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Stoffwechsel

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„Brandy, Grappa, Martini“, sagte Carolin Butternuss zur Begrüßung und stellte die Flaschen auf den Küchentisch. Sie öffnete ihren Rucksack und zog zwei weitere Flaschen heraus. „Flor de Canha. Himbeergeist.“

Bernadette Sauerländer nickte zufrieden und gab ihrer Freundin einen Kuss links und rechts. Und nochmal links, weil sie sich so lange nicht gesehen hatten. Sie setzte sich auf die Küchenbank und ging eine lange Liste durch, auf der sie ein paar Punkte abhakte.

„Apropos Alkoholika: Ich habe eine Kiste Sekt besorgt. Inga kümmert sich um Rotwein und Weißwein und Florence beteiligt sich daran.“

„Und bringt Champagner mit, so wie ich sie kenne. Ein oder zwei Fläschchen“, nickte Carolin genüsslich und freute sich.

„Hast Du Badezeug eingepackt?“

„Jau. Und Saunalaken und drei dicke Schmöker. Nein, ich habe immer noch keinen Kindle. Ich hasse sowas.“

Carolin beugte sich über Bernadettes Schulter und las deren Liste laut vor.

„Sauerbraten. Klöße. Rotkohl. Orangen. Kaufen wir noch ein?“

„Hm. Inga schafft das nicht mehr. Ich hab´ gesagt, wenn wir etwas später loskommen, macht es nichts, wir übernachten ja eh in Hamburg. Möchtest Du noch was trinken oder sollen wir los?“

„Nix wie los, oder? Hast Du Deine Familie schon verabschiedet?“

„Ja, die mussten ja heute früh schon alle weg.“ Bernadette seufzte. „Sie sind alle verarztet, sind ja nur noch zwei da. Und Jaime, natürlich. Ich habe ihnen für drei Tage was gekocht, den Rest werden sie wohl überleben. Oder?“

Sie sah Carolin zweifelnd an, die bestätigend nickte.

„Jaime kocht doch hervorragend. Wahrscheinlich tanzen die Mäuse auf dem Tisch, sobald Du weg bist.“

„So wird´s sein.“

Bernadette sah sich in der Küche um und kontrollierte, ob noch etwas dastand, was mitgenommen werden sollte. Tatsächlich, der Autoatlas lag noch auf der Bank. Bernadette misstraute dem Navi und stritt sich immer mit der Ansagestimme. Sie brauchte das Gefühl zu wissen, wo sie sich befand in der Welt.

„Meine Mutter macht mir die größten Sorgen. So richtig eingewöhnt hat sie sich noch nicht. Aber Jaime hat mir versprochen, dass sie abwechselnd jeden Tag hingehen. Max und Elisa lieben ihre Großmutter ja, von daher werden sie sich schon alle kümmern. Vielleicht kommt sogar Niklas aus Köln und besucht sie.“

Bernadettes viertes Kind, Johann, studierte gerade in Peking, der war eindeutig aus dem Schneider.

„Also dann“. Bernadette warf einen letzten Blick auf den Herd, der ordnungsgemäß ausgeschaltet war und ging in den Flur. „Hast du nur die eine Jacke mit? Es soll ziemlich kalt werden.“

„Ich reise öffentlich-rechtlich, da kann ich mir zweierlei Draußenjacken nicht leisten. Ich geh dann als Zwiebel.“

„Als Zwiebel? Auch nicht schlecht. Vielleicht sollte ich meinen Koffer noch mal umpacken…“

„Ach, keine Panik. So wie ich dich kenne, hast du das Wesentliche doppelt und dreifach mit. Lass´ uns lieber losfahren, dann müssen wir nicht hetzen und kommen in Hamburg an, solange es hell noch ist.“

Carolin hatte eine bestimmte Taktik für den Umgang mit Bernadette entwickelt. Wenn Bernadette sich wegen irgendetwas ängstigte, wies Carolin sie auf etwas anderes Besorgniserregendes hin und lenkte sie auf diese Weise ab. Wenn man einmal nachgab, verlor sich Bernadette in hundert Details, die schiefgehen konnten und wurde gänzlich handlungsunfähig.

Das Argument mit der drohenden Dunkelheit leuchtete Bernadette umgehend ein. Sie nahm ihren Dufflecoat vom Garderobenhaken und den Autoschlüssel aus einem Körbchen auf der Kommode neben der Haustür, folgte Carolin nach draußen und zog die Tür hinter sich zu. Dann schloss sie zweimal ab und überprüfte am Türgriff, ob auch tatsächlich zu war. Draußen ließ sie ihren Blick über das alte Haus schweifen. Es war etwas heruntergekommen, ein Bau aus den zwanziger Jahren, große Fenster, ein behäbiger Kasten, der mal wieder gestrichen werden müsste. Die Haustür bräuchte eine Runderneuerung und die Fenster eine Dosis Glasreiniger. Aber es war ihr Haus, ein geräumiges, gemütliches Familienhaus. Vor der Tür standen zwei Bänke einander gegenüber mit kleinen, runden Tischen daneben. Da saßen sie oft am späten Nachmittag in der Sonne und tranken Kaffee. Die Johannisbeerbüsche in den Beeten davor trugen keine Beeren mehr, dafür lagerte Marmelade im Keller, die Jaime mit Niklas zusammen gekocht hatte. Unter dem Dachüberstand lagerte Holz für den Herbst.

Carolin zupfte an ihrer Jacke und lockte mit dem Zeigefinger wie die Hexe im Märchen von Hänsel und Gretel.

„Kommt, liebe Kinderchen. Ich habe ein Häuschen im Walde, das wartet im fernen Dänemark.“

Bernadette lachte und riss sich endlich vom Anblick ihres Hauses los. Jeder Abschied fiel ihr schwer, selbst wenn es für so etwas Schönes war wie eine Woche Urlaub zusammen mit ihren drei besten Freundinnen. Und momentan war sie emotional angeschlagen, da fiel es ihr noch schwerer als sonst, sich aufzumachen.

„Willst du die erste Strecke fahren oder soll ich?“ wandte sie sich an Carolin.

„Gerne ich. Dann kenne ich wenigstens den Weg.“

Carolin besaß kein Auto, sie hatte ihres vor ein paar Jahren abgeschafft. In Düsseldorf fand man nie einen Parkplatz, wenn man halbwegs in der Innenstadt wohnte und wenn doch, dann hatte man sich wahrscheinlich vertan und es war in Wirklichkeit ein Taxistand. Das war ihr mal passiert, als sie mit einem Freund zusammen im Kino war, in der Spätvorstellung. Sie kamen nachts um kurz nach eins aus dem Kino und kein Auto weit und breit. Die Schilder mit dem „Taxi“ fielen ihnen jetzt natürlich sofort auf, während sie sie vorher überhaupt nicht gesehen hatten. Ihr Freund wollte als Kavalier die Gebühren übernehmen, weil es sein Auto war, aber sie bestand darauf zu teilen. Viel schlimmer war, dass sie das Gefährt auf dem Abschlepp-Parkplatz abholen mussten, der am Stadtrand lag, kaum beleuchtet war und sie als Déjà-vu in den Film zurück katapultiere. Die Szene an der mexikanischen Grenze, wo der Mädchenhändler seinem Opfer aufgelauert hatte, hätte man auch hier drehen können. Carolin gruselte sich noch in der Rückschau. Da konnte man doch lieber gleich das Taxi bezahlen und sparte sich den teureren Parkplatz.

Sie stieg ein, ruckelte sich auf dem Sitz zurecht und stellte ihn ein klein wenig nach hinten. Dann nahm sie sich die Spiegel vor. Carolin fuhr nicht mehr oft Auto, da musste sie sich beim Start sicher fühlen. Bernadette dirigierte sie zum Supermarkt.

