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Ein Wagnis

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Am nächsten Morgen war Inga tatsächlich als erste wach und setzte wie versprochen einen Kaffee für die anderen auf. Florence und Bernadette saßen schon aufrecht im Bett und lasen, als sie ihnen die wohlduftenden Becher brachte, während Carolin noch tief in die Kissen gewühlt schlummerte. Man sah nur ein paar Zipfel ihrer blonden Haare. Inga stellte ihr den Kaffee auf den Nachttisch und ging wieder nach unten. Sie setzte sich in den Wintergarten, auf den sie sich am Abend vorher schon gefreut hatte und nahm ein Notizbuch in die Hand. Auf Reisen pflegte sie Tagebuch zu schreiben, vor allem, um es später ihrer Schwester vorlesen und sie auf diese Weise mit ihren Erlebnissen zu amüsieren. Sie liebte diese Stunde vor Tau und Tag, wenn sie die Welt für sich alleine hatte. Dann saß sie gerne auf Plätzen in südlichen Flecken dieser Erde und sah den Lieferanten zu oder beobachtete die Aufräumaktionen der örtlichen Müllabfuhr.

Inga reiste gern und häufig, wie es sich für eine Geographielehrerin gehörte. Sie hatte weite Reisen hinter sich, die sie an die entlegensten Ecken der Erde gebracht hatten. Sie war in den chilenischen Anden auf Maultieren geritten und in Nepal gewandert, hatte die Küste von Sri Lanka erkundet und Death Valley durchstreift. Sie war in Angkor Wat und Machu Picchu durch die Ruinen gestromert, und Pompeji kannte sie auswendig, das war ihr Leib-und-Magen Ziel. Dahin fuhr sie mit jedem Geschichtskurs in der Abschlussstufe. Ihr größtes Abenteuer war eine Schiffsreise in die Antarktis vor ein paar Jahren, die sie mit ihrem Sohn Mattis zusammen unternommen hatte, als der seinen Doktor fertig hatte.

Sie war also das Reisen gewöhnt. Nicht, dass es Routine gewesen wäre, dann hätte es ja auch keinen Spaß mehr gemacht, aber sie kannte sich aus auf den Flughäfen dieser Welt, auch auf den ganz kleinen. Sie beherrschte drei Sprachen so gut wie fließend und noch ein paar weitere bruchstückhaft, sie konnte sich in der Fremde durchschlagen. Sie hatte alle möglichen Transportmittel ausprobiert und geriet nicht in Panik, wenn sie mit dem Jeep mitten in der Wüste unter kreisenden Geiern eine Autopanne hatte. Aber all diese Erlebnisse und Erfahrungen nützen ihr gerade gar nichts. Denn jetzt hatte sie eine Reise vor sich, die ihr wirklich im Magen lag. Zusammen mit ihrer kleinen Schwester plante sie eine Reise zu ihrem Vater. Das allein wäre noch nichts Ungewöhnliches gewesen. Das Besondere an dieser Reise war allerdings, dass sie ihren Vater seit fünfundvierzig Jahren nicht mehr gesehen hatte. Als sie fünf Jahre alt war, hatte er die Familie verlassen – ihre Mutter, ihre kleine Schwester Astrid und sie selbst, und sie hatte nie wieder etwas von ihm gehört.

Sie schluckte einen leichten Kloß im Hals herunter und fragte sich, ob es wirklich richtig gewesen war, die Vergangenheit aufzuwühlen, anstatt sie einfach ruhen zu lassen. Es war ein bisschen spät, darüber nachzudenken, denn die Reise war geplant, die Flüge gebucht und alle Beteiligten wussten Bescheid. Man konnte sowieso nicht mehr so tun, als wäre nichts gewesen. Inga seufzte und beschloss, das Ganze nicht mehr zu dramatisieren, als unbedingt notwendig. Es hatte sie ja keiner zu dieser Fahrt gezwungen. Bei wem sollte sie sich also beschweren als bei sich selbst? Sie zuckte die Achseln, wie Florence das gerne tat, wenn sie etwas nicht beeinflussen konnte und stand auf. Dabei merkte sie, wie steif sie geworden war. Irgendwie war man einfach nicht mehr die Jüngste. Sie streckte sich und beschloss, vor dem Frühstück einen kleinen Strandspaziergang zu machen. Das würde ihren Gelenken guttun und ihrer Stimmung auch. Sie ging durch die Terrassentür, dachte, dass es sich auf jeden Fall lohnen müsste, mal im Sommer herzukommen und in warmen Julinächten im lauschigen Garten zu sitzen. Falls es warme Sommernächte in Dänemark gab. Dann verließ sie das Grundstück auf einem Trampelpfad durch die Heckenrosen, der ein Gartentürchen freilegte, das sich ohne zu quietschen öffnen ließ.

Derweilen hatte Bernadette den Kaffee im Bett sehr genossen. Nicht, dass sie sowas zu Hause nicht erlebte, Jaime brachte ihr an den Wochenenden auch manchmal einen Morgenkaffee ans Bett und ihre Tochter Elisa hatte das eine Zeitlang ebenfalls sehr begeistert gemacht, als sie nämlich gerade gelernt hatte, Kaffee zu kochen und an den Sonntagmorgen gerne den Tisch deckte, bevor der Rest der Familie aufstand. Aber hier war Bernadette losgelöst aus ihrem alltäglichen Leben. Sie musste sich heute nicht für siebenunddreißig verschiedene Pflichten verantwortlich fühlen, angefangen vom Einkauf für die nicht mehr ganz so große Familie über den nachmittäglichen Besuch bei ihrer alten Mutter, dem abendlichen Abnehmen der Wäsche und deren säuberlichem Zusammenlegen. Und weil dies ein so ungewohntes Gefühl von Freiheit war, das sie plötzlich überwältigte, tat Bernadette etwas in ihren Augen völlig Dekadentes und ließ sich ein morgendliches Bad in die löwenfüßige Wanne ein. Sie fand ein bisschen Badeöl, augenscheinlich von den Gästen, die vor ihnen da gewesen waren und ließ sich mit einem wohligen Seufzer in die Fluten gleiten.

Im großen Schlafzimmer legte Florence ihr Buch zur Seite, eine Biografie der Fotografin Berenice Abbott, und blickte unschlüssig aus dem Fenster. Das Wetter war herbstlich grau, aber es regnete nicht. Die anderen waren offensichtlich schon unterwegs, schliefen noch, gaben sich Badefreuden hin, da konnte sie ebenso gut eine Runde joggen gehen. Wann hatte man schon mal den Strand direkt vor der Tür liegen?

„Bin in einer halben Stunde wieder da“, rief sie Bernadette durch die sorgsam verschlossene Badezimmertür zu. Um Carolin brauchte sie sich nicht zu kümmern, da konnte man froh sein, wenn sie wach war, nachdem Florence zurück wäre. Sie sprang die Treppe herunter, machte vor der Haustür ein paar Kniebeugen, um warm zu werden und lief los.

