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II.

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Morgen fahre ich nach B. Ich habe diese Stadt noch nie gesehen, weiß nur, dass es als Schicksalsschlag gilt, in B. geboren zu sein.

Im Plan steht: Reportage über B. Eine sympathische Formulierung. Hieße es stattdessen: Porträt über den Arbeiter Soundso, dahinter in Klammern: wurde am 7. Oktober mit dem ›Banner der Arbeit‹ ausgezeichnet, brauchte ich nicht nach B. zu fahren. Ich könnte einen ähnlichen Beitrag der letzten Jahre heraussuchen, telefonisch Alter, Haar- und Augenfarbe des Kollegen Soundso erkunden, eventuell auch einige auffällige Wesenszüge, und könnte beginnen: Der Kollege Soundso aus B. ist ein bescheidener (bzw. lebhafter) Mann um die vierzig (bzw. dreißig oder fünfzig), der mich, während er über seine Arbeit spricht, aus seinen blauen (bzw. braunen) Augen ernst (bzw. heiter) ansieht. Undsoweiter undsofort. Nicht dass der Kollege Soundso den Orden nicht verdient hätte und nicht ein vorbildlicher Mensch wäre. Aber er hat nicht mehr viele Möglichkeiten, sich zu verhalten, nachdem sein Name in der Zeitung stand.

Entweder empfängt er mich mit herablassendem Lächeln, nicht arrogant, eher mitleidig und amüsiert, weil ich die sechste oder siebente bin und weil er weiß: Was immer ich an ihm finde, ich werde Gutes schreiben. Aber der Kollege Soundso ist ein freundlicher Mensch, erspart mir die Skrupel, erzählt von seinem guten Kollektiv, seinem guten Meister, seiner guten Ehe und arbeitet weiter.

Oder er ist inzwischen ein Opfer meiner Kollegen geworden. Dann erzählt er so, wie er über sich gelesen hat, nimmt die Legende als seine Vergangenheit an, fürchtet, sich seiner eigenen Sprache zu bedienen und dem ungewohnten Anspruch, eine öffentliche Persönlichkeit zu sein, nicht gerecht zu werden.

Der Unglücksfall wäre die Ausnahme: ein Undankbarer, der den Orden für verdient hält statt für geschenkt, der auch darauf hätte verzichten können, weil er sich und seine Arbeit schon vorher hoch schätzte.

Morgen fahre ich nach B. »Kuck mal. Mach mal«, hat Luise gesagt in ihrem gedehnten Berliner Dialekt. In solchen Fällen bin ich nie sicher, ob sie einfach keine Lust hat, ihren Kopf für mich zu bemühen, oder ob sie an diesem Tag Absprachen jeder Art ohnehin für nutzlos hält. Oder aber sie vertraut mir in solchem Augenblick bedenkenlos.

Sie sah mich ermutigend, beinahe liebevoll an. In ihrem von Falten und Fältchen karierten Gesicht verblüfften mich wieder einmal die blauen Kinderaugen: »Fahr mal. Mach mal.«

Ich packe meinen Koffer, seit sechs Jahren jeden Monat einmal. Zwei Paar Jeans, vier Blusen, Wäsche, Bücher. Das obligate Telefongespräch mit meiner Mutter, ja, sie holt den Sohn morgen aus dem Kindergarten, bis Donnerstag also. Ja, den Pullover zum Wechseln gebe ich ihm mit.

Ich müsste in den Keller gehen, Kohlen holen. Wenn ich am Donnerstag komme, ist die Wohnung kalt, und ich bin müde. Aber das Licht in meinem Keller brennt nicht, und ich graule mich zuweilen. Eine unbestimmte Furcht, Kindheitsgruseln, das aber Herzklopfen verursacht und verkrampfte Schultern, das mich den Kopf einziehen lässt. Bis Donnerstag ist lang, lass es kalt sein.

Ich müsste etwas essen.

Dienstreisen bereiten mir Heimweh, ehe ich überhaupt abgefahren bin. Drei Tage oder vier in einer fremden Stadt, immerzu Türen, hinter denen fremde Menschen sitzen. »Guten Tag, mein Name ist Josefa Nadler, ich komme von der Illustrierten Woche …« Erlebnisse, Eindrücke, Bestürzendes, und keiner, mit dem ich es teilen, dem ich es auch nur mitteilen könnte. Spätestens nach einem Tag beneide ich alle Leute auf der Straße, die offenbar einander näher kennen. Vielleicht mögen sie sich gar nicht, aber sie kennen sich.

Ich gucke gierig in alle Fenster, hinter denen Familien Abendbrot essen, die Münder zum Sprechen bewegen und aussehen wie Leute im Fernsehen, denen man die Stimme weggedreht hat.

Ich beobachte mit wachsender Wehmut, wie vor Kinos Zweifüßer zu Vierfüßern verschmelzen, lachen und rauchen. Ich würde auch gerne rauchen, aber eine Frau allein auf der Straße mit einer Zigarette? In Ungarn vielleicht oder in Paris.

Manchmal frage ich nach einer Straße oder nach der Zeit, nur um sprechen zu können.

Meine innigsten Verbündeten werden die Überlebensgroßen, die Steinernen, die berühmten Toten der Stadt, die einzigen Stummen außer mir. Meine letzte Rettung: die Verlassenheit zum Genuss steigern, die höchste Stufe der Einsamkeit erklimmen: ich, die Verlorenste der Menschen.

Ich sollte es nutzen, dass ich zu Hause bin. Das Telefon steht griffbereit vor mir auf dem Tisch. Ich nehme den Hörer ab, um zu kontrollieren, ob das künstliche Herz unserer Kommunikation auch schlägt. Aber offenbar will niemand mit mir sprechen. Ich drehe den Filter meiner Zigarette zwischen Zeigefinger und Daumen, betrachte die Struktur der Fasern, schnippe die Asche ab, die nicht da ist.

Diese dreimal verfluchte Warterei. Worauf denn?

Auf den berühmten Märchenprinzen, der klingelt: Guten Tag, schöne Frau, Sie fahren morgen nach B. und fürchten sich vor der Einsamkeit? Bitte erweisen Sie mir die Huld und verfügen Sie über mich.

