Читать книгу Im Rachen des Wolfes - Monique Levi-Strauss - Страница 10
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Die Familie meines Vaters
Mein Vater wurde als Sohn von Jean Roman und dessen Frau, deren Vor- und Mädchennamen ich vergessen habe, am 22. März 1898 in Gent geboren und trug die Vornamen Jules, Jean und Clément. Meine Großeltern väterlicherseits waren katholisch, aber nicht gläubig. Sie sprachen Flämisch und Französisch mit starkem belgischem Akzent. Jules, mein Vater, war das jüngste von vier Kindern. Die älteste Tochter, Nelly, war um 1890 geboren worden und hatte einen belgischen General geheiratet. Sie bekam keine Kinder und versank um 1930 herum in eine Neurasthenie. Ich glaube, sie hat sich während des Krieges umgebracht. Die zweitälteste, Louise, muss 1894 geboren sein, wir nannten sie Tante Bie; sie heiratete einen Oberst, Léon de Rudder. Im Krieg 1914–18 war er Adjutant König Alberts I. gewesen, in Friedenszeiten Makler. Sie hatten zwei Kinder: Léon, geboren 1923, und Claire, geboren im April 1925. Das dritte Kind meiner Großeltern war schließlich Paul, geboren 1896, mit einer Violaine verheiratet; sie hatten keine Kinder.
Meine Großeltern väterlicherseits ließen sich in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts scheiden. Meine Großmutter wollte ein neues Leben beginnen und brachte ihre Kinder einfach irgendwo unter. Im Alter von sechs Jahren fand mein Vater sich so als Bäckerlehrling wieder. Für freie Kost und Logis musste er früh aufstehen und den Kunden das Brot ausliefern. Danach lernte er Teig zu kneten, Cramique, ein köstliches Rosinenbrot, herzustellen. Eines Tages traf er auf der Straße seine Mutter am Arm eines Freundes. Sie erkundigte sich nach seiner Arbeit und fragte, ob er ihr nicht etwas Geld geben könne. Mein Großvater arbeitete als Fotograf. Mehrfach steckte er meinen Vater in ein Internat, um ihm wenigstens eine rudimentäre Bildung zu vermitteln, aber sobald das Geld knapp wurde, kehrte mein Vater in die Bäckerei zurück. Er hat auch mal bei einem Fotografen gearbeitet. Insgesamt umfasste seine Schulzeit nur einige wenige Trimester.
Weil er seinen Lebensunterhalt verdienen musste, hatte mein Vater keine Zeit zum Lernen. Als 1914 der Krieg ausbrach, war er sechzehn Jahre alt. In der Armee zu dienen, hätte ihm das Recht auf eine Ausbildung eröffnet. Da er, anders als gefordert, noch keine achtzehn Jahre alt war, bat er seinen Bruder Paul, eine Falschaussage über sein Alter zu machen; so wurde er Soldat.
Am 11. November 1918 war mein Vater noch am Leben. Da er dreimal verwundet worden war, hatte man ihn ausgezeichnet und zum Offizier befördert. Ein ehemaliger Soldat hatte – auch ohne irgendeinen Abschluss – das Recht, sich an der Freien Universität Brüssel einzuschreiben und dort den Unterricht zu besuchen. Bestand er nach einem Jahr die Zulassungsprüfung, war er als Student zugelassen.
Mein Vater studierte mehrere Jahre lang, dann bestand er den Concours für die École Solvay, an der Ingenieure ausgebildet wurden. Nachdem er diese Schule abgeschlossen hatte, bekam er ein Jahresstipendium für die Harvard Business School. In Boston lernte er dann im Laufe des Studienjahres 1923/24 meine Mutter kennen.