Inga ließ sich die Ostseeluft schon um die Nase wehen. Das Haus lag an einer sanften Bucht und eröffnete nach rechts ihren Blick auf einen Bauernhof, der ebenfalls hinter Heckenrosen verborgen lag, so dass man nur das langgestreckte Strohdach mit ein paar Schornsteinen sah. Aus einem von ihnen stieg Rauch auf. Sie ging eine Weile in die Richtung, ließ ihren Blick über die bleigraue Ostsee schweifen und sah hier und da auf den Strand hinunter. Da gab es ein paar kleine Muscheln, innen perlmuttrosa, außen gelb, angeschwemmte Holzstücke, hier und da eine rund geschliffene Glasscherbe. Alles sah unauffällig und friedlich aus, mancher hätte gesagt, langweilig. Ein sensationeller Blick war es nicht, der sich einem hier bot, kein atemberaubendes Panorama, keine heranbrausenden Wellen. Die Bucht lag einfach friedlich da, das Wasser glatt, die Luft herbstlich kühl, aber noch nicht winterlich eisig. Alles atmete Ruhe und Langsamkeit. Inga verzögerte unwillkürlich ihren Schritt. Langsamkeit, das war noch nie so ihr Ding gewesen. Aber hier, an diesem vergessenen Ostseestrand, der anders war, als die Ziele, die sie auf ihren Reisen gerne ansteuerte, tat diese Langsamkeit ihr gut. Und das Alleinsein ebenfalls. Sie genoss die Gesellschaft ihrer drei Freundinnen, aber sie brauchte auch jeden Tag ein paar Stunden für sich allein. Und jetzt ganz besonders, denn sie brauchte Zeit zum Nachdenken.

Ihre Gedanken schweiften zurück, die Szenen ihrer Suche nach ihrem Vater traten vor ihr inneres Auge. Zuerst hatten sie gar nicht gewusst, wo sie anfangen sollten, ihre Schwester Astrid und sie. Zumal Astrid gar keine persönlichen Erinnerungen an ihren Vater hatte. Als er ging, war sie erst zwei Jahre alt gewesen. Wenn sie ihre Mutter nach ihrem Vater fragten, und das hatten sie natürlich öfters gemacht, vor allem in der Pubertät, hatte die immer sehr unwirsch reagiert. „Euer Vater war ein Schlawiner, der keinerlei Verantwortungsgefühl hatte“, war noch das Mildeste, was ihre Mutter zu sagen pflegte. Manchmal fing sie übergangslos an zu schimpfen. „Dieser Dreckskerl, mich ohne Beruf mit zwei kleinen Kindern alleine zu lassen, wie könnt ihr überhaupt nach ihm fragen? So ein Schuft, so ein Hallodri, den hätte ich umbringen können…“ Und dann, etwas ruhiger: „Seid froh, dass ihr ihn nicht kennenlernen musstet, ihr hattet doch einen Vater…“

Den hatten sie in der Tat gehabt. Als Inga sechs war, hatte ihre Mutter wieder geheiratet, ihren Stiefvater Bernhard, und der war ihnen wirklich ein liebevoller Ersatzvater gewesen. Er kam erstaunlich gut mit ihrer dominanten Mutter aus, die gerne alle anderen Familienmitglieder nach Lust und Laune herumkommandierte. Er hörte dann einfach weg, ging mit den Kindern spazieren oder sagte: „Hannelore, jetzt beruhige dich mal. Ich mache das alles, aber nicht jetzt, sondern heute Nachmittag.“ Und er ließ ihre Mutter mitten in ihrem Redeschwall stehen, die noch ein, zwei Sätze in die Luft schimpfte, und dann, vom Gegenstand ihrer Herrschsucht verlassen, den Mund zuklappte und sich anderen Tätigkeiten zuwandte. Bernhards einziger Nachteil in den Augen ihrer Mutter war, dass er keinen festen Job hatte, sondern nur hier und da Gelegenheitsarbeiten annahm, meistens Reparaturen irgendwelcher Haushaltsgeräte bei den Nachbarn oder Maschinen bei den Bauern der Umgebung. Inga und Astrid fanden das wunderbar, denn dadurch hatte er viel Zeit für sie. Er war ein begeisterter Vater, ging mit ihnen in den Wald und baute Buden, nahm sie mit in den Zirkus und ins Kino, fuhr mit ihnen zum Badesee und ging mit ihnen wandern, als sie größer wurden. Leider starb er bei einem Motorradunfall, als sie neunzehn und sechzehn waren. Viel zu früh. Da brauchten sie ihn zwar nicht mehr so unmittelbar wie vorher, als sie klein waren, aber er war ein guter Ausgleich zu Hannelore gewesen, deren tyrannische Persönlichkeit mit den Jahren immer nerviger wurde. Sie heiratete ein paar Jahre später wieder, froh, dass sie ihren anstrengenden Job als Assistentin in einer Werbeagentur danach aufgeben konnte, denn der neue Gatte war Ministerialdirigent, als solcher gut situiert und suchte eine Frau, die ihn haushaltstechnisch entlastete. Dafür war er extrem spießig, sodass Inga und Astrid nur selten Lust verspürten, dieses anstrengende Paar zu besuchen, das den Winter in der Regel auf Reisen verbrachte. Zum Glück, dachte Inga, sonst würde ihre Mutter ihr noch häufiger telefonisch in den Ohren liegen, vorbei zu kommen. In dieser Hinsicht war Skype eine blöde Erfindung und ihre Mutter war dauernd online. Aber das ließ sich per Knopfdruck ja ganz gut regulieren, dann war Inga es eben nicht.

Als Inga fünfzig wurde, war der Gedanke an ihren leiblichen Vater plötzlich in ihrem Hirn aufgetaucht und hatte sie nicht mehr losgelassen. Er musste jetzt so um die siebzig sein, er war sehr jung, als er damals Vater wurde, erst neunzehn oder zwanzig. Wenn sie ihn überhaupt noch einmal wiedersehen wollte, musste sie langsam in die Hufe kommen. Natürlich konnte er auch hundert werden, aber dafür gab es keine Garantie. Wenn er überhaupt noch lebte. Inga trug ihre Überlegungen eine Zeitlang mit sich herum, dann vertraute sie sich Astrid an.

„Sag´ mal, hast du eigentlich jemals den Wunsch verspürt, unseren Vater nochmal zu sehen? Unseren richtigen Vater, meine ich.“

Sie saßen in Astrids Berliner Wohnzimmer auf dem Sofa und tranken Tee. Astrid stellte ihre Tasse hin und sah Inga überrascht an.

„Wiedersehen ist gut“, sagte sie. „Ich kann mich nicht erinnern, dass ich ihn überhaupt schon mal gesehen habe, ich war doch noch ganz klein. Aber ob ich ihn überhaupt jemals gerne sehen würde – du wirst lachen, darüber habe ich in der letzten Zeit öfter mal nachgedacht.“

„Hast du?“

Jetzt war Inga die Überraschte.

„Wie kommst du denn darauf? Und warum hast du mir noch nichts davon erzählt?“

„Ich weiß es auch nicht. Ich wende es so in mir hin und her. Es ist ja nicht so einfach. Wie sollen wir ihn überhaupt finden? Ohne Internetrecherche? Das kann man ja in seinem Fall vergessen.“

Astrid grinste. Inga grinste auch.

„Ja, das waren noch sehr altmodische Zeiten, als unsere Eltern zusammen waren. Man schrieb sich Briefe. Man telefonierte vielleicht mal. Aber war überhaupt schon der Computer erfunden?“

„Ich glaube nicht. Vor ein paar Jahren haben wir mal Silvester Trivial Pursuit gespielt, so eine alte Version aus den Achtzigern, und uns totgelacht darüber, was es damals alles noch nicht gab und wie vorsintflutlich uns die Fragen vorkamen. Dabei waren das immerhin schon die Achtziger. Und unsere Eltern haben sich in den Fünfzigern kennengelernt. Überleg´ mal…“

„Hm. Das macht es uns nicht gerade leichter“, hatte Inga nüchtern festgestellt. „Aber jetzt sag´ mal, wieso hast du überhaupt dran gedacht, dass wir Vater suchen könnten? Ich meine, was war der Auslöser?“

„Ach, soweit habe ich überhaupt nicht gedacht. Ich habe bloß darüber nachgedacht, ob ich ihn überhaupt noch kennenlernen möchte. Wie das wohl wäre. Ob ich mich ärgern würde, wenn ich diese Chance verpassen würde. Er muss doch inzwischen gute siebzig sein. Wenn er überhaupt noch lebt.“

„Stimmt“, sagte Inga nachdenklich. „Wenn er überhaupt noch lebt. Ich glaube, er war ein ziemlicher Abenteurer. Er war damals schon öfter unterwegs, als ich noch ganz klein war. Daran kann ich mich noch erinnern, aber nur sehr undeutlich. Ich weiß noch, dass Mama damals immer schon auf ihn geschimpft hat.“

„Kein Wunder, dass er irgendwann die Biege gemacht hat. Das hätte doch kein Mann auf die Dauer ausgehalten.“

„Na, Bernhard hat.“

Inga sah vor sich hin auf die geblümte Tischdecke, die Stirn in Falten gelegt und Trauer im Blick.

