Читать книгу Pflege und Betreuung Bettlägeriger - Monika Pigorsch - Страница 8
Оглавление3 Psychische Grundfunktionen
Die psychischen Grundfunktionen sind Parameter für seelische und körperliche Gesundheit/Krankheit und deren Berücksichtigung ist notwendig für die zielgenaue Planung eines Betreuungs- und Beschäftigungsangebotes.
Die relevanten psychischen Funktionsbereiche sind:
• Bewusstsein
• Antrieb
• Affektivität
• Gedächtnis
• Denken
• Wahrnehmung
Im Folgenden werden diese Funktionen kurz beschrieben und mit Hinweisen für die Pflege und Betreuung bettlägeriger Menschen versehen.
3.1 Bewusstsein
Unter Bewusstsein wird das Erleben mentaler Zustände eines Individuums verstanden, die sich aus komplexen neurophysiologischen Prozessen ergeben.
»Es beinhaltet die Grundelemente aller psychischen Abläufe und Funktionen«1 und ist die Voraussetzung, um äußere Sinnesreize und innere Prozesse zu verarbeiten.
Bewusstseinsstörungen liegen vor, wenn die Orientierung herabgesetzt und der Wachzustand (Vigilanz) gemindert ist, wodurch das Denken, Handeln und Fühlen des betroffenen Menschen stark beeinflusst wird.
Vigilanzstörungen sind:
• Benommenheit: der Betroffene ist verlangsamt, nimmt die Umgebung nur unpräzise wahr und reagiert entsprechend diffus, die Orientierung ist lückenhaft.
• Somnolenz: der Betroffene ist schläfrig, befindet sich in einer Art Dämmerzustand, reagiert jedoch auf deutliche Ansprache und Berührung.
• Sopor: der Betroffene befindet sich in einem Zustand des Tiefschlafs, reagiert nur noch auf stärkste Reize und ist nur für kurze Momente erweckbar.
• Koma: der Betroffene befindet sich in tiefer Bewusstlosigkeit, reagiert nicht auf Reize, ist nicht erweckbar.
Ist das Bewusstsein herabgesetzt, die Reaktionen verlangsamt und die Orientierung gestört, sollte auf Angebote zurückgegriffen werden, die diese Zustände berücksichtigen und den Mangel lindern. Vielversprechende Betreuungsmöglichkeiten sind hier die Basale Stimulation und das Snoezelen ( Kap. 6 – Betreuungskonzepte), bei der die Wahrnehmung über die Sinne angesprochen, gefördert und aktiviert wird.
3.2 Antrieb
Der Antrieb ist Voraussetzung für jedes Handeln, Denken und Fühlen und ist bei jedem Menschen individuell ausgeprägt. In der Arbeit mit alten Menschen kennen wir als Auffälligkeiten
• die gesteigerte motorische Unruhe
• den verminderten Antrieb, bis hin zur Apathie.
Der Antrieb ist zunächst eine wichtige Ressource für bettlägerige Menschen. Durch eigenes Aufsetzen, Bewegen, Drehen werden viele Risiken, die das überwiegende Liegen im Bett mit sich bringt, vermieden. Deshalb gehört es zu unserer Aufgabe diese noch vorhandene Aktivität zu erhalten. Wir fördern und unterstützen den Wunsch nach Bewegung zum einen durch aktive und passive Bewegungsübungen, zum anderen durch die Gestaltung des Lebensraums Bett, indem wir Taschen, kleine Regale in unmittelbarer Nähe anbringen, um die Autonomie des Kranken zu erhalten und die Bewegungsabläufe positiv zu beeinflussen.
Bei motorischer Unruhe können wiederum Angebote aus dem Bereich basaler Stimulation eingesetzt werden. Aber auch ein insgesamt verstärkter Betreuungseinsatz kann helfen, die Unruhe in sinnvoll kanalisierte Aktivität umzuwandeln.
Bei stark reduziertem Antrieb ist es unsere Aufgabe, die Apathie zu durchbrechen und den Menschen zu aktivieren. Sehr häufig finden wir gerade unter den bettlägerigen Bewohnern in einer Altenhilfeeinrichtung Menschen, die an einer Depression erkrankt sind, die sich ins Bett zurückgezogen haben und bei denen kaum noch eigener Antrieb zu erkennen ist. Bei diesem Krankheitsbild hilft uns die Selbsterhaltungstherapie nach Romero ( Kap. 6.4), um das verletzte »Selbst« des Kranken wieder aufzurichten. Der Antrieb kann durch das Finden von Zielen und Sinnhaftigkeit unterstützt und reaktiviert werden.