Bleibt der Ausweg der Trostlosen. Ich hole mein Bett aus der Truhe, beziehe es frisch, stelle eine Vase mit einer welken Rose daneben, ziehe mein schönstes und längstes Nachthemd an – ein sinniges Geburtstagsgeschenk der Frau Mama für ihre dreißigjährige Tochter. Für eine Leidende sehe ich zu frisch aus. Ich schminke mir eine angemessene Blässe auf die Haut, die Lider etwas dunkler, verbrauche den Rest meines besten Parfüms und betrachte mich im Spiegel, wohlgefällig, misstrauisch, voller Schadenfreude gegen Märchenprinzen und andere. Das haben sie davon. Eines Tages ist das vorbei, und sie haben es nicht gesehen. Ich gieße ein Glas Rotwein ein, stelle es wie einen Gifttrunk behutsam neben die Rose und lege mich ins Bett wie Schneewittchen in den Sarg.

Ach, Luise, du warst klug wie immer. Du hast gewusst, warum du mich mit Optimismus und Arbeitsfreude gepolstert hast, ehe du mich in dieses jammervolle Nest schicktest. Diese Schornsteine, die wie Kanonenrohre in den Himmel zielen und ihre Dreckladung Tag für Tag und Nacht für Nacht auf die Stadt schießen, nicht mit Gedröhn, nein, sachte wie Schnee, der langsam und sanft fällt, der die Regenrinnen verstopft, die Dächer bedeckt, in den der Wind kleine Wellen weht. Im Sommer wirbelt er durch die Luft, trockener schwarzer Staub, der dir in die Augen fliegt, denn auch du bist fremd hier, Luise, wie ich. Nur die Fremden bleiben stehen und reiben sich den Ruß aus den Augen. Die Einwohner von B. laufen mit zusammengekniffenen Lidern durch ihre Stadt; du könntest denken, sie lächeln.

Und diese Dünste, die als Wegweiser dienen könnten. Bitte gehen Sie geradeaus bis zum Ammoniak, dann links bis zur Salpetersäure. Wenn Sie einen stechenden Schmerz in Hals und Bronchien verspüren, kehren Sie um und rufen den Arzt, das war dann Schwefeldioxyd.

Und wie die Leute ihre Fenster putzen. Jede Woche, jeden Tag am besten. Überall saubere Fenster bei diesem gottserbärmlichen Dreck. Sie tragen weiße Hemden, weiße Strümpfe die Kinder. Das musst du dir vorstellen, mit weißen Strümpfen durch schwarzes schmieriges Regenwasser. Weiße Pullover werden hier am liebsten gekauft, hat die Verkäuferin gesagt. Fahr mal, guck mal – ich gucke mir die Augen aus dem Kopf, überall dieser Dreck. Wenn du die Zwerge aus dem Kindergarten in Reih und Glied auf der Straße triffst, musst du daran denken, wie viele von ihnen wohl Bronchitis haben. Du wunderst dich über jeden Baum, der nicht eingegangen ist. Was soll ich hier, Luise, wenn ich nichts ändern kann. Jedes Wort, das ich höre, jedes Gesicht, das ich sehe, verwandelt sich in mein Mitleid. Und in meine Scham. Ich schäme mich, weil ich gewusst habe, dass es diese Stadt gibt, und gegeizt habe mit meiner Phantasie, auf die ich so stolz bin. Auf der bin ich inzwischen durch Venedig gegondelt oder hab mich in New York zu Tode gefürchtet oder habe in Marokko die Orangen von den Bäumen gepflückt. Aber in dieses jederzeit betretbare B. habe ich sie nicht gelassen.

Der kleine Mann hinter dem Schreibtisch mustert mich mit traurigen Eulenaugen hinter dicken Brillengläsern, als ich ihm sage, ich wolle über den Dreck in B. schreiben und über die Leute, die darin leben. Alfred Thal ist Pressebeauftragter des Direktors. Ein unscheinbares Männchen, glattes Haar, strähnig in den Nacken gekämmt, dünne, abfallende Schultern. Wenn er lacht, hält er sich die Hand vor den Mund wegen seiner schlechten Zähne.

Hätte ich nach dem Kollegen Soundso, Ordensträger, verlangt, wäre er sicher nicht erstaunt gewesen. Das passiert ihm jeden Tag, wenn meine Kollegen von Presse, Funk und Fernsehen auf der Suche nach dem Neuen in sein verwinkeltes Zimmerchen geraten. Der Kollege Soundso kommt ihnen gerade recht. Wann gab es das schon, ein Arbeiter bekommt einen Staatsorden, fährt zum Bankett in die Hauptstadt. Ihm wird die Ehre erwiesen, die der herrschenden Klasse gebührt. Noch sein Vater starb mit vierzig Jahren an einer Berufskrankheit. Der Kollege Soundso wird in der Betriebspoliklinik dispensaire betreut. Seine Mutter sah als Rentnerin zum ersten Mal das Meer. Die Kinder des Kollegen Soundso fahren jedes Jahr in ein Ferienlager an die See. Glaube nicht, Luise, ich sähe das nicht oder ich wüsste das nicht zu schätzen! Aber ich stelle mir vor, wie der Kollege Soundso mit seiner Frau einen schwarzen Anzug kauft, nicht zu teuer, wann braucht er ihn schon, aber auch nicht zu billig, schließlich wird an dieses Jackett der Orden gesteckt. Die alten schwarzen Schuhe machen es auch nicht mehr, besonders nicht zu dem neuen Anzug. Dann fährt der Kollege Soundso nach Berlin. Er darf sogar den großen schwarzen Wagen des Direktors benutzen. Wenn unter dem Buchstaben S sein Name aufgerufen wird, laut, es klingt, durch den ganzen Saal: Kollege Soundso aus dem Chemiebetrieb in B., könnte er fast weinen. Vielleicht denkt er an seinen Vater, der an einer Berufskrankheit gestorben ist, dessen Name nur einmal in der Zeitung stand: als er gestorben war. Vielleicht verzeiht er in diesem Augenblick sogar die Güterzüge voll Dreck, die ihm jeden Tag auf den Kopf rieseln. Beim Bankett läuft er unsicher am Büfett entlang. Von dem Geflügel nimmt er nichts. Er fürchtet, vor Aufregung könnte er sich ungeschickt anstellen, und das Tier landete auf dem neuen Anzug; er will sich nicht blamieren. Er tut sich von allem wenig auf, weil er nicht unbescheiden sein will. Und zu Hause wird er erzählen, wie einmalig das alles war, der Empfang, das Büfett, Champignons, Sekt, alles da. Und wie der Minister ihm die Hand gedrückt hat. Jemand wird fragen, ob er den Minister an den heißen Sommertag erinnert hat, an dem er ihre Werkhalle besichtigte, sich den heißesten Platz zeigen ließ, an dem 76 Grad gemessen wurden, die Beschaffung einiger Kisten Orangensaft für die Arbeiter anordnete und wieder verschwand. Alle werden über die Frage lachen wie über einen guten Witz. Selbstverständlich hat der Kollege Soundso nichts davon zu dem Minister gesagt, wie keiner von ihnen darüber gesprochen hätte.