„Dass der so früh sterben musste…“

„Hm. Manchmal vermisse ich ihn immer noch.“

Astrid nahm ein Streichholz und zündete die Kerze im Windlicht an, das auf dem Tisch stand.

„Er hat unsere Kindheit gerettet, dafür bin ich ihm ewig dankbar. Wie wäre das bloß ohne ihn geworden? Da will ich gar nicht drüber nachdenken.“

„Nee, aber das kann ich dir sagen. Wir wären bei Oma und Opa geblieben. Und das war nicht wirklich lustig.“

Inga sah mit etwas starrem Blick an die gegenüberliegende Wand, an der ein paar fröhliche Drucke hingen, ohne die überhaupt wahrzunehmen.

„Unsere Mutter hat ihre tyrannische Art eindeutig direkt von Opa übernommen. Oma hat ja immer nur gekuscht. Und wenn sie ihm mal ausnahmsweise widersprochen hat, kriegte sie im schlimmsten Fall eine gepfeffert. Deshalb wollte Mama ja auch so früh wie möglich weg von zu Hause. Und unser Vater war wahrscheinlich die erste Gelegenheit dazu. Nur dass sie leider überhaupt nicht zusammenpassten.“

„Und er sie ganz schnell wieder im Regen stehen ließ.“

Astrid nickte und nahm einen Keks.

„Da hat Mama dann das für sie kleinere Übel gewählt, uns bei den Großeltern geparkt und sich selbst einen Job gesucht.“

Inga lief der eine oder andere Schauer über den Rücken, wenn sie an die Zeit bei ihren Großeltern dachte. Ihr jähzorniger Großvater hatte sich zwar seinen Enkeltöchtern gegenüber einigermaßen zivilisiert benommen, manchmal sogar liebevoll, wenn er sie auf seinen Knien reiten lies oder im Herbst mitnahm zu einem befreundeten Bauern, dem er ein halbes Rind oder Schwein abkaufte und sie im Hof Kastanien sammeln ließ. Aber die herrschsüchtige und gewalttätige Art, wie er mit ihrer Großmutter umging, die er anschrie, wenn das Essen auch nur um eine Minute unpünktlich auf den Tisch kam oder gar einmal angebrannt war, das saß ihnen nach gut vierzig Jahren immer noch in den Knochen. Und einmal hatte er ihre Großmutter regelrecht verprügelt, als sie beim Bügeln vom Postboten unterbrochen worden war und ein Loch in sein weißes Sonntagshemd gebrannt hatte. Gut, ihre Großeltern waren einfache Leute und hatten wenig Geld, sodass ein neues Sonntagshemd ein großes Loch in die Haushaltskasse riss. Aber das rechtfertigte noch lange nicht diese Ausbrüche von Gewalttätigkeit, für die Inga ihren Großvater zu hassen begann. Sie hasste aber auch ihre Großmutter dafür, dass sie sich das gefallen ließ und ihrem Mann nicht einfach weglief. Heute hatte sie mehr Verständnis für die vertrackte Lage ihrer Oma, die wirtschaftlich völlig abhängig von ihm war und nicht gewusst hätte, wie sie ihren Lebensunterhalt sonst hätte bestreiten sollen. Und die ihren Mann wahrscheinlich sogar trotz allem liebte, so wie auch Inga trotz allem ihre Oma liebte, die sie verwöhnte mit ihrem köstlichen Apfelgelee und ihnen Märchen vorlas, wenn sie krank im Bett lagen. Wenn sie sie gerade nicht verachtete wegen ihrer Resignation und Unterwürfigkeit.

Diese widersprüchlichen Gefühle und Erlebnisse hatten Inga früh erwachsen werden lassen. Sie hatten ihr auch beigebracht, eine gewisse Widerständigkeit zu entwickeln, wenn im Leben nicht alles so lief, wie sie es sich gewünscht hätte. Zum Glück hatte ihre Mutter sie nach gut einem Jahr wieder abgeholt. Langfristig hatte Inga neben einer guten Portion Zynismus auch irgendwann gelernt, Humor zu entwickeln, sich nicht unterkriegen zu lassen und sich den Spaß am Leben zu bewahren. Vermutlich hatte sie deshalb eine solche Lästerzunge und stichelte gerne an den Menschen in ihrer Umgebung herum. „Das ist halt meine Skorpion-Seite“, pflegte sie zu sagen, aber die Ursache für diese Charaktereigenschaft lag wahrscheinlich eher in ihrer schwierigen Kindheit. Ihre Schwester Astrid war viel milder als sie, aber genauso zielstrebig, als es darum ging, sich selbst eine Existenz aufzubauen, um nicht abhängig von seinem Lebenspartner zu sein, sondern jederzeit ein eigenständiges, unabhängiges Leben führen zu können. Astrid mit ihrer Schauspielerei hatte die anstrengendere Wahl getroffen, auch etwas unsicherer in existentieller Hinsicht, aber sie war inzwischen jahrelanges Ensemblemitglied und somit quasi verbeamtet. Und sie hatte einen Lebensgefährten, der das charakterliche Gegenteil ihres Opas war, lieb, fürsorglich und sanft. Eine gute Wahl, von Astrid so sorgfältig und langjährig geprüft, bis sie damit Ingas Spott herausforderte. Er war auch Schauspieler, arbeitete aber inzwischen als Intendant an einem Theater in der Nähe.

In Astrids Wohnzimmer in einer Altbauwohnung in Alt-Moabit stapelten sich Kunstbücher neben Reclamheften. Die Wände hingen voller Drucke von Im- und Expressionisten, fein säuberlich getrennt, und Astrid nutzte jede freie Minute, um sich ihrer zweiten Leidenschaft, der Malerei, zu widmen. Allerdings der passiven Malerei, sie ging ins Museum, so oft sie konnte und es eine interessante Ausstellung gab, und das war in Berlin natürlich nicht selten. Und sie ließ Inga an ihren Lieblingsplätzen teilhaben, so dem Liebermann-Garten am Wannsee, wo sie schon etliche Sommernachmittage zusammen verbracht hatten. Astrid führte ein ziemlich ausgeglichenes Leben, netter Mann, erwachsene Tochter, nichts Aufregenderes als ab und zu eine Premiere. Als hätte sie in ihrer frühen Kindheit genügend Aufregungen gehabt. Ihre Tochter war Kostümbildnerin und hatte an Astrids Theater ihre Ausbildung gemacht. Inzwischen arbeitete sie in München und schaffte es nur selten nach Berlin, aber in diesem Fall genossen Mutter und Tochter die Erfindung von Skype und nutzten sie oft mehrmals wöchentlich. Inga war also eigentlich davon ausgegangen, dass Astrid gar nichts fehlte im Leben geschweige denn, dass sie an einen Vater dachte, den sie nicht einmal bewusst kennengelernt hatte. Aber siehe da, Menschen hatten Dinge im Kopf, die man ihnen von außen nicht ansah.

