Читать книгу Stoffwechsel - Monique Dée - Страница 5
Der Ausflug
ОглавлениеEs klingelte an der Tür. Bernadette rief mit einem Hauch von Panik in der Stimme: „Ich kann gerad´ nicht!“
Ansonsten tat sich gar nichts. Carolin war vor einer Viertelstunde wach geworden und auf einen kalten Kaffee an ihrem Bett gestoßen, hatte dann aber beschlossen, noch ein Weilchen zu dösen. Jetzt schob sie ihren Kopf unter dem Kissen hervor und begann zu begreifen, dass sie zurzeit die einzige im Haus war, die nicht splitternackt in der Badewanne lag, so hatte sich Bernadette zumindest gerade angehört. Es klingelte zum zweiten Mal, gleich zweimal nacheinander. Sie öffnete das Fenster und brüllte „Just a minute!“ in den dänischen Morgenhimmel, in der vagen Hoffnung, gehört zu werden. Dann zwängte sie sich in ihre Jeans, zog schnell einen Pullover über und stürmte nach unten.
Als sie die Tür öffnete, wurde ihr klar, dass ihre Haare noch nicht einmal den Schatten einer Bürste gesehen hatten. Und da stand er. Der Däne par excellence. Ein Mann in den späten Vierzigern, schätzte sie, umwerfend gutaussehend, kurze graue Haare, markantes Kinn, gerade Augenbrauen über grauen Augen und ein irgendwie distinguiertes Äußeres – er war die Inkarnation all ihrer Back-Phantasien. Schnappatmung. Carolin blieb der Mund offenstehen und sie glotze ihn stumm an.
„Guten Morgen. Haben Sie sich schon ein bisschen eingelebt? Ich komme wegen der Sauna.“
Der Hausbesitzer also. Carolin ging auf, wie bescheuert sie aussehen musste und sie klappte ihren Mund wieder zu.
„Ach, Sie sind das“, flötete sie dann und spähte nach seinen Händen. Solche Männer waren nie solo, aber wo verdammt noch mal hatte er seinen blöden Ehering? Oder war er vielleicht verwitwet? Könnte ihr Schicksal nicht verwitwet sein und hier am dänischen Ostseestrand auf sie warten? Das fand Carolin plötzlich absolut passend.
„Peter Sonderborg.“
Er streckte ihr die Hand hin. Auch noch ein guter Name.
„Carolin Butternuss. Wie der Kürbis, nur nicht so rund.“
Kein guter Name, aber immerhin ein witziger. Und mit der Vorstellung zeigte sie gleich, dass sie Humor hatte und sich selbst auf die Schippe nehmen konnte. Fand sie normalerweise sehr gelungen, aber an diesem Morgen war sich nicht wirklich Herrin ihrer selbst. Sie nahm seine Hand und schüttelte sie und hörte gar nicht wieder damit auf. Er lachte und nahm seine Hand zurück auf seine Seite.
„Ja, dann zeige ich Ihnen am besten mal eben, wie die Sauna zu bedienen ist.“
In dem Moment bogen Florence und Inga auf den Gartenweg ein. Sie unterhielten sich lebhaft und Carolin konnte wieder einmal Florences Giraffengang bewundern. Sie merkte deutlich, dass ihr Gegenüber das auch tat und wünschte ihn zum Mond. Da sah Florence hoch und stieß einen Überraschungsschrei aus.
„Ja sowas! Peter, was machst du denn hier?“
Sie kam mit schnellen Schritten auf den Musterdänen zu und nahm ihn herzhaft in den Arm.
„Ich dachte immer, du wohnst in Kopenhagen. Aber so kann man sich täuschen. Wie geht´s dir?“
„Ja, gut, danke. In Kopenhagen habe ich ja nur ein Studio, das kommt auf die Dauer billiger, als dauernd ins Hotel zu gehen. Aber sonst sind wir immer hier in Jylland. Am alten Familienstammsitz, sozusagen.“
„Peter und ich kennen uns schon seit Jahren“, erklärte Florence der vollkommen verdutzten Carolin und der überraschten Inga. „Wir schreiben ab und zu Artikel für dasselbe Magazin, und da läuft man sich manchmal sogar über den Weg. Wir haben auch schon mal eine Reportage zusammen gemacht.“
„Mmh, über die chilenische Urbevölkerung in Patagonien. Da waren wir lange unterwegs. Das war ein tolles Erlebnis.“
„Du den Text, ich die Fotos. Warum haben wir sowas eigentlich nie wieder gemacht?“
„Ich weiß auch nicht. Hast du vielleicht eine gute Idee?“
So plaudernd gingen die beiden alten Kumpel zusammen ins Haus. Carolin blieb perplex davor stehen.
„Was sagt man dazu? Die schöne Frau kennt natürlich den schönen Mann …“
Sie starrte den beiden kopfschüttelnd hinterher, obwohl sie längst nicht mehr zu sehen waren.
„Was war denn mit dir gerade los?“ erkundigte sich Inga. „Du warst ja zur Salzsäule erstarrt. Mit Schüttellähmung allerdings.“ Inga grinste.
Carolin atmete tief durch.
„Ich habe gerade meine perfekte Backmischung getroffen.“
Sie sah Inga resigniert an, die schaute mit hochgezogenen Augenbrauen zurück.
