aussagen der Schulmedizin in den Sinn, die Folgen sexueller Gewalt würden Betroffene ein Leben lang verfolgen – keine Heilung in Sicht. Ich bin wild entschlossen, dagegen anzukämpfen. Ich möchte nicht mein ganzes wundervolles Leben lang, wie eine hilflose Fliege im Netz der gefräßigen Spinne gefangen bleiben.

(27) „Dergriechische Held Theseus besiegte das Ungeheuer, nachdem er von dessen Schwester Ariadne ein Wollknäuel erhalten hatte. (…) Ariadne, die auf die List mit dem Wöllknäuel verfiel, ist hier das Sinnbild für die intuitive Intelligenz des Weiblichen. Die geistig-seelische Verbindung zwischen Mann und Frau – hier symbolisiert durch den Ariadnefaden – ermöglicht es dem Helden, das gefährliche Abenteuer im Labyrinth zu bestehen.“

„Wie kann ich dir entkommen?“, frage ich die schwarze Spinne in meiner Seelen-Collage The Death, als könne sie mir antworten.

„ Ihr Männer und Frauen müsst zusammenhalten“, sagt die Weiße.

Ich, als feminines Wesen allein, werde das Patriarchat mit all seinen entarteten Vorstellungen über das Weibliche und den daraus geborenen männlichen und weiblichen Dämonen nicht verändern können. Hierfür braucht es Solidarität unter uns Weibsbildern, aber auch, und vielleicht insbesondere, eine geistig-seelische Rückverbindung zwischen Mann und Frau.

„Was ist ein Ansatz, der erste Schritt?“, zermartere ich mir den Kopf.

Ich weiß nur einen Rat, der mir naheliegend erscheint: Den Blick nach innen, sich seinen persönlichen Dämonen zuerst stellen. Unter Umständen zieht es ein kollektives Aufarbeiten automatisch nach sich.


The Death, 2004, Mischtechnik (Acryl, Kreide, Bleistift, Zeitung) auf Papier, 70 x 50 cm

„Liebe Mutter, lieber Vater ich kann nicht mehr. Die Last ist zu groß für mich. Ich habe keine Kraft mehr, diese Last allein zu tragen.“

Ich gehe mit bestem Beispiel voran. So denke ich es jedenfalls. Ich stürze mich in Persönlichkeitsarbeit, besuche Persönlichkeitsseminare, konsultiere Schamanen und nutze immer stärker meine eigenen intrinsischen Ressourcen, insbesondere nach der Initiation mit meiner Tierahnin Spinne. Und das alles, um meinen inneren Dämonen zu entkommen. Aber vor allem, um mich zu finden.

„Wer bin ich jenseits der sexuellen Missbrauchserfahrung?“, stellt sich mir die Frage aller Fragen.

Obwohl es seit der Rückkehr aus Australien, eine spirituelle Reise zu meinen Ahnen, die mich sehr veränderte, viele Lichtmomente gibt, scheint es weit bis zur Läuterung meines Geistes. Das Gefühl, gegen Windmühlen zu kämpfen, ist immer noch da. Auch zieht es nach wie vor, insbesondere im beruflichen Alltag, sämtliche Narzissten, Soziopathen und Borderliner in meinen Bann. Manchmal kann ich mich des Gedankens nicht erwehren, dass sie mich verfolgen. Es scheint, als reagierten sie auf ein Schwingungsfeld, erzeugt vom ererbten Ahnenproblem, das sich weder mithilfe der Psychologie, der Religion, der esoterischen Ansätze oder einer positiven Lebenseinstellung verändern lässt. Etwas fehlt. Gleichwohl mir meine autodidaktische Kunsttherapie gut tut und ich während des Gestaltens einiges an seelischer Bürde loswerde, breitet die Depression ihre dunklen Schatten über mich aus. Immer wenn ich denke, ich habe es geschafft, erreiche ich einen noch tiefer liegenden Punkt meines seelischen Leidens. Ich weiß nicht, ob ich mich auf einer Abwärtsspirale oder Aufwärtsspirale befinde. Da ist eine schwarze Tarantel, die mich in der Anderswelt hartnäckig verfolgt. Sie ist die größte Widersacherin auf dem Weg zu mir selbst.

