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Translation: Von der Theorie zur Empirie und zurück

Drei Vorschläge für den Weg

Michele Barricelli

Mit Fug und Recht lässt sich heute sagen, die Geschichtsdidaktik habe eine Periode des relativen Mangels an empirischer Forschung hinter sich gelassen.2 Ertragreiche Projekte gibt es in steigender Zahl, die Fragestellungen sind interdisziplinär anschlussfähig geworden, der Gebrauch von Erhebungs- und Auswertungsmethoden gelingt zunehmend sicher. Die Schweizer Tagungsreihe »geschichtsdidaktik empirisch« der FHNW (mit ihren entweder tiefstapelnden oder verwegenen Minuskeln) hat nicht wenig zu diesem glücklichen Umstand beigetragen. Dafür gebührt den Ideengebern, spiritus rectoribus, Organisatoren, auch den Förderern großer Dank.

Entsprechend der Fortentwicklung von Aufgabenbereichen, methodischen Zugängen und Auskunftsmöglichkeiten gibt es nun bereits eine Vielzahl von Überblicken zum Stand der empirischen Forschung in der Geschichtsdidaktik. Diese sind, ob in Aufsatzform, Sammelbänden oder Monografien, oft eher auf die methodische Seite der Forschung konzentriert wie zuletzt der Band von Holger Thünemann und Meik Zülsdorf-Kersting (2016), dem hier manche beispielhaften Anregungen entnommen werden. Rarer, wiewohl ebenso zu finden sind allgemeine Überlegungen dazu, wie die neu hinzutretende Betonung des empirischen Zugriffs die Denkroutinen und Arbeitsweisen in der Disziplin Geschichtsdidaktik verändert hat. Bei Letzterer herrschen naturgemäß gewisse pragmatische Hinsichten vor, die um Empfehlungen für eine gute, zuverlässige und nützliche Forschung sozusagen im Dienste des Kunden (der Schülerinnen und Schüler, der Lehrkräfte, einer an Geschichte und Erinnerung interessierten Öffentlichkeit, der Bildungspolitik) gruppiert sind.3 Dass sich zugleich der Charakter der Geschichtsdidaktik als Wissenschaft überhaupt wandelt, gerät dagegen noch recht wenig in den Blick. Denn diese ist nun ja nicht mehr länger (oder will oder darf es nicht sein) eine dominant hermeneutisch arbeitende Instanz, deren Ausübende einer scholarship im Sinne etwa eines Hans Ulrich Gumbrecht huldigen, die einst (nur) zu Kontemplation, langer gedanklicher Verweildauer und schier unendlichem Austausch jeweils nur fein modifizierter Argumente im behaglichen Diskurs innerhalb eines geschützten Raumes verpflichtete. Stattdessen orientiert man sich unter der Parole von Messbarkeit an einer Idee der Verwertbarkeit von Ergebnissen und stellt sich zudem in vielen auch nichtakademischen Räumen, zum Beispiel in Beiräten und Fachkommissionen von Museen, Gedenkstiftungen oder Anstalten öffentlicher Erinnerung, drängenden Nachfragen, mahnenden Ansprüchen und ungeduldig vorgebrachten Auskunftsersuchen nach dem Muster »Was kann Bildung zum Abbau von Fundamentalismen und Extremismen beitragen?«, »Wie hilft Geschichte bei der Sicherung des gesellschaftlichen Zusammenhalts?«, »Ist unsere liberale Demokratie zu retten?«. Soll heißen: Statt dass die Geschichtsdidaktik Zeit erhält zu er- und begründen, was »Fundamentalismus« und »Extremismus«, »Gesellschaft«, »Pluralität« und »Demokratie« in ihrer jeweils historischen Dimension bedeuten und wie man solch verwickelte Konzepte lehren kann, um sich möglicherweise zu aus ihnen erwachsenden Bedürfnissen zu verhalten, werden nunmehr – auch, aber beileibe nicht ausschließlich unter dem Paradigma der Kompetenzbasierung von allgemeinbildendem Fachunterricht – standardmäßige Formulierungen zu graduierten Leistungsniveaus auf den Feldern etwa der Gesellschaftsstärkung oder Demokratiesicherung (eher sogar noch der Abwehr von nicht gewünschten Erscheinungen der Verwerfung, des Auseinanderbrechens, der Desintegration) gefordert. Die einen nennen dies einen willkommenen Bedeutungszuwachs der Fachdidaktiken und hier der Geschichtsdidaktik durchaus im Besonderen; die anderen beklagen einen Verlust an Autonomie und konstatieren eine neue Getriebenheit im Allgemeinen, von der das auf empirische Forschung ausgerichtete Drittmittelwesen ja nur der Ausdruck, nicht der Grund ist (vgl. dazu Barricelli, 2014).

In dieser Zeit, da die Geschichtsdidaktik also das empirische Wagnis in beiderlei Gestalt, der methodischen Anverwandlung wie der facheigenen Profilierung, auf sich genommen hat, sollte die theoretische Rückversicherung stete Begleiterscheinung sein. Diese wird hier diesmal von der Feststellung ausgehen, wie sehr wir angesichts des Booms der evidenzbasierten Lehr-Lern-Forschung als Forscherinnen und Forscher nicht nur, aber eben auch bei der Konzeption von Empirie in einer Zwangsjacke stecken. Denn die Ursituation aller empirischen Forschung in den nach wie vor »verstehenden« Geisteswissenschaften stellt sich dar, wie Ludwig Wittgenstein sie einmal beschrieb:

»Es ist für unsere Untersuchung wesentlich, dass wir nichts Neues mit ihr lernen wollen. Wir wollen etwas verstehen, was schon offen vor unseren Augen liegt. Denn das scheinen wir, in irgendeinem Sinn, nicht zu verstehen.«

(Wittgenstein zusf. zit. nach Wrabel, 1998, 65 f., Hervorhebungen im Original)

Richtig betrachtet, liegt darin die Crux oder die Herausforderung unseres Strebens: nicht die passenden Fragen zu stellen, Methoden zu beherrschen, nach Resultat, Anschluss und Transfer zu suchen – das ist alles auch von Belang, kommt aber später. Zuerst geht es um die Ideologien der Untersuchung, das heißt um das Verhältnis unseres forschenden Tuns zu uns selbst (und eben nicht zu den anderen, die wir vom Erfolg der Forschung erst überzeugen wollen). Es geht darum, einen Bedingungszusammenhang zwischen Mentalität und Messung ehrlich zu erzählen. Drei der dafür nötigen Grundeinstellungen, Marken auf dem Weg zu valider Erkenntnis, sollen im Folgenden benannt werden. Sie seien wie folgt überschrieben:

1.Maß halten,

2.reflexiv bleiben,

3.nützlich sein.