„Aber wie das so ist mit den perfekten – die sind in der Regel immer schon weg.“
„Die perfekten möchte man überhaupt nicht“, sagte Inga lapidar. „Aber da würde ich bei dem auch von ausgehen. Der hat bestimmt so eine unglaublich hübsche, zierliche Frau und die beiden haben fünf reizende Blagen.“
Und genauso war es. Peter lud sie zum Essen ein, als er wieder ging, und als sie es zwei Tage später überprüfen konnten, traf Ingas Vorhersage voll ins Schwarze.
Nachdem sie nun wussten, wie die Sauna funktionierte, weihten sie sie am Nachmittag sofort ein. Das Wetter hatte sich verschlechtert, es regnete Bindfäden, also bot es sich an, drinnen im Warmen zu bleiben. Und eine Sauna im eigenen Haus war ein Luxus, den man wahrlich ausnutzen musste.
„Welch´ ein Genuss“, seufzte Bernadette. „Heute Morgen ein Vollbad und jetzt Sauna, das krieg´ ich ja sonst in einem halben Jahr nicht.“
„Warum eigentlich nicht?“ erkundigte sich Carolin.
Sie lagen auf den Betten in Bernadettes und Florences Schlafzimmer und hatten die zwei Liegen aus dem Vorraum der Sauna dazu geholt. Jede von ihnen hatte ein großes Glas Johannisbeerschorle neben sich auf einem Beistelltischchen, dafür hatte einer der Besitzer offenbar ein Faible, denn es gab sie in diesem Haus in Hülle und Fülle. Den Saft hatte Bernadette mitgebracht. Jetzt fing sie an zu erklären.
„Meine Mutter war im letzten Jahr ziemlich krank. Sie hatte sich im Winter eine Lungenentzündung eingefangen und kam und kam wochenlang nicht wieder auf die Beine. Ich musste nach und nach quasi ihren Haushalt übernehmen. Für sie kochen, einkaufen, putzen… dafür ging einfach alle meine freie Zeit drauf…“
Bernadette seufzte noch einmal, im Rückblick auf die Anstrengungen der letzten Monate.
„Und jetzt ist sie bei euch?“
„Nee, das wollte sie nicht. Sie ist ins Altenheim gezogen. Zu uns zu kommen war für sie völlig indiskutabel. Ich hätte es besser gefunden und außerdem wir haben doch das große Haus. Das könnte doch gut so ein Mehrgenerationenhaus sein. Sie hätte auch genug Platz gehabt und wir hätten ihr ein eigenes Bad eingebaut und alles. Aber sie hat sich strikt geweigert.“
„Das war bei meinem Opa genauso“, erzählte Florence. „Er hat eine Zeitlang bei meiner Tante gewohnt, aber dann hat er sich ein Zimmer im Altenheim gesucht. Für ihn war das wohl eine Möglichkeit, seine Unabhängigkeit zu bewahren.“
„Erstaunlich, oder?“ meinte Carolin. „Ich meine, da denkt man immer, es sei der Idealfall, wenn die alten Leute in ihren Familien bleiben können, und dann wollen sie es selbst nicht…“
„Soweit ich weiß, werden die allermeisten alten Leute von Angehörigen zu Hause gepflegt“, sagte Bernadette. „Aber im Fall meiner Mutter war es genauso. Das ist mir viel zu unruhig bei euch, hat sie gesagt. Deine vielen Kinder von morgens bis abends, das ist mir einfach zu laut. Ich habe dann gesagt, so klein seien sie ja auch nicht mehr und außerdem fast den ganzen Tag in der Schule. Und anschließend unterwegs, bei Freunden, mit ihren Hobbys beschäftigt – ich meine, ich sehe meine Kinder ja selbst manchmal kaum noch. Soweit sie überhaupt noch zu Hause sind.“
„Meine schwedische Großtante war auch im Altenheim, da war sie schon uralt, sie ist ja über hundert geworden. Sie hat immer gesagt, ich werde hier so gut bedient.“ Inga lachte in der Erinnerung. „Sie war so ein Typ, zu der die Altenpflegerinnen gekommen sind, wenn sie mit den Nerven am Ende waren, und sie hat sie dann wieder aufgebaut.“
„Vielleicht sind die schwedischen Altenheime besser, als die bei uns“, murmelte Carolin. „Ich meine, für mich wäre es der Horror, nur noch so ein kleines Zimmerchen zu haben und dann die ganzen Verwirrten um mich herum… grauenvoll!“
„Jeder Jeck ist anders“, sagte Bernadette. „Ich mache mir auch die ganze Zeit Sorgen, ob es ihr wirklich gut geht da, aber sie ist erwachsen. Ich meine, es war nicht ganz leicht für mich, ihre Entscheidung zu akzeptieren, aber das hat ja auch was mit Respekt zu tun. Jaime ist es noch viel schwerer gefallen als mir, der hat ihr richtig zugesetzt. Und dann hat sie irgendwann gesagt, jetzt reicht´s mir, tut nicht so, als wäre ich ein unmündiges altes Weib!“
„Ja, vielleicht neigen wir dazu, wenn es um unsere alten Eltern geht. Wir wollen die Dinge geregelt haben, wir sehen voraus, dass dieses oder jenes bald nicht mehr klappen wird, Auto fahren oder einkaufen, putzen, den Garten machen… Wir wissen dann genau, was man machen müsste, rechtzeitig, was das Beste wäre und welche Entscheidungen man endlich treffen müsste. Dann wäre unser eigenes Leben auch wieder schön geregelt…“
Florence seufzte ebenfalls.