„Also, wie bist du auf die Idee gekommen, nach unserem Vater zu suchen?“ bohrte Inga in ihrer charakteristischen Art noch einmal nach. Astrid wiegelte ab.

„So weit war ich ja noch gar nicht. Ich habe nur gedacht, ob mir was fehlen würde, wenn ich ihn nie in meinem Leben bewusst kennenlerne. Und das war, als ich neulich in einer Ausstellung war, Portraits verschiedener Maler, quer durch die Jahrhunderte, und da hing so ein Bild, von wem, weiß ich nicht mehr, das hieß schlicht ‚Der Vater‘. Da durchzuckte es mich irgendwie.“

Inga wusste endlich, was sie wissen wollte und schwieg. Astrid zupfte an der Tischdecke herum.

„Wie er wohl jetzt aussieht?“

„Hm, das habe ich mich auch schon gefragt.“

Inga verzog das Gesicht.

„Wahrscheinlich wie ein gealterter Rockmusiker. Mick Jagger auf pfälzisch. Udo Lindenberg.“

Sie lachten beide.

„Also, wenn wir ihn noch nicht mal erkennen würden…“

Die Zweifel in Astrids Stimme waren nicht zu überhören.

„Ja, davon können wir vermutlich ausgehen“, sagte Inga nüchtern. „Aber wie ist es denn? Was war deine Erkenntnis? Würdest du dich ärgern, wenn du ihn nicht mehr wiedersehen würdest, oder nicht?“

Astrid antwortete nicht gleich und starrte eine Weile vor sich hin. Es juckte ihr in den Fingern, an der Kerze herumzuspielen und die Ränder herunterzudrücken, damit das Wachs abfloss. Das hatte sie als Kind immer gemacht und Bernhard hatte sie machen lassen, während ihre Mutter ihr regelmäßig eins auf die Finger gab. Sie zupfte stattdessen weiter an der Tischdecke herum, bis Inga sie fragte:

„Was machst du da eigentlich? Lass´ doch mal die Decke in Ruhe.“

Astrid nahm schuldbewusst ihre Hände auf den Schoß.

„Also---“ Sie sah Inga immer noch zweifelnd, aber etwas entschlossener als eben an.

„Ich glaube, wir sollten ihn suchen. Das ist schließlich etwas, das ist irgendwann vorbei. Und dann könnten wir die Uhr nicht wieder zurückdrehen.“

„Um nicht dieses etwas fiese Wort `endgültig´ zu benutzen.“

Inga stützte den Kopf in die Hände und zog eine Grimasse, dabei sah sie Astrid langsam nickend an.

„Das haben wir schließlich schon erlebt.“

„Ja“, seufzte Astrid bestätigend. „Das haben wir schon erlebt.“

Sie stand auf.

„Ich koch´ uns noch einen Tee, ja?“

„Gerne“, sagte Inga. „Wir müssen ja noch eine Menge besprechen. Da wollen wir nicht darben. Bring´ auch noch ein paar von diesen köstlichen Keksen mit. Wo hast du die gekauft?“

„Rezept von Oma. Selber gebacken.“

Astrid ging in die Küche und setzte den Wasserkessel aufs Gas. Dann kam sie zurück ins Wohnzimmer.

„Und hast du schon eine Idee, wo wir anfangen zu suchen? Oder wie?“

Das sagte sie noch im Stehen, dann nahm sie sich eine Decke von der Sofaecke und kuschelte sich in den Ohrensessel. Sie hatte das Gefühl, sie müsse sich jetzt wappnen. Inga nickte.

„Ich glaube, uns bleibt nichts Anderes übrig, als tatsächlich mal die Konfrontation zu suchen. Mit Mama.“

Sie sah vorsichtig zu ihrer Schwester hinüber, völlig unsicher darüber, wie Astrid auf diesen Vorschlag reagieren würde. Die saß nur da und sagte wieder eine ganze Weile gar nichts.

„Meinst du, wir sind genau wie Oma? Zu feige, einen Konflikt einzugehen?“

Inga sah ihre Schwester überrascht an. Sie zuckte mit den Schultern.

„Keine Ahnung. Vielleicht. Vielleicht unbewusst.“

Jetzt dachte sie eine Weile nach.

„Wir hatten so oft den Boden unter den Füßen verloren. Sicherheit ging vor Wahrheit.“

Astrid nickte mit gerunzelter Stirn. Es war ihr anzusehen, dass diese gedankliche Reise in ihre Kindheit ihr nicht leichtfiel.

„So nach dem Motto: Wenn ihr mich zu sehr nervt, gebe ich euch wieder weg? Hat Mama nicht manchmal gesagt, wenn du nicht brav bist, kommst du ins Kinderheim?“

„Hat sie. In solchen Momenten hätte ich sie aus dem Fenster werfen können.“

Inga schauderte.

„Hat der Tee jetzt lange genug gezogen?“

Astrid zuckte zusammen und nahm die Beutel aus der Kanne.

„Ist jetzt schon anstrengend, findest du nicht auch? Hoffentlich ist es das wert.“

„Du meinst, unser Vater muss das aufwiegen?“

„Könnte man so sagen.“

„Naheliegender Gedanke. Obwohl wir uns wahrscheinlich besser davon verabschieden sollten. Wahrscheinlich sollten wir uns eher fragen, was haben wir davon. Was ist es genau, das wir uns davon versprechen? Was wollen wir damit befriedigen?“

Astrid konnte sich nicht so schnell von ihren dunklen Gedanken lösen.

„Was macht dich so weise in dieser Sache? Klingt klug, was du sagst, aber ich bin überhaupt noch nicht so weit. Ich will lieber noch ein bisschen hadern.“

„Hadere, so lange du willst. Aber am Ende des Tages hilft es mehr, bei sich selbst zu bleiben, glaube ich. Ist allerdings auch nicht auf meinem Mist gewachsen“, gab Inga zu. „Meine Therapeutin hat mich das gefragt, als ich nach der Scheidung ein bisschen psychologische Unterstützung gesucht habe. Ich fing dann an mit `was waren meine Anteile´ und so. Da guckte sie mich bloß an und sagte: Fragen Sie sich lieber, was haben Sie davon gehabt. Man bleibt in einer Beziehung, weil man was davon hat. Man macht Dinge, weil man sich selbst etwas davon verspricht. Das fand ich viel hilfreicher als die Suche danach, woran ich wohl schuld gewesen bin.“

„Ich will aber den anderen die Schuld geben. Wir waren Kinder. Wir konnten doch nichts dafür, dass wir solche Versager-Eltern hatten. Einfach weggehen. Uns einfach weggeben. Vater hätte uns auch mitnehmen können. Wie konnte der es überhaupt übers Herz bringen, seine kleinen Töchter alleine zu lassen? Mit zwei und fünf???“

Man hörte deutlich die vielen Fragezeichen in Astrids Stimme. Und ihre Empörung.

„Ja, genau das würde ich ihn zum Beispiel gerne fragen. Beziehungsweise es ihm an den Kopf werfen. Wie konntest du nur…“

„Also Rache als Motiv?“

Astrid hatte plötzlich und unerwartet eine andere Ebene erreicht. Als analysiere sie ein Theaterstück.

„Damit ist man auf jeden Fall sehr bei sich selbst.“

Inga lachte sarkastisch.

„Das können wir uns doch zugestehen, oder? Nach so vielen Jahren. So lange wir ihn nicht erdolchen…“

Nachdem Astrid ihre eigene Vergangenheit auf die Bühne verfrachtet hatte, fühlte sie sich sicherer. Inga nickte.