1Maß halten

Geschichtslernen sei schwerer als Mathematik. – So lauteten Aussagen von Schülerinnen und Schülern sowie auch Meldungen von Zeitschriften, als in den 1990er-Jahren in Großbritannien das National Curriculum for History mit einiger Konsequenz und dem ganzen Zubehör auf ein narratives Verständnis von Geschichte umgestellt wurde. Denis Shemilt beschrieb, wenn man recht liest, fast genussvoll, wie die jungen Lernenden, bisher an die Verkündung und Wiederholung feststehender historischer Wahrheiten gewöhnt, sich von nun an abstrampeln konnten, wie sie wollten: Nie würden sie gemäß den geänderten Voraussetzungen ein hinreichendes Lernergebnis erreichen:

»First we say that there is no single right answer to the really significant questions in history and that pupils must work out for themselves. Then we say: ›But not any answer will do. Some answers are indefensible even if no one answer is clearly right! And some admissible answers are not as good as other admissible answers.‹ Pupils then spend considerable time and effort learning how to determine which answers and accounts are better than others. If they succeed we say: ›But even though some accounts are better because more valid or coherent or parsimonious than others, there is no one best account, since we find it useful to vary questions, assumptions and perspectives.« (Shemilt, 2000, 98)

Ob unter solchen Bedingungen Ranke, Nipperdey, die Mommsens hätten Historiker werden wollen? Denn in der Tat: Heute gehen wir mit einiger Leichtigkeit davon aus, dass bereits Siebt-, ja Fünftklässler »Geschichte« als »sprachlich verfasste« »Konstruktion« oder, im Lautwert geheimnisvoller noch, »Konstrukt« in einer Art durchschauen sollen, wie dies vor fünfzig, geschweige vor hundertfünfzig Jahren noch kaum einem Fachmann geläufig gewesen ist: Dass ein Unterschied zwischen Quelle und Darstellung gemacht werden soll, ist als Erkenntnisprinzip abseits von frühen Außenseitern wie Droysen noch kaum ein halbes Jahrhundert alt. Die Standortgebundenheit von Geschichtsschreibung als conditio sine qua non wurde die längste Zeit eben nicht, wie heute, entweder resigniert oder aber stolz (an-)erkannt, sondern als durch Kritik auszumerzender Mangel eingestuft. Dass schließlich Geschichtsschreiberinnen und Geschichtsschreiber Erzählerinnen und Erzähler von möglichst vielen Geschichten sind oder sein sollten, von Geschichten mit argumentativen und diskursiven Anteilen, noch dazu well-written narratives, ist zumindest in Deutschland immer noch gar nicht Konsens. Es soll aber, zumal unter dem Leitstern der narrativen Kompetenz, das Maß historischen Lernens in der Schule sein. Freilich führt zur empirischen Erforschung dieser Grundeinstellung kein direkter Weg.

Eher gilt weiterhin die Bedingtheit, Beschränktheit und Kleinigkeit der in den entsprechenden fachlichen Studien verfolgten Fragen bzw. der verwertbaren Resultate. Jedoch ist Häme in Nachfolge alter, jetzt sprichwörtlich gewordener Abqualifizierungen etwa eines »Fingerhuts« von Erkenntnis durch »Fliegenbeinzählen« ganz fehl am Platze. Denn liest man die in den oben erwähnten Überblickswerken aufmarschierenden Studien chronologisch, synoptisch und im Zusammenhang, scheint es tatsächlich so, dass die eingeschlagene Richtung die eines Strebens nach immer größerer Systematisierung, nach Anschlussfähigkeit zu möglichst vielen Seiten, nach Komplettierung eines Bildes ist. Insofern überrascht nicht, dass häufig Fachtagungen unter überaus allgemeinen Titeln veranstaltet werden wie »Geschichtsdidaktik empirisch«, oder »Geschichtsunterricht« und dass das sogar – cum grano salis – funktioniert. Größe entsteht hier also durch Addition und Summen, nicht unbedingt den ausschweifenden Entwurf oder das visionäre Programm.