Nein, ich werde den Kollegen Soundso verschonen.

Alfred Thal wiegt den Kopf. Selbst wenn er lächelt, sieht er traurig aus. »Sie können ins alte Kraftwerk gehn. Sehn Sie, dahinten, die vier Schornsteine, das ist es. Da kommt der Dreck her. Wir sollten längst ein neues haben, aber irgendwie waren die Mittel nie da. Und wenn sie gerade da waren, ist woanders ein Kraftwerk zusammengebrochen. Dann haben die unser neues gekriegt, und wir haben unser altes behalten. Nun kriegen wir ja eins, auf Erdgasbasis.« In Thals Stimme schwingt ein zynischer Ton.

»Wann?«, frage ich.

»In einem halben Jahr soll es fertig sein, aber wer weiß. Haben Sie die Baustelle nicht gesehn? Das große hellblaue Gebäude.« Thal kichert. »Hellblau war eine Empfehlung der Landschaftsgestalter. Wenn wir hier schon keinen blauen Himmel haben, dann baun sie uns wenigstens ein himmelblaues Kraftwerk –«

»Und dann hört das auf mit dem Ruß?«

Thal lacht, ohne dabei seine gelben Zahnstummel zu entblößen. Aber lachen ist nicht der richtige Ausdruck für seinen gespitzten Mund und das ironische Glitzern in seinen Augen. Er kostet seinen Vorteil aus, wartet ab, bis ich Ungeduld zeige.

»Der bleibt«, sagt Thal, spitzt wieder den Mund und freut sich, weil ich überrascht bin. In seinem grinsenden Schweigen liegt Herausforderung. Ich soll weiterfragen, freiwillig erzählt er nichts.

»Warum?«, frage ich.

»Das alte wird trotzdem gebraucht.«

»Wer sagt das?«

Thals Grinsen wird breit. Er macht eine Faust, stellt den Daumen senkrecht und zeigt mit ihm nach oben, wobei er den Blick an die Decke richtet, was wohl heißen soll: ganz oben.

Die Straße, die vom Kraftwerk zum Hotel führt, ist jetzt leer. Die zweite Schicht hat vor einer Stunde begonnen. Nur einige Lastwagen und Baufahrzeuge fahren mit lautem Getöse über die Brücke, vorbei an der Werkmauer, die das Geräusch hart zurückschlägt auf die andere Seite der Straße, wo es weit über die ebne Baufläche hallt und sich allmählich im Sand und in der Ferne verliert. Hinter der Mauer zischt und dröhnt es, steigen Dämpfe auf, klingt dumpfes, rhythmisches Stampfen.

Wie ein Golem, denke ich, ein unheimlicher Koloss, zwar gebändigt, aber in jedem Augenblick bereit, sich loszureißen, auszubrechen und mit heißem Atem alles niederzubrennen, was ihm vor die giftgrünen Augen kommt.

Ich laufe schneller, weg hier, weg von dem Gestank, dem Dreck, weg von den gebeugten Menschen in den Aschekammern, von dem sanftmütigen Heldentum, mit dem sie bei sengender Hitze Kohle in die aufgerissenen Feuerrachen schütten. Weg von meinem Mitleid, das in mir schwappt wie lauwarmes Wasser, das mir in den Hals steigt und in die Augen. Weg von Hodriwitzka, ohne den das Kraftwerk längst zusammengebrochen wäre, wie der Ingenieur gesagt hat.

Darum also hat Thal gelächelt, als er mir gestern vorschlug, das Kraftwerk zu besichtigen. Darum seine Bemerkung, länger als zwei, drei Stunden habe es noch kein Journalist darin ausgehalten. Erbaut 1890 oder 95, was machen die fünf Jahre schon aus. Damals war es neu, jetzt ist es verschlissen, vor zwanzig Jahren heizte ein Heizer zwei Ofen, jetzt heizt er vier, und die meisten Heizer sind inzwischen Frauen. Dafür sind sie jetzt ein sozialistisches Kollektiv. Ist das der Fortschritt, Luise? Liegt darin unsere höhere Gerechtigkeit, die gerechtere Verteilung des Reichtums, der Arbeit, der Luft? Und wer wagt es, zu entscheiden, dass dieses Ungetüm nicht stillgelegt wird, obwohl das neue Kraftwerk bald steht? Wer hat das Recht, Menschen im vorigen Jahrhundert arbeiten zu lassen, weil er synthetische Pullover braucht oder eine bestimmte Art von Fliegentöter? Ich wage es nicht, ich will das Recht nicht haben, ich werde keinen Weichspüler mehr sehen können, ohne an diese brüchigen Wände zu denken, an graue Hallen, durch die der Wind pfeift, gegen den die Frauen alte Bleche aufgestellt haben. Und an die Aschekammern, die Hitze und die erdige Kohle. Und warum habe ich das alles nicht gewusst? Jede Woche steht etwas in der Zeitung über B., über ein neues Produkt, über eine Veranstaltung im Kulturpalast, über vorfristig erfüllte Pläne, über den Orden des Kollegen Soundso. Nichts über das Kraftwerk, kein Wort von den Aschekammern, die das Schlimmste sind. Warum sollen die waschwütigen Hausfrauen, die ihre Waschmaschinen schon für zwei Hemden in Gang setzen, nicht wissen, wer ihren löblichen Sauberkeitssinn bezahlt? Warum sollen die strebsamen Kleingärtner nicht daran denken, wessen Gesundheit ihre gut gedüngte Rosenzucht kostet? Vielleicht wollen sie es sogar wissen, vielleicht gingen sie vorsichtiger um mit ihresgleichen.

In zwei Stunden fährt mein Zug, und ich bin froh, B. verlassen zu können. Mir ist, als hätte ich einen Schlag vor den Kopf bekommen, jetzt ist mir schwindlig, ich muss ausruhn und nachdenken, das vor allem, nachdenken. Der Gedanke an Thals Lächeln, das beim Abschied um seinen Mund zu finden sein wird, lässt Peinlichkeit in mir aufkommen. Er wird mich entlassen wie meine Kollegen, die vor mir hier waren, die ähnlich betroffen und erschüttert abgefahren sind wie ich. Thal glaubt zu wissen, was ich schreiben werde, und er wird lächeln.