„Klar. Alleine schon, um ihn hemmungslos zu beschimpfen. Den ganzen Groll endlich loszuwerden. Das allein wäre schon eine Menge wert.“

Für den Rest des Nachmittags hatten sie diesen Gesprächsgegenstand in Ruhe gelassen. Aber als sie ihre Mutter das nächste Mal gemeinsam besuchten, hatten sie sie wie auf ein geheimes Zeichen hin mit Fragen überfallen. Sie waren beide so energisch geworden, wie sie sich in dieser Konstellation gar nicht kannten. Normalerweise gaben sie immer sehr schnell nach, sobald ihre Mutter Widerworte gab, weil sie keine Lust auf einen Streit mit ihr hatten. Aber diesmal blieben sie hartnäckig.

„Wenn du uns jetzt nicht endlich verrätst, wo Papa damals hingegangen ist und wo wir ihn vielleicht finden können, fange ich eigenhändig damit an, deine Schränke zu durchwühlen. Und versuch bloß nicht, mich daran zu hindern.“

Astrid spielte Lady Macbeth und es wirkte. Ihre Mutter trat einen Schritt zurück und hob resignierend die Hände.

„Bitte“, sagte sie nur. „Bitte.“

Das klang klagend und vorwurfsvoll und mit einem Subtext, der in etwa lautete: Ich bin ja immer schon missachtet worden. Aber daran waren Astrid und Inga gewöhnt und sie hatten es nicht anders erwartet. Sie schlossen den Wohnzimmerschrank auf, in dem ihre Mutter ihre Briefe aufbewahrte und nahmen sie stapelweise heraus. Dann setzten sie sich damit auf den Balkon – es war ein schöner Junitag – und lasen die Absender. Ihre Mutter stand daneben und machte ihnen mit klagender Stimme Vorwürfe.

„Was wollt ihr überhaupt mit dem? Einem Vater, der seine kleinen Kinder im Stich lässt? Er war ein verantwortungsloser Schuft, ein Betrüger, er hat auch geklaut und Steuern hinterzogen…“

Inga und Astrid sahen sich an und zogen einvernehmlich die Augenbrauen hoch. Darauf waren sie vorbereitet gewesen, da mussten sie jetzt durch. Als sie nicht reagierten, wechselte ihre Mutter die Tonlage und schimpfte eine Oktave höher.

„Er hat euch im Stich gelassen. Und mich. Und den wollt ihr jetzt suchen, ihr habt sie ja nicht mehr alle, ihr werdet schon sehen, was ihr davon habt, nämlich gar nichts…“

Inga sah ihre keifende Mutter mit einer Verachtung an, die sie nicht mehr unterdrücken konnte. Dann sagte sie ganz ruhig:

„Mama, lass uns endlich in Ruhe lesen und mach den Kopf zu.“

Daraufhin sah ihre Mutter sie perplex an, drehte sich auf dem Absatz um und verschwand in der Küche.

„Wow“, sagte Astrid. „Das hat gesessen.“

„Hat Mattis immer zu mir gesagt, wenn ich mich seiner Meinung nach zu maßlos aufgeregt habe. Ich dachte, ich probier´s mal aus.“

Inga legte einen Brief an die Seite. Dann sah sie weiter den Stapel durch. Ihr Vater hatte offensichtlich nie wieder geschrieben oder ihre Mutter hatte seine Briefe vernichtet, obwohl sie ihre Korrespondenz ansonsten akribisch aufgehoben hatte, aber es gab mehrere Briefe von seiner Mutter. Und da bestand immerhin die Möglichkeit, dass die noch an demselben Ort wohnte. Das war der einzige karge Hinweis, den sie an diesem Nachmittag fanden. Nachdem sie die Briefe wieder in den Schrank gesperrt und die Adresse notiert hatten, tauchte auch ihre Mutter wieder aus der Küche auf und tat so, als wäre nichts gewesen. Sie aßen friedlich auf dem Balkon zusammen Abendbrot und genossen den Blick über das Bergische Land. Der Ministerialdirigent hatte sich ein Haus in einer schönen Gegend geleistet. Ihre Mutter erzählte ausführlich von einer Macke-Ausstellung in Köln und die beiden Schwestern verspürten keinerlei Bedürfnis, das Thema noch einmal auf die familiäre Vergangenheit zu lenken.

Am nächsten Tag fuhren sie zurück zu Inga und googelten sofort das Telefonbuch, um nachzusehen, ob es in Heidelberg noch eine Margarete Öls gäbe. Gab es.

„Unglaublich.“

Inga war baff. Damit hatte sie im Grunde ihre Herzens überhaupt nicht gerechnet.

„Und jetzt?“

„Hinfahren oder zuerst anrufen?“ fragte Astrid zurück.

„Hinfahren“, sagte Inga spontan. „Wann hast du ein paar Tage Zeit?“

„In den Theaterferien. Die fangen Mitte Juli an dies Jahr.“

„Unsere Sommerferien sind schon Ende Juni. Aber das macht nichts, ich fahre erst in der zweiten Hälfte in Urlaub. Das müssten wir vorher gerade so hinkriegen.“

Inga kramte ihren Kalender heraus und sah nach den Daten.

„Klappt.“

Sie sahen sich an.

„Wir machen das tatsächlich“, sagte Astrid.

„Wir machen das tatsächlich.“

Sie umarmten sich, als wollten sie sich gegenseitig Mut machen. Inga nickte bekräftigend.

„Ich koch´ uns was zu essen.“

„Ich such´ uns ein Hotelzimmer. Wenn wir schon nach Heidelberg fahren, können wir ja wenigstens schön wohnen. Kannst du dich noch an die Heidelberger Zeit erinnern?“

„Nee, nicht wirklich. Nur an hügelige Wiesen. Und dass es aus alten Gassen bestand. Und an unseren Garten mit dem Walnussbaum. Daran hing eine Schaukel…“

Ingas Gedanken drifteten in die Vergangenheit.

„Der Garten war schön. Riesig. Geheimnisvoll. Da habe ich mit unserem Vater Fangen gespielt. Und Verstecken. Das fand ich damals sehr gruselig. Aber angenehm. Ich wusste ja, dass Vater mich schon finden würde.“

„Also hast du auch angenehme Erinnerungen an ihn.“

Astrids Stimme klang ein bisschen neidisch. Inga sah sie verwundert an.

„Muss ich wohl. Fällt mir aber auch jetzt erst ein, wenn ich´s mir richtig überlege.“

„Hast du noch mehr?“

Jetzt blickte Astrid geradezu hungrig.

„Was? Erinnerungen? Du meinst, schöne Erinnerungen?“

Inga versuchte sich zu sammeln. Sie begab sich gedanklich zurück in ihre früheste Kindheit.

„Ich erinnere mich an deine Geburt. Mama war ein paar Tage nicht da und dann hatte ich plötzlich ein Geschwisterchen.“

„Und wie fandest du das?“

„Ich war begeistert, was dachtest du denn? Du warst so ein dickes, gemütliches Kind, unglaublich niedlich, du hast immer gelacht. Ich habe dich in meinem kleinen Puppenwagen herumgeschoben, mit Papas Hilfe. So einem Weidenpuppenwagen. Warst du eigentlich viel zu groß für, aber er hat dich festgehalten.“

Vor Astrids innerem Auge tat sich das Bild eines liebevollen Vaters auf, der seiner älteren Tochter geholfen hatte, mit der jüngeren zu spielen. Solche Bilder ihrer Kindheit hatte sie bisher noch gar nicht gekannt.

„Was erinnerst du noch?“

Inga überlegte.