Letzteres gibt es jedoch auch. Es kann so überbordend sein, dass das eigentliche Schulfach sogar überschritten und historisches Denken bzw. Lernen nicht nur im Unterricht, sondern überall in der Gesellschaft abgebildet bzw. modelliert werden mag. Damit sind diese Konzepte noch größer als das ohnehin ja schon große PISA-Projekt, das sich freilich bislang nicht auf das Fach Geschichte erstreckt und das, bei allem, was man ihm an Gigantomanie vorwerfen kann – die gerade zu jener Schieflage geführt hat, welche im Namen antizipiert wurde –, dem Grundsatz nach nur auf Messungen von dem beruhen sollte, was üblicherweise Schulstoff in den betreffenden Fächern ist. Selbstverständlich kann an dieser Stelle die HiTCH-Studie (»Historical Thinking – Competencies in History«, Trautwein et al., 2017),4 ein veritables large-scale assessment, nicht außer Acht gelassen werden. In ihrem Umfang, ihrem Anspruch – eng verknüpft mit dem Kompetenzstrukturmodell der FUER-Gruppe unter Waltraud Schreiber – ist sie imponierend. Ihr methodischer Aufbau (Design, mehrfache Qualitätskontrolle, Pilotierung, Haupterhebung usw.) ist schlechterdings unangreifbar. Die nach Subgruppen differenzierten Befunde müssen wie stets noch weiter geprüft und gewogen werden, wobei allerdings das Urteil nur auf einem Indizienprozess beruhen kann (die entwickelten Testaufgaben bzw. Items werden nur exemplarisch veröffentlicht). An dem umfangreichen Projektbericht stimmt indessen nachdenklich, dass die Entwicklung dieses Instruments für die Validierung eines historischen Kompetenztests auf die Konstruktion eines, bei aller behaupteten Zuverlässigkeit der »dahinter stehenden Theorie« (Trautwein et al., 2017, 117), recht ominösen »Generalfaktors« historische Kompetenz angewiesen ist, der aufgrund seiner nicht mehr steigerbaren Verallgemeinerung womöglich nur noch wenig Erklärungs- oder Bezeichnungskraft besitzt (Trautwein et al., 2017, 95).5 Diese stupende Grundsätzlichkeit des Zugriffs, wo es doch eigentlich, wie gesagt, um eine eng umgrenzte intellektuelle Operation, noch dazu in einem beschränkten öffentlichen Raum (Schule), geht bzw. gehen sollte, wirft Fragen auf, denn er ist ja gepaart mit der praktischen Notwendigkeit, einen nicht zu langen, nicht zu umfangreichen Fragebogen (hier »Testheft«) für die Erprobung eben jener »Generalkompetenz« zu entwerfen. Das passt nur schwer zusammen. – Was den Menschen im Grundsatz, gänzlich oder in mental basierten Teilbereichen wie der Fähigkeit, zu lieben, zu streben, zu gestalten oder zu trauern, ausmacht, haben Schriftstellerinnen und Schriftsteller seit Generationen im dichterischen Experiment zu ergründen versucht; gelungen ist dies bisher nicht, was begrüßt werden soll, da sonst ja die Produktion von Literatur, Theater, Film einzustellen wäre. Wie aber soll man nach einem noch so variantenreichen und durch mutmaßlich »raffinierte« (vgl. oben von Borries) Item-Formulierung ausgezeichneten standardisierten Test, der, schon durch die Körperkräfte beschränkt, kaum länger als einen Schultag dauert, sagen können oder sagen können wollen, wie ein junger Mensch, gegebenenfalls infolge geeigneter Schulung, »historisch denkt«?

Trotz aller Unwahrscheinlichkeit des Strebens in der Praxis bleiben die Einsicht in den Konstruktcharakter der Geschichte, in Standortgebundenheit und Perspektivität der historischen Narration, die Anerkennung von Multiperspektivität und Vorläufigkeit, das Abwägen von Gütekriterien innerhalb einer argumentierenden Erzählung wichtige Ziele von Geschichtsunterricht und historischem Lernen über die gesamte Schulzeit hinweg. Die Suche nach dem single best narrative ist schon um dieser Prinzipien willen zu verwerfen. Das Set an gemäß Shemilt unermüdlich erhobenen und in empirischen Studien getesteten Forderungen – nicht aufhören zu denken, nachzufragen, zu zweifeln, wieder von vorn zu beginnen – behält jedoch (lediglich?) idealen bzw. regulativen, jedenfalls nicht realistischen Wert. Denn so funktioniert die Lebenswelt der jungen Lernenden einfach nicht, nicht die sie umgebende Geschichtskultur oder Vergangenheitspolitik – dies zu bezeugen, muss man derzeit nicht erst nach Polen oder Ungarn schauen – und, man sei ehrlich, schon gar nicht die Produktion von aktuell gültigem Wissen zum Beispiel auf Historikertagen. Auf eine zumindest auf den ersten Blick widersprüchliche Art schafft unsere angeblich so diverse Gegenwart nämlich eine Pflicht zu Zuordnung und Bekenntnis. Dabei geht es freilich nicht, wie noch zu Zeiten einer nationalapologetischen Geschichtsschreibung, um Einheitlichkeit, sondern um Eindeutigkeit: Ich wähle einen Standpunkt, wofür ich Gründe benennen soll und den zu verteidigen ich bereit bin. Die Position mag im Laufe der Zeit wechseln; sie muss jedoch, zum Beispiel, im Augenblick des Stimmzetteleinwurfs in der Wahlkabine, beim Einkauf von mithilfe von Kinderarbeit erstellten Kleidungsstücken oder wenn jemand in der U-Bahn fordert, bestimmte Fahrgäste sollten dahin zurückgehen, woher sie kommen, klar sein. Dies sind fürwahr sämtlich kompetenzbasierte Aktionen bzw. Reaktionen.

Bodo von Borries hat wiederholt darüber nachgedacht, was genau eigentlich das Aus der Lernzielorientierung zugunsten des neuen, noch gewaltiger scheinenden Kompetenzparadigmas bewirkt hat (von Borries, 2004). Gewiss war dafür die nicht zu kontrollierende Beliebigkeit der taxonomisch obersten Lernzielebenen ein Grund. Die umfassenden sogenannten Fern- und Richtziele waren einfach auf Dauer nicht konsensfähig zu formulieren. Sehr ähnlich hielt von Borries seit jeher »Geschichtsbewusstsein« für ein viel zu komplexes mentales Konstrukt, um es als Ganzes oder auch nur in seinen wesentlichen Teilen empirisch regelrecht zu erforschen. Es hat ein wenig gedauert, bis die Geschichtsdidaktik daraus den richtigen Schluss zog, dass es mithin vielversprechender sei, statt, einer typisch deutschen Tradition folgend, in die Blackbox des Bewusstseins schauen zu wollen, sich, sozusagen im Sinne eines amerikanischen Pragmatismus, auf das zu beziehen, was als Äußerung und Handeln tatsächlich beobachtbar und damit zu messen, wägen und beschreiben ist. In die Theorie von den Kompetenzen immerhin wurde dieser empirische Zugriff durch das Konstrukt der »Performanz« von vornherein eingebaut. Nur gibt es eben bisher nicht den geringsten Konsens darüber, was eigentlich einen geschichtsbewussten Menschen praktisch ausmacht, wodurch er als solcher handelnd in Erscheinung tritt. Durchaus vermag man einen umwelt- oder gesundheitsbewussten Zeitgenossen erkennen – aber was prägt das Bild eines Jugendlichen, der Geschichtsbewusstsein besitzt? Jeder Geschichtsdidaktiker und jede Geschichtsdidaktikerin dürfte hier recht eigene Vorstellungen besitzen: Ist damit die Nachhaltigkeit von memorierbarem und in sensiblen Momenten vorzeigbarem Wissen, die entwickelte Urteilskraft, die reflektierte Haltung gemeint? Die Fähigkeit, andere mit seinen Geschichten über die Vergangenheit von nötigen Handlungen in der Gegenwart zu überzeugen? Die Einsicht in die Sinnlosigkeit historischen Geschehens, die in Verzweiflung ebenso münden könnte wie in Wagemut, die Hyperkritik an unseren gesellschaftlichen Zuständen? Die Entscheidung für eine bestimmte politische Partei oder jedenfalls eine ganz bestimmte nicht? Das mutige Eintreten für Diskriminierte in der U-Bahn? Der Verzicht auf Konsum zugunsten der Agitation? Deswegen ganz logisch, aber eigentlich ein Jammer: Fünfzig Jahre danach lässt sich, nur zum Beispiel, nicht einmal (mehr) sagen, ob die soixante-huitards besonders geschichtsbewusst oder aber geschichtsvergessen waren.