Ich sitze in meinem Sessel, eine Zigarette zwischen den klammen Fingern, den Mantel habe ich anbehalten. Im Keller brennt immer noch kein Licht, die Blumen sind verwelkt, die Butter ist ranzig.

Ich will allein leben. Als würde mich dieses Postulat wärmen. Mein Gott, nicht auszudenken, ich komme nach Hause in eine geheizte Wohnung, an einen gedeckten Tisch. Ach Liebling, da bist du endlich, würde er sagen. Ich würde mich in die Arme nehmen lassen. Es war so fürchterlich, Liebster. Er gießt mir einen Cognac ein, erhol dich erst einmal, du bist ja ganz blass. Nach kurzer Zeit schwebe ich in einer Wolke von Wohlbefinden. Mit warmen Füßen und Cognac im Magen lässt es sich ganz anders an B. denken. Gewiss, es ist schlimm, aber die Menschen haben sich gewöhnt, und es geht eben nicht alles auf einmal, historische Notwendigkeiten und so weiter, gieß noch mal nach, Liebster, gleich geht es mir besser.

Aber ich habe keine warmen Füße, und B. steckt mir in den müden, durchfrorenen Knochen, und eingießen müsste ich selbst.

Ich vergesse langsam, wie es war, als jemand auf mich wartete. Es kostet schon Mühe, Konkretes zu erinnern aus fünf Jahren. Nachsichtige Verklärung breitet sich darüber, manchmal sogar schon der Gedanke, es könne so schlimm nicht gewesen sein, wie ich es vor drei Jahren empfunden haben muss, als ich mein Gelübde ablegte: Ich will allein leben. Ich weiß nur, ich wollte das alles nicht mehr gefragt werden: wasdenkstdu, woherkommstdu, wohingehstdu, wannkommstduwieder, warumlachstdu. Ich wollte kein siamesischer Zwilling sein, der nur zweiköpfig denken kann, vierfüßig tanzen, zweistimmig entscheiden und einherzig fühlen. Aber emanzipierte Frauen frieren nicht, heulen schon gar nicht, und das Wort Sehnsucht haben sie aus ihrem Vokabular gestrichen. Ich friere, ich heule, ich habe Sehnsucht. Ich blättere in meinem Notizbuch, wem kann ich mein angeschlagenes Gemüt und meine verheulten Augen schon zumuten. Unbestreitbarer Vorzug eines Meinmanns: der muss, ob er will oder nicht. G. – Grellmann, Christian.

Meine Mutter nannte ihn immer einen netten Jungen und Tante Ida eine treue Seele. Noch heute behauptet Ida wehmütig, ich wäre längst eine glückliche Frau, hätte ich diesen hübschen und netten Christian geheiratet. Wie sie diesem lieben, hübschen Christian eine solche Bosheit wünschen könne, frage ich zurück. Und dann hat Ida, die an mein einsames Alter denkt, Tränen in ihren hellblauen Augen.

Dass ich Christian niemals heiraten würde, entschied sich an dem Tag, an dem die Schule uns entließ und wir dieses ungeheure, langersehnte Ereignis feierten. Damals liebte ich den schönen Hartmut, bester Sportler der Schule, obendrein Pianist einer erfolgreichen Jazzband. Aber Hartmut liebten viele, auch diese blassgesichtige Blondine mit weißer Spitzenbluse und schwarzem Taftrock, die er an diesem Abend siegreich in den Armen hielt. Ich saß in einer Ecke und heulte. Christian brachte mich nach Hause. Es war schon hell, die S-Bahn hallte von irgendwo, auf der anderen Straßenseite hielt ein Milchauto. Ich liebte die Milchautos, die ihre Klapperkästen vor die Läden stellten, während wir noch schliefen. Sie verbreiteten eine großstädtische Geborgenheit und waren mir der Inbegriff eines romantischen Morgens. Ich hatte inzwischen aufgehört zu weinen, fühlte mich nur untröstlich und leidend in meiner verlorenen Liebe. Plötzlich, kurz vor unserem Haus, streichelte mir Christian, der bis dahin geschwiegen hatte, verlegen den Kopf und sagte: »Sei nicht traurig, ich liebe dich doch.«

Christian als Ersatz für Hartmut. Diese Vorstellung machte mein Unglück perfekt, steigerte es fast zur Katastrophe. Ich rannte nach Hause, aß drei Tage nichts und fuhr dann in die Ferien.

Hartmut habe ich nicht wieder gesehen. Und seit damals ist entschieden, dass der sehnlichste Wunsch meiner Tante Ida sich nicht erfüllen wird. Christian studierte in Halle. Nach einem Jahr kamen wieder Briefe, dann kam er selbst. Eines Tages mit einem Mädchen. Sie hatte kurzes, dunkles Haar, breite, etwas eckige Schultern, graue Augen, sie wirkte kräftig, obwohl sie schmal war, und alle Welt behauptete, sie sähe mir ähnlich. Später heirateten die beiden, noch später ließen sie sich scheiden, schmerzlos, sie ging weg, und Christian versuchte nicht, sie zu hindern. Seitdem lebt er allein in seiner Einzimmerwohnung, Altbau, Außentoilette. Ohne Ehe keine Wohnung, hatte die Frau vom Wohnungsamt gesagt. Über den Milchautomorgen haben wir nie gesprochen.

Christians Wohnung wirkt auf mich beruhigend. Der erste Eindruck ist chaotisch: bis zur Decke vollgestopfte Bücherregale, in den Ecken Zeitschriften und Karteikästen, Bilder an jedem Stückchen freier Wand, als Schreibtisch ein riesiges massives Brett, das von einer grellen Lampe beleuchtet wird, ein altes Plüschsofa und zwei Sessel in der Nähe des braunen Kachelofens. Bei näherem Hinsehen erweisen sich die Bücher als pedantisch geordnet, die Ecken als aufgeräumt und staubfrei, jeder Zentimeter des Zimmers ist genutzt, das Chaos hat System.

Seit jeher beneide ich Leute um ihre Fähigkeit, Harmonie und Wärme um sich zu verbreiten, innere Ausgeglichenheit auf Räume zu übertragen. Alle meine Versuche, Häuslichkeit zu schaffen, scheiterten. In anderer Zuordnung erschuf ich immer wieder die gleiche Kühle, Disharmonie und Halbheit, obwohl ich meine Unfähigkeit sogar auszugleichen suchte, indem ich andere nachahmte.