„Man sollte meinen, wir kaufen für eine ganze Schulklasse ein. Bist du sicher, dass wir das alles essen in nur einer Woche?“

Bernadette nickte überzeugt. „Wir sind vier, genau wie meine Familie zurzeit. Wir haben den ganzen Tag Zeit, wir gehen morgens eine ordentliche Runde spazieren, wir sind an der See, wir werden hungrig sein.“

Bei Haushaltsfragen war Bernadette souverän. Carolin in ihrem Single-Leben frönte dem spontanen Einkauf im Büdchen, aber das konnte sich eine sechsköpfige Familie nicht leisten. Perfekt vorbereitete Einkaufslisten gab es bei Carolin auch nicht, höchstens, wenn sie mal für Freunde aus dem Kochbuch kochte. Ansonsten schmurgelte sie sich irgendetwas zusammen, was sich gerade mehr oder weniger zufällig in ihrem Kühlschrank befand, kulinarisch nicht sehr befriedigend. Und seltsamerweise trug es auch nicht zum Abnehmen bei. Ein bisschen abnehmen wollte Carolin eigentlich dauernd. Seit sie die vierzig überschritten hatte, nahm sie die Kalorien aus der Luft zu sich, so ihr Generalverdacht. Dieser leichte Bauchansatz, den hatte frau früher einfach nicht gehabt. Und jetzt war er höchsten einmal vorübergehend weg, wenn man eine vierzehntägige Magen-Darm-Grippe überlebt hatte. Ein blödes Alter. Und die vier vor dem Komma ging ja noch, aber wie würde es erst sein, wenn sie in zwei Jahren fünfzig wurde? Carolin schauderte unwillkürlich. Diese Veränderung jagte ihr einen Schrecken ein, einen maßlosen Schrecken geradezu. Sie war ansonsten nicht ängstlich, aber diese Jahreszahl empfand sie als magische Grenze, die sie noch von der Gebrechlichkeit trennte. Carolin schaute mit finsterer Miene vor sich hin und beschloss, die Zeit bis dahin umso ausgelassener zu genießen.

„Glaubst du, wir haben genug zu trinken? In Dänemark ist Alkohol immer noch sehr teuer, vermute ich.“

„Ach deshalb guckst du so ängstlich. Ich dachte schon, es wäre was Ernstes“, lachte Bernadette. Wenn du wüsstest, dachte Carolin.

„Lass´ uns doch die Vorräte noch ein bisschen ergänzen. Macht ja nix, wenn wir was wieder mitbringen, oder?“

Also trödelten sie noch ein wenig vor dem Weinregal herum, pickten den einen oder anderen guten Tropfen heraus und erfreuten sich an ihrer reichen Auswahl.

„Lukullisch kann das nicht schiefgehen“, sagte Bernadette. „Inga und Florence werden mit uns zufrieden sein.“

„Hmmm“, nickte Carolin und war froh, dass ihr Ablenkungsmanöver gelungen war.

„Wir haben allerdings nicht bedacht, dass zu diesem Mammuteinkauf noch zwei Koffer dazu kommen werden“, stöhnte Bernadette, als sie ihre umfangreichen Besorgungen im Kofferraum ihres alten Passats verstaut hatten. „Florence und Inga kriegen Gepäckverbot.“

Carolin lenkte das lange Fahrzeug vorsichtig aus der Parklücke und steuerte die Autobahn Richtung Norden an.

„Schade, dass man beim Autofahren nicht schon Sekt trinken kann. Das ist ein eindeutiger Vorteil des Bahnfahrens.“

„Muss ich mir Sorgen machen? Hast du dich dem Alkoholismus ergeben?“

„Nee, nicht wirklich. Mich hat bloß die Panik vor dem Alter ergriffen. Mit dem Gedanken ans Feiern lenke ich mich ab“, gestand Carolin dann doch.

„Wirst du auch demnächst fünfzig?“ fragte Bernadette mit leicht ansteigender Stimme.

„Jaaa“, gab Carolin entnervt zurück. „Ich würd´s ja gerne vermeiden, aber das hätte dann wirklich ernsthafte Konsequenzen.“

„Aber warum macht es dir denn Angst? Es ändert sich doch gar nichts.“

Alter war etwas, das Bernadette nicht fürchtete, erstaunlicherweise.

„Doch“, sagte Carolin störrisch. „Es ändert sich alles. Mit fünfzig kann man beim besten Willen nicht mehr behaupten, jung zu sein.“

„Wieso denn das nicht? Auf so eine Feststellung gab meine 87jährige Tante mal empört zurück: Jung ist man immer! Das ist doch keine Frage der Zahl.“

„Doch“, beharrte Carolin mit düsterer Miene. „Mit fünfzig kriegt man Zipperlein und die gehen nie wieder weg. Im Gegenteil, sie werden schlimmer und schlimmer, jedes einzelne ein vorzeitiger Nagel zu unserem Sarg.“

„Aha“, sagte Bernadette nüchtern. „Welche Zipperlein hast du denn vor dir zuzulegen? Bisher wirkst du auf mich noch ziemlich elastisch.“

„Das täuscht. Unter der jetzt noch erstaunlich glatten Oberfläche lauern die Abgründe, plötzlich kriegst du Runzeln, Rücken, Rheumatismus…. Gedächtnisschwund, Nervenschäden, Haarausfall…“

Carolin seufzte so tief, dass die Abgründe, von denen sie gerade gesprochen hatte, plötzlich akustisch im Raum standen.

„Davon würdest du dir doch nichts freiwillig aussuchen, oder? Aber du wirst gar nicht gefragt. Das Alter kommt einfach bei dir vorbei, völlig ungebeten und schleicht sich in dein Leben. Es nagt an dir, bis du ganz mürbe bist und mit gebeugtem Rücken am Stock durch die Gegend stocherst. Es frisst sich in deine Existenz, es beißt sich fest in deinen Knochen und deinen Innereien…. Und da bleibt es dann und du entkommst ihm nie mehr.“

Carolins Stimme hatte einen tiefen, rauen Klang angenommen, als würde sie ihren Nichten und Neffen eine Gruselgeschichte erzählen. Sie erzählte ja auch eine, für sich selbst. Und sie erzählte sie ihrer Freundin in der Hoffnung, dass diese ihr die Ängste nehmen könne.

„Ach, das wird alles viel harmloser, als du jetzt denkst“, sagte Bernadette leichthin. „Du wachst eines Morgens auf, bist fünfzig und merkst, dass überhaupt nichts anders ist als sonst.“

„Hast du nie ein Alter gehabt, das dich in Panik versetzt hat? Nicht einmal, als du dreißig wurdest?“

Carolins Stimme hatte eine eindringliche Trompetenlautstärke.

„Nö. Dreißig fand ich gut, endlich wurde man wirklich ernst genommen. Man war angekommen im Reich der Erwachsenen. Man hatte eine Stimme, man verfügte über Erfahrung. Das fand ich super. Und mit fünfzig bist du doch noch nicht klapprig. Überleg mal, wie dieses Alter für unsere Eltern aussieht, die wirklich alt sind. Mit achtzig betrachtet, ist fünfzig ein Witz.“

„Ja, aber mit achtundvierzig betrachtet ist es der reine Horror.“

Carolins Stimme senkte sich zu einem Flüstern.

„Es mag ja sein, dass es tausend rationale Argumente gibt, die einem das Gegenteil einreden wollen. Aber ich finde es furchtbar. Grauenerregend. Unheimlich. Unkontrollierbar. Man wird älter und älter und hat das überhaupt nicht in der Hand.“

Ihre Flüsterstimme endete im tiefsten Bass. Carolin war aus dem Gleichgewicht. Das passierte ihr selten. Und auch Bernadette war das nicht von ihr gewohnt.

„Wenn du´s nicht wärst, würde ich jetzt sagen, findest du nicht, dass du dich ein bisschen anstellst? Da passiert nichts, rein gar nichts. Du bist einfach einen Tag älter, nicht gleich ein ganzes Jahrzehnt. So kenne ich dich überhaupt nicht. Dich bringt doch sonst eigentlich nichts aus dem Gleis. Du wirkst immer auf mich wie eine Valium, total beruhigend.“

„Danke“, sagte Carolin trocken. „Valium, das hört man gern. Wenn ich mit dir zusammen bin, schlafe ich immer sofort ein…“

Bernadette lachte.