„Es ist ja auch nicht einfach, dieser Gedanke, dass meine Eltern immer älter werden und so weit weg sind. Ich meine, im Alltag kann ich überhaupt nichts für sie tun. Das ist bei dir einfacher, Bernadette, aber ich kann nicht von Berlin nach Bordeaux fahren für einen Nachmittag.“
„Ich dachte immer, deine Eltern leben in Freiburg“, fragte Inga.
„Das taten sie auch, aber vor fünf Jahren sind sie zu meiner Schwester in die Nähe von Bordeaux gezogen. Meine Mutter kommt ja aus Südwestfrankreich und mein Schwager auch. Sie leben einfach lieber in Südfrankreich. Mein Vater war ja immer schon völlig Frankreich-verrückt.“
„Und dann hat er passenderweise deine Mutter geheiratet“, seufzte Carolin. „Warum gelingt es eigentlich jedem, das passende Gegenstück für sich zu finden, bloß mir nicht?“
„Na, wir können uns doch zumindest zusammen tun“, sagte Inga sarkastisch. „Das passende Gegenstück ist mir ja auch noch nicht über den Weg gelaufen, obwohl ich gegen jemanden aus Südfrankreich nichts einzuwenden hätte.“
„Vielleicht sollte ich meine Suche international ausdehnen“, überlegte Carolin. „Es ist doch eigentlich Blödsinn, sich nur auf das eigene Umfeld zu beschränken… Obwohl, ich lebe ja gerne im Rheinland…“
„Und dein Vater wäre todtraurig, wenn du wegziehen würdest.“
„Das wäre er. Und ich auch. Was sollte ich denn machen ohne meinen alten Papa? Wer würde mich denn wieder aufbauen, wenn mir schon wieder ein Typ abhaut?“
„Wir bestimmt nicht“, sagte Inga ironisch und fügte neidvoll hinzu: „Ihr versteht euch aber auch selten gut.“
„Ja, wenn ich mich so umgucke, scheint das der Fall zu sein.“ Carolin nickte bestätigend. „Wir können wirklich über alles reden. Einfach alles.“
Sie grinste in der Erinnerung.
„Außerdem ist es wirklich praktisch, wenn man so an die Notwendigkeiten der Versorgung im Alter denkt. Bei dir ist es doch auch so, Bernadette.“
„Ja, da bin ich auch heilfroh“, sagte Bernadette weniger einfühlsam als ichbezogen, zumindest, was Florence betraf. „Wie geht´s denn deinen Eltern, Florence? Wie alt sind sie inzwischen?“
„Dreiundachtzig. Es geht mehr schlecht als recht, aber verglichen mit anderen in demselben Alter immer noch ganz gut. Nur was das Autofahren angeht, mache ich immer drei Kreuze und bete um ein paar Schutzengel. Meine Mutter würde keinen Weg alleine finden, aber mit meinem Vater neben sich geht es so gerade. Er sagt alles an, jeden Radfahrer, jede Kreuzung… früher wäre sie in die Luft gegangen, aber inzwischen sieht sie wohl ein, dass sie ohne ihn überhaupt nicht klarkäme.“
„Wie wollen wir das eigentlich mal haben, wenn wir alt sind?“ fragte Carolin. „Ich meine, ihr beide habt ja eure Partner, aber Inga und ich? Ich bin dafür, wir machen dann eine Alten-WG auf.“
„Aber bitte in Hamburg“, sagte Inga trocken.
„In Düsseldorf ist es aber wärmer“, protestierte Carolin. „Und außerdem, wenn Bernadette und Jaime auch mit einziehen, sind wir schon vier.“
„Apropos wärmer“, sagte Inga. „Vielleicht sollten wir uns lieber gleich was im sonnigen Süden suchen. In Thailand oder Indien. Das kommt doch gerade in Mode, es ist billiger und das Wetter ist schön. Oder vielleicht lieber nicht ganz so weit weg, sagen wir mal, auf den Kanaren.“
„Immer auf einer Insel wohnen? Da kriege ich einen Koller“, lachte Florence. „Ich fahre demnächst nach Portugal, ich kann mich ja da mal umsehen.“
„Was machst du in Portugal?“ fragten die drei anderen wie aus einem Mund und lachten.