Die Heizsonne strahlt auf meine Füße, die in zu großen Filzlatschen stecken, ich löffle Gulaschsuppe aus der Büchse, erzähle über den traurigen Alfred Thal, über die weißen Kniestrümpfe und über das Kraftwerk.

»Was willst du schreiben?«, fragt Christian.

»Ich weiß nicht.«

»Schreib doch zwei Varianten. Die erste, wie es war, und eine zweite, die gedruckt werden kann.«

Das sei verrückt, sage ich, Schizophrenie als Lebenshilfe – als wäre kultivierte Doppelzüngigkeit weniger abscheulich als ordinäre. Ein zynischer Verzicht auf Wahrheit. Intellektuelle Perversion.

Christian winkt ab. »Hör auf, so zu krakeelen.« Um seine Mundwinkel zuckt für einen Moment der berüchtigte Grellmann’sche Spott, sanft und hochmütig. »Ist immerhin besser als deine Selbstzensur: rechts der Kugelschreiber, links der Rotstift.«

Gleich wird er mir raten, die Zeitung doch einmal zu vergessen beim Schreiben, meine eigene Logik nicht selbst zu zerstören durch mögliche Einwände des Chefredakteurs, dabei wird er mich belauern, ob der Stachel endlich sitzt. Und bei meiner ersten spürbaren Unsicherheit ändert er den Ton, zieht seinen Vorschlag zurück oder bezichtigt mich sogar der Unfähigkeit. Und schon schnappt die Falle zu. Plötzlich werde ich zum Fürsprecher seiner Idee, und er bezieht die Position des Zweiflers. Irgendwann werde ich sagen: gut, ich versuch’s, und Christian wird seinen Triumph mühsam verbergen. Nein, mein Lieber, heute nicht. Was habe ich von deiner Wahrheit, wenn niemand sie erfährt. Und was sollte übrig bleiben für den verlogenen Aufguss. Ich schweige, biege verbissen an einer Büroklammer, bis sie endlich zerbricht.

Christian gähnt, er ärgert sich über seinen Misserfolg. »Geh schlafen«, sagt er, »du siehst aus wie ein Huhn.«

Ich fühle mich auch wie ein Huhn, aber wie ein totes Huhn, kalt, gerupft und kopflos.

Heute also nicht Schneewittchen im Sarg, sondern Huhn in der Tiefkühltruhe.

Christian macht sein Bett auf dem Sofa. Sorgfältig zieht er das Laken glatt, bis keine Falte mehr zu sehen ist. Ich rolle mich zusammen, wärme meine Hände an meinem Bauch, ein Bein am andern. Das Bettzeug ist kühl. Es ist albern, in zwei Betten zu schlafen, wenn man friert.

»Zwei Betten sind albern«, sage ich.

Christian guckt für einen Augenblick hoch. Dann zieht er weiter an der Decke, die längst glatt und ordentlich auf dem Sofa liegt.

»Sei froh, dass du ein Bett hast. Hühner schlafen nämlich auf der Stange.«

»Ich bin aber ein totes Huhn, ohne Flügel zum Wärmen.«

»Tote Hühner frieren nicht.«

Ich drehe mich zur Wand. Er hat recht. Seit einem Milchautomorgen vor hundert Jahren sind wir füreinander geschlechtslos. Daran ändern auch Außentemperaturen nichts.

Und dann fließt ein warmer Strom von meiner rechten Schulter in Arm und Hals. Christian liegt neben mir, und mich überfällt eine lähmende Angst. Das ist nicht mehr Christian, das ist ein Mann, fremd wie andere. Gleich werden seine Hände prüfend über Haut und Fleisch fahren, ob sie den allgemeinen Ansprüchen auch standhalten, wird er auf Höhepunkte warten und wird, bleiben sie aus, das Prädikat frigide oder anorgastisch registrieren. Von mir bleibt nichts als das Stück Frau, das unter der Decke liegt, verkrampft vor Kälte und Anspannung.

Christian zündet eine Zigarette an, steckt sie mir in den Mund, schiebt seinen Arm unter meinen Hals, lacht still vor sich hin. »So ähnlich hast du ausgesehn, wenn du in Mathe an die Tafel musstest.«

Schon möglich. Das schneidende Gefühl im Magen, wenn mein Name aufgerufen wurde, die vor Aufregung blauen Hände auf dem Rücken, Blessins genüssliche Stimme: »Na, Fräulein Nadler, immer noch nicht der Groschen gefallen?«, in meinem Kopf nichts außer einem schmerzhaften Druck. Wenn ich mich setzte, hatte ich an beiden Daunennägeln die Haut weggerissen, dass sie bluteten. Aber ich stehe nicht an der Tafel. Ich müsste nur die Hand ausstrecken und Christians warme Haut berühren. Ich müsste nicht einmal tun, was ich nicht will. Stattdessen fühle ich mich missbraucht, bevor ich angerührt wurde.

Durch das angelehnte Fenster klingen die monotonen Stimmen Betrunkener, die Kneipe an der Ecke schließt. »Zieh dein Hosenbein hoch, du«, lallt jemand, »ich hab gesagt, du sollst dein Hosenbein hochziehen, damit ich dich anpissen kann.«

Wir lachen, wohl lauter, als die Sache verdient, und ich strecke meinen Arm aus. Bei Robert Merle habe ich gelesen, dass die Haitier spielen nennen, wozu wir miteinander schlafen sagen. Spielen ist schöner. Es erinnert an Wiese und Blumen, an Spaß und Lachen, nicht an stickige Schlafzimmer, sentimentale Schwüre oder müden Griff neben sich kurz vor dem Einschlafen. Komm, Christian, wir spielen, vergessen B. und Blessin, und auch dich, Luise. Nicht Leben denken, Leben fühlen, bis zum Schmerz, bis zur Erschöpfung, alle Gedanken wegfühlen, nur Bein und Bauch und Mund und Haut sein.