„Ich meine nur, dass du so beruhigend auf mich wirkst. In deiner Gegenwart komme ich runter, das kann ich nicht von vielen Menschen sagen. Die meisten regen mich meistens auf, meine Kinder inbegriffen.“

Carolin schwieg erstaunt. Als beruhigend hatte sie sich noch nie empfunden. Es gab Tage, da fühlte sie sich so zerrissen zwischen mehreren Handlungsoptionen, dass sie kaum wusste, was sie wirklich wollte. Dann verbrachte sie gefühlte Stunden damit, die verschiedenen Möglichkeiten abzuwägen und sich für eine zu entscheiden, die sie meistens im Moment der Realisierung schon wieder als unbefriedigend empfand. In solchen Augenblicken wäre sie so gern aus ihrer Haut geschlüpft, dass sie sich gar nicht vorstellen konnte, auf andere eine ganz andere Wirkung zu haben. Allerdings hatte sie diese Probleme auch selten in Gesellschaft, sondern in der Regel, wenn sie allein war. Vielleicht hingen sie damit zusammen, dass sie nicht gern allein war. Sie hatte dann schnell das Gefühl, der Himmel könnte ihr auf den Kopf fallen, das Obelix-Syndrom, wie sie es ganz für sich allein nannte.

Sie schwiegen beide eine Weile, jede in ihre Gedanken versunken. Das Münsterland glitt langsam an ihnen vorbei, an diesem trüben Novembertag auch nicht idyllischer, als das Ruhrgebiet vorher. Caroline überlegte, wo sie sich eine Kaffeepause gönnen könnten, vielleicht an dieser Raststätte, die quer über die Autobahn gebaut war.

Bernadette ging in Gedanken zurück zu ihrer Familie und ihrer Besorgnis, ob sie tatsächlich für die Zeit ihrer Abwesenheit alle gut versorgt sein würden. Sie musste sich zusammenreißen, um nicht schnell ihr Handy hervor zu kramen und anzurufen. So eine Gluckenmutter wollte sie überhaupt nicht sein, aber sie erwischte sich immer häufiger bei solchen Anwandlungen. Je mehr Kinder aus dem Haus gingen, umso mehr fragte sie sich, ob sie genügend für sie da gewesen war und ihnen wirklich alles mit auf den Weg gegeben hatte, was sie brauchten, um sich glücklich und erfolgreich durchs Leben zu schlagen. Plötzlich schmetterte Carolin neben ihr fröhlich:

„Wir wollten mal auf Großfahrt gehen bis an das End´ der Welt, das fanden wir romantisch schön mit Kochgeschirr und Zelt…“

Bernadette schaute zu ihrer alten Freundin herüber, deren blond gewellte Haare ihr über die Wange fielen, die frisch und rosig aussah von der Seite und eine ansteckend gute Laune verströmte. Sie beschloss, mit ihren Grübeleien aufzuhören und die Reise in den Norden zu genießen. Die Kinder hatten schließlich auch noch einen Vater und der hätte sich sowieso nur vielsagend an die Stirn getippt, wenn er sie bei ihrem Sinnieren ertappt hätte. Sie wühlte im Handschuhfach herum, bis sie eine dieser uralten Mundorgeln gefunden hatte, die ihre Mutter ihr einmal geschenkt hatte, als die Kinder klein waren, „…für die langen Autofahrten“, und da traten ihr vor Rührung bei diesem Rückblick die Tränen in die Augen. Dieser Abschied von ihrer Kindheit, der mit dem drohenden Abschied von ihrer Mutter einherging, machte sie weich wie Butter und bewegte sie so, dass ihr dauernd zum Heulen war. Nach einem stärkenden Kaffee und einem überteuerten, aber immerhin leckeren Streuselkuchen im Café der Raststätte übernahm sie das Steuer und lenkte das Auto eineinhalb Stunden später in eine enge Parklücke vor Ingas Altbauwohnung in Eimsbüttel. Carolin sprang aus dem Auto, reckte sich und lief zur Tür. Inga hatte sie schon von oben erspäht und öffnete, bevor sie klingeln konnte.

Muchachas----“

Inga breitete die Arme aus. Hinter ihr kam Florence mit ihrem eleganten Giraffengang die Treppe herunter und drückte ihre Freundinnen an sich. Sie sahen sich so selten alle vier. Das musste mit einem angemessenen Begrüßungsritual gewürdigt werden.

„Kommt, meine Lieben, der Sekt steht kalt.“

Inga scheuchte alle ins Haus und die Treppe hoch.

„Warum packt man für eine Nacht nicht einen extra Beutel“, stöhnte Carolin und mühte sich mit ihrem Koffer die lange Altbautreppe hoch. „Zu blöd, zu unorganisiert, zu stoffelig…“

Ingas Wohnung lag im zweiten Stock - „…ein Glück, dass du nicht unterm Dach wohnst“, bemerkte Carolin anerkennend - und stand einladend offen. Die Wohnungstür gegenüber ebenfalls und eine lila gefärbte, vollbusige Mittsechzigerin staubte das Türschild ab.

„Guten Abend, Frau Trauerfein“, rief Inga in voller Lautstärke. „Mehr Besuch kriege ich heute nicht.“

Sie grinste Bernadette und Carolin zu, schob sie in den Flur und schloss die Tür.

„Die Alte ist die neugierigste Schrappnelle, die ich kenne. Ich wette, dass sie nachher noch klingelt, weil sie einen Kuchen backen will und vergessen hat, Eier zu kaufen. Das sagt sie dann natürlich nur so.“

„Vielleicht ist sie einfach nur einsam“, schlug Bernadette milde vor.

„Die ist so neugierig, dass es schon unter Nötigung fällt, wenn du mich fragst“, konstatierte Inga sarkastisch. „Sie will immer wissen, ob ein Mann bei mir zu Besuch ist. Wenn allerdings tatsächlich mal einer da ist, mache ich ihr nicht auf.“

Inga grinste wieder und ging ihren Freundinnen voraus in die Küche.

„Lasst euer Gepäck erstmal im Flur stehen, da stört es keinen. Nachher machen wir im Wohnzimmer die Betten, aber jetzt brauchen wir es da noch nicht.“

Sie steuerte zielstrebig den Kühlschrank an und nahm eine dunkelgrüne Flasche aus dem Eisfach. Das Etikett schwenkte sie einmal unter Bernadettes Nase herum.

„Blanquette de Limoux“, rief diese in einem Ton, der einem Kreischen so ähnlich war, wie es Bernadette bei ihrer zurückhaltenden Natur überhaupt möglich war.

„Hmm“, nickte Inga triumphierend. „Blanquette. Habe ich in einem neuen Weinladen hier um die Ecke entdeckt und bin sofort Stammkundin geworden.“

„Blanquette haben wir immer bei unseren Urlauben in Südfrankreich getrunken, als die Kinder noch klein waren. Wir sind ein paar Jahre zusammen in eine alte Mühle gefahren, das war unglaublich schön.“

Bernadette lächelte nach ihrer Erläuterung selig vor sich hin und verlor sich in Erinnerungen an heiße Sommer und Südwestfrankreich, sie und Jaime und nach und nach immer mehr Kinder und Inga mit zweien, anfangs mit ihrem damaligen Lover und später ohne. Sie schüttelte den Kopf, als sie auf den naheliegenden Gedanken kam, wie lange das doch her war, wie die Zeit verflogen war und dass ihre ältesten Kinder das heimatliche Nest inzwischen verlassen hatten.

„Das ist inzwischen fünfundzwanzig Jahre her…unglaublich“, musste sie dann doch mit den anderen teilen.

„Ja, früher wollte man immer zwanzig werden, jetzt ist das ein Zeitraum, der quasi die jüngsten Erinnerungen umfasst“, sagte Inga mit gespielt brüchiger Stimme. Sie pulte am Korken herum und zog die Folie vom Flaschenhals.

„Florence, kannste mal die Gläser…“

Florence kniete schon vor dem antiken Küchenschrank und suchte darin herum. Mit missbilligendem Blick stellte sie das Sammelsurium, das sie schließlich gefunden hatte, auf den runden Tisch.

„Inga Herzchen, wenn ich von diesem Notstand gewusst hätte, dann hätte ich dir eine Kiste Sektgläser als Gastgeschenk mitgebracht.“

Inga durchbohrte ihre anspruchsvolle Freundin mit einem verächtlichen Blick.