„Wer bist du?“, frage ich furchtsam die schwarze Riesenspinne.

Ich bin ungefähr 40-jährig, als ich einen Hinweis erhalte. Auslöser ist der Film „Der weiße Weg“, eine Dokumentation über ein historisches Zusammentreffen südund nordamerikanischer Stammeshäuptlinge und Schamanen. Sie wollen über dieses Medium ihre Botschaften zur Heilung und Wahrung der Erde vermitteln.

Im Vortragssaal sitze ich neben meinem Ex-Freund, dem Grünauge, und warte gespannt auf den Start. Gleich zu Beginn ertönt indianische Musik. Diese Klänge machen bei mir augenblicklich Gänsehaut. Sogar mein Herz schlägt höher. Wie elektrisiert starre ich geradeaus auf die große Leinwand, wo die Filmkamera im Extremely Long Shot einen mächtigen Königsadler während seines Fluges hoch oben in den Lüften einfängt. Anschließend wird er im Close-up ganz nah an uns Zuschauer herangeführt. Eine raffinierte Kameraführung, die vor allem bei mir den erwünschten Effekt auslöst. Ich identifiziere mich mit dem Adler, der sich nun auf Augenhöhe befindet. Er ist zum Greifen nah und mein Herz begleitet ihn durch die Lüfte. Es scheint, als öffneten seine weiten Flügel die Enge in meiner Brust. Ich atme. Und da übernehmen meine Augen seinen Blick. Wie er scanne ich die schroffen Felswände eines Bergmassivs ab, auf der Suche nach etwas.

Gänzlich verschmolzen mit dem Adler und den schönen Bildern der Natur, höre ich der Stimme des Filmmoderators zu. Er erzählt von einer indianischen Legende. Seine Worte tänzeln mir ins Ohr. Er sagt, laut der Indigenen gäbe es noch eine Wahl, die Dinge des Lebens zu einem Besseren zu wenden. Der Mensch müsse sich jedoch einer Transformation unterziehen, wie ein Adler in seinem vierzigsten Lebensjahr. Wie tausend kleine Pfeilspitzen trifft mich die Essenz dieser Weisheit mitten in mein weit geöffnetes Herz. Eine leise Stimme in meinem Inneren flüstert mir zu:

„Du bist auch vierzig!“

Augenblicklich erkenne ich, warum ich mich mit dem Adler identifiziert habe. Auch meine Flügel sind schwer geworden. Die Bürde des Inzests hat mein Rückgrat krumm gemacht. Ich kann so nicht weiter machen. Tränen steigen auf, die ich hastig hinterschlucke. Ich möchte unter all diesen fremden Leuten nicht weinen. Auch versuche ich, meinen emotionalen Zustand vor dem Grünauge zu verbergen. Mühsam ringe ich um Selbstbeherrschung - ohne Erfolg.

Der Anblick des Adlers, der inzwischen in einer Felsmulde gelandet ist, sich seine Krallen rausreißt, um sein rituelles Sterben einzuleiten, löst eine innere Druckwelle größten emotionalen Schmerzes aus. Hastig stehe ich vom Sitzplatz auf, renne beinahe in den Waschraum. Ich schaffe es gerade noch rechtzeitig in eine Toilettenkabine, bevor mich ein Tsunami überrollt. Mit dem Klacken des Türriegels bricht der Damm in meinem Herzen. Re-Trauma. Ein unfassbarer Schmerz schüttelt mich, überführt mich in einen heftigen Weinkrampf. Meine Tränen sind wie ein sprudelnder Fluss, der sich ins Nichts ergießt. Dann höre, sehe und fühle ich nichts mehr.

Als ich wieder zu mir komme, sind meine Beine und Füße pelzig geworden. Ich versuche aufzustehen. Sogleich durchblutet es meine Beine, was aber ein schmerzhaftes Ameisenkribbeln auslöst. Wie auf rohen Eiern wackle ich, leicht benommen vom Blackout, in den Waschraum ans Waschbecken.

Ich kühle mir mit kaltem Wasser meine Handgelenke und komme nicht umhin, einen Kontrollblick in den Spiegel vor mir zu werfen. Man sieht mir an, dass ich geweint habe. Meine Augenlider sind geschwollen. Mein Blick jedoch ist klar. Was auch immer mit mir geschehen ist, es reinigte Geist und Psyche.