Der Friseur zieht gerade seine Jalousie hoch, steht als frisiertes Vorbild im Türrahmen mit Animierlächeln unter dem blonden Bärtchen. Nein, nein, ich bin kein Kunde. Ich lächle auch, statt meinen Kopf hinzuhalten. Diesiges, sonniges Gelb hängt in der Luft, müder Wind schaukelt welke Blätter an den Bäumen und die Bommeln der Platanen. Der Weltuntergang hat nicht stattgefunden, oder ich habe ihn verschlafen. Soll die Straßenbahn abfahren, ich laufe. Auf der Promenade zwischen Kirche und Rathaus ist Markt. Dicke, angepummelte Frauen mit roten Händen stehen in den Buden, treten von einem Bein aufs andere. Vor der Kirche wartet eine weiße Kutsche, vor dem Rathaus ein blumengeschmücktes Taxi; es wird geheiratet. »Prima Fisch, feiner Fisch«, ruft es. Und: »Meine Dame, Sie haben Hühneraugen, det seh ick von hier. Kommse her.« Eine Wolke verschiedener Gerüche schwebt über dem Platz, Orangen, Fisch, Gewürze, Currywurst und Blumen, alles ganz nah, auch die vielen Leute, die einander drängen und beiseiteschieben, um Stoffe zu befühlen und Äpfel zu prüfen. Gerade über die Straße ist der Gemüsekonsum, fast leer. Nur auf dem Markt gibt es zu riechen und zu fühlen und zu wählen. Anschließend geht man in die Apotheke an der Ecke, versorgt sich für eine Woche mit Tabletten aller Art. An Markttagen ist die Apotheke immer überfüllt. Ich kaufe drei Sträuße von den letzten Herbstastern, violett, weiß und gelb.

Der Pappstreifen an meiner Tür ist wieder einmal zerrissen, diese Gören. Josefa links, Nadler rechts, jeder Namensteil hängt an einer Reißzwecke. Das Bild verführt zu symbolischen Deutungen. Aber heute nichts davon, heute stehen niedere Arbeiten auf dem Programm. Und am Montag rufe ich endlich den Klempner an. »Du hast so viele Freunde«, sagt Tante Ida immer, »und trotzdem ist bei dir alles kaputt.« Stimmt, Ida, das lerne ich wohl nie. Ich muss sogar allein die Kohlen holen. Und prompt geht bei der Rickert’schen die Tür auf. »Fräulein Nadler«, sagt sie. Wenn ich das schon höre. Dreißig Jahre alt, Mutter eines fünfjährigen Kindes, geschieden und Fräulein. »Fräulein Nadler, die Hausgemeinschaft baut heute das Zäunchen für den Vorgarten.« Ob ich vielleicht beim Streichen helfen könnte. Nein, kann ich nicht, will ich auch nicht. Ich brauche kein Zäunchen. Warum diese Leute unentwegt Zäune bauen, um dieses Gärtchen und jenes Höfchen, am besten um jedes Bäumchen. »Ich bin alleinstehend mit Kind«, sage ich, registriere meine Inkonsequenz, und die Rickert’sche kneift ihren Mund zusammen, sodass zwischen Oberlippe und Nase lauter senkrechte Falten stehen und sie aussieht wie eine Ziege. »Vorgestern um siebzehn Uhr hat ein Mann bei Ihnen geklingelt, aber nicht der große dunkle mit dem Bart«, sagt sie und verschwindet wieder hinter ihrer Tür. Ich höre, wie sie die Kette vorhängt.

Und am Abend pünktlich um acht wird sie die Haustür zuschließen. Nach acht sind wir nicht mehr zu sprechen. Da sperren wir uns ein in unsere Höhlen oder sperren uns aus – aus der Menschengesellschaft. Da hilft kein Klopfen, lieber Freund, und auch kein Rufen, die Autos überschreist du nicht. Geh nach Hause. Ordnung muss sein.

Als mein Atem sich nicht mehr in Dampfschwaden verwandelt, gehe ich in den Kindergarten.

»Mama!« Ein gewaltiger Ansturm gegen meinen Körper, feste, warme, weiche Haut, das berauschende Gefühl, unersetzlich zu sein, das Liebste, nicht wegdenkbar, das große Glück eines anderen. Ich weiß, die Ernüchterung kommt gleich: »Was hast du mir mitgebracht?« Aber ich habe vorgesorgt, will keine Freude verderben, seine nicht und meine nicht. Ich lege den roten Traktor auf die Opferbank unserer Liebe und werde belohnt mit einem gellenden Freudenschrei: »Mama, du bist lieb.«

Auf der Straße frage ich: »Na, gehen wir noch ein Bier trinken?«

Ein kurzer Blick zur Verständigung, Antwort mit tiefster Stimme: »Ja, ich trinke ein ganz großes Bier.« Ein Passant dreht sich um, der Sohn kichert: »Der Mann denkt bestimmt, ich trinke wirklich Bier.«

Wir bestellen Eis und Kaffee.

»Der Andreas hat mich gehaun.«

»Hau ihn doch wieder.«

»Der ist aber größer.«

»Na und? Vielleicht ist er schwach.«

»Nein, aber er kann nicht so schnell rennen, da renn ich lieber weg.

»Wiederhaun ist aber besser.«

»Ich habe aber Angst.«

»Mach ihm auch Angst. Sag, wenn du ganz wütend bist, kannst du Feuer spucken.«

Der Sohn ist begeistert, führt vor, wie er Feuer spucken wird, spuckt stattdessen Eis über den Tisch.

Abends im Bett fragt er: »Kann ich wirklich Feuer spucken?«

»Ja, wenn du ganz schrecklich wütend bist, bestimmt.«

»Und du?«

Ich? Nein, bedaure, mit Zauberkräften kann ich nicht dienen, davon kann ich nur reden. Armes Kind.

»Ja. Ich auch«, sage ich.

Als der Sohn schläft, hängt im Raum jene beängstigende, unausgefüllte Stille, die Unruhe verbreitet, die provoziert; abgebrochenes Leben. Ich lege eine Schallplatte auf, böhmische Barockmusik, empfinde heute keine Verwandtschaft, versuche es mit Chopin, aber es bleibt das beängstigende Gefühl, irgendwo geschieht etwas, lebt es, lebt es an mir vorbei. Ich versäume Menschen, Ereignisse, Tage. Weiß dabei längst, wie es endet, wenn ich einem Tag Gewalt antun will, mich nicht abfinden kann mit seinem geplanten, normalen Verlauf, nicht mein Leben suche, sondern ein anderes, fremdes, wenn ich plötzlich, todmüde eigentlich, die Wohnung verlasse, in irgendein Lokal fahre, in dem ich Freunde vermute, und eine Stunde später wieder nach Hause komme, ohne ein Erlebnis reicher, aber um zwanzig Mark ärmer, die ich für ein Taxi bezahlt habe.