„An jedem Glas hängt eine spezielle Erinnerung. Ich habe keine stilvolle Küche, sondern eine lebensvolle.“

„Soso“, sagte Florence nüchtern. Sie kannte die spezielle Ästhetik ihrer Freundin ja schon lange genug, um sie mit Humor zu nehmen. Inga als Berufsschullehrerin fehlte es nicht an den Mitteln, feines Geschirr zu kaufen, aber schlicht am Sinn dafür. Sie besaß zusammen gesammelte Kaffeebecher, Suppenschüsseln, Wassergläser, von Weingläsern ganz zu schweigen. Auch ihre Kücheneinrichtung war zusammengestückelt, der alte Schrank an der Wand wurde ergänzt von einem ebenso alten Modell gegenüber, beides schöne Weichholzstücke aus dem vorvorigen Jahrhundert. Selbst die Stühle rund um ihren runden Küchentisch waren alle verschieden und vermutlich vom Sperrmüll und einheitliches Besteck besaß sie schon mal gar nicht. Ingas Wohnung war ausgestattet mit Kissen, Stoffen, Wandbehängen und Artefakten, die sie von ihren vielen Reisen rund um den Globus mitgebracht hatte, als begeisterte Geografin, bevor die Kinder kamen und nachdem sie erwachsen geworden waren. Oder zumindest alt genug, um auszuziehen. Sie hatte dann die Kinder in ihren Projekten besucht, denn beide hatten einen Freiwilligendienst gemacht, Mattis war in Nicaragua gewesen und Anna in Brasilien.

„Hätte nicht ein Kind nach Asien oder Afrika gehen können? Das wäre doch wohl nicht zu viel verlangt gewesen?“ polterte Inga mit ihrem typischen Sarkasmus. „Man bringt ihnen aufopferungsvoll andere Weltgegenden nahe und dann suchen sie sich Länder aus, die ich alle schon aus meiner eigenen Jugend kannte.“

Inga lachte mit ihrer rauen Stimme ein erinnerungsträchtiges Lachen. Sie hatte ein enges Verhältnis zu ihren Kindern, von denen eins in Hamburg lebte und eins in New York.

Stellt euch mal vor, Anna wird Modedesignerin. Wie habe ich das bloß hingekriegt?“ hatte sie ihre Freundinnen per Rundmail gefragt, als Anna vor Jahren diesen Plan fasste. Jetzt machte sie ein Praktikum bei einer US-amerikanischen Designerin und verbrachte zwei Monate im big apple. Inga hätte sie gerne auch dort besucht, aber „…im November nach New York??? Wenn da die Schneestürme toben und der Strom ausfällt? Keine zehn Pferde. Da fahre ich lieber mit euch nach Dänemark in ein Häuschen mit Sauna. So kriegt man wenigstens ein bisschen Wärme. Wir sollten unser Herbsturlaubskonzept doch nochmal überdenken. Madeira oder die Kanaren fände ich auch nicht schlecht.“

Inga war sonnenhungrig und mochte den norddeutschen Winter nicht.

„Wenn ich demnächst in Rente bin“, das versprach sie ihren Freundinnen in letzter Zeit bei jeder Gelegenheit, „dann verbringe ich die Zeit von November bis März in Mexico. Oder auf den Philippinen. Jedenfalls im Warmen.“ Dabei stieg ihre Stimme an und wurde eindringlich laut. Fehlte nur noch, dass sie bekräftigend „Da könnt ihr einen drauf….trinken!“ gesagt hätte und triumphierend gegrinst.

„Kinners…“

Inga hob ihr Glas: „Auf uns, das Leben und…“

„Die Männer!“

Bernadette sprang in die Lücke.

„Die Männer?“

Inga hob erstaunt eine Braue. „Wieso denn die Männer?“

„Na ja, wenn Jaime nicht so ein toller Mann wäre und eine Woche lang den Haushalt schmeißen würde, dann könnte ich jetzt nicht mit euch zusammen nach Dänemark“, verteidigte sich Bernadette.

„Bei zwei Kindern von fünfzehn und siebzehn, die wohl langsam auf sich selbst aufpassen können“, spottete Inga. Als sie Bernadettes Blick auffing mit einer Mischung aus Protest, Frage und Sehnsucht in einem halben Lächeln, besann sie sich und meinte gnädig:

„Na gut, auf die Männer. Du und Florence, ihr habt ja auch zwei außergewöhnlich nette Vertreter der Gattung abgekriegt. Da liegen wir statistisch über dem Durchschnitt. Ihr beide habt abgesahnt und Carolin und ich gucken in die Röhre.“

„Auf die Röhre“, sagte Carolin trocken.

Die vier Freundinnen ließen ihre unterschiedlichen Gläser aneinander klingen und genossen den ersten Schluck des leckeren Tröpfchens.

„Ich habe allerdings vor, das in nächster Zeit zu ändern“, sagte Carolin unvermittelt.

„Was? Was zu ändern?“ fragte Florence.

„Ich will wieder einen Mann an meiner Seite. Ich back mir einen, dachte ich.“

Carolin grinste.

„Ja, wo soll man sie sonst hernehmen“, nickte Inga. „Zumindest, wenn sie den eigenen Ansprüchen gerecht werden sollen.“

„Wahrlich, wahrlich“, nickt Carolin. „Du hast doch einen Lover nach dem anderen. Wieso ist da nie einer dabei, mit dem es was Dauerhafteres werden könnte?“

Inga seufzte.

„Der letzte ist schon wieder sechs Wochen her. Oder sieben? Spricht auch nicht gerade für ihn, wenn ich mich gar nicht daran erinnern kann…“

Inga kicherte aus der Erinnerung heraus, aber es klang eher resigniert und nicht wirklich fröhlich. Sie schnaubte durch die Nase und wandte sich an Bernadette und Florence.

„Na, ihr zwei mit den Traummännern. Wie habt ihr das eigentlich hingekriegt? Wie läuft´s denn so? Es kann doch nicht immer nur schön sein.“

„Also, bevor wir da tiefer einsteigen, muss ich uns nachschenken.“

Florence schritt zum Kühlschrank und schwenkte elegant die Flasche über die Kelche. Worin besteht eigentlich Eleganz, überlegte Carolin, während sie ihr dabei zusah. Wenn man Florence anschaut, braucht man überhaupt keine Erklärung mehr, sie ist ja sozusagen die Offenbarung des Begriffs, aber was definiert ihn? Geschmeidigkeit, dieses Fließende in ihren Bewegungen, dieses tänzerisch Leichte… Carolin driftete gedanklich weg, bis Inga sie anstieß.

„Hey, worüber sinnierst du? Da kommen wir gleich auch noch drauf, aber erstmal sind die zwei dran.“

Inga wies mit auffordernder Geste auf die Genannten.

„Wir können uns auch langsam setzen. Dieses Thema wird uns vermutlich etwas länger beschäftigen. Ich sorge mal eben für eine kleine Stärkung.“

Sie ging zum Schrank, holte Schüsselchen heraus, verteilte Chips, Erdnüsse und Salzstangen und kam damit zum Tisch zurück. Florence zündete ein paar Kerzen an, die in diversen Leuchtern herumstanden. Bernadette griff diese Anregung auf und entzündete die Windlichter auf der Fensterbank. Eins davon war eine französische Rosenduftkerze, die den Raum sofort aromatisch erfüllte. Jede Freundin platzierte sich auf einen der unterschiedlichen Stühle und Inga und Carolin sahen erwartungsvoll zu den beiden anderen hinüber.

„Was guckt ihr so?“ fragte Florence. „Vielleicht sind wir einfach nicht so wählerisch.“

„Das glaube ich bei dir keine Sekunde“, gab Inga zurück. „Was war es? Was ist es? Was hält dich und Jo zusammen?“

„Die Gewohnheit“, lachte Florence. „Ich lege mir immer Sachen zu, die ein Leben lang halten. Dazu muss die Qualität natürlich erstklassig sein.“

„Aha. Da haben wir´s. Qualität statt Quantität, so wie bei mir.“

Inga schaute düster in ihr leeres Glas, ging zum Kühlschrank und holte die Flasche. Sie schaute in die Runde, schenkte Carolin, Bernadette und sich selbst nach und stellte die geleerte Flasche auf die Anrichte.

„Moment, das müssen wir mal ein bisschen vertiefen“, mischte sich Carolin ein. „Wann wusstest du, dass es Jo ist? Und wieso hält sich das seitdem? Hat es denn nie gekriselt bei euch? Nie die leiseste kleine Affäre oder sowas?“

Florence lächelte breit, beugte ihren eleganten, was sonst, Hals ein wenig vor und ließ sich genüsslich den letzten Schluck aus ihrem Glas im Gaumen munden.

„Ihr wollt also, dass ich mein gesamtes Liebesleben hier vor euch ausbreite, ja?“

Alle drei nickten eifrig und einig. Sie schauten sich in der Runde an und lachten albern.