„Wo warst du so lange?“, fragt das Grünauge besorgt, als ich mich wieder im Lichtschein des Films auf meinen Platz setze. Da geht das grelle Saallicht an. Der Film ist zu Ende. Bis auf den Vorspann mit dem Adler habe ich wohl alles verpasst. Ich werde mir also die DVD kaufen, da mich auch die anderen Botschaften interessieren.

Zuhause, allein im Bett, kreisen meine Gedanken unaufhörlich um die indianische Legende. Wieso konnte der Adler sowie sein rituelles Sterben eine so heftige Reaktion auslösen? Warum fühle ich mich erneut wie ein Opfer sexuellen Missbrauchs? Ich hatte gehofft, nach all meinen Anstrengungen das grässliche Thema ad acta legen zu können. Was übersah ich in meiner Persönlichkeitsarbeit? Selbstzweifel. Ich zermartere mir das Hirn darüber, was ich falsch gemacht haben könnte. Ich stelle meine Identität infrage. Ich fürchte, dass der Wunsch, eine Schamanin zu sein, Vater des Gedankens war. Bin ich in eine Egofalle geraten? War alles lediglich eine Überlebensstrategie? Ich wälze mich im Bett hin und her. Ich hat mich ins Trauma der Identität getriggert. Ich bete zu meinem Höheren Selbst, es möge mich aus diesem quälenden Konflikt befreien. Da fällt mein Blick auf ein Buch. Es liegt schon seit Wochen auf einem kleinen Regal neben meinem Bett, aber ich habe es bis dato nicht wahrgenommen. Ich erinnere mich. Auch diese Lektüre wurde mir einst vom Professor ins Haus getragen, wie so viele. Hier handelt es sich um die Schriften von Nag-Hammadi, eine Dokumentation menschlicher Erfahrungen, genau wie das andere Buch - das über Schamanismus und Traum. Instinktiv greife ich trotz der späten Stunde zu. Ich versuche die urchristlichen apokryphen Schriften zu lesen, obwohl meine Augenlider stark geschwollen sind und die Augenränder brennen.

Schon die ersten Seiten lehren mich, warum ich mit meiner autodidaktischen Psychotherapie in einer Sackgasse gelandet bin. Es reicht nicht allein aus, die Opferschaft abzulegen sowie Überlebensstrategien für das Opfer-Ich zu entwickeln. Selbst wenn es mir gelänge, meine Opferanteile wieder in gesunde Ich-Anteile zu überführen, was übrigens wunderbar durch meine Malerei geschehen ist, würde ich nicht den vollen Status eines Gesund-Ich erreichen. Solange ich jene Anteile übersehe, die sich mit den Tätern identifiziert haben, bleibe ich in der Spaltung. Die schwarze Tarantel ist ein Täterintrojekt. Ein kindlicher Seelenanteil ging damit in Verbindung, um zu überleben. Unbewusst wollte ich an der mütterlichen Macht teilhaben und zahlte dafür einen Preis: Ich wurde wie meine Mama eine Emotionstäterin. Nun gilt es diesen infizierten Anteil zu integrieren, obwohl er mich ekelt. Es beruhigt mich, den Schriften entnehmen zu können, dass Meditation ein effektives Instrument für eine derartige geistig-psychische Reinigung sei. Und da fällt mir ein Stein vom Herzen, denn nun erkenne ich, dass ich trotzdem alles richtig gemacht habe. Inzwischen ist Meditation eine tägliche Praxis. Ich brauche also nichts weiter zu tun, als sie fortzusetzen. Allerdings braucht Heilung im Herzen Geduld. Bevor ich einschlafe, umarme ich mich selbst in Liebe und erlaube mir Zeit für meinen Selbstheilungsprozess. Alles wird gut.

Dann - in den frühen Morgenstunden - habe ich einen Klarheitstraum:

Ich sehe, wie sich eine schwarze und eine weiße Spinne zu einer Einheit verbinden. Sie transformieren in einen neuen Spinnenkörper, der aus Gold ist. Diese goldene Spinne umspannt mit ihrem Spinnennetz die Welt, was der Beginn eines neuen Zeitalters einläutet.

Magierin der Liebe

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