„Ich mache eine Dokumentation über Auswanderer in den Achtzigern. Da gab es doch diese Aussteigerwelle. Die Leute waren genervt von der Entfremdung und der Gier nach immer mehr materiellem Zeugs, haben ihre gut bezahlten Jobs hingeschmissen und sich im Süden eine neue Existenz aufgebaut. Die meisten fanden es ganz toll, Biolandwirtschaft zu betreiben oder sowas. Und viele sind auch gegangen, ohne vorher gut bezahlte Jobs zu haben und schlagen sich seitdem mehr schlecht als recht durch. Mich interessieren aber eher die anderen, die Pläne hatten. Was ist daraus geworden? Konnten sie ihre Träume verwirklichen? Was haben sie erreicht? Oder sind sie gescheitert? Wie sehen sie das Ganze nach zwanzig oder dreißig Jahren? Lauter solche Fragen.“
„Und wie gehst du da dran?“ fragte Carolin. „Ich meine, wie findest du die Leute? Du kannst doch nicht einfach hinfahren und drauflos suchen.“
„Nee, natürlich nicht. Ich habe eine Freundin in Nordportugal, die auch ausgewandert ist vor dreißig Jahren. Sie vermittelt mir ein paar Kontakte. Und wenn man erst mal einige hat, kennen die wiederum andere. Manchmal habe ich den Eindruck, die Auswanderer kennen sich alle untereinander.“
Florence lachte.
„Und wieso gerade Portugal? Es sind doch auch ganz viele in die Toskana gezogen oder nach Griechenland. Oder eben auf die Kanaren, da gibt es doch auch eine große deutsche Community. Und auf dem spanischen Festland. In den Orten, wo es mittlerweile auch Würstchen und Sauerkraut gibt.“
Inga sah ihre Freundin etwas spöttisch und gleichzeitig fragend an.
„Ja, das ist ein weites Feld“, nickte Florence. „Irgendwo muss man ja anfangen. Da lag es bei mir nahe mit Portugal wegen meiner Freundin Elke. Aber wenn ihr Leute kennt, die woanders hingegangen sind, dann immer her damit. Ich wollte mich auf jeden Fall aufs europäische Ausland konzentrieren. Es gab zwar damals auch ein paar, die den Kontinent gewechselt haben, aber das war vor den Zeiten des Internets doch eher die Ausnahme als die Regel.“
„Von wegen Ausnahme“, sagte Inga. „Mein Vater hat den Kontinent gewechselt. Und das gleich mehrmals.“
Florence nickte, ihr hatte Inga die Geschichte ja schon erzählt. Carolin und Bernadette schauten sie fragend an und so erzählte Inga sie ihnen noch einmal. Wie sie und ihre Schwester fast gleichzeitig auf den Gedanken kamen, ihn zu suchen, dann die Konfrontation mit ihrer Mutter und die Begegnung mit ihrer Großmutter. Inga erzählte trocken, lakonisch und humorvoll, und besonders über die Fahrt nach Heidelberg lachten alle schallend. Anschließend zog Carolin aber schaudernd die Schultern zusammen.
„Meine Güte. Du erzählst das jetzt alles so leichthin. Aber ist dir nicht auch völlig mulmig im Gedanken daran, nach so langer Zeit deinem leiblichen Vater wieder zu begegnen? Was wäre denn, wenn er wirklich so ein Ekeltyp ist wie seine Mutter?“
Inga antwortete nicht sofort. Carolin ging einen Moment in sich und dachte nach.
„Sorry, das war vielleicht zu direkt gefragt. Sag´ einfach gar nichts. Natürlich willst du deinen Vater nochmal sehen, bevor…“
Carolin brach ab, unzufrieden mit sich selbst.
„Tut mir leid, ich hab´s heute irgendwie nicht mit Takt und Einfühlsamkeit. Ich streiche meine Fragen. Wirklich sorry.“
„Ist schon in Ordnung“, sagte Inga. „Das sind ja Fragen, die wir uns auch stellen, Astrid und ich. Und bei meinem Vater wäre es nicht ganz so einfach wie bei meiner gruseligen Oma, sich eine Flasche Sekt zu bestellen und darüber zu lachen, glaube ich. Keine Ahnung. Das ist einfach ein Risiko, das wir auf uns nehmen müssen. Ganz umsonst kriegt man die Erkenntnis eben auch nicht. Wir werden es schon überleben. Wenn er blöd ist, dann wissen wir es danach wenigstens. Und brauchen uns keinen Vorwurf zu machen, wie hätten aus lauter Feigheit etwas versäumt.“
„Kinder werden doch oft das Gegenstück ihrer Eltern. Von daher ist die Wahrscheinlichkeit gar nicht so gering, dass er nett ist. Du sagst doch auch, dass du ihn so in Erinnerung hast.“
Bernadette sah das Ganze optimistisch.
„‘Es ist nicht unmöglich‘, sagte Mattis immer als Kind. Das mache ich mir zum Motto.“
Inga sah in die Runde der Gesichter ihrer Freundinnen, Carolin zweifelnd, Bernadette lächelnd und Florence neugierig.
„Wie wäre es denn mal mit einem zweiten Gang ins Warme?“
Am nächsten Tag lachte wieder die Sonne.
„Wie wär´s mit einem kleinen Ausflug?“ schlug Florence vor. „Aarhus soll schön sein und Ebeltoft.“
„Man soll nichts aufschieben, was man gleich erledigen kann“, sagte Inga. „Morgen Abend sind wir bei deinem Peter, das begrenzt uns nach hinten, und wie es übermorgen wettermäßig aussieht, wissen wir nicht. Also, ich bin dabei.“
Carolin und Bernadette nickten mit vollem Mund. Sie beendeten in Ruhe ihr opulentes Urlaubsfrühstück und brachen dann auf. Aarhus erwies sich in der Tat als hübsche Stadt zum Bummeln, mit großer Altstadt, Hafen, Kunstmuseum und einladenden Geschäften. Auf das prähistorische Museum verzichteten sie, und das Freilichtmuseum setzten sie auf die „Liste für Sommerwetter“, wie Carolin sich ausdrückte. Aber für die Läden war ein Novembernachmittag im nördlichen Dänemark ideal, es dämmerte früh, und umso anziehender wirkten die erleuchteten Schaufenster. In einer Boutique geriet Bernadette völlig aus dem Häuschen.