„Dabei gibt´s gar nicht viel zu berichten.“ Florence hob bedauernd die Hände. „Ich sah ihn und wusste, der ist es. Das war´s.“

Wieder ein breites Grinsen, ein Schulterzucken und Florence schwieg.

„Moment, Moment“, sagte Carolin. „Und er? Wie erlebte er dich denn? War es bei ihm genauso? Wie kamt ihr zusammen? Das hat sie uns noch nie wirklich erzählt, stimmt´s?“

Sie sah Zustimmung heischend in die Runde.

„Nö“, sagten Bernadette und Inga wie aus einem Mund und lachten.

Florence atmete tief durch. Sie versetzte sich gedanklich zurück in die Zeit, als sie Jo kennenlernte, das war jetzt unglaubliche fünfundzwanzig Jahre her. Die anderen drei schwiegen erwartungsvoll und hingen mit großen Augen leicht vorgebeugt an ihren Lippen. Nach einer kleinen Weile wurde ihr bewusst, was für ein komisches Bild sie abgeben mussten und sie kicherte wieder. „Jetzt aber mal Butter bei de Fische“, hätte Inga fast dazwischen trompetet, konnte sich aber gerade noch zurückhalten. Der Moment hatte einen gewissen Zauber, dem auch sie sich nicht entziehen konnte. Florence schaute ihre drei alten Freundinnen nacheinander in Ruhe an und begann zu erzählen.

„Er hatte sich zuerst verliebt. Wohl schon Monate, bevor ich ihn überhaupt wahrnahm. Der Arme. Ich war damals völlig fasziniert von meinem Studium und ging darin so auf, dass ich in den ersten Monaten gar nichts mitkriegte um mich herum. Ich hatte ja meine Fotolehre hinter mir, die mir technisch und künstlerisch gut gefallen hatte, aber ich war auf der Suche nach einem Thema. Einem Inhalt. Und als ich an der Uni anfing, war ich so begeistert, dass ich immer ganz weg war, geistig. Ihr kennt mich ja, wenn ich so konzentriert und gefangen bin von irgendetwas, dann merke ich gar nichts, was auch immer um mich herum passiert.“

Die anderen nickten. Florence konnte dermaßen abwesend sein, dass man manchmal eingreifen musste, damit sie nicht gänzlich den Anschluss verpasste. Einmal hatte es einen Feueralarm gegeben, als sie im ASTA-Raum eine Aktion der Frauengruppe vorbereiteten. Florence hatte weder die Sirene noch die Durchsage gehört und kriegte auch nicht mit, dass eine Kommilitonin nach der anderen den Raum verließ. Erst, als Bernadette ihr die Hand auf die Schulter legte und berichtete, was passiert war, erwachte sie aus ihren Gedanken.

„Und wie ist er dann zu der Ehre deiner Aufmerksamkeit gekommen?“ erkundigte sich Carolin.

„Er sagte etwas Intelligentes im Seminar. Ganz einfach. Also, er sagte es ganz einfach. Vollkommen uneitel. Wir hatten eine dieser Diskussionen, in der alle meinten sich profilieren zu müssen, besonders die männlichen Studierenden. Den meisten merkte man damals schon an, in was für Jobs sie hinterher ihre endlosen Beiträge abzulassen gedachten. Und dann sagte Jo am Schluss etwas, was die ganze Debatte vorher über den Haufen warf. Und er sagte es präzise und pointiert. Aber diese kurze Bemerkung hatte mehr Wissen im Hintergrund, als alle anderen schwafeligen Kommentare vorher. Und da sah ich ihn zum ersten Mal wirklich an.“

„Und er?“ Bernadette fragte es geradezu atemlos.

„Er sah mich an“, antwortete Florence schlicht. „Wir sahen uns an und nahmen uns gegenseitig wahr, sozusagen. Und lächelten uns irgendwann an wie zwei Komplizen der Gelehrsamkeit in einem Heer von tumben Trotteln.“

„Arrogant wart ihr also gar nicht“, stichelte Inga.

„Doch, unendlich“, gab Florence offen zu. „Wir fühlten uns wie die Eingeweihten eines geheimen Ordens und der Prof war mit von der Partie. Er hatte alles mitgeschnitten, er war später unser Trauzeuge.“

„Und was machte es aus? Ich meine, diese plötzliche Anziehung?“ begehrte Carolin zu wissen.

„Das lässt sich schwer beschreiben. Es war überwältigend, im wahrsten Sinne des Wortes. Körperlich überwältigend. Wir wurden so zueinander hingezogen, dass unsere Finger ständig die Berührung miteinander suchten, völlig unkontrolliert, wir wollten uns dauernd anfassen. Es war so stark, dass wir uns irgendwann richtig zusammenreißen mussten. Die anderen im Seminar wollten ja nicht dauernd ein Pärchen neben sich haben, das sich gegenseitig tätschelte und mit den Blicken auffraß.“

„Und wie lange hielt das an?“

Inga sah Florence durchdringend an.

„Du willst es aber auch ganz genau wissen, hm?“

Florence lächelte und hob die Hände in einer Geste, die so etwas sagte wie: Kann ich doch auch nichts dafür.

„Es hält immer noch an. Das liegt wahrscheinlich daran, dass wir uns nicht dauernd sehen. Also nicht ständig zusammen sind. Ich bin viel unterwegs, Jo auch öfters. Wir haben eigentlich ständig ganz viel Sehnsucht nacheinander.“

„Habt ihr ein Glück“, seufzte Carolin halb neidisch, halb gönnerhaft.

„Moment, Moment“, rief Inga dazwischen. „Ich kann´s gar nicht glauben. So viel Harmonie auf einmal gibt es doch überhaupt nicht. Ihr müsst euch doch über irgendwas streiten oder aneinander reiben. Irgendwas muss euch doch auch aneinander nerven.“

„Wenn wir zusammen tanzen, dann streiten wir wie die Kesselflicker“, lachte Florence.

„Das hätte ich jetzt gerade nicht gedacht“, sagte Bernadette erschüttert. „Ich meine, wo du so eine gute Tänzerin bist und Jo auch so schlank und sportlich… Ihr seht doch umwerfend zusammen aus.“

„Ja, aber das ist es ja gerade. Wir erwarten voneinander die absolute Perfektion, und dann meckern wir hemmungslos aneinander herum. Da ist es wirklich besser, wir tanzen mit anderen, da hält man sich viel mehr zurück.“

„Und…“ Carolin zögerte und suchte nach Worten. „Und geistig? Ich meine, dass ihr körperlich so voneinander angezogen wurdet, heißt ja nicht automatisch, dass ihr euch auch ansonsten viel zu sagen haben müsst…“

Carolin merkte selbst, dass sie nicht wirklich überzeugend klang.

„Also, mit der geistigen Anziehung hatte es ja angefangen. Und das ist auch bis heute so geblieben.“

Florence lehnte sich zurück und überließ sich der Erinnerung.

„Ich glaube, wir hatten einfach das Glück, auf jemanden zu treffen, der genau unseren jeweiligen Vorstellungen entsprach. Beidseitig. Das ist einfach Glück, da kann man nichts machen.“

„Da kann man nichts machen“, wiederholte Carolin mit dunkler Stimme. Und gleich nochmal: „Da kann man nichts machen. Sehr ermutigend. Besonders für jemand wie mich, die ich gerade anfangen will mit der Suche…“

„Was soll ich sagen?“ fragte Florence betont unschuldig. „Habt ihr nicht damit angefangen?“

„Also, ich glaub´s ja immer noch nicht.“ Inga war hartnäckig. „Das kann doch gar nicht sein, keine Krise über die lange Zeit, kein Seitensprung, kein gar nichts…“

Florence hob wieder die Hände, das machte sie gern.

„Inschallah… Wir sind beide genügsam in der Hinsicht, glaube ich. Und wir fangen nicht gerne was Neues an. Wir sind aufeinander eingespielt. Wir genießen unsere Gewohnheiten. Wenn wir mal Alltag zusammen haben, dann kosten wir das richtig aus. Diese Rituale wie nachmittags zusammen Tee zu trinken und zu fragen: Wie war dein Tag?“

Florence fragte letzteres mit übertriebener Stimmlage, um die Idylle, die sie beschrieb, ein bisschen zu karikieren.