Die Familie meiner Mutter
Meine Mutter, Ruth Emma, kam am 21. August 1902 in Hampstead (London) als Tochter von Paul Rie (1867–1931) und dessen Frau Bella, geborene Strouse (1876–1957), zur Welt. Die Familie meines Großvaters lässt sich auf das spanische Judentum zurückverfolgen. Als er vor der Inquisition fliehen musste, entschloss sich das damalige Familienoberhaupt, sich zukünftig nach den Anfangsbuchstaben seines Namens zu nennen: Rabin Isaac Ezechiel. Meine Großmutter war Amerikanerin und über ihre Mutter mit der Familie Guggenheim verwandt, Pittsburgher Juden, die aus Deutschland emigriert waren. Ihr Vater, Alexander Strouse, war ein New Yorker Jude bayerischer Herkunft. Mein Großvater mütterlicherseits, Paul Rie, stammte aus Wien und verdiente seinen Lebensunterhalt als Importeur von Perlmutt. Nachdem er in der ganzen Welt herumgereist war und die Länder besucht hatte, in denen die Muscheln angebaut wurden, ließ er sich um 1893 in New York nieder. Er wohnte bei Emma Strouse (1858–1938), meiner Urgroßmutter. Jung Witwe geworden, vermietete sie Zimmer an Freunde von Freunden, um ihre beiden Kinder, Bella und Henry, zu versorgen. Paul Rie verliebte sich in Bella und schickte sich gerade an, in aller Form um ihre Hand anzuhalten, als seine zukünftige Schwiegermutter ihn unterbrach, um ihm zu sagen, wie glücklich sie sei, seine Frau zu werden; sie war in der Tat nur neun Jahre älter als er. Seitdem Paul seine Absichten klargestellt hatte, litt meine Urgroßmutter unter einer Depression. Während einer Wienreise, bei der er Emma und Bella Strouse seiner Familie vorstellen wollte, schickte Paul seine zukünftige Schwiegermutter zu einer Untersuchung bei Doktor Freud, dessen Freund und Mitarbeiter sein Bruder, Oskar Rie, war. Freud untersuchte sie ein wenig kurz angebunden und beruhigte die Familie. Aber meine Urgroßmutter behielt „die Ohrfeige von Doktor Freud“, wie sie es nannte, in schlechter Erinnerung, sie beschwerte sich noch in den 1930er-Jahren darüber.
Von den fünf Kindern von Paul und Bella Rie war das älteste, Paul (1897–1991), in erster Ehe mit Andrée Singer, einer Cousine zweiten Grades, verheiratet, mit der er ein Kind hatte, das früh verstarb. In zweiter Ehe lebte er mit Grace Alexandra Young zusammen, einer Amerikanerin aus Kansas. Sie hatten drei Kinder: Suzanne, Danny und Tom. Obwohl er literarisch sehr interessiert war, hatte Paul junior auf ein Universitätsstudium verzichten und Perlmuttimporteur werden müssen, um eines Tages die Nachfolge seines Vaters antreten zu können.
Das zweite Kind von Paul Rie hieß Dorothy (1899–1984); sie heiratete Carlo Ausenda, einen Ingenieur aus Mailand, dem sie fünf Kinder schenkte: Giorgio, Carla, Isa, Paolo und Gianni.
Nach Paul und Dorothy war meine Mutter, Ruth Emma, genannt Emmy (1902–1959), das dritte Rie-Kind.
Jean (1907–1979), das vierte, heiratete in erster Ehe Colette Max, seine Cousine zweiten Grades, mit der er Jean-Louis und Françoise bekam. Aus seiner zweiten Ehe mit Fernande Boudine hatte er einen weiteren Sohn, Philippe. Da er kaufmännisches Talent besaß, arbeitete auch Jean mit seinem Vater zusammen. Als dieser starb, übernahm er dessen Firma in Frankreich. Sie stellte Knöpfe und Messergriffe aus Perlmutt und aus Horn her. Die Fabrik in Méru (Département Oise) verarbeitete Perlmutt. Die in Thiers (Département Puy-de-Dôme) stellte vor allem Messergriffe aus Horn her.
Das fünfte Kind, Georges, wurde 1915 geboren und heiratete Marie-Louise Hahn, die ihm zwei Kinder schenkte, Michael und Linda. Georges und Marie-Louise waren Ärzte.
Paul Rie entstammte einem dezidiert laizistischen Wiener Judentum, das sich unbedingt sozial integrieren wollte. Meine Großeltern waren also nicht praktizierend. Bei ihnen wurde Englisch gesprochen, meine Großmutter und meine Urgroßmutter hatten dabei einen amerikanischen, mein Großvater einen leichten Wiener Akzent. Falls nötig, konnten Sie sich auch auf Französisch, Deutsch und Italienisch ausdrücken.