3.3 Affektivität
Der Affekt beschreibt die Grundstimmung eines Menschen, sowie den Ausdruck und Umgang mit aktuellen Emotionen, wie z. B. Freude, Trauer, Wut oder Angst.
Störungen des Affektes, die besonders im Alter auftreten können, sind:
• Affektlabilität: darunter versteht man stark schwankende Stimmungslagen, Lachen und Weinen wechseln sich rasch ab, für Außenstehende oft ohne erkennbaren Grund.
• Affektinkontinenz: hier können die Gefühle nicht beherrscht werden und schon bei kleinen Anlässen überschießen und unangemessen wirken.
• Affektarmut: es werden kaum Gefühle gezeigt, der Betroffene erscheint gleichgültig und teilnahmslos.
• Depressive Stimmungslage: die Erlebenswelt ist negativ eingefärbt, der Betroffene ist lustlos, oft ohne Hoffnung auf Besserung, schwermütig und ist unfähig, positive Gefühle zu erleben. Auch die Gefühle der Leere und Sinnlosigkeit werden häufig beschrieben.
• Dysphorie: stellt einen Zustand von gereizter, missmutiger Stimmung dar, der Betroffene ist mürrisch, durch nichts zufrieden zu stellen, es besteht die Möglichkeit aggressiver Reaktionen.
Bei all diesen Gefühlsäußerungen gilt grundsätzlich, sie ernst zu nehmen und angemessen darauf zu reagieren. Bei dementiell erkrankten Personen ist die Königsdisziplin die Validation, d. h., den Menschen in seiner eigenen Gefühls- und Erlebenswelt zu begleiten, ohne ihn zu korrigieren oder auf unsere »Wahrheitsebene« heben zu wollen.
Auch das psychobiografische Modell nach Böhm ( Kap. 6.3) hilft, den in seinem Affekt eingeschränkten Menschen, für uns erreichbar zu machen und gezielt betreuen zu können.
Bei kognitiv wenig eingeschränkten Personen kann darauf geachtet werden, dass gemäß dem operanten Konditionieren, »positives« und erwünschtes Verhalten durch Lob und Zuwendung verstärkt, »negatives« Verhalten durch weniger Beachtung negiert und reduziert wird.
Allgemein sollten hier Angebote durchgeführt werden, die das Selbstwertgefühl und die Identität stärken und Raum geben eigene Gefühle wahrzunehmen und ausleben zu können ( Kap. 6).
3.4 Gedächtnis
Die Aufgabe des Gedächtnisses ist die Aufnahme, Speicherung, Verarbeitung und das Wiederabrufen von Informationen. Für diese Arbeit stehen verschiedene Informationsspeicher mit unterschiedlicher Kapazität zur Verfügung.
• Gedächtnisstörungen können das Lang- und/oder Kurzzeitgedächtnis betreffen, damit die Merkfähigkeit beeinflussen und können unterschiedlich stark ausgeprägt sein.
• Gedächtnislücken können besonders bei dementiell veränderten Menschen durch erfundene Inhalte gefüllt werden (Konfabulation).
• Außerdem kennen wir die Amnesie, den Erinnerungsverlust, wobei einzelne Inhalte noch lückenhaft vorhanden sein können.
• Bei der Zeitgitterstörung ist die Chronologie der Erinnerungen gestört, es kann zu Trugerinnerungen und Erinnerungstäuschungen kommen.
Das Gedächtnis ist die Erinnerungskammer unseres Lebens. Hier sind alle relevanten Daten abgelegt, auf die zurückgegriffen werden kann, wenn sie benötigt werden. Gedächtnisstörungen werden von dem erkrankten Menschen als starke Beeinträchtigung empfunden, oft wird mit Unsicherheit und Rückzug reagiert, in fortgeschrittenem Stadium kann die eigene Identität und Persönlichkeit immer mehr abhandenkommen.
Betreuend wirken wir auf Menschen mit Gedächtnisstörungen ein, indem wir mit ihnen über bekannte Gegenstände und Sinneswahrnehmungen Erinnerungen hervorrufen (Rückschauarbeit nach Pigorsch, Kap. 6). Eine weitere Möglichkeit ist ein spielerisches und stressfreies Gedächtnistraining, dies ist jedoch nur sinnvoll, wenn noch Ressourcen im Kurzzeitgedächtnis vorhanden sind. Das 24-Stunden-ROT ( Kap. 6) sollte dagegen regelmäßig und von allen an der Pflege und Betreuung beteiligten Personen durchgeführt werden. Unerlässlich sind alle Formen von Maßnahmen, die die Identität und das Selbstwertgefühl des erkrankten Menschen unterstützen, wie z. B. im person-zentrierten Ansatz nach Kitwood beschrieben ( Kap. 6.1).