2Reflexiv bleiben

Die deutsche Geschichtsdidaktik besitzt den Vorteil, dass sie von Anbeginn um ein Höchstmaß von Reflexivität bemüht war und dieses Ziel auch theoretisch zu begründen suchte. Dass alle Erkenntnis bedingt ist und die Welt nicht aus Essenziellem, sondern aus Kontingenzen besteht, ist Teil ihrer Predigt seit Langem. Konsequent gilt das für alle geschichtsdidaktische Forschung: Wo ein Design entwickelt, eine Forschungsfrage präpariert wird, ist ein anderer, möglicherweise gar gegenteiliger Entwurf nie fern. Dass trotzdem der Eindruck besteht, man arbeite gemeinsam am großen Ganzen, ist dann eine besondere Leistung der inneren Verbundenheit. Diese Art von staunenswerter Reflexivität gilt nota bene nicht für alle Fachkulturen. Insbesondere die Naturwissenschaften zieren sich noch, anzuerkennen, dass das in der Schule vermittelte biologische oder physikalische Grundwissen gerade so konstruiert, interessengeleitet und überhaupt menschengemacht ist wie jede Meistererzählung der Geschichte. Mitnichten ist etwa in den jeweiligen Fachlehrplänen verankert, dass die Fotografie im 19. Jahrhundert an der scheinbar so ungekünstelten Lichtbrechung der weißen und eben nicht der dunklen Menschenhaut entwickelt wurde oder dass, ebenfalls im 19. als dem Jahrhundert, das wie kein anderes zuvor dem Binären verfallen war – Mann und Frau, wir und ihr, Herrscher und Beherrschte –, die Klassifizierung und Benennung der Säugetiere, der Mammalia, ganz entscheidend einem volkspädagogischen Impetus geschuldet war, der da lautete: Frauen erfüllen ihre naturbedingte Pflicht nur, wenn sie Kinder bekommen und diese dann auch an ihren Brustwarzen, den mammae, säugen (und eben nicht mit der Flasche aufziehen oder in die Obhut von Kinderfrauen geben, um womöglich noch einer anderen, gar Erwerbstätigkeit nachzugehen).

Jedoch, dieser rigorose Konstruktivismus, an dem die Geschichtsdidaktik so hängt, wird ausgerechnet für die empirische Forschung im Fach wenigstens zuweilen durchaus gelockert. Oder eher andersherum: Durch die Hintertür schleichen sich more often than not die eigentlich gefürchteten Essenzialismen wieder ein. Denn für den Augenblick jeder Messung ist mindestens eine theoretische Vorannahme als gegeben zu setzen. Um ein klassisches Muster der Feldforschung heranzuziehen: Die Ausprägung eines Faktors X beim historischen Lernen (Bildungsnähe, Sprachvermögen, Interesse, Geschlecht) kann nur ge- und ermessen werden, wenn eine je und je definierte Existenz von »Bildung«, »Sprache«, »Interesse«, »Geschlecht« immer schon vorausgesetzt wird. Jede Entwicklung von Testinstrumenten, z. B. für kompetenzorientiertes historisches Lernen auf der einen und für die entsprechenden Qualitäten der Lehrprofession auf der anderen Seite, ist von der Anerkennung der Beobachtbarkeit und kontrollierten Beschreibbarkeit eben jener Performanzen abhängig. Reflexivität kann dieses Vor-Einverständnis der Forschung mit ihren eigenen Vorannahmen bewusst machen, schafft es aber nicht aus der Welt. Es bleibt dabei: Jede Erhebung von historischen Kenntnissen oder fachlichem Urteilsvermögen benötigt zunächst einen abgehärteten Begriff vom Wissen und reasoning in der Domäne der Geschichte. Jede Überprüfung der Funktionalität von Schulbüchern verfolgt ein vorgängiges Konzept von gutem Unterricht und so weiter und so fort. Als Bestimmungsziele der Erkenntnisgewinnung kennzeichnet solche underlying assumptions allerdings zweierlei: Sie sind akademisch wie gesellschaftlich regelmäßig (höchst) umstritten und wenigstens mit den Mitteln der Empirie selbst nicht aufzudecken oder gar zu kritisieren. Sie sind im Übrigen in hohem Maße historisch. Warum spricht heute alle Welt von Identität, auch historischer (und möchte diese beschreiben, mit Merkmalen versehen, morphologisch herleiten), und nicht mehr von Emanzipation oder Autonomie, wie in den 1970er- und 1980er-Jahren? Könnte Identität nicht einfach ein gigantisches Programm sein, um den Menschen am Wachsen zu hindern?