„Sowas hab´ ich ja seit Jahren nicht mehr probiert“, jubelte sie, als sie ihr neues Outfit im Spiegel bewunderte.
„Nimm´ alles mit“, riet ihr Carolin. „Wann findet man schon mal schöne Klamotten?“
„Ja, aber wovon bezahle ich das alles?“
Bernadette drehte die Preisschilder hin und her und brauchte noch Unterstützung zum Ausräumen ihrer Skrupel.
„Vom Weihnachtsgeld“, schlug Florence vor. „Das ist das einzige, worum ich euch fest Angestellten wirklich beneide.“
„Weihnachtsgeld ist auch nicht mehr das, was es einmal war“, sagte Inga nüchtern. „Aber du hast Recht, missen möchte ich es auch nicht.“
Man sah Bernadette förmlich an, wie sie in ihrem Gehirn die Zahlenkolonnen hin und her bewegte. Inga probierte gerade eine Strickjacke aus einem so hauchzarten Gespinst, dass es sie umschwebte wie morgendlicher Nebel. Dann schaute sie aufs Preisschild und erschauerte ebenfalls. Aber nur kurz. Sie hakte Bernadette unter und zog sie in Richtung Umkleidekabine.
„Weißt du was, wir beide überwinden jetzt mal unseren Geiz und gönnen uns was. Carolin hat vollkommen Recht, zu Hause würden wir uns totärgern, wenn wir das jetzt hängen ließen.“
„Hört sich an wie eine bewährte Entscheidungsmethode“, gab Bernadette, schon halb überzeugt, zu.
„Hast du irgendeine Festivität vor der Nase?“ erkundigte sich Carolin. „Damit kann man doch so eine Investition immer begründen.“
„Ach Quatsch, wir selber sind die Festivität.“
Inga wollte sich nicht von Konventionen bestimmen lassen.
„Ich könnte ja jetzt sagen, Jaime wird es umwerfend finden“, sagte sie ein bisschen boshaft und streckte Bernadette die Zungenspitze heraus. „Aber ich finde, wir sollten uns auch von Männern nicht bestimmen lassen.“
„Aber er wird es umwerfend finden.“
Bernadette strahlte. Sie hatte ihre Rechtfertigung gefunden, und da waren ihr feministische Begründungszusammenhänge ausnahmsweise mal egal.
„Schade, ich hab´ noch nix Passendes gefunden“, offenbarte Florence mit einem Seufzer in ihrer tiefen Stimme. Das stachelte den Ehrgeiz der anderen an, die daraufhin die Regale nochmal gründlich durchforsteten. Schließlich stieß Florence auf ein Kleid, das sie ohne weiteres auf dem roten Teppich tragen könnte. Und eine dieser zarten Strickjacken kaufte sie gleich auch noch.
„Carolin, und du?“
Bernadette fragte in einer Mischung aus Gutherzigkeit und dem Bedürfnis, dass auch ihre Freundin sich solidarisch ruinieren möge.
„Bin zu dick für diesen Laden.“
Drei empörte und verständnislose Blicke trafen sie.
„Du hast ja wohl ´n Kläppchen. Was an dir ist denn bitte zu dick???“
Man hörte deutlich drei Fragezeichen in Ingas Stimme.
„Mein Bauch“, konstatierte Carolin.
„Jede schöne Frau hat einen Bauch“, sagte Florence.
Carolin stellte sich so neben sie, dass sie die gertenschlanke Florence im Bauchprofil sehen konnte. Und siehe da – sie hatte einen. Selbst Florences schlanke Taille ohne jegliches Grämmchen Fett kontrastierte mit einem deutlich sichtbaren Ansatz von Bauch. Wie wunderbar, jubelte Carolin innerlich. Nicht mal Florence entrinnt diesen Anzeichen des körperlichen Verfalls. Es gibt doch Gerechtigkeit im Leben! Jetzt konnte sie sich der Kleiderfrage nochmal völlig befreit stellen und eine neue Bluse segelte ihr quasi von selbst in die Tasche. Die Inhaberin kassierte mit einem herzlichen Lächeln, was Bernadette zu einer Bemerkung über dänische Gastfreundlichkeit veranlasste, als sie auf dem Bürgersteig standen.
„Ich wäre auch gastfreundlich, wenn ich in fünf Minuten tausenddreihundert Euro eingenommen hätte“, kommentierte Inga nüchtern. „Dann würde ich sogar unbedingt wollen, dass alle meine Gäste ganz schnell wiederkommen!“
Die vier sahen sich und ihre umfangreiche Beute an. Carolin prustete los und steckte die anderen sofort an. Eingehüllt in eine Wolke von Gelächter steuerten sie einträchtig das nächste Café an. Verschwendungslaune machte offensichtlich kaffeedurstig.