„Ostern. Da muss ich so ungefähr drei gewesen sein. Das Wetter war schön, ich durfte Kniestrümpfe anziehen und im Garten Ostereier suchen. Und anschließend machten wir einen Osterspaziergang zu einem Gartenlokal und aßen Eis. Das war etwas ganz Besonderes.“

„Haben sich unsere Eltern dabei vertragen?“

„Ja, schon. Bei sowas haben sie sich nicht gestritten. Das war eher zu Hause, wenn es darum ging, wer welche Hausarbeiten zu erledigen hatte. Dabei konnte Mama ganz fürchterlich herum keifen. Sie wollte natürlich immer, dass Papa alles machte, wo sie doch schon arbeitete. Und er war absolut kein Hausmann, würde ich aus heutiger Sicht sagen. Damals konnte ich das natürlich noch nicht einordnen.“

„Und hattest du dann das Gefühl…“

Astrid verstummte.

„Dass sie sich irgendwann trennen könnten? Nee. Da habe ich als kleines Kind überhaupt nicht dran gedacht. Ich kannte es ja gar nicht anders, als dass Papa der Fröhliche war und Mama den Streit anfing. Um das zu reflektieren, war ich zu klein.“

„Und dann…“

Astrid brachte es in diesem Moment nicht über sich, die schlichte Tatsache auszusprechen. Inga war da weniger zart besaitet.

„Und dann war Papa eines Tages weg. Das habe ich zuerst überhaupt nicht kapiert. Ich dachte natürlich, er kommt wieder. Mit der Frage habe ich dann Mama Tag und Nacht gelöchert. Sie wurde immer fuchsiger. Dann hat sie mich irgendwann fürchterlich angebrüllt. Da habe ich geheult wie ein Schlosshund und nie mehr gefragt.“

Die beiden saßen an Ingas Esstisch. Es wurde langsam dämmerig in der Küche. Inga wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Astrid suchte auf dem Tisch nach Streichhölzern. Sie wollte kein elektrisches Licht machen. Schließlich entdeckte sie die kleine Schachtel hinter einem Windlicht und zündete alle vorhandenen Kerzen an. Inga seufzte.

„Weißt du, die Frage, die Mama uns immer um die Ohren haut, die habe ich mir auch eine Million Mal gestellt. Wie konnte er uns bloß verlassen? Er hat uns doch offenbar geliebt.“

Inga liefen jetzt die Tränen über beide Wangen. Sie versuchte gar nicht erst, sich zusammenzureißen und sie zu unterdrücken. Astrid sah sie bedrückt an. Dann kam sie um den Tisch herum, setzte sich neben sie und legte ihr zärtlich einen Arm um die Schulter. So saßen die beiden Schwestern da, bis es stockdunkel draußen war und die Kerzen im Zimmer als helle Punkte leuchteten.

Astrid hatte das Heidelberger Zimmer für drei Nächte reserviert. Eines warmen Julimorgens fuhren sie von Hamburg aus los und schnurrten die A7 hinunter. Gegen fünf hatten sie die berühmte Brücke über den Neckar vor sich und folgten den Anweisungen der einschmeichelnden Navi-Stimme zu ihrem Hotel. Es war sorgfältig gewählt. Schließlich musste es gegebenenfalls zumindest einen kleinen Ausgleich dafür liefern, dass die Mutter ihres Vaters nicht da war, sie nicht sehen wollte, total blöd war, die Adresse ihres Vaters nicht herausrückte, ihr Vater vielleicht gar nicht mehr am Leben war… Das waren nur einige der Möglichkeiten, die ihnen beiden durch den Kopf gingen, als sie ihre Koffer vom Parkplatz im Innenhof zur Rezeption rollten. Deshalb bedurften sie einer ästhetisch aufbauenden Umgebung, einer geschmackvollen Einrichtung, eines schönen Blicks aus dem Zimmerfenster. Es war perfekt. Und das war noch wichtiger, als vorher bedacht, denn der Besuch bei ihrer Großmutter – das war sie schließlich, auch wenn sie sie beide nie so wahrgenommen hatten – erwies sich als noch schwieriger als geahnt.

Sie fanden die Straße und die Hausnummer, die im Telefonbuch angegeben war, auf Anhieb. Es war ein etwas verwahrlostes Haus am Rand der Altstadt, keine schöne Umgebung, nichts, was touristisch von Interesse gewesen wäre. Selbst dieses über die Maßen idyllische Heidelberg hat abgeranzte Ecken, stellte Inga in Gedanken fest. Auf der Straße standen die Mülltonnen herum, die nach der letzten Leerung noch niemand weggeräumt hatte. Kein Baum, nichts, was einen Blick lohnte. Aber dafür waren sie ja auch nicht hier. Inga wappnete sich innerlich, Astrid ebenso. Sie sahen sich gegenseitig an und nickten. Inga drückte auf die Klingel. Nichts passierte. Jetzt nahm Astrid ihren Mut zusammen und klingelte gleich zweimal. Sie sahen einen Schatten hinter der vergilbten Gardine, die sich leicht bewegte. Astrid, von sich selbst überrascht, drückte energisch ein drittes Mal auf den Klingelknopf.

„Hausieren verboten“, bellte eine schrille Stimme. „Für Zeugen Jehovas mache ich die Tür nicht auf.“

„Sind wir nicht“, sagte Inga mit ihrer lauten, tiefen Stimme. Sie war das dauernde Klingeln leid und klopfte. Das klang irgendwie persönlicher.

„Was wollen Sie?“ keifte die Stimme weiter. „Ich kauf´ nix und ich geb´ nix.“

„Wir sind…“ Inga brachte das Wort nicht über die Lippen.

„Also was jetzt? Sagens was Sie wollen oder gehen Sie wieder.“

Das kam womöglich noch schriller. Astrid sah Inga an. Die nickte noch einmal. Dann sagte Astrid mit ihrer Bühnenstimme:

„Wir sind deine Enkelinnen.“

Pause hinter dem Vorhang. Eine lange Weile passierte gar nichts. Sie wollten gerade aufgeben und sich umdrehen, um zu gehen, da drehte sich ein Schlüssel im Schloss. Eine weißhaarige, runzelige Frau mit Kittelschürze stand im Türrahmen. Sie wirkte genauso abgeblättert.

„Ihr seid wer?“ keifte sie wieder.

„Wir sind die Kinder von Hermann“, sagte Inga. „Die ältesten.“

„Inga und Astrid“, ergänzte Astrid. „Dürfen wir einen Moment ´reinkommen?“

Die Frau schlurfte in den Flur und dann weiter in die Küche. Die sah aus, als käme sie direkt aus den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Oder vielleicht sogar aus den zwanziger. Eine naturweiß gestrichene Anrichte, abgeblättert, ein Schränkchen mit gestreiftem Vorhang. Daneben ein Kochherd auf vier Emaillefüßen, drei Platten. Auf der hinteren stand ein großer Topf, vermutlich mit Bohnensuppe, deren Geruch die halbdunkle Küche erfüllte. Ein Spülstein aus grau gewordenem Porzellan, daneben ein abgemackeltes Schränkchen mit Vorhang. Die beiden Möbel waren durch einen rosafarbenen, verblichenen Plastikablauf miteinander verbunden. Auf dem Schränkchen stand ein Plastikbehälter für gespültes Geschirr, der einmal grün gewesen war. Ein weißer Küchentisch mit abgestoßenen Beinen und zwei Stühle mit Metallbeinen und Plastikbezug vervollständigten die Einrichtung. Über dem Spülstein hing eine milchige Lampe, die funzeliges Licht gab. Das kleine Fenster mit Blümchengardine ließ keine Sonne herein. Der Blick ging in den Innenhof, in dem ein paar alte Fahrräder standen und vermutlich die Mülltonnen, wenn sie nicht gerade auf der Straße blieben. Einen dritten Stuhl gab es nicht, das war vielleicht der Grund, warum ihre Großmutter – die beiden Schwestern fanden es immer noch schwierig, das Wort zu denken – ihnen keinen Platz angeboten hatte. Sie hatte auch sonst nichts angeboten, keinen Kaffee, kein Wasser, gar nichts. Die alte Frau stand mit vor der Brust verschränkten Armen vor ihnen, und das war offensichtlich nicht nur ein Klischee für eine abwehrende Haltung.