„Aber so ist es“, griff sie den Faden noch einmal auf, jetzt in einem fast rechtfertigenden Tonfall. „Wir haben das ja nicht so oft, wie gesagt.“

„Und ist dir nie jemand über den Weg gelaufen, den du auch anziehend fandst? Oder Jo, falls er dir das überhaupt auf die Nase gebunden hat?“

Mangel an Beharrlichkeit konnte man Inga nicht vorwerfen.

„Also, ehrlich gesagt – nee. Ich meine, es gibt schon Männer, die ich so oberflächlich gesehen attraktiv finde. Klar. Aber diese Tiefe meiner Gefühle für Jo… die ist einfach, … wie soll ich das beschreiben? Die reißt mich immer noch hin und weg. Da kann ich überhaupt nichts gegen machen. Manchmal, wenn er wiederkommt oder ich und wir gehen erstmal zusammen essen und sehen uns dann an, dann …. Dann müssen wir ganz schnell nach Hause fahren. Ihr wolltet´s ja wissen.“

Florence grinste in die Runde und wollte das Gespräch mit ihrem charakteristischen Schulterzucken beenden.

„Ja und woher weißt du, ob Jo dir immer treu ist? Er kann doch unterwegs mal von jemand anderer überwältigt werden?“

Inga blieb beharrlich.

„Das weiß ich natürlich nicht“, sagte Florence nüchtern. „Und Jo auch nicht. Wir haben uns irgendwann mal gesagt, dass es solche Situationen geben kann. Wenn man unterwegs ist und sich irgendwie allein fühlt und Rotwein getrunken hat und dann mit jemand anderem ins Bett geht – das kann passieren. Aber das muss man dann nicht an die große Glocke hängen.“

„Und meinst du, das ist ihm schon mal passiert?“

Das war wieder Inga, natürlich.

Who knows? Ich glaube nicht, aber was würde das wirklich ausmachen? Solange er bei mir ist, wenn er bei mir ist? Ich meine, wir haben doch nur unsere offenen Hände…“ Florence schaute nachdenklich in dieselben. „Du kannst doch den anderen nicht festbinden. Du kannst nur vertrauen, dass dieser freie Vogel zu dir zurückkommt. Vielleicht weil er sich einfach genauso wohl fühlt mit dir wie du dich mit ihm.“

Florence schwieg. Sie hatte ihr Inneres jetzt lange genug ausgebreitet, fand sie. Die anderen schweigen auch, ein bisschen ergriffen ob der Intimität, die sie gerade miteinander geteilt hatten.

Inga raffte sich als erste wieder auf.

„Lasst uns mal was kochen, sonst wird´s ja Mitternacht, bevor wir was Richtiges in den Magen kriegen. Wir wollen ja morgen irgendwann los und vor Einbruch der Dunkelheit in Dänemark ankommen.“

„Wo liegt das Haus eigentlich genau?“ erkundigte sich Bernadette.

„Zwischen Arhus und Aalborg, an der Ostseeküste“, sagte Carolin. „Es ist nur hundert Meter vom Meer entfernt und hat einen Kaminofen im Wohnzimmer. Und eine Sauna.“

„Im Wohnzimmer?“ fragte Inga und duckte sich weg, als Carolin mit ihrem Halstuch nach ihr langte. Dann fuhr sie fort: „Na, das hätte ich auch nicht anders erwartet. Und am besten noch einen Indoor-Pool und einen Butler, der uns jeden Morgen den Kaffee ans Bett bringt.“

„Ja, sowas wünsche ich mir auch schon ganz lange“, seufzte Carolin.

„Aber das können wir doch machen“, schlug Bernadette mit eifriger Stimme vor. „Abwechselnd, jeden Morgen eine andere von uns. Auf die Weise kommen wir jede zu einer Tasse Kaffee ans Bett in dreiviertel der Zeit.“

Bernadette lächelte in die Runde. Sie strahlte dabei so viel Fürsorge und Wärme aus, dass den anderen auch ganz warm wurde. Bernadette war eindeutig die mütterliche Figur in ihrer Runde, obwohl Inga ja auch zwei Kinder hatte. Aber Inga lag das Gluckenhafte nicht, während man bei Bernadette sogar gern unter die Federn schlüpfte.

„Was kochen wir eigentlich? Sollen wir was schnippeln?“ fragte Florence.

„Hm. Diese Aubergine bitte und die Zucchini und diese Tomaten und die Paprika. Und die Zwiebeln.“

Inga verteilte Brettchen, Messer und Gemüse.

„Und Knoblauch. Den verarzte ich. Carolin, kannst du dich um den Reis kümmern, bitte? Und machst du auch eine Flasche Rotwein auf?“

In der nächsten Viertelstunde waren alle einträchtig damit beschäftigt, das Gemüse zu putzen und zu zerlegen, in mundgerechte Stückchen, die man schnell schmoren konnte. Inga stand am Kochtopf und nahm die Brettchen in der angemessenen Reihenfolge entgegen. Sie schwang den Kochlöffel und deutete mit ihrem linken Zeigefinger hinter sich.

„Die großen flachen Teller sind unten in dem Schrank links neben der Tür. Das Besteck in der Schublade im Tisch. Und Servietten findet ihr in der rechten Schublade im Schrank.“

Florence angelte die Teller aus dem Schrank, Bernadette sorgte für die Verteilung. Carolin rührte den Reis um. Eine weitere Viertelstunde später saßen sie fast alle wieder auf ihren Plätzen. Inga warf zu guter Letzt noch ein paar hauchdünne Rinderfilets in die Pfanne und verteilte sie medium gebrutzelt reihum.

„Hm, welch ein Duft“, lobte Carolin. „Und welch ein Aroma…“

„Auf unser gemütliches Zusammensein an einem Tisch freu ich mich seit Monaten“, gestand Bernadette.

„Wie geht´s deinen Kindern?“ frage Florence.

„Also Johann ist in Peking. Er studiert da jetzt seit Anfang September. Das heißt, die ersten vier Wochen hatte er einen Intensivkurs in Mandarin und dann fing erst das eigentliche Studium an….“

Bernadette holte weit aus bei ihrem Lieblingsthema, und so ging der Rest des Abends dahin mit Erzählungen über ihre einzelnen Sprösslinge. Als sie in der frühen Kindheit angekommen war, fiel Inga mit einer Anekdote über ihren Sohn Mattis ein. Florence und Carolin blieb nichts Anderes übrig, als andächtig zu lauschen und ab und zu durch interessierte Detailfragen den Redefluss der beiden zu befeuern. Was ihnen nicht schwerfiel.


Inga war am nächsten Morgen als erste auf den Beinen und nahm Bernadettes Anregung auf, die anderen mit einem Kaffee ans Bett zu beglücken.

„Wow, du verwöhnst uns. Was für eine super Idee Bernie da hatte“, seufzte Florence wohlig. Bernadette genoss den ungewohnten Luxus leise vor sich hin und sprang dann schnell unter die Dusche. Sie verloren keine Zeit mit einem langen Frühstück. Vor einigen Jahren waren sie schon mal im nördlichen Dänemark gewesen und erinnerten sich alle noch gut daran, wie die Fahrt sich zuletzt hinzog. Bernadette verstaute das Gepäck im Auto, als Familienmutter war sie am geübtesten darin, den Platz optimal auszunutzen. Inga übernahm die erste Teilstrecke und fuhr auf dem kürzesten Weg auf die A7 in den Norden, sie kannte sich in Hamburg ja bestens aus. Nach gut zwei Stunden waren sie an der dänischen Grenze, Inga tauschte mit Carolin, nach weiteren zwei Stunden hatten sie alle Kaffeedurst.

„Ich muss mal Pipi“, lachte Florence. „Sagen das die Kinder nicht schon nach einer halben Stunde? Bei uns war das früher immer so.“

„Bei uns auch“, brummelte Carolin, die gerade ein Nickerchen gemacht hatte und sich mühsam wieder aufrappelte. Sie zogen vorsorglich ihre Jacken an für den kurzen Weg in das dänische Rasthaus.