Die Tage gingen dahin mit Spaziergängen, Saunagenüssen und leckeren Tafeleien. Von jedem Spaziergang brachte Bernadette einen riesigen Blumenstrauß mit. Sie kombinierte alles, was ihr unter die Finger kam, sammelte Gräser, bizarre Zweige mit roten Beeren, letzte Blüten, und es sah von Mal zu Mal prächtiger aus. Sie liebte es zu gärtnern und hatte eine ausgeprägte floristische Ader. Ihre phantasievollen Sträuße schmückten das ganze Haus. Was Letzteres anging, trug der Abend bei Peters Familie zur Erweiterung ihres Horizonts bei. Es war das Haus seiner Eltern, nachdem sie aus der Familienvilla ausgezogen waren.
„Es hat fast denselben Grundriss, nur in kleiner“, erklärte Peter. „Sie wollten möglichst wenige Veränderungen, damit sie sich im Alter nicht umstellen mussten. Und wir haben es dann in ein Haus für Feriengäste umfunktioniert. Die anderen Häuser in der Siedlung sind erst später dazu gekommen.“
„Deshalb ist es so individuell und wirkt so familiär“, nickte Florence.
„Ja, mein Bruder nutzt es oft mit seiner Familie, denn er wohnt ja wirklich in Kopenhagen“, ergänzte Peter. „Und meine Eltern inzwischen auch, es wurde ihnen irgendwann zu einsam hier.“
„Und ich würde eigentlich lieber da wohnen, weil es direkt am Meer liegt“, sagte Peters hübsche Frau Sophia. „Aber mit all unseren Kindern ist es ein bisschen zu klein.“
Die fünf „entzückenden Blagen“, wie Inga sie genannt hatte, saßen beim Essen separat an dem Tisch im Wintergarten. Sie aßen von dem achtgängigen, opulenten, dänischen Menu, das Peter und Sophia zusammen vorbereitet hatten, nur die Suppe und das Dessert und widmeten sich dann einem Kartenspiel, bei dem alle paar Minuten jemand laut brüllte. Irgendwann war Sophia es leid und schloss die Schiebetüren, das reduzierte den Krach auf ein erträgliches Maß.
Den vorletzten Tag verbrachten sie auf der angrenzenden Halbinsel und genossen ein weiteres dänisches Menü in einem uralten Gasthof in Ebeltoft.
„Ich wusste gar nicht, dass die Dänen so eine lukullische Nation sind“, stöhnte Carolin und öffnete unauffällig ihren obersten Hosenknopf.
„Morgenabend koche ich uns eine Fatburner Mahlzeit“, versprach Bernadette. Auf den lautstarken Protest von Florence und Inga nahm sie diese Drohung allerdings schnell wieder zurück. Stattdessen kochten die beiden ein französisches Mahl und servierten zu jedem Gang eine neue Flasche aus ihrem immer noch umfangreichen Getränkevorrat. Sie waren nach Zwiebelsuppe, Crevetten-Salat, Artischocken und Seezunge mit beurre blanc und diversen Amuses Gueules zwischendurch beim Coq au Vin angekommen und nagten einträchtig Hühnerbeine ab.
„Sag´ mal“, fing Inga an, „wie willst du deine Männersuche eigentlich anstellen?“
Sie sah zu Carolin hinüber und der Schalk saß ihr in den Augenwinkeln.
„Na, wie das jeder heutzutage so macht. Im Internet.“
Carolin blickte sie mit ihren großen, blauen Augen fragend an.
„Aha. Im Internet. Und hast du dir schon Gedanken darüber gemacht, wie du da eigentlich auftreten willst? Du bist dir doch darüber im Klaren, dass du eine Bühne betrittst, wenn du dich da der Meute vorstellst?“
„Du scheinst da ja Erfahrungen zu haben“, sagte Florence. „Davon könntest du uns mal profitieren lassen.“
„Uns?“ fragte Carolin mit einem deutlichen Unterton von Verwunderung in der Stimme. „Wieso denn uns? Wollt ihr alle mitsuchen?“
„Ja, dachtest du, dieses Vergnügen darfst du nur für dich allein genießen?“ Inga lachte. „Dafür ist der ganze Spaß viel zu kostspielig. Du solltest dir sowieso überlegen, ob du nicht lieber dem örtlichen Ruderklub beitrittst oder dem Angelverein. Bogenschießen ginge vielleicht auch noch.“
„Ich dachte, ich mache es auf die effiziente Art und gehe dahin, wo andere Menschen dasselbe Interesse verfolgen wie ich. Nämlich den Partner fürs Leben zu finden. Eindeutig, zielgerichtet und ohne großen Zeitverlust.“
„Ohne Zeitverlust ist schon mal die erste Illusion.“ Inga kam langsam in Fahrt mit ihrer Aufklärungsmission. „Internet kostet unglaublich viel Zeit. Du musst dir Zeit für deinen Text nehmen, also, das machen wir am besten heute Abend noch, alleine ist sowas viel zu uninspiriert. Dann nimmst du die Kerle unter die Lupe. Das kostet unendlich viel Zeit. Dafür solltest du dir übrigens ein paar Kriterien überlegen, welches Alter, welcher Bildungsstand und so. Dann schickst du die eine oder andere nette Mail los. Und dann wartest du, bis die Typen sich endlich zu einer Antwort bequemen. Viele antworten übrigens auch gar nicht. Das Internet ist ein Pfuhl der Unhöflichkeit. Da würde ich mich wappnen.“
„Pfuhl der Unhöflichkeit, das gefällt mir“, lachte Florence. „Genauso ist es. Wenn ich Recherche-Anfragen stelle, erlebe ich das auch häufiger. Da muss man sich wirklich warm anziehen, es ist frustrierender, als man denkt.“
„Ihr seid ja ermutigend“, seufzte Carolin. „Meine Erfahrung ist einfach, dass man, sobald man die Uni hinter sich gelassen hat, niemanden mehr kennenlernt. Wo habt ihr euch denn getroffen? Na? Auf dem großen Heiratsmarkt Universität, richtig?“
Florence nickte fröhlich, Bernadette schuldbewusst.