Wie schon gesagt, wurde meine Mutter in London geboren, wo mein Großvater einige Büros hatte. 1904 eröffnete er eine weitere Filiale seines Unternehmens in Paris. Die Familie zog nach Neuilly. Aus London brachten meine Großeltern „Nanny“, die junge englische Gouvernante (1880?–1956), mit, die die fünf Rie-Kinder großzog und sich vor dem Krieg von 1939 auch noch um die Enkelkinder kümmerte. Meine Mutter erhielt, obwohl zu Hause Englisch gesprochen wurde, eine klassisch französische Ausbildung. Ihre frühe Kindheit war vor allem davon geprägt, dass es ihr einfach nicht gelang, mit ihrem Bruder und ihrer Schwester zu spielen. Als sie vier Jahre alt war, glaubten ihre Eltern, sie sei ein wenig zurückgeblieben. Sie nutzten einen Besuch von Doktor Oskar Rie in Paris, um ihn zu bitten, seine Nichte Emmy zu untersuchen; nachdem er das Kind beobachtet hatte, erklärte er, mit ihrer Intelligenz sei alles völlig in Ordnung, aber sie sehe nichts und brauche dringend eine Brille. Jahrzehnte später erzählte meine Mutter, welch ein Wunder diese erste Brille vollbrachte. Sie konnte endlich bei allen Spielen mitmachen, eine Existenz wie alle anderen führen. Das ganze Leben lang blieb ihr eine außerordentliche Fähigkeit, sich für sich allein beschäftigen zu können, indem sie sich Geschichten erzählte oder stundenlang las.
Paul Rie, mein Großvater mütterlicherseits, hatte drei Brüder und eine Schwester, die alle in Wien geboren waren und denen er sehr nahestand. Wenn sie in Paris waren, wohnten sie bei meinen Großeltern. Meine Mutter liebte ihre Wiener Cousins, sie erzählte mir von den wunderbaren Ferien, die sie mit ihren Cousins in der Steiermark in Altaussee verbracht hatte. Onkel Oskar Rie hatte zwei Töchter: Margarethe, die den bekannten Psychoanalytiker Hermann Nunberg heiratete, und Marianne, ebenfalls Psychoanalytikerin, die den Kunsthistoriker Ernst Kris heiratete, der seinerseits auch Psychoanalytiker wurde. Tante Judith, Ditha genannt, heiratete Doktor Ludwig Rosenberg. Diese ganze kleine Welt stand mit Freud in Verbindung. Einige wurden berühmte Psychoanalytiker, die noch beim Meister selbst gelernt hatten.
Nachdem sie ihr Baccalauréat in Paris bestanden hatte, schickten ihre Eltern meine Mutter zum Studium nach Boston, an das Simmons College, ein Mädchencollege, wo sie einen Bachelor, dann einen Master of Arts in Sozialwissenschaften erwarb. Während ihres Aufenthalts in Boston traf sie den Harvard-Studenten Jules Roman. Nach ihrer Rückkehr nach Frankreich im Jahr 1924 heirateten sie in Saint-Cloud.
Flitterwochen in China
Auf der Suche nach einer Anstellung willigte mein Vater ein, ein Jahr lang für die belgische Bahngesellschaft in Shanghai zu arbeiten. Ich glaube zu wissen, dass meine Eltern von dem Gedanken, nach Fernost zu gehen, begeistert waren. Mein Vater, weil ihm seine harte Kindheit und seine Jugend in den Schützengräben das Reisen unmöglich gemacht hatten; meine Mutter ihrerseits träumte davon, dem Beispiel ihrer besten Freundin Clara Malraux zu folgen, die gerade aus Indochina zurückkam.
Von dieser langen Hochzeitsreise brachten sie einige Erinnerungen mit. Das Leben auf den Passagierdampfern, die Begegnungen, die Häfen. Die Entdeckung des Exotischen. Singapur, Peking und die Ausflüge in die Mongolei. Sie brachten auch rote Lackmöbel aus Canton mit, zwei Koffer aus Eukalyptusholz, Kleider und rote Stiefel aus russischem Leder mit kleinen Absätzen.
Im Herbst 1925, auf dem Schiff zurück nach Frankreich, war meine Mutter mit mir schwanger. Es kommt vor, dass ich auf die Frage „Waren Sie mal in China?“ antworte: „Ja, kurz, denn ich wurde in Shanghai gezeugt (J’ai été conçue à Shanghai)“. Aber weil es sich nicht schickt, über den Ort zu reden, an dem die eigenen Eltern sich geliebt haben, um einen zu zeugen, sind meine Gesprächspartner schockiert. Oder sie verhören sich und verstehen, ich sei „Konsul in Shanghai“ gewesen. Das Missverständnis wird immer verworrener. Also erwähne ich diesen ersten Kontakt mit China nicht mehr.