„Warum ist alles sofort so gemütlich, kaum, dass man die dänische Grenze überquert hat?“ fragte sie vorwurfsvoll. „Wieso ist das bei uns nicht so? Hier ist alles funktional und gleichzeitig absolut ästhetisch.“

„Damit dürftest du das Geheimnis des dänischen Designs in zwei Sätzen zusammengefasst haben“, konstatierte Florence. „Genauso ist es. Egal, ob du einen Sessel nimmst oder eine Uhr… die Dänen sind einfach Meister darin.“

„Die ham´s drauf“, bestätigte Inga mit lauter Stimme. „Deshalb mieten wir auch so gerne ihre Häuser im Winter, weil sie einfach eine Augenweide sind. Nichts beleidigt die Augen, nichts fällt komplett aus dem geschmacklichen Rahmen… Stell´ dir mal vor, Engländer hätten das Gleiche eingerichtet. Könntest du vergessen. Aber die Dänen…“

„Na, ob ich diese Stereotypen so stehenlassen kann“, lachte Florence. „Wie kommst du eigentlich darauf, dass die Engländer keinen Sinn für Ästhetik haben?“

„Eine Nation, die Teppiche in Arztpraxen verlegt? Da gibt´s doch überhaupt keinen Zweifel. Ich habe zwei Semester in London studiert, da kriegte ich regelmäßig das Gruseln. Und so wie Else aussieht, bestätigt das meine These noch.“

„Else?“ Florence war nicht im Bilde.

„Die Queen. Oder findest du ihre Hüte etwa le dernier cri?“

Florence antwortete nicht, sie war damit beschäftigt, die Tür des Cafés dem heftigen Wind zum Trotz zu öffnen. Sie ließ allen anderen den Vortritt und fand sie dann vor der Kuchentheke wieder. Auch in dieser Hinsicht hatten die Dänen mehr zu bieten, als ihre deutschen Äquivalente.

„Sag ich´s nicht. Das ist Essensdesign. Ein Lebenskonzept.“

Inga griff zur Kuchenzange, angelte sich einen Dessertteller und platzierte ein Himbeertörtchen in die Mitte. Sie grinste vor Zufriedenheit von einem Ohr zum anderen. An einem runden Tisch in der Ecke zwischen zwei großen Fenstern mit bauschigen weißen Vorhängen fanden sich alle wieder zusammen.

„Sag´ ich´s nicht“, wiederholte Inga mit großer Geste und deutete auf ihre Umgebung. „Das könnte doch so wie es ist bei ‚Schöner Wohnen‘ einziehen. Und das hier ist eine Autobahnraststätte. Nicht etwa ein Möbelhaus.“

Sie lächelte mit Besitzerstolz in ihrer Miene, als wäre das alles ihr´s.

„Und der Kuchen ist ebenso wohlgelungen“, pflichtete Florence ihr bei. Sie hatte auch ein Törtchen, das aus drei Stockwerken bestand, mit drei Cremes, jede eine Schattierung dunkelroter als die andere, mit einem Ensemble aus einer hauchzarten Waffel und kunstvoll drapierten Johannisbeeren obenauf.

„Ja, man könnte gleich drei nehmen, so verlockend sind sie----“

Inga brach ab und glotzte tonlos auf Bernadettes Teller.

„Man hat drei genommen. Du hast aber einen guten Appetit!“

Bernadette glaubte eine Spur von Vorwurf aus Ingas Bemerkung herauszuhören und rechtfertigte sich sofort.

„Ich hab´ so´n Hunger. Und die sind doch einfach unwiderstehlich. Obwohl ich ja eigentlich abnehmen will in diesem Urlaub…“

Sie sah schuldbewusst an sich herunter und ihr Blick blieb auf der leichten Wölbung ihres Bauchansatzes hängen.

„Du willst was?“

Inga fragte geradezu inquisitorisch. Bernadette blickte noch schuldbewusster.

„Ja, ich hab´ fünf Kilo zugenommen in letzter Zeit. Das kann doch so nicht weitergehen. Und da dachte ich, der Urlaub ist eine gute Gelegenheit, ich bin raus aus dem Familienbetrieb und kann mir ein paar extra Mahlzeiten kochen. Kalorienarm.“

Letzteres kam mit ganz leiser, unsicherer Stimme.

„Und die willst du dann essen, während wir direkt neben dir unsere französischen Menüs schmausen?“

Inga sah sie mit gerunzelter Stirn fragend an und gab sich dann selbst die Antwort.

„Dänemark ist ein freies Land. Ich habe vor, mich der Völlerei zu ergeben. Schmachten tu ich schon im Alltag genug. Wo die Kinder weg sind, koche ich ja nicht mehr regelmäßig. Die Aussicht auf unsere Gelage hier hält mich seit Monaten aufrecht. Da wird keine Waage und keine Frauenfachzeitschrift was dran ändern.“

„Ja, an dir sieht man ja sowieso kein Grämmchen, aber ich habe eine richtige Plautze gekriegt. Ich will doch nicht zur Tonne mutieren. Ich fühl mich schon oft genug wie eine Matrone aus einem Roman aus dem neunzehnten Jahrhundert, da muss ich ja nicht noch wie eine aussehen.“

„Völlig übertriebene Wahrnehmung. Dieser Schlankheitswahn verdirbt uns komplett die Lebensfreude. Ich finde überhaupt nicht, dass du zugenommen hast und ich würde es dir sonst wirklich sagen.“

Inga sah Bernadette treuherzig an und fing dann an zu lachen.

„Im Ernst, es ist doch völlig egal, wieviel du wiegst. Wieg´ dich einfach nicht mehr. Ich hab´ gar keine Waage.“

„Ja, aber ich merke doch auch so, dass der Bauch schwabbelt und die Hose kneift“, sagte Bernadette missmutig. „Ne Waage brauche ich da auch nicht für, das sagt mir der morgendliche Blick in den Spiegel. Und wenn ich mich so fett fühle, dann fühle ich mich nicht mehr begehrenswert. Und das ist einfach unschön.“

Bernadette sah so schlecht gelaunt auf ihre drei Törtchen, dass es Inga schon leidtat, so direkt gewesen zu sein.

„Hör mal, wenn der Kuchen eine komplette Mahlzeit ersetzt, dann macht das überhaupt nichts, habe ich mal irgendwo gelesen. Also, genieß jetzt deine Törtchen, die sehen doch entzückend aus.“

„Ja, solche Kreationen habe ich neulich in einer Designzeitschrift gesehen“, steuerte Florence eine wesentliche Information bei. „Die haben in New York einen Patisserie-Preis gekriegt.“

Florence stellte ihren Teller – mit nur einem Törtchen – an ihren Platz und ließ sich nieder.

„Ich kann das gut verstehen“, sprang sie Bernadette zur Seite. „Ich kann´s auch nicht haben, mich dick zu fühlen, ganz egal wie andere mich sehen. Wenn ich mich selbst dick fühle, muss ich was dagegen tun.“

„Und das, wo du ohne weiteres modeln gehen könntest bei deiner Größe. Von dem grazilen Rest will ich erst gar nicht reden, man muss diese Unverschämtheiten ja nicht noch bestärken“, lästerte Inga. „Ich könnte Anna mal ein Foto von dir schicken, dann engagiert sie dich als Model für die Frau um die fünfzig.“

Sie streckte Florence die Zunge heraus, um sie zu reizen. Florence hatte immer so eine unglaubliche Contenance, das forderte Inga regelmäßig dazu heraus, sie ein bisschen zu provozieren.

„Bin ich doch auch.“

Florence zuckte mit den Achseln.

„Habe ich aber noch nie drüber nachgedacht. Fünfzig. Das bin ich einfach irgendwann geworden vor zwei Jahren. Ging aber völlig an mir vorbei. Die große Krise hatte ich mit dreißig und das war ja völlig albern.“

Florence lächelte mit ironisch heruntergezogenen Mundwinkeln.

„Ja, mit dem Alter habe ich auch kein Problem. Nur mit den Pfunden. Danke, dass du mich wenigstens verstehst, Florence.“

Carolin schaute zu den beiden herüber und schüttelte den Kopf.

„Ihr habt Probleme. Das mit der Figur könnt ihr doch selbst beeinflussen, das ist doch überhaupt nicht schwierig. Aber das mit dem Alter ereignet sich einfach. Da kannst du machen, was du willst, es geht nicht mehr weg. Das schockiert mich total.“

Sie griff den Faden ihrer Unterhaltung mit Bernadette auf dem Weg nach Hamburg wieder auf. Vielleicht half es ja doch, darüber zu reden. Das hatte sie als durchaus erleichternd empfunden, nachdem sie zuerst versucht hatte, es zu verdrängen.

