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2.2 Typische Textmerkmale: Kriterien der Textualität

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Textualitätskriterien

Ein Versuch, alle wesentlichen Eigenschaften von Texten präzise zu erfassen, liegt in der Angabe von sogenannten Textualitätskriterien. Als klassisch ist hier die Definition von de Beaugrande/Dressler (1981) anzuführen, derzufolge ein Text „eine kommunikative Okkurrenz ist, die 7 Kriterien der Textualität erfüllt“. Mit kommunikativer Okkurrenz ist schlicht gemeint, dass es sich um eine Äußerung in einer konkreten Situation handelt. Diese Kriterien müssen den Autoren zufolge alle gegeben sein, damit wir einem sprachlichen Gebilde die Eigenschaft zusprechen, ein Text zu sein (wobei wir zeigen werden, dass dies so nicht stimmt).

Kohäsion und Kohärenz

Als textzentrierte Kriterien gelten die Kohäsion (also die grammatischlexikalischen Verknüpfungen auf der Oberflächenstruktur) und die Kohärenz (den inhaltlichen Zusammenhang betreffende Relationen) (ausführlich hierzu s. Kap. 5.1). Stichwortartige Aufzählung, experimentelle Prosa, dadaistische Lyrik und Fragmente in Tagebüchern erfüllen z.B. diese Kriterien nicht, sind aber dennoch Texte. Die Tatsache, dass wir bestimmte Textexemplare als grammatisch oder lexikalisch inkorrekt und unzusammenhängend erleben, zeigt, wie wir uns automatisch an einem mentalen Prototyp von TEXT orientieren, einer typischen Konzeptualisierung von „guten, repräsentativen Texten“, denn sonst würden uns die Abweichungen ja gar nicht auffallen.

Intentionalität

Akzeptabilität

Situationalität

Es werden auch benutzerzentrierte Merkmale angeführt: Intentionalität als produzentenzentriertes Merkmal bezieht sich darauf, dass jeder Text mit einer bestimmten Absicht für (einen oder mehrere) Rezipienten produziert worden ist. Dies ist auch zutreffend, wenn Texte nur anonym vorliegen oder (wie heute oft üblich in PR-Bereichen) im Kollektiv verfasst wurden. Die Intention oder kommunikative Funktion jedoch lässt sich nicht immer eindeutig bestimmen (s. z.B. Bsp. (1) und (15) sowie das Kap. 6.1 zum Textsinn). Und bei Selbstgesprächen oder Tagebüchern ist auch der Bezug zum Rezipienten nicht gegeben. Akzeptabilität ist ein rezipientenzentriertes Merkmal und meint, dass jeder Text, wenn er wahrgenommen wird, von Rezipienten mit einer bestimmten Erwartungshaltung gelesen wird. Dieses Kriterium sagt eigentlich, dass Rezipienten die Erfüllung der übrigen Kriterien erwarten. Ob diese Erwartung erfüllt wird und ob der Text Sinn für den Rezipienten macht, ist jedoch situationsabhängig. Die Situationalität betrifft die kontextuelle Einbettung jedes Textes: Texte werden nicht kontextfrei, sondern stets in bestimmten Situationen (also Raum-Zeit-Konstellationen) produziert bzw. rezipiert.

(16) Und kleine Tannen sind verstorbene Kinder

Uralte Eichen sind die Seelen müder Greise

(Emmy Hennings, Gesang zur Dämmerung, ausgewählte Zeilen)

Gekritzelt an eine U-Bahn-Wand wird (16) weniger Beachtung finden als abgedruckt in einem Band über moderne Lyrik. Texte sollen auch zur Situation passen: So wird man auf einer Trauerfeier einen anderen Redetext erwarten als für eine Geburtsgratulation. Und die Rezeption eines Textes, der im Mittelalter verfasst wurde, erfordert die Berücksichtigung der historischen Produktionsumstände des Autors.

Informativität

Die Informativität betrifft das Informationspotenzial eines jeden Textes, wobei das Ausmaß der bekannten oder unbekannten Information je nach Text erheblich variieren kann. Ein Text wie

(17) Das neue Buch „Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert“ wurde am 05.05.2013 in Deutschlandradio Kultur von M. Küntzel rezensiert. Der Politikwissenschaftler nannte die Studie hervorragend und wichtig. Am 13.6.2013 wiesen zwei Abgeordnete im deutschen Bundestag auf die Relevanz des Buches für das Verständnis von aktuellem Antisemitismus hin.

vermittelt komprimiert sehr viele neue Informationen. Dagegen hält

(18) Die Erde kreist um die Sonne, der Mond kreist um die Erde.

semantisch wenig Neues bereit. Zum Teil wird auch (insbesondere in literarischen Texten) bewusst mit der Dimension der Informativität gespielt (s. Bsp. (2) im Einleitungskapitel sowie Kap. 5.5):

(19) schweigen schweigen schweigen

schweigen schweigen schweigen

schweigen schweigen

schweigen schweigen schweigen

schweigen schweigen schweigen

(Eugen Gomringer, Schweigen)

Die Wiederholung des Wortes Schweigen und seine spezifische Anordnung fokussieren in diesem Gedicht der visuellen Lyrik die Semantik der nonverbalen Stille.