Ob fake news oder, fachlich gewendet, »Geschichtsklitterung«, ob gelingende Instruktion oder wirksamen Unterricht, ob historische Argumentation oder, ganz allgemein, historisches Denken – es gibt dies alles, und es wird darüber berichtet und geforscht. Aber es gibt es nur in dem Maße, wie wir mehrheitlich sagen, dass es es gibt, was wiederum bedingt, wie darüber geforscht und geschrieben wird. So bestätigte man sich um 1900 in vielerlei (meist medizinischen) Studien gegenseitig, dass Frauen zu politischem Denken nicht in der Lage seien (weshalb ihnen das Wahlrecht zu verwehren wäre), und in den bundesdeutschen 1960er-Jahren, dass »Ausländerkinder« mit Blick auf ihre »Eingliederung« (»Integration« war noch ein ziemlich unbekannter Fachbegriff) um Himmels Willen während ihrer Erziehung nichts anderes als Deutsch hören dürften.6

Reflexiv bleiben heißt daher für mich: In jeder Forschung, jeder Studie ist lieber fünf- als dreimal zu bedenken, was man jungen Lernenden mit einer »gefundenen« Forschungsfrage immer schon unterstellt; ist zu hinterfragen, was das angeblich Feste sei, von dem das Suchlicht der Erkenntnis zurückgeworfen (eben reflektiert) wird. Schränkt mich in meiner Forschungshaltung erst ein, dass es ein bestimmtes Verständnis eines Textes, z. B. in einem Schulbuch, geben muss? Oder ist es nicht doch schon, dass ich an das – durch alle Grundlagenforschung noch nie nachgewiesene – Konstrukt des »Verstehens« eines Textes an und für sich glaube? Textanalyse und Textinterpretation, Bildbeschreibung und Bildinterpretation, Sach- und Werturteil, im Übrigen ebenso historical reasoning sind, das ist bekannt, hochartifizielle szientifische Konstrukte, noch dazu mit starken, wiewohl oft genug verkannten historischen Dimensionen, die sehr wenig mit den Denkroutinen von jungen Menschen oder Menschen generell zu tun haben, wenn sie sich eine Welt um sie herum erschließen. Richten wir empirische Forschung an ihnen aus, sagen wir immer auch, dass die Verbiegung den Vorrang einnimmt gegenüber der Begradigung. Vielleicht ist es dies, was noch für alle Zeiten dafür sorgen wird, dass Erhebungen zu fachlichem Wissen und methodischen Kenntnissen im Fach Geschichte nach fünf bis acht Jahren Unterricht so erbarmungslos schlecht ausfallen wie seit Beginn ihrer Erfindung (vgl. dafür Hamann, 2017).

Zum veränderten, reflexiven Umgang mit dem Konstruktivismus in der Empirie gehört daneben die Sprache: Ein unbeteiligter Beobachter von außen könnte, hörte er Empirikerinnen und Empiriker nur reden, annehmen, er lausche einer militärischen Lagebesprechung, so wimmelt es von Ausdrücken aus dem Schlachten- und Kriegswesen, die offenbar in dieser Art von Forschung gute Dienste leisten: Da werden surveys – vom Feldherrenhügel – über Probandengruppen durchgeführt, denen in (wie Soldaten) »gezogenen« Stichproben zugesetzt wird; man geht »ins Feld«, um Schülerinnen und Schüler mit »(Frage-)Batterien« – also schnell feuernden Geschützen – zu beschießen; man geriert sich »explorativ« (also feindliches Gelände erkundend), man »interveniert«, gebraucht dazu »Instrumente« – ursprünglich die Ausrüstung der römischen Soldaten; Faktoren werden »geladen« – also schussbereit gemacht; »Quantität« und »Qualität« waren zuerst im Heerwesen gefragt (»Wie viele Kämpfer stehen zur Verfügung, und wie sind sie ausgebildet?«). Am Schluss wird, oft mit Bedauern, gesagt, die Ergebnisse (i. e. die Äußerungen, Performanzen, Leistungen der Probanden) ließen sich noch nicht »generalisieren«, also für den allumfassenden Klammerangriff (gewissermaßen mit »Generalfaktor«) anordnen. Ja, der Ausdruck »Empirie« selbst hat etwas mit dem altgriechischen Wort für das militärische »Auskundschaften« zu tun. Nun könnte man einwenden, das seien doch nur Wörter. Aber nicht nur Reinhart Koselleck, sondern viele andere gescheite Köpfe haben uns doch gelehrt: Gebrauchen wir Begriffe, schwingt in unserem dadurch stabilisierten Begreifen, wiewohl unterbewusst, immer deren Geschichte mit. Die alten Römer jedenfalls trauten ihrem Gott der Bewegung und des Wanderns, Merkur (der folgerichtig ebenso Gott der Reisenden, Migranten, Fahrenden wurde), auch das Befinden über den Wandel der Begriffe und des Gebrauchs von Wörtern zu. Sie hätten hier nicht an einen Zufall geglaubt: Empirie kann nur mit einem Denken und Methoden funktionieren, die aus Individuen Merkmalsträger machen und jene also vereinheitlichen, und man ärgert sich, wenn aus Messreihen einige Unfassbare, die sich nicht einfügen lassen, »heraushängen«, so wie Soldaten in der Nachhut einer Marschkolonne.

Sicher: Das verkennt ein wenig die qualitativen Designs, wo es in der Regel nicht um die Überprüfung von Hypothesen geht, sondern um ein Fallverstehen, eine Nachzeichnung individueller, eigensinniger, autonomer Perspektiven. Aber ehrlicherweise ist es mit solcher Autonomie nicht weit her. So wie es richtig heißt, dass Schule ist, wenn Schüler und Schülerinnen den ganzen Tag Probleme lösen, die sie, zumindest der eigenen Überzeugung nach, ohne die Lehrkräfte nicht hätten, konfrontiert auch jeder qualitativ-rekonstruierende Ansatz in der fachdidaktischen Lehr-Lern-Forschung die »Beforschten« eben mit Problemen und Fragestellungen, die nicht intrinsisch motiviert sind, von denen es jedoch zugleich heißt, sie seien für den Forschungspartner von Belang: »Du musst doch eine Haltung zum Nationalsozialismus haben«, »du musst dir eine Meinung zum transatlantischen Sklavenhandel bilden«, »du musst doch die Vorzüge der Demokratie als historisch erwiesen anerkennen«. Das ist es dann, was Wittgenstein meinte, als er sagte, wir wollten in der Untersuchung gar nichts Neues in Erfahrung bringen. Denn immer schon gehen wir davon aus, dass etwas Bekanntes und Beschreibbares da ist, wir benötigen zu dessen Erweis nur die richtigen Methoden der Spiegelung – der »Spekulation«, wie man es im Mittelalter auf Latein ausdrückte. Und im Übrigen ist ziemlich klar, was als zulässig anerkannt wird und was nicht. Oder wie viel Forschung gibt es tatsächlich darüber, was Schüler im Fach Geschichte denken oder tun, wenn sie mit der Zumutung von mit Gültigkeitsansprüchen imprägnierten Geschichten in Berührung kommen? Sind sie offensiv und draufgängerisch, oder ergeben sie sich, simulieren sie fintenreich Einverständnis oder sozial erwünschte Antworten, ducken sie sich weg oder schalten sie auf Konfrontation?