„Alter. Bäuche. Was haben wir eigentlich inzwischen für Themen drauf?“

Inga schüttelte den Kopf genau wie gerade Carolin.

„Ich kann´s gar nicht glauben. Haben wir uns nichts Wichtigeres mehr zu sagen, als über unsere Jahresringe zu jammern und unseren Bauchspeck zu bedauern?“

„Das ist auch wichtig. Das ist Psychohygiene und es tut mir gut, das loszuwerden. Zu Hause will es keiner hören.“

Bernadette stach mit ihrer formschön designten dänischen Kuchengabel in das letzte Törtchen vor sich, pfirsichfarbener Schaum auf einer vanillegelben Zwischendecke aus Biskuit, darunter eine pflaumenblaue glasierte Sahneschicht, die ein paar üppige Blaubeeren enthielt, angerichtet auf einer dunklen Schokoladenplatte, obenauf zur Krönung eine hauchdünne, ebenholzfarbene Schokoraspel.

„Konditor muss auch ein schöner Beruf sein.“

Dieser Stoßseufzer kam so sehnsuchtsvoll aus tiefstem Herzen, dass alle lachten. Carolin blickte in die Runde und dachte an Ingas Formulierung von vorhin. Alter und Bäuche, waren das jetzt ihre Hauptthemen? Selbst wenn sie sich ironisch davon distanzierten? Na, in ihrem Leben gab es momentan zumindest auch noch das Thema ‚Wie finde ich endlich einen Mann, der zu mir passt?‘. Aber das würde sie erst später wieder aufs Tapet bringen.

Sie brachen auf und fuhren in die dänische Dämmerung hinein. Es war schon fast dunkel, als sie das Fleckchen erreichten, in dem ihre Ferienhaussiedlung stand. Den Schlüssel sollten sie beim Supermarkt um die Ecke abholen. Der Besitzer würde dann am nächsten Morgen kommen, um ihnen zu erklären wie die Sauna funktionierte. Sie sperrten die weiße, hölzerne Tür auf und ergriffen Besitz von ihrem Domizil für eine Woche. Von einem Windfang und einer Diele mit ein paar knallroten Garderobenhaken und einem Jugendstiltischchen an der Wand kam man direkt in ein weitläufiges Wohnzimmer. Eine riesige anthrazitgraue Sitzgruppe stand um den Ofen herum.

„Das nennt man Wohnlandschaft“, sagte Carolin beeindruckt. „Wisst ihr, dass ich kaum irgendetwas so gerne tue wie eine liebevoll eingerichtete Ferienwohnung zu erkunden? Es ist, als hätte man ein zweites Zuhause.“

„Schreibst du neuerdings auch für Möbelmagazine? Oder für Ferienhauskataloge?“

Carolin blickte zu Inga hinüber, die mit der Zunge zwischen den Zähnen zu ihr herüberblickte.

„Dieses Haus haben wir nur ausgesucht, damit du eine Nachhilfestunde in südskandinavischer Geographie kriegst“, gab sie zurück.

„Touché.“

Inga grinste und nahm den Raum genauer unter die Lupe. In der Ecke gegenüber dem riesigen Sofa stand ein weißer Tisch mit sechs Stühlen drum herum, Jugendstil wie der im Flur. Große Sprossenfenster mit niedrigen Fensterbänken öffneten den Blick in den Garten, der herbstlich kahl war und eine Rasenfläche zeigte, die von hohen Heckenrosen eingerahmt war. Vereinzelte Blüten tupften ein paar Farbflecke in das etwas triste, herbstliche Bild. Neben dem Esstisch war ein breiter Durchgang, dahinter befand sich ein geräumiger Wintergarten. Carolin ging neugierig hin und lugte um die Ecke. Ein rotes Sofa stand an der Wand links neben der Tür, diesmal ein biedermeierliches, bezogen mit einem floralen Webmuster. Davor ein rechteckiger weißer Tisch. Rot und weiß schien das Farbkonzept in diesem Teil des Hauses zu sein. Zwei ausladende Korbsessel standen davor, zwei weitere in den beiden Ecken. Eine gläserne Flügeltür führte in den Garten, der inzwischen im Dunkeln lag. Windlichter mit dicken Kerzen standen auf dem Tisch und den antiken Beistelltischen. Breite Fenster gingen auch hier an den Seiten bis zum Boden. Carolin seufzte und freute sich darauf, hier nachmittags ihren Kaffee zu trinken.

Florence nahm währenddessen die Küche ins Visier. Sie war ebenso großzügig angelegt wie die Sofaecke. Weiß und glänzend mit Arbeitsplatten aus rotem Kunststein. Die technische Ausstattung ließ nichts zu wünschen übrig: Spülmaschine, Waschmaschine, Mikrowelle, ein einzelnstehender knallroter Kühlschrank wie aus einem amerikanischen Spielfilm. Florence kannte die Marke, sie hatten zu Hause den gleichen. Sie öffnete die Schränke, um das Geschirr zu inspizieren. Weiße, schlichte Essteller mit großem Durchmesser. Ein Teeservice von Royal Copenhagen, wie sie erstaunt registrierte. Vermutlich nutzen die Eigentümer das Haus häufiger, die Antiquitäten hier und da deuteten darauf hin, dass sie einen persönlichen Bezug dazu hatten. Links neben der Küchenzeile stand ein alter Geschirrschrank, der abgeschlossen war. Darin befand sich dann vermutlich das Familiensilber, schlussfolgerte Florence. Na, das würde ich auch nicht x-beliebigen Feriengästen anvertrauen. Vorausgesetzt, sie hatte Recht mit ihrer Vermutung. Zwei kleine quadratische Fenster gaben Licht für die Köchinnen. In den Fenstern, auch im Wohnbereich, standen kleine Lämpchen, die bei ihrer Ankunft erleuchtet gewesen waren. Das verlieh dem Haus schon von außen ein anheimelndes Aussehen und verlieh einem das Gefühl, willkommen zu sein.

„Kommt mal hierher“, rief Bernadette von oben.

Sie stand im Badezimmer, das im Gegensatz zu den in Dänemark sonst üblichen Maßstäben riesig war. In der Mitte stand vor einer großen, halbrunden Dachgaube eine freistehende Badewanne auf goldenen Löwenfüßen. Die anderen nickten, gebührend beeindruckt.

„Ich wette, durch das Fenster hier sehen wir morgen früh das Meer“, sagte Carolin zufrieden. Sie hatte das Haus gefunden und fühlte sich als stolze Entdeckerin. Florence nickte anerkennend.

„Das hast du wunderbar gemacht, meine Liebe. Du hast einfach ein Händchen für sowas.“

Carolin lächelte von einem Ohr zum andern.

„Lasst uns die Schlafzimmer aufteilen“, schlug Inga vor. Sie nahmen nacheinander das Angebot in Augenschein, ein geräumiges Schlafzimmer mit breitem Doppelbett auf der einen Giebelseite und zwei Zimmer mit französischen Betten auf der anderen.

„Florence und ich könnten das Doppelbett nehmen“, bot Bernadette an. „Wir sind es ja gewohnt, unser Bett zu teilen, da kriegen wir das hier wohl auch hin. Oder?“

Florence nickte.

„Ich bin schlaftechnisch unempfindlich. Jo schnarcht wie ein Sägewerk und ich schlafe tief.“

„Jo schnarcht?“ wiederholte Inga. „Wie erfrischend. Endlich mal eine negative Eigenschaft. Das wäre ja sonst nicht auszuhalten.“

„Jaime schnarcht auch“, meldete sich Bernadette.

„Na, dann bin ich ja beruhigt. Ihr werdet euch also vollkommen heimisch miteinander fühlen und Carolin und ich brauchen kein schlechtes Gewissen zu haben, dass wir uns die Einzelzimmer unter den Nagel reißen.“

„Ach, wer weiß… Vielleicht modifizieren wir auch die Verabredung mit dem Morgenkaffee, und den bringt ihr uns beiden umschichtig.“

Florence lächelte verschmitzt und nahm zur Abwechslung mal Inga auf die Schippe. Die sagte aber nur nüchtern:

„Einverstanden. Ich bin morgens eh´ früh wach. Das ist doch ein gerechter Ausgleich.“

Daraufhin gingen sie zum Auto zurück, jede schulterte ihr Gepäck und sie zogen einträchtig in ihre temporäre Behausung ein.


Stoffwechsel

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