„Aber ich habe Freundinnen, die haben auch später, im Kollegenkreis…“ Bernadette brach ab, weil die Beziehungen, an die sie dachte, allesamt mit Trennungen geendet hatten, das war jetzt nicht wirklich erbaulich.
„Im Kollegenkreis hatte ich höchstens die eine oder andere Affäre.“
Carolin erinnerte sich zurück und blickte ihre Freundinnen düster an. „Das kann ich überhaupt nicht empfehlen. Es ist so unfair. Wer schon liiert ist, aber unzufrieden, guckt sich ein bisschen um, die Hormone kochen hoch, zweiter Frühling, man verschafft sich eine nette Abwechslung, und wir Singles dürfen leiden.“
„Na, gänzlich unbeteiligt bist du doch auch nicht daran. Ich dachte immer, zum Verlieben gehören zwei.“ Inga Stimme war von Sarkasmus durchzogen. „Ich meine, du bist doch nicht willenlos. Das Schicksal klopft an die Tür, aber reinlassen tut man es selbst. Ist nicht von mir, hab´ ich gelesen.“
„Ja, aber wenn du alleine bist, bist du einfach bedürftiger. Die Ausgangslage ist schon unfair.“
„Na gut, ich will ja mal nicht so sein. Habe ich auch alles schon erlebt. Affären sind wirklich keine gute Idee.“
„Nee, und es ist erstaunlich, dass man das durchaus wissen und schon erlebt haben und trotzdem in eine reinstolpern kann, als wäre man völlig bescheuert.“
Carolin schüttelte den Kopf über sich, wenn sie an die eine oder andere schmerzhafte Liebesgeschichte zurückdachte. Sowas wollte sie auf gar keinen Fall nochmal, deshalb sollte jetzt eine seriöse Vermittlungsplattform her.
„Ich habe neulich einen Kabarettisten gehört, der meinte, wenn die Leute sich vorher ausrechnen würden, wie teuer das ist bei unglaublich hoher Wahrscheinlichkeit, dass es nicht klappt, würde jeder sofort die Finger davon lassen.“
Das war ein ermutigender Beitrag von Bernadette.
„Danke, danke euch vielmals“, echauffierte sich Carolin. „Ihr seid unglaublich hilfreich. Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde, wahrlich! Ich dachte, ihr wollt mir helfen! Wie würdet ihr´s denn anstellen? Vielleicht strengt ihr mal eure Phantasie ein bisschen an, ihr gut Versorgten. Und du auch.“
Letzteres ging mit einem leisen Knurren in Ingas Richtung.
„Ich hab´ das mit dem Internet schon hinter mir“, zuckte Inga mit den Schultern. „Ich habe nur Trottel kennengelernt. Da war einfach so dermaßen gar nichts bei…. Ich würde es mit dem Angelverein versuchen. Aber ich bin im Moment gar nicht auf Männersuche, mir reicht es schon völlig, meinen Vater zu suchen.“
„Ach ja, das entschuldigt dich. Ausnahmsweise.“ Carolin lächelte etwas versöhnt. „Aber ihr zwei seid damit nicht aus dem Schneider!“
Bernadette zuckte leicht zusammen.
„Ich bin dir da bestimmt keine Hilfe. Ich bin so froh, dass ich Jaime habe, entschuldige bitte, aber so ist es einfach. Wenn ich jetzt einen Partner finden müsste, ich würde völlig verzweifeln.“ Bernadette sah mit dermaßen angstgefurchter Stirn in die Runde, dass Carolin ihr aufmunternd die Hand aufs Knie legte. Sie war als Freundin selbst zutiefst beruhigt, dass Bernadette in dieser Hinsicht gut versorgt war.