Ist empirische Lehr-Lern-Forschung also mal mehr, mal minder strenge Zurichtungsanstalt – auch wenn es einen Zweck geben mag, der manche Mittel heiligt? Das wäre nicht ganz das, weswegen wir Geisteswissenschaft, besonders Geschichte und hier vor allem historisches Lernen, veranstalten. Der Geist des Menschen lässt sich eben nicht vereinheitlichen, so wie daher auch die Wissenschaft nicht, weshalb Universitäten und eine forschende Fachdidaktik gut beraten sind, auf Diversität und Inklusion, Unabhängigkeit und Verbindlichkeit zu setzen. Und damit immer mehr und neue Reflexionsebenen einzubauen.

3Nützlich sein

Von der neuen Nützlichkeit der Geschichtsdidaktik im Konzert der Berufswissenschaften speziell, der Wissenschaften allgemein war zu Beginn bereits die Rede. Ein Aspekt, der dabei für die entscheidende Perspektivenerweiterung sorgt, kam indessen zu kurz, nämlich der, dass Fachdidaktikerinnen oder Fachdidaktiker schon de iure, meistens auch de facto von der Ausbildung her Lehrerinnen und Lehrer sind. Lehrerin und Lehrer wird oder sollte nur werden, wer von der besonderen Nützlichkeit ihres oder seines Tuns überzeugt ist (was beispielsweise nicht unbedingt für Versicherungsagenten oder Vermarkter von Fußballrechten gilt). Im Laufe der Berufsjahre wird der Nützlichkeitsgedanke gewiss Teil eines eigenen Berufsethos. Wenn daher (ehemalige) Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrer geschichtsdidaktische Forschung betreiben, wird diese oft mit einer Coda geschlossen, einmal recht drastisch: Ein Befund sei »erschreckend«, »Besorgnis erregend«, »desillusionierend«, ein andermal eher dezent, nämlich dass die einen dieses oder jenes weniger tun als erwartet, dass Denken oder Handeln in die eine oder andere Richtung weiterzuentwickeln sei, dass Ergebnisse der Forschung in die Sicherung der Unterrichtsqualität einfließen möchten.

Man kann das auch komplizierter zur Kenntnis geben:

»Das geschichtsdidaktisch profilierte Modell der Problemorientierung scheitert nicht an der Unterrichtspraxis, sondern wegen der Übersetzung in leere Bekenntnissprechakte, die durch den Erfüllungswunsch einer didaktischen Mode sinnlogisch motiviert sind.« (Mehr, 2016, 173)

Das klingt nun etwas geschraubt, zudem, was im Übereifer schnell passiert, tautologisch und widersprüchlich, denn Bekenntnisse sind immer Sprechakte und können nicht leer sein (sonst wären sie keine – gemeint sind wohl schlicht »Lippenbekenntnisse«), und Wünsche streben per definitionem nach Erfüllung; ob außerdem Moden »logisch« motiviert sein können, möchte man bezweifeln (denn sind sie nicht gerade flatterhaft bzw. unberechenbar?). Aber der hierbei korrekt zum Ausdruck gebrachte Punkt ist, dass in einer anwendungsorientierten, involvierten, »eingreifenden« (Pierre Bourdieu) Wissenschaft Einschätzungen und Evaluationen der Resultate durchaus zulässig sind. Denn sie fordern auf, über das Gute und Nützliche an der Forschung nachzudenken.

Das Nützlichkeitsparadigma ist in einer steuerfinanzierten Forschung, die sich noch dazu auf einen Anwendungsbereich bezieht, der ebenso weitgehend steuerfinanziert ist – die Bildung –, nicht ganz irrelevant. Ich bin der Meinung, sowohl die theoretische Ausrichtung des jeweiligen Fachs als auch die Lehr-Lern-Forschung in den Fachdidaktiken, mindestens den geisteswissenschaftlichen, unter das Dach der Kompetenzorientierung zu bringen, war seinerzeit und ist heute immer noch ein Programm der Nützlichwerdung. Ganz besonders galt das ab dem Augenblick, als auch die universitäre Lehre bei Studierenden Kompetenzen innerhalb von gezimmerten »Qualifikationsrahmen« fördern sollte, womit die Universität einige große Schritte von der Bildungs- zur Ausbildungsanstalt getan hat. Kompetenzorientierung und empirische Forschung passen deswegen gut zueinander, weil sich beide gegenseitig ihrer Hilfe bei der Entindividualisierung jener versichern können, zu deren Bestem die Forschung vorangetrieben wird. Probanden können, es wurde schon gesagt, instrumentell zu Merkmalsträgern verkürzt werden, auf die eingewirkt werden kann.