Eines Tages gründe ich mein Haus, ein großes Mietshaus, in dem nur Leute wohnen, die miteinander befreundet sind. Nicht so eine künstliche Hausgemeinschaft, die immer nur Zäunchen baut und in der jeder Mühe hat, sich seine Nachbarn schönzugucken. Acht oder neun oder zehn Parteien, jeder hat seine eigene Wohnung, man kann allein sein, muss aber nicht. An den Türen hängen Schilder, auf der einen Seite rot, auf der anderen grün. Bei Grün darf man klingeln, Rot heißt: nicht stören. Zu Weihnachten und zu Geburtstagen kocht jede Wohnung einen Gang. Der Boden wird ein Spielzimmer für die Kinder. Niemand muss von einer Dienstreise in eine kalte Wohnung kommen. Und wenn einer ein Buch schreiben will, kann er aufhören zu arbeiten, und die anderen bezahlen ihm einen einjährigen Arbeitsurlaub. Wenn jeder fünfzig Mark gibt, hat er ein Mordsstipendium. Dafür hütet er manchmal die Kinder. Und wenn sein Buch fertig ist, kann er vorn reinschreiben, dass er uns allen dankt. Wenn keiner es drucken will, ist es auch nicht schlimm, dann liest er es den andern vor.

Heute hätte ich mein Schild auf die grüne Seite gedreht.

Die weiße Wintersonne, abgeblendet durch ungeputzte Fensterscheiben, fängt sich im Kaffeelöffel. Ich starre in die eingefangene Sonne, spiele mit ihr, indem ich den Löffel hin und her schaukele, spanne dann ein weißes Blatt Papier in die Maschine, blicke abwechselnd auf Sonne und Papier, suche den ersten Satz über B. Auf dem runden Tisch vor mir Tabellen und Analysen über Staubemissionen, meine Notizen, Zeitungsausschnitte, ungeordnet, über- und untereinander, daneben die Kaffeetasse, sanfter Übergang vom Frühstück zur Arbeit. Um Himmels willen keinen Schreibtisch, keine viereckigen Abmessungen vor mir, keine geordneten Bleistifte und Schnellhefter.

Ein leeres weißes Blatt, voller Möglichkeiten, Vorsätze, Selbstverpflichtungen: Diesmal wird es ganz anders als bisher, alte Fehler werden vermieden, wohl wissend: Es werden neue Fehler sein. Aber noch besteht die Chance, die Klippen heil zu passieren. Noch sind die Hindernisse nicht in Sicht. Noch liegt B. als spiegelglattes Wasser von Fakten und Erlebnissen vor mir.

Ich sitze mit angezogenen Beinen in dem großen, alten, harten Sessel, sehe auf den Ahornbaum vor dem Fenster, lasse das Bild unscharf werden, stelle mir den Weg vom Bahnhof in B. zum Kombinat vor, meinen ersten Schreck über diese Stadt, denke an Alfred Thal, der gesagt hat: »B. ist die schmutzigste Stadt Europas.« Das wäre der erste Satz, so müsste ich anfangen. Aber das würde selbst Luise streichen. Die dreckigste europäische Stadt ausgerechnet in einem sozialistischen Land. Wenn wir uns schon die traurige Tatsache leisten, so wenigstens nicht ihre öffentliche Bekanntmachung. Mögliche Variante: B. ist eine schmutzige Stadt. Quatsch, das ist nichts, das weiß jeder.

Wenn schon nicht die ganze Wahrheit, dann wenigstens einen schönen Satz. Also: In B. steigt nur aus, wer hier aussteigen muss, wer hier wohnt oder arbeitet oder sonst hier zu tun hat. – Das ist mein erster Satz. Ich bin zufrieden.

Der Himmel. Welches Gefühl war das, als ich ihn auf mich niedersinken ließ, den gelbgrauen giftigen Nebel in mein Bewusstsein aufnahm, die hochgemauerten Öffnungen abzählte, aus denen er zusammenfloss, um dann wie ein Dach über der Stadt zu hängen? Bestürzt war ich oder entsetzt, Angst hatte ich bei dem Gedanken an das viele Gift. In B. habe ich weniger geraucht. Angst scheidet aus. Wir schreiben nicht, um die Leute zu ängstigen, auch nicht, um sie zu entsetzen. Bestürzung – noch zu viel. Betroffen, das geht. »Fremde sehen betroffen in den Himmel über der Stadt …« usw.

Nach einer Stunde habe ich zwei Sätze geschrieben. Mühsam geht das. Zu mühsam. Ich suche ein Wort, das Wort, das treffende, einzige. Um es zu verwerfen, sobald ich es gefunden habe, es auszutauschen gegen seine mildere Variante, nicht zu milde, die nächstliegende Nuance, aber druckbar. Nichtdruckbares wird nicht zu Ende gedacht. Es ist nur ein kurzer Weg von undankbar zu undenkbar, sobald man sich darauf eingelassen hat, die Wirklichkeit an diesem Maß zu messen; dazwischen liegt nur unaussprechlich. Ich habe mir fast schon abgewöhnt, öffentlich über Alternativen zu reden, Gedanken auszusprechen, deren Undruckbarkeit ich ermessen kann. Wozu auch? Ich weiß vorher, was man mir antworten würde, und es hängt mir zum Halse raus: Damit lieferst du dem Gegner die Argumente. Du kannst alles schreiben, wenn du es nur richtig einordnest. Und wenn ich es richtig eingeordnet habe, dann hat alles seine unantastbare Ordnung, und nichts kann anders sein, als es ist. Und immer wieder dieses Duhastjarecht, Mädchen, aber wir konnten noch nicht … es gab Wichtigeres … glaubst du, wir kennen die Probleme nicht? Diese Genossen »Wir«. Gegen mein klägliches »Ich habe gesehn« stellen sie ihr unerschütterliches »Wir«, und schon bin ich der Querulant, der Einzelgänger, der gegen den Strom schwimmt, unbelehrbar, arrogant, selbstherrlich. Sie verschanzen sich hinter ihrem »Wir«, machen sich unsichtbar, unangreifbar. Aber wehe, ich gehe auf ihre majestätische Grammatik ein und nenne sie »ihr« oder »sie«, dann hageln ihre strengen Fragen: Wer sind »sie«? Wen meinst du konkret? Warum sagst du »ihr« und nicht »wir«? Von wem distanzierst du dich?

Ein für alle Mal sage ich das: Wer von sich in der Mehrzahl spricht, muss mir gestatten, ihn in der Mehrzahl zu nennen. Wer ein »wir« ist, muss auch ein »ihr« sein oder ein »sie«. Und wenn sie ihre Meinung unerlaubt zu der meinen machen wollen, wenn sie mich ohne mein Einverständnis in ihr »wir« einsaugen wollen, werde ich zu mir »ich« sagen und zu ihnen »sie«.