„Ich würde das locker angehen, glaube ich“, äußerte sich Florence nach längerer Pause. „Spielerisch. Ich würde versuchen, die Erwartungen völlig runterzuschrauben, was bestimmt leichter gesagt ist als getan. Und dann würde ich das so auffassen als sich einfach mal umsehen auf dem Markt. Ohne Absichten.“
„Also, das kann ich nach meinen Erfahrungen nur bestätigen“, nickte Inga. „Wenn du da ernsthaft drangehst, holst du dir sofort eine blutige Nase. Du musst es mit Humor nehmen und als Experiment, sozusagen. Du lernst ja Typen kennen, du glaubst es nicht. Ich hatte einmal einen, mit dem hatte ich eine lange Korrespondenz. Ich bin nämlich direkt auf Reisen gegangen, nachdem er mir eine Anfrage geschickt hatte. Das schrieb ich ihm dann und er schrieb zurück, macht nichts, er fände mich so attraktiv, dann würde er eben warten, bis ich zurück sei. Das fand ich dann wieder so nett, dass ich ihm Reiseberichte geschickt habe. Ich hab´ mir richtig Mühe gegeben, witzige Episoden erzählt, und wir hatten volle zwei Wochen einen total netten Austausch. Meine Freundin Andrea, mit der ich damals unterwegs war, hat seine Mails immer mitgelesen und sah uns schon vor dem Traualtar.“
Inga holte Luft und Carolin hakte ein.
„Hört sich doch super an. Wo war denn der Haken?“
„Pass´ auf, der kommt jetzt. Dann haben wir uns endlich getroffen, es war irgend so ein zweiter Feiertag, Ostern oder Pfingsten, ich weiß es nicht mehr. Wir tranken nett Kaffee an der Alster, gingen ein langes Stück zusammen spazieren, alles schön, und mehr kann man wirklich nicht verlangen für ein erstes Date. Was will man denn noch, um sich für ein zweites zu verabreden, als dass man sich stundenlang gut unterhalten hat?! Und er, dieser Arsch, eröffnet mir bei der Verabschiedung, er mache das ja gar nicht, um wirklich eine Partnerin kennenzulernen, sondern bloß, um interessante Leute zu treffen. Ich war so perplex, da fiel mir in dem Moment einfach gar nichts zu ein.“
„So ein Blödmann. Damit soll er doch nicht deine Zeit und dein Geld verschwenden. Ich meine, man begibt sich doch auf so eine Plattform, gerade weil man ernsthaft sucht, oder? Für Freundschaften und interessante Begegnungen gibt es doch extra Plattformen, oder?“
Bernadette war angemessen solidarisch empört.
„Ja, aber pass auf, es kommt noch schlimmer. Zwei Tage später war ich im Museum und da sah ich ihn wieder. Und zwar nicht allein, sondern in Begleitung einer Frau.“
„Und?“ Das fragten die drei anderen einstimmig.
„Und… ich war erstmal geplättet und wusste nicht, was ich machen sollte. Also ging ich aufs Klo, um in Ruhe zu überlegen. Und dann dachte ich, ich gehe jetzt auf ihn zu und begrüße ihn ganz locker. Und frage, ob das ein Date ist oder nur eine interessante Begegnung.“
Inga grinste in die Runde.
„Ja und, hast du?“ fragte Carolin.
„Ich wollte. Und wisst ihr was? Er hatte mich anscheinend gesehen. Und wollt ihr wissen, was er dann tat?“
Alle hingen gebannt an Ingas Lippen. Das Hähnchen kühlte vor sich hin.
„Er wich mir aus. Er versteckte sich hinter den Türen. Wenn ich dann um die Ecke bog, zog er seine Partnerin fix weiter. Ich sage euch, es war mir ein Triumph. Die Konfrontation brauchte ich anschließend gar nicht mehr. So ein feiges Arschloch.“
Carolin sah mit zweifelnder Miene in die Runde.
„Wisst ihr was? Ich back mir doch einen.“
Alle lachten und Florence schlug vor:
„Bevor du das tust, könnten wir aber zuerst unser Dessert genießen. Das bringt dir vielleicht schon die Inspiration, die du brauchst.“
Sie sammelte die Teller und Bestecke ein und brachte sie in die Küche. Inga kam mit der Auflaufform und den Hähnchenresten hinterher, Bernadette brachte die übrigen Schüsseln.
„Flor de Canha?“
Florence holte die Flasche aus dem Schrank.
„Das ist eine rhetorische Frage, nehme ich doch an“, antwortete Inga lakonisch und holte Gläser aus dem Schrank. Carolin fiel ein, dass sie in der Tat gebacken hatte. Sie rannte auf die Terrasse und holte die Tortenplatte herein. Bernadette hatte schon an Kuchenteller und kleine Gabeln gedacht.
„Viola!“
Stolz präsentierte Carolin ihre wohlgelungene Tarte au Citron.
„Und, schreiben wir jetzt deinen Text?“ hakte Inga nach.
„Ach weißt du, für heute Abend ist mir die Lust vergangen. Das mache ich demnächst mal mit einem Glas Rotwein als zuverlässigem Begleiter und beherzige eure Ratschläge.“
Carolin sah etwas resigniert in die Runde.
„Resignation ist ein guter Ausgangspunkt, glaub´ mir!“ versprach Inga.
Florence füllte andächtig die kleinen Schnapskelche mit dem köstlichen, alten Rum.
„Meine Lieben“, fing sie an. „Es war mir mal wieder ein Fest mit euch!“
„Und mit dir!“
Sie ließen ihre Gläser aneinander klingen und ihrer aller Gedanken waren dieselbe Mischung aus Wehmut, dass wieder eine wunderbare Woche vorbeigegangen war und Vorfreude auf die nächste gemeinsame Reise.