„Ihr sagt also, dass ihr Inga und Astrid seid.“ Sie wiegte ihren Kopf hin und her. „Und wieso sollte ich das glauben?“

Inga verlor allmählich die Geduld. Sie zog ihr Portemonnaie aus der Handtasche und kramte ihren Ausweis hervor.

„Deshalb“, sagte sie.

„Da steht Inga Hein.“

„Das ist der Name meines Mannes. Hier steht geborene Öls.“

Zack, hatte die Alte Inga das Dokument aus der Hand gerissen. Sie studierte es gründlich, samt Vorder- und Rückseite. Na, jetzt wird sie sich ja wohl endlich überzeugen lassen, dachte Inga.

„Und deiner?“ bellte die Frau. Astrid nestelte erschrocken ihren hervor.

„Astrid Wrangel.“ Pause. „Geborene Öls.“

Pause. Die Alte wackelte immer noch mit ihrem Kopf hin und her. Inga ging kurz in sich. Wenn ihr Vater um die siebzig war, dann war sie vermutlich mindestens neunzig. Daran hatten sie überhaupt nicht gedacht. So gesehen war es ein riesiges Glück, dass sie sie überhaupt noch lebend angetroffen hatten. Das dachte ihre Großmutter aber offenbar nicht.

„Was wollt ihr hier?“ blaffte sie.

„Wir, wir…“ Astrid kam ins Stottern.

„Wir wollen unseren Vater besuchen“, sagte Inga schließlich. „Wir haben seine Adresse nicht und wollten dich bitten, sie uns zu geben.“

Irgendetwas an dem, was Inga in einem erklärenden Tonfall gesagt hatte, brachte die alte Frau auf die Palme.

„Jetzt kommt ihr plötzlich. All´ die Jahre habt ihr euch nicht für euren Vater interessiert. Und jetzt auf einmal…. Jetzt, wo es ihm gut geht… Ihr wollt doch bloß an sein Erbe! Das habt ihr aber nicht verdient! Ihr habt euch nie um ihn gekümmert! Raus mit euch!!!“

Sie wollte die beiden aus der Küche scheuchen, aber Inga war zu hartnäckig, um sich so schnell verscheuchen zu lassen. Sie zog sich einen Stuhl unter dem Tisch hervor und setzte sich, in aller Ruhe. Astrid schaute ein bisschen überrascht zu ihr herüber, dann tat sie dasselbe.

„Wir wollen überhaupt nicht an sein Erbe. Wir wollen ihn sehen, mehr nicht. Und dazu brauchen wir seine Adresse, denn die haben wir nicht.“

Inga blieb genauso ruhig wie gerade. Das schien ihrer Oma ein wenig den Wind aus den Segeln zu nehmen. Inga legte noch ein wenig nach.

„Wir sind fünfzig. Vater wird ungefähr siebzig sein. Wir möchten ihn gerne einmal wiedersehen.“

„Bevor er den Löffel abgibt, meinst du“, keifte die Alte. „Sag´ ich doch. Ich weiß genau, warum ihr gekommen seid, ich lass´ mich doch nicht für dumm verkaufen!“

Astrid wandte ihren bewährten Trick an und versetzte sich in eine Bühnenrolle.

„Großmutter“, begann sie mit sanfter, aber nicht zu einschmeichelnder Stimme. „Wir werden beide älter. Und Vater auch. Glaubst du nicht, er würde sich freuen, seine beiden ältesten Töchter zu sehen?“ Vorausgesetzt, dass er noch weitere Kinder hat, dachte sie.

Ihre Großmutter wankte ein wenig. Inga sprang auf und schob den Stuhl zu ihrer Oma hinüber, die sich tatsächlich darauf niedersinken ließ.

„Er lebt in Indien. So weit weg. Ich sehe ihn so gut wie nie. Immer musste er in der Welt herumziehen, anstatt sich um seine alte Mutter zu kümmern.“

Mit bitterer Miene zog sie die Schublade in der Anrichte auf, an die sie bequem herankam, ohne auch nur aufstehen zu müssen, so klein war die Küche. Sie nahm einen abgegriffenen Zettel heraus, der oben auf lag und legte ihn auf den Tisch. Inga nahm schnell ihr Notizheft aus der Tasche und schrieb die umständliche Adresse ab. Eine Mailadresse war auch dabei. Und sogar eine Telefonnummer.

„Danke. Du hast uns sehr geholfen.“ – „Großmutter.“

Zu diesem Satz hätte jetzt eigentlich eine liebevolle Geste gehört, fand Astrid, sowas wie ihrer Großmutter die Hand zu streicheln oder sie in den Arm zu nehmen, wie sie so da saß wie ein Häufchen Elend. Aber Astrid hatte sich verschätzt.

„Ihr wollt nur an sein Erbe“, schrie die alte Frau sie plötzlich wieder an. „Er ist ein guter Junge. Kaum geht es ihm gut, schon kommt ihr! Erbschleicher seid ihr! Gib´ mir seine Adresse wieder!“

Die vorher so gebrechlich wirkende Alte entwickelte plötzlich und unerwartet eine erstaunliche Kraft und versuchte, Inga die Handtasche aus der Hand zu reißen. Die war aber vierzig Jahre jünger und schneller. Sie sprang auf und entwandt sich ihrem Klammergriff.

„Danke, Oma“, rief Inga und rannte aus der Küche. Astrid zwängte sich an ihrer verblüfften Oma vorbei und stürmte hinterher, blitzschnell durch den schmalen Hausflur und auf die Straße. Und wo sie schon mal so gut Fahrt aufgenommen hatten, gleich um die nächste Ecke. Da blieben sie stehen und schnauften. Und warfen sicherheitshalber einen Blick zurück.

„Meinst du, sie ruft die Polizei?“ fragte Astrid.

„Keine Ahnung. Aber wessen will sie uns beschuldigen? Enkeltöchter erschleichen Adresse ihres Vaters? Ist das strafbar?“

Da mussten sie plötzlich beide laut lachen. Fünf Minuten später standen sie immer noch da und prusteten vor sich hin. Da kam eine weitere alte Frau an ihnen vorbei und bog in die Gasse ein, aus der sie gerade gekommen waren.

„Das ist Ruhestörung“, schimpfte die. „Es ist Mittag, das ist Ruhestörung!“

Inga und Astrid sahen sich an und verkniffen sich mühsam das Lachen. Dann gingen sie wie auf Kommando in die Richtung ihres Hotels und stoppten erst, als sie da waren.

Inga sah vom Sandboden hoch und bemerkte plötzlich, dass Florence neben ihr ging.

„Hi“, sagte sie und lächelte ein bisschen wie ertappt. „Wie lange bist du denn schon an meiner Seite?“

„Über diese Formulierung verkneife ich mir mal einen Scherz“, grinste Florence. „Ich könnte jetzt sagen: seit Stunden, aber seit mindestens zwanzig Minuten schon. Da habe ich das letzte Mal auf die Uhr geschaut. Du entwickelst ja Fähigkeiten, die sonst nur ich habe.“

„Scheint mir auch so“, murmelte Inga. Sie war höchst irritiert. Es war ihr noch nie passiert, dass sie derart aus ihrer Umgebung gefallen war.

„Was nimmt dich denn so gefangen? Wenn man fragen darf.“

Florence sah vorsichtig zu Inga hinüber und war sich nicht sicher, ob sie nicht schon zu weit gegangen war.