Der Erfolg dieses Einwirkens ist dann der letzte Nutzen der Forschung. Nicht ganz zufällig war in der unmittelbaren Nach-PISA-Zeit die Einladung der Allgemeinen Didaktik oder der Erziehungswissenschaften, die auf bisher ungekannte Art die Nähe zu den Fachdidaktiken suchten, obwohl sie doch ohne Zweifel die Avantgarde der empirischen Methodologie darstellten, mit dem geraunten Argument verbunden, so könnten die Fachdidaktiken endlich einmal ihre Brauchbarkeit unter Beweis stellen. Gleichzeitig wurden die Erziehungswissenschaften hart darauf gestoßen, dass sie mit ihrem ausgefeilten Instrumentarium (sofern sie sich freilich überhaupt dem Lehren und Lernen in der Schule zuwandten) generell etwas untersuchten, was es gar nicht gibt, nämlich »Unterricht«, denn spätestens ab der fünften Jahrgangsstufe gibt es nur noch Fachunterricht. Die damals erträumte Symbiose zwischen Erziehungswissenschaft und Fachdidaktiken hat sich, wie mir scheint, nur zum Teil realisieren lassen. Aber wir können aufgrund der nunmehr plausibel gewordenen disziplinären Aufgabenteilung (Bertram, 2016, 64) auch nicht mehr vor das Jahr 2000 zurück. Das lässt die pädagogische Forschung schon deswegen nicht zu, weil ihr dann auf ihrem ureigenen Feld nicht mehr viel zu tun bliebe: Die Daten dort sind ja alle erhoben, über ihre Deutung gibt es kaum Kontroversen, jede weitere große Feldstudie, ob durch OECD, Paritätischen Gesamtverband, Bertelsmann-Stiftung, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, kommt zu den immer selben Ergebnissen: Soziale bzw. vertikale Mobilität an deutschen Schulen gibt es kaum, Chancengleichheit für Kinder aus »bildungsfernen Elternhäusern« – was für ein monströses Wort – lässt auf sich warten. Als Errungenschaften des sozialen Aufstiegs dienen deutsche Schulen heute weniger denn je. Jugendliche aus benachteiligten Milieus liegen in ihren Lesefähigkeiten bis zu zwei Jahre hinter jenen aus privilegierten Milieus zurück. Nur noch 24 Prozent aller Heranwachsenden haben einen höheren Bildungsabschluss als ihre Eltern, Tendenz fallend, gerade auch im Vergleich etwa zu Finnland mit 56, Frankreich mit 45, Polen mit 44 Prozent (Vitzthum, 2014). Gleichzeitig bleibt die Vorurteilsverhaftung der Lehrkräfte hartnäckig: Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund wird regelmäßig weniger zugetraut als solchen ohne.

Jedoch dies alles interessiert uns in der Geschichtsdidaktik nur ganz am Rande. Denn der Grund, auf dem wir stehen, ist das Fach, und aus berufsethischen Gründen müssen wir an die Lehrbarkeit der Sache unter quasi allen (schwierigen) Umständen glauben. Und zwar, weil wir in ihr, der Sache, den Nutzen von Bildung erkennen, nicht an Modellen von Unterricht, Problemlösungsschemata, Kommunikationsstrategien und auch nicht an Instrumentenentwicklung oder Methodologie.

Ich finde, die Geschichtsdidaktik hat längst den Beweis geführt, dass sie qualitative, hermeneutische ebenso wie quantifizierende Designs bzw. Erhebungs- und Auswertungsverfahren zum Nutzen der jeweils anderen – der Erziehungswissenschaften, der Pädagogischen Psychologie, der Soziologie – zu handhaben versteht. Auch deswegen kann sie sich nun wieder mehr ihrer eigenen Sache zuwenden. Was es mit dieser Sache von Narrativität und Konstruktivität der Geschichte auf sich hat, kann und will ich an dieser Stelle nicht ein weiteres Mal erörtern. Aber einsichtig sollte sein, dass diese Sache werthaltig ist, und sie heißt natürlich: Sinnbildung über Zeiterfahrung. Merkwürdig, wie selten diese zentrale Bestimmung oder Zielmarkierung in Texten auftaucht, in denen das Design, der Zweck oder die Relevanz von geschichtsdidaktischen empirischen Studien erläutert werden, schon gar nicht in Titeln und Überschriften.

Dabei könnte der Rückverweis auf Sinnbildung eine erste Annäherung an den ja noch nicht formulierten dritten Schritt »zur Theorie zurück« sein. Denn dieses Zurück soll ja ganz und gar nicht heißen, dass wir zu einem Ausgangspunkt wiederkehren, sondern zu einer Idee, die durch weitere Theoriebildung und anschließende Empirie verändert wurde. Vielleicht kann man es sich so wie beim bildenden Lernen vorstellen: Im Gegensatz zum reaktiven Lernen, etwa in den Natur- und Ingenieurwissenschaften, verändert das bildende Lernen nämlich nicht nur den Lernenden, sondern genauso seinen Lerngegenstand im Augenblick der lernenden Aneignung. Eine historische Erzählung, die ich gelernt habe, ist danach nicht mehr dieselbe wie zuvor, nicht für mich, nicht für die anderen Lernenden, auch nicht für den Geschichtenerzähler. Nach erfolgter empirischer Prüfung dessen, was die anderen – meist jüngeren – können, vermögen, wollen, vorschlagen, einbringen, ablehnen, belächeln, könnten wir also, uns auf die gut eingeführten Typologien verlassend, diskutieren, welchen Weg wir möglichst gemeinsam einschlagen wollen: Was und wie viel von dem, was die Alten vor uns eingerichtet haben, wollen wir traditional anerkennen, übernehmen, fortführen; woran aus der Vergangenheit nehmen wir uns in einer Gegenwart, die sich von jener meist fundamental unterscheidet, trotzdem ein Beispiel; wovon können wir uns absetzen, um es anders, möglichst besser zu machen; und wo gestehen wir uns ein, dass Geschichte in uns genetisch wirkt und wir noch viel reflexiver werden müssen, um unser Denken und darauf das Handeln zu emanzipieren? Unter diesem Dach vereinen sich eine philosophisch fundierte und empirisch erprobte historische Bildung.