Vielleicht trennen mich nur einige Jahre von ihnen, die Jahre, in denen der Un-Mechanismus endgültig einrastet und mir das Undruckbare, das Unaussprechliche, das Undenkbare zur Unwahrheit werden wird, weil ich es so wenig wie die anderen ausgehalten habe, das Bewegendste und das Aufregendste nicht zu schreiben, nicht zu sagen, nicht zu bedenken. Dann sage ich »wir« – »wir haben nicht gekonnt«, weil ich nicht gekonnt habe, und ich werde einen Neuen zurechtweisen, der wieder »ich« sagt und für den ich »sie« bin.

Ich bin ihnen gar nicht so fern. Ich bin schon unsicher, ob sie nicht recht haben, die Strutzers und die Mesekes. Die Leute in B. haben sich eingerichtet, haben sich gewöhnt, Einwohner von B. zu sein und vom Dreck berieselt zu werden. Vielleicht ist es nichts als grob und herzlos, ihnen zu sagen: ihr seid vergessen worden, geopfert für Wichtigeres, und ich kann es nicht ändern.

Aber was ist wichtiger, Luise? Jeder Säugling in B. zahlt seinen Tribut an unseren Wohlstand. Dabei würde ein kleines Kraftwerk genügen, 160 Megawatt nur.

Ich aber schreibe betroffen statt entsetzt und verstecke die Wahrheit hinter schönen Sätzen.

Wenn der Kollege Soundso den Beitrag liest (vielleicht liest er ihn, weil es um seine Stadt geht), wird er die Zeitung geringschätzig beiseitelegen, den Fernsehapparat einschalten und zu seiner Frau sagen, diese Leute von der Zeitung sollten mal alle eine Weile hier leben, dann vergingen ihnen ihre Sprüche schon. Dabei habe die, die das geschrieben hat, ganz schön blass ausgesehen, als sie aus dem Kraftwerk kam. »Aber Papier ist geduldig«, wird er noch sagen, und seine Frau wird ihm recht geben.

Wem nützen unsere Schwindeleien, Luise? Glaubst du, der Kollege Soundso ließe sich von uns einreden, es sei so unerträglich gar nicht in seiner Stadt? Meinst du, er denkt nicht nach über die ungebauten Kraftwerke und verworfenen Konzeptionen, weil wir nicht von ihnen sprechen?

Oder glaubt jemand, 180 Tonnen Flugasche wögen auf Zeitungspapier schwerer als auf der eigenen Haut?

Stell dir vor, Luise, Christians Falle schnappte zu und ich schriebe zwei Beiträge: einen, wie es wirklich war, und einen, der gedruckt werden kann. Und du müsstest entscheiden. Bestimmt wärst du wütend, weil ich dir wieder einmal den schwarzen Peter zugespielt hätte. So, wie du dich früher geärgert hast über die Sätze, die ich nur geschrieben habe, damit du sie streichen musstest. Du hast sie immer gefunden, und sie haben dir immer gefallen, und du warst wütend, weil ich dich in die Rolle des Zensors gedrängt habe. Wenn du aber durch mich gezwungen wärst, von zwei Reportagen die schlechtere zu wählen, Luise, ich wüsste nicht, gegen wen dein Zorn sich richten würde. Vielleicht gegen mich, denn ich hätte die Situation geschaffen. Vielleicht aber auch gegen andere, die nicht zulassen, dass wir den Dreck einer Stadt in der Zeitung ausbreiten. Du könntest den schwarzen Peter auch weiterreichen, an Rudi Goldammer. Dann wärst du deine Rolle als Rausschmeißer los, und einen Skandal brauchtest du auch nicht zu fürchten, denn auf Rudi Goldammers Zaghaftigkeit ist Verlass.

Ich bin ungerecht. Ich lasse ihr keine ehrenhafte Variante, und das hat sie nicht verdient. Luise zieht sich nicht aus Affären. Und es ist sinnlos, Luises Verhalten berechnen zu wollen. Zu oft haben sich meine sicheren Erwartungen in ihr Verhalten als Irrtümer erwiesen. Nicht, dass sie immer toleranter oder gütiger reagiert hätte, als ich angenommen habe, ganz und gar nicht, aber anders, so, wie es mir bei allen Spekulationen eben nicht eingefallen war. Inzwischen ist es für mich fast ein Spiel, mir alle möglichen Reaktionen auszudenken, die schlimmsten zuerst, um sie auszuschließen. Denn wie gesagt: Luise ist nicht berechenbar, was nicht heißt, sie sei unberechenbar. In einer Sache habe ich mich bisher nie geirrt: Luise ist ehrlich.

So viel weiß ich, aber auch nicht mehr, und ich weiß eben nicht, was Luise tatsächlich täte, würde ich Christians idiotischen Vorschlag wahr machen.

Zwei Sätze habe ich, immer noch zwei Sätze. Nichts ist mit dem spiegelglatten Wasser aus Fakten und Erlebnissen. Stattdessen Klippe an Klippe.

Es ist dunkel geworden im Zimmer. Die Sonne ist verschwunden hinter einer gleichmäßigen grauweißen Wolkendecke, die über den Straßen hängt wie ein großes flaches Dach. Es ist Schnee angesagt, der erste Schnee in diesem Jahr. In meinem Kopf formen sich Sätze, sinnlose, unkontrolliert schieben sich Wörter zusammen: … haben wir unter Aufbietung aller Kräfte daran gearbeitet … bleibt uns unter den gegebenen Möglichkeiten keine Wahl … überbringen wir die herzlichsten Glückwünsche zum – wirres, zusammenhangloses Zeug, Floskeln, die irgendwo in meinem Hinterkopf ihren Platz haben und ihn jetzt unaufgefordert verlassen. Es hat keinen Sinn. Ich kann nicht von einem Satz in den anderen stolpern, ohne zu wissen, was ich schreiben will. Aber was soll ich denn wollen? Diese kastrierte Wahrheit vielleicht, diese Kompromisse, auf die wir immer so stolz sind, wenn wir es wagen, öffentlich darüber zu sprechen, dass Schichtarbeit schwer ist, dass irgendwo ein Schulessen noch nicht schmeckt oder dass es hin und wieder noch subjektive Schwächen bei einigen Funktionären gibt. Mein Gott, in welcher Zeit leben wir denn, dass solche belanglosen Feststellungen ausreichen, um zu einem kritischen Geist und zu einem kämpferischen Charakter ernannt zu werden.

Ich spanne einen neuen Bogen in die Maschine und schreibe: B. ist die schmutzigste Stadt Europas.

Nur diesen einen Satz, mehr nicht, heute nicht.

Flugasche

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