3.5 Denken
Das Denken umfasst den Prozess, Gegenstände zu erkennen, zu verstehen, zu unterscheiden und in vorhandene Inhalte einordnen und beurteilen zu können. Durch Denken erfassen wir die innere und äußere Wirklichkeit, erkennen Möglichkeiten, besitzen Kritikfähigkeit.
Störungen können Auftreten beim formalen Denken, d. h., der Gedankenablauf ist beeinträchtigt. Hier kennen wir
• die Denkverlangsamung,
• die Denkhemmung,
• das umständliche Denken,
• das Abreißen der Gedanken oder
• das beschleunigte, ideenflüchtige Denken.
Darüber hinaus gibt es Denkstörungen auf der inhaltlichen Ebene, d. h. das Denken wird durch Gefühle in eine bestimmte Richtung gelenkt. Hier kennen wir
• das zwanghafte Denken,
• Phobien,
• überwertige Ideen bis hin zum Wahn.
In die gestörte Gedankenwelt eines Menschen vorzudringen bedingt ein großes Maß an Geduld und Aufmerksamkeit. Zwanghaftes Denken oder wahnhafte Überzeugungen haben für den Erkrankten in der Regel Realitätscharakter, sind für den Helfenden jedoch oft nur schwer nachvollziehbar. Hier ist es wenig hilfreich, dass Denksystem beeinflussen zu wollen, es bietet sich eher an, die Gefühlswelt zu erfassen. Das psychobiografische Modell nach Böhm ( Kap. 6.3) gibt uns Hilfestellung im Umgang, wenn wir die Stufe erkennen, auf der sich der erkrankte Mensch zurzeit befindet. Wir können dann seine Gefühlswelt wahrnehmen und auf diese reagieren.
Vielfach stehen auch Sicherheit gebende und vertrauensbildende Maßnahmen im Vordergrund der Betreuung.
3.6 Wahrnehmung
Darunter versteht man das Aufnehmen von Eindrücken durch die Sinnesorgane. Die Wahrnehmung wird durch das Denken und Fühlen beeinflusst.
Wahrnehmungsstörungen sind häufig organisch bedingt. Bevor wir also davon ausgehen, dass andere Gründe vorliegen, müssen wir uns von der physiologischen Gesundheit der Sinne (Hören, Sehen, Riechen, Schmecken, Fühlen und Tasten) überzeugen.
Wahrnehmungsstörungen ohne organische Ursache sind:
• Die Illusion: etwas tatsächlich Vorhandenes wird für etwas anderes gehalten, als es wirklich ist. Diese Täuschung ist korrigierbar.
Sinnestäuschungen können Unsicherheit und Ängste auslösen und stark beeinträchtigend sein. Auch hier gilt es, den betroffenen Menschen unbedingt ernst zu nehmen. Oftmals hilft Zuwendung, die Umgestaltung des Zimmers, die Verbesserung der Lichtverhältnisse oder die Neugestaltung der Bodenstruktur. Um die Wahrnehmung zu verbessern bieten sich Übungen aus dem Bereich der basalen Stimulation, sowie Körper- und Bewegungsübungen an ( Kap. 6 – Betreuungsangebote).
• Die Halluzination: hier wird ohne äußeren Reiz etwas wahrgenommen, was für andere nicht wahrnehmbar ist. Für den Betroffenen haben sie die Echtheit und Gültigkeit einer realen Wahrnehmung.
Hier ist es neben einer sinnvollen medikamentösen Therapie die Aufgabe des Betreuenden, den bettlägerigen Menschen zu begleiten, Krisen zu mildern, die Wahrnehmung zu fördern und Sicherheit zu vermitteln.
Merke: Alle psychischen Grundfunktionen bedingen einander und wirken sich wechselseitig aufeinander aus.
Faktoren, die sich grundsätzlich ungünstig auswirken, sind Reizarmut, Unter- und Überforderung, Mangel an Stimulation und Kontakt.
1 Elisabeth Höwler, Gerontopsychiatrische Pflege, Schlütersche Verlag 2000