„Ach“, machte Inga auch zuerst, zusammen mit einer abwehrenden Geste. Dann wurde ihr klar, dass sie Florence nicht ganz so sparsam abfertigen konnte. Und auch nicht wollte.

„Wir suchen meinen Vater“, erklärte sie. „Astrid und ich.“

„Deinen Vater? Ist der nicht längst da oben?“

Florence deutete mit ihrem Kopf zum grauen Himmel.

„Nicht der Vater. Mein erster Vater, also, mein leiblicher Vater.“

Jetzt war es an Florence, verwirrt zu sein. Sie brauchte Inga nur anzusehen, schon legte diese nach.

„Also, mein richtiger Vater hat uns verlassen, als ich fünf war. Und Astrid zwei. Astrid hat natürlich keine bewussten Erinnerungen an ihn. Ich schon.“

Inga schwieg. Florence schwieg zur Gesellschaft mit.

„Danach kam dann Bernhard, mein Stiefvater. Der eigentlich mein richtiger Vater ist, wenn ich so drüber nachdenke. Also, richtig und nicht richtig ist überhaupt nicht das richtige Wort. - Dreimal richtig in einem Satz, Mann, Mann, Mann. Er war wirklich ein Vater, hat sich um uns gekümmert, mit uns gespielt. War für uns da. Wobei, das war mein leiblicher Vater auch. Solange er da war.“

Inga holte Atem und Florence wagte eine weitere Frage.

„Und du hast ihn seitdem nicht mehr gesehen?“

„Nee. Seit fünfundvierzig Jahren. Ich wusste gar nicht, ob er noch lebt. War mir auch egal, ganz lange. Er war gegangen, also wollte er offensichtlich nichts mehr mit uns zu tun haben. Das verletzt dich unglaublich als Kind. Und meine Mutter hat mit ihrer Meinung über ihn sowieso nicht hinterm Berg gehalten.“

Sie schwieg wieder. Diese Geschichte muss man Inga aber wirklich aus der Nase ziehen, dachte Florence.

„Und was hat sich jetzt geändert? Hat er sich gemeldet?“

„Hat er sich gemeldet? Gute Frage. Hätte er ja auch mal machen können, wird schließlich auch älter. Nö, ich stellte eines Tages fest, dass ich ihn doch noch mal sehen möchte. Und Astrid auch, unabhängig von mir.“

Wieder ein Bröckchen Information.

„Und dann?“

„Dann haben wir überlegt, wie wir bloß an seine Adresse kommen könnten. Wir hatten nämlich gar nichts.“

„Und?“

„Wir haben meine Mutter ein bisschen unter Druck gesetzt. Ein gutes Zeichen, sonst lassen wir uns ja immer gerne von ihr herum scheuchen.“

„Und dann?“

Ich könnte meine Fragen auch mal ein bisschen variieren, fand Florence im Stillen. Für Deutschaufsatz sind wir heute beide nicht geeignet.

„Meine Mutter hat schließlich ein paar Briefe von ihrer Schwiegermutter ´rausgerückt. Und die haben wir dann besucht.“

„Die lebt noch? Die muss doch ungefähr hundert sein!“

„Zweihundert. So sieht sie jedenfalls aus. Zweihundert geballte Jahre Garstigkeit. Falls man sowas in Jahren messen kann.“

„Das scheint ein schöner Besuch gewesen zu sein.“

„Das sach´ ich dir! Sowas Unfreundliches habe ich überhaupt noch nicht erlebt. Wenn ich mir überlege, dass ich von deeer abstamme – gruselig. Gerad´, dass sie nichts nach uns geworfen hat.“

Und jetzt kam Inga doch ins Reden und erzählte Florence in aller Ausführlichkeit von der aufbauenden Begegnung mit ihrer Großmutter.

Nachdem sie und Astrid ins Hotel zurückgekehrt waren, gingen sie wortlos und einvernehmlich an die Bar und bestellten eine Flasche Sekt.

„Champagner muss es nicht sein, oder?“ fragte Inga trocken.

„Nein, Sekt ist völlig angemessen. Die Hausmarke ist wunderbar.“

Letzteres ging an den Barkeeper. Astrid nickte und nippte. Dann nickte sie nochmal und erhob ihr Glas.

„Auf die frohe Botschaft, diese Schreckschraube von Großmutter erst im hohen Alter zum ersten und zum letzten Mal gesehen zu haben!“

„Wow, das ist ein Trinkspruch! Auf unser ganz besonderes Spezielles!“

Astrid gluckste, als hätte sie die Flasche schon ausgetrunken. Inga stimmte in ihr Gekicher ein, aus dem ein ausgewachsener Lachanfall wurde. Sie lachten und lachten und konnten überhaupt nicht wieder aufhören. Noch mitten in der Nacht brach immer wieder eine von ihnen in schallendes Gelächter aus, weckte damit die andere, die kurz nach Orientierung suchte und sich dann anstecken ließ. Irgendwann klopfte ein anderer Gast, vermutlich genervt von diesen Lachsalven, gegen die Wand und verlangte gänzlich humorlos „Ruhe, verdammt noch mal! Es ist vier Uhr morgens!“

„Das hätte unsere Oma sein können“, sagte Astrid trocken und prustete wieder los. Im Nebenzimmer stand jemand auf.

„Entschuldigung!“ riefen beide. „Tut uns wirklich leid, wir sind jetzt leise!“

„Ein gravierender Nachteil dieses Hotels“, sagte Inga. „Es ist nicht Oma-sicher.“

Sie sahen sich an und verkrochen sich beide wie auf Kommando unter ihren Bettdecken.

Nachmittags an der Bar hatten sie sich allerdings doch noch ernsthafteren Dingen zugewendet. Nachdem sie genüsslich die Hausmarke geleert hatten, lief Inga aufs Zimmer und holte ihr Laptop. Dann gaben sie den Ort ein, der in der Adresse angegeben war, zumindest das, was sie dafür hielten. Es war ein Gebirgszug in Kerala, einem der südlichen Bundesstaaten Indiens.

„Gibt´s da einen Flughafen in der Nähe?“ erkundigte sich Astrid. Die geografischen Recherchen überließ sie lieber der Erdkundelehrerin.

„Hm“, Inga sprach über die Landkarte gebeugt und versuchte, den Namen der Stadt zu entziffern.

„Man kann das auch vergrößern“, trug Astrid feixend bei.

Inga sah sich nach einer Serviette um, die sie nach ihrer kleinen Schwester werfen konnte, fand aber nichts Geeignetes. Also wedelte sie nur tadelnd mit ihrer Linken.

„Calicut“, sagte sie schließlich. „Klingt gut, finde ich. War ich noch nicht.“

„Wir könnten das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden und ein bisschen Wellness machen. Dafür ist doch Kerala berühmt. Ayurveda. Falls unser Vater genauso ist wie unsere Oma.“

„Wellness“, Inga wiederholte das Wort in einem verächtlichen Tonfall. „Ayurveda ist eine ernsthafte medizinische Philosophie. Philosophische Medizin. Doch kein Wellness.“

„Können wir das nicht mit Wellness verbinden? Ich will die Wellness-Variante. Wenn ich schon so weit reise….“

Astrid war keine solche Weltreisende wie ihre Schwester. Ihr reichte die Ostsee als Ferienlandschaft vollkommen. Interkontinentale Flüge mochte sie gar nicht.

„Ich frag´ mal die Kollegen, irgendeiner war bestimmt schon mal da und kennt was Schönes.“

Geografisch hatte Inga schließlich beste Beziehungen. Manchmal war das fast gleichzusetzen mit touristisch, auch wenn sie das vehement bestritten hätte.


Stoffwechsel

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