Denn Theorieentwicklung nach erfolgter Empirie ist nicht reaktiv, sondern bildend. Sie reagiert nicht auf die Befunde, sondern entwirft sich selbst in einem neuen Licht der »Evidenz«, die nichts anderes ist als der Vorschlag, eine Sache, ein Problem so zu verstehen, wie man es für den Augenblick, im besten Wissen und Bewusstsein, nur vermag. Theorie in der Geschichtsdidaktik ist damit wertebildend. Werte beginnen dort, wo man seiner eigenen ideologischen Verhaftung gewahr wird. Deswegen soll der empirischen Forschung in allen Fachdidaktiken und überhaupt Wissenschaften auch nicht ihre Ideologieträchtigkeit ausgetrieben werden. Sondern Ideologien werden durch Aussprechen – das ist zugleich weniger und mehr als Kritik – in die Praxis anleitende Werte verwandelt. Wir können nicht immer nur deuten, wir müssen auch handeln! Dieses Leitbild hatte fraglos auch Hilke Günther-Arndt in einer früheren Tagungskritik im Blick, als sie mutmaßte oder bereits zu erkennen glaubte, dass sich empirische Forschung in der Geschichtsdidaktik auf dem Weg zur »Traditionsbildung« befinde (Günther-Arndt, 2010). Das könnte gewiss Gutes und Schlechtes bedeuten. So lange der Diskurs aber noch nicht so »reif« ist, dass er nur noch das Ernten von Früchten erlaubt, während das Sprießen neuer Triebe nicht mehr zu erwarten ist, bleibt gedanklicher Fortschritt gewärtig. Dafür sollten wir uns jedoch von der Vorstellung lösen, dass historische Kompetenzen »die Grundlage« dafür seien, »zentrale gesellschaftliche Herausforderungen der Moderne zu meistern« (Trautwein et al., 2017, 116). Eine solche Aussage ist erstens selbst ja empirisch niemals seriös zu beweisen (oder wer wollte Kontrollgruppen dann ohne den Besitz »historischer Kompetenzen« konstruieren, die an den »zentralen Herausforderungen« unserer Zeit scheiterten?) und hängt zweitens vollkommen davon ab, was man unter »meistern« versteht: alle Ungleichheiten oder Lebensbedrohungen auf der Welt beseitigen? den einen zur Durchsetzung verhelfen und die anderen abfinden? Zukunft still stellen – da nach dem Meisterstück keine weitere Entwicklung denkbar bzw. notwendig ist? Aber was hätte das alles mit Geschichte und historischem Lernen zu tun? Empirische Forschung in der Geschichtsdidaktik besitzt ihren Grund wohl eher in der Annahme, dass es gut ist, zu erkunden, wie Menschen damit umgehen, wenn sie erfahren, dass sie selbst mehr sind als Gegenwärtige mit Problemen, nämlich Historische mit Antworten.

Literatur

Barricelli, Michele. (2014). Geschichtsdidaktik nach PISA – Bilanzen und Perspektiven. Zum Jubiläum: Die Weisheit der Zahl und die Gründe des Erzählens. In Michael Sauer, Charlotte Bühl-Gramer, Marko Demantowsky, Anke John & Alfons Kenkmann (Hrsg.), Geschichtslernen in biographischer Perspektive. Nachhaltigkeit, Entwicklung, Generationendifferenz (S. 365–384). Göttingen: V&R unipress.

Barricelli, Michele & Sauer Michael. (2015). Empirische Lehr-Lern-Forschung im Fach Geschichte. In Georg Weißeno & Carla Schelle (Hrsg.), Empirische Forschung in gesellschaftswissenschaftlichen Fachdidaktiken. Ergebnisse und Perspektiven (S. 185–200). Wiesbaden: Springer VS. https://doi.org/10.1007/978-3-658-06191-3.

Bertram, Christiane. (2016). Entwicklung standardisierter Testinstrumente zur Erfassung der Wirksamkeit von Geschichtsunterricht. In Holger Thünemann & Meik Zülsdorf-Kersting (Hrsg.), Methoden geschichtsdidaktischer Unterrichtsforschung (S. 63–88). Schwalbach/Ts.: Wochenschau.

Borries, Bodo von. (2004). Das Fach Geschichte im Spannungsfeld von Stoffkanon und Kompetenzentwicklung. In ders. (Hrsg.), Lebendiges Geschichtslernen (S. 138–168). Schwalbach/ Ts.: Wochenschau.

Borries, Bodo von. (2010). Beobachtungen zum Stand der empirischen Geschichtsdidaktik. In Jan Hodel & Béatrice Ziegler (Hrsg.), Forschungswerkstatt Geschichtsdidaktik 07. Beiträge zur Tagung »geschichtsdidaktik empirisch 07« (S. 317–322). Bern: hep.

Günther-Arndt, Hilke. (2010). Auf dem Weg zur Traditionsbildung? Zur Tagung »geschichtsdidaktik empirisch« in Basel. Jan Hodel & Béatrice Ziegler (Hrsg.), Forschungswerkstatt Geschichtsdidaktik 07. Beiträge zur Tagung »geschichtsdidaktik empirisch 07« (S. 317–322). Bern: hep.

Hamann, Christoph. (2017). Die »staubige Straße der Chronologie«. Ein Plädoyer für eine stärkere Subjekt- und Kompetenzorientierung des historischen Lernens. In Jens Hüttmann & Anna von Arnim-Rosenthal (Hrsg.), Diktatur und Demokratie im Unterricht. Der Fall DDR (S. 75–87). Berlin: Metropol.

Mehr, Christian. (2016). Objektive Hermeneutik und Geschichtsdidaktik. In Holger Thünemann & Meik Zülsdorf-Kersting (Hrsg.), Methoden geschichtsdidaktischer Unterrichtsforschung (S. 149–176). Schwalbach/Ts.: Wochenschau.

Shemilt, Denis. (2000). The caliph’s coin. The currency of narrative framework in history teaching. In Peter N. Stearns, Peter Seixas & Sam Wineburg (Hrsg.), Knowing, teaching and learning history. National and international perspectives (S. 83–101). New York: NYU Press.

Thünemann, Holger & Zülsdorf-Kersting, Meik. (Hrsg.). (2016). Methoden geschichtsdidaktischer Unterrichtsforschung. Schwalbach/Ts.: Wochenschau.

Trautwein, Ulrich/Bertram, Christiane/Borries, Bodo von/Brauch, Nicola/Hirsch, Matthias/ Klausmeier, Kathrin/ … & Zuckowski, Andreas. (2017). Kompetenzen historischen Denkens erfassen: Konzeption, Operationalisierung und Befunde des Projekts »Historical Thinking – Competencies in History« (HiTCH). Münster: Waxmann.

Vitzthum, Thomas. (2014, 9.9.). OECD: Deutsche Jugendliche geringer gebildet als Eltern. Die Welt. Abgerufen von www.welt.de/politik/deutschland/article132042821/Deutsche-Jugend-geringer-gebildet-als-die-Eltern.html.

Wrabel, Thomas (1998). Sprache als Grenze in Luthers theologischer Hermeneutik und Wittgensteins Sprachphilosophie. Berlin: de Gruyter.

Forschungswerkstatt Geschichtsdidaktik 17

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