Intertextualität

Das Kriterium der Intertextualität schließlich gibt an, dass sich Texte auf andere Texte beziehen. Man kann dieses Kriterium weit oder eng fassen: In der weiten Definition ist lediglich gemeint, dass jeder Text eine Realisierung einer bestimmten Textsorte ist (s. hierzu Kap. 3), jeder Text steht somit in einem (ziemlich abstrakten) intertextuellen Bezug auf alle anderen Texte derselben Textsorte.

(20) Tomaten, Müllbeutel, Kaffeefilter, Butter, Schwarzbrot.

Textsortenzuordnung

(20) als einen Einkaufszettel zu klassifizieren, betrifft die Textsortenzuordnung ebenso, wie Gedichte von Gryphius als Barocksonette zu identifizieren und Erzählungen von Chandler als Kriminalromane einzuordnen.

Manche Texte nehmen aber auch Bezug auf andere konkrete Texte; dies ist die enge Definition von Intertextualität, die auch in der Literaturwissenschaft verwendet wird. Eine einfache, explizite Form der Intertextualität liegt vor bei Zitaten (ein Text greift eine Stelle eines anderen Textes auf und dies wird gekennzeichnet). Ebenso explizit – und hier auch textsortenbestimmend – ist die Intertextualität bei einer Buchkritik, dem Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch und Sekundärliteratur zu wissenschaftlichen Texten.

Implizite Intertextualität liegt vor bei Anspielungen oder Parodien.

(21) Vom Eise befreit sind Berlins Straßen nach 6 langen Monaten nun. (aus einer E-Mail)

(22) Die unerträgliche Leichtigkeit des Sehens (Kontaktlinsenwerbung)

Bei (21) ist z.B. zu erkennen, dass eine Anspielung auf Goethes Faust (Osterspaziergang; im Original „Vom Eise befreit sind Strom und Bäche“) und bei (22) ein intertextueller Verweis auf Milan Kunderas Roman „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ vorliegt. Solche markanten Ausprägungen von Intertextualität sind natürlich nicht bei allen Texten gegeben, und sie haben auch je nach Textsorte ganz unterschiedliche Funktionen. Während Verfasser wissenschaftlicher Texte dadurch beweisen, dass sie hinreichend Kenntnisse über das Gebiet haben, benutzen z.B. Produzenten von Werbetexten Intertextualität als persuasives Mittel, um die Aufmerksamkeit von Rezipienten zu wecken und das Produkt humorvoll zu bewerben (s. Schwarz-Friesel 2003).

Zusammenfassend: Textualitätskriterien anzunehmen, bedeutet also nicht, dass diese tatsächlich immer alle erkennbar in jedem konkreten Text realisiert sein müssen. Es gibt u.a. auch Texte ohne kohäsive Mittel, es gibt inkohärente und (scheinbar) informationsleere Texte (vgl. (14)), Texte ohne erkennbaren intertextuellen Bezug sowie situationsungebundene Texte. Nicht immer werden Texte von ihren Lesern als bedeutungs- bzw. sinnvoll akzeptiert, und bei vielen Texten ist die Intention des Produzenten nicht oder nicht klar zu rekonstruieren. Es sind also nicht immer alle Kriterien in erkennbarer, konkreter Ausprägung in einem Text gegeben. Bei den Textualitätskriterien handelt es sich vielmehr um typische Merkmale von Texten.

Textualität ist also nicht absolut, sondern prototypisch zu fassen (vgl. ausführlich auch Sandig 2000). Mit einem prototypischen Textbegriff kann man erstens deutlich das Arbeitsfeld der Textlinguistik von anderen linguistischen Disziplinen abgrenzen und die Forschungsschwerpunkte eines textlinguistischen Vorgehens verdeutlichen, zweitens hilft ein solcher Textbegriff auch ganz maßgeblich, Texte in anwendungsorientierten Analysen voneinander abzugrenzen und ihre Spezifika hervorzuheben. So kann man z.B. Textverständlichkeitsprobleme erklären, wenn man die jeweils vorhandene oder mangelnde Kohäsion/Kohärenz betrachtet, oder das Persuasionspotenzial von Texten erfassen, wenn man Informativität und Intertextualität beschreibt.


Abb. 1: Modell zur Textualität

Das folgende Schema fasst noch einmal die erörterten Kriterien zusammen und zeigt deren interaktives Verhältnis:

Es ist typisch für einen Text, dass er als Exemplar einer Textsorte mit einer grammatischen Oberflächenstruktur, einem inhaltlichen Zusammenhang und einem globalen Sinngehalt von jemandem (für jemanden) mit einer bestimmten Intention in einer bestimmten Situation produziert wurde. Sprachproduktion und -rezeption von Texten werden maßgeblich von Sprach- und Weltwissen sowie kontextuellen Faktoren beeinflusst.

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