Читать книгу Im Rachen des Wolfes - Monique Levi-Strauss - Страница 8

| | | | | | Nüchterne Erinnerungen

Оглавление

Ich habe meine Kindheitserinnerungen erst sehr spät aufgeschrieben.

Ich hätte zwischen dreizehn und neunzehn Tagebuch schreiben sollen, damals, während der Kriegsjahre in Deutschland, in das mein Vater uns verschleppt hatte, meine jüdische Mutter, meinen Bruder und mich. Doch seit 1940 durchsuchte die Gestapo unsere Zimmer. Wir waren vorgewarnt: Jede Zeile konnte uns verraten. Wir mussten nicht nur schweigen, wir durften auch nichts Verdächtiges besitzen.

Nach dem Krieg wäre der ideale Zeitpunkt gewesen, meine noch ganz frischen Erinnerungen zu erzählen oder niederzuschreiben. Ich war nicht die Einzige, die feststellte: Kriegserinnerungen interessieren niemanden. Ich war 1945 nach Frankreich zurückgekehrt, und das, was ich erlebt hatte, brodelte in meinem Kopf, und ich hätte gerne mit jemandem darüber geredet. Es gab niemanden, der mir zuhörte, man wollte mit der Vergangenheit abschließen, wieder ein normales Leben beginnen. Wäre ich scharfsichtig gewesen, hätte ich vorhergesehen, dass sich eines Tages eine neue Generation für die Vergangenheit interessieren würde und dafür, wie der Alltag der Menschen im Krieg gewesen ist.

Ich habe es nicht vorausgeahnt, ich habe 1945 nichts niedergeschrieben.

So vergingen fast fünfzig Jahre, bis ich erzählte, wie ich den Krieg 1939–1945 erlebt hatte. Es war im Jahr 1995, ich hatte gerade die dreitausend Negative, die mein Mann aus seiner Zeit in Brasilien mitgebracht hatte, auf 13 x 18-Fotopapier abgezogen. Die Zeit war gekommen, auch meine eigenen Erinnerungen auf A4-Papier „abzuziehen“.

Die Gefühle, die mich bei der Lektüre mehrerer in Deutschland erschienener Autobiografien überkamen, von denen ich hier vor allem die von Victor Klemperer nennen möchte, drängten mich zu schreiben. Es ging vor allem darum zu erklären, was meinen Vater dazu gebracht hatte, seine Frau und seine beiden Kinder am Vorabend des Krieges mit nach Deutschland zu nehmen. Obwohl unsere Verwandten und Freunde ihn anflehten, es nicht zu tun. Die Familie meiner Mutter nahm regelmäßig jüdische Freunde auf, die aus Deutschland oder Österreich geflohen waren und von den Verfolgungen berichteten, denen ihre Glaubensbrüder dort ausgesetzt waren. Auch galt es verständlich zu machen, wie eine so intelligente und mutige Frau wie meine Mutter hatte zustimmen können, ihrem Mann zu folgen und ihre Kinder in ein derart gefährliches Abenteuer hineinzuziehen.

Ich habe mich entschieden, zunächst kurz auf die Kindheit meines Vaters und meiner Mutter einzugehen, in der Hoffnung, in den traumatischen Erfahrungen ihrer ersten Lebensjahre eine Erklärung für ihr mangelndes Urteilsvermögen zu finden. Was verband meine Eltern, die aus so unterschiedlichen Milieus stammten? Beide waren auf ihre Art nonkonformistisch, hatten sich von dem Milieu, in das sie hineingeboren waren, gelöst, ohne offen gegen es zu rebellieren. Im Zusammenleben mit ihnen lernte ich, den Spagat zwischen zwei Kulturen zu meistern. Erst im Rückblick ermesse ich die Anstrengung, die dieser Spagat mich gekostet, und die geistige Beweglichkeit, die er mir geschenkt hat.

Die Geburt meiner Enkelkinder in den 1990er-Jahren, die vielleicht eines Tages ihre Ursprünge würden kennenlernen wollen, veranlasste mich zu schreiben. Die Bilder kehrten zurück, die Geschichten fügten sich aneinander – wenn natürlich auch entstellt. Ich hatte sie mir tausendmal selbst erzählt, hatte die schmeichelhaften Episoden ausgewählt, die Niederlagen, die Fehler und die Feigheiten verdrängt. Einige Tatsachen musste ich rekonstruieren, um die Erinnerungslücken zu schließen, Daten und Orte verifizieren. Das Grundgerüst der bloßen Erinnerungen war da. Diese sechs Jahre in Deutschland nehmen in meinen Gedanken einen ungeheuer großen Raum ein: Sie wiegen schwerer als der Rest meines Lebens.

2010 lernte ich Maurice Olender kennen, der mich dazu drängte, meine Erinnerungen zur Veröffentlichung aufzuschreiben. Der harte Kern der Leser, die den Verlockungen der Bilder widerstehen, zeigt heute ein großes Interesse an schriftlichen Zeugenberichten über vergangene Zeiten. Ich holte mein Manuskript von 1995 wieder hervor. Es hörte im Jahr 1945 mit dem Ende der Feindseligkeiten in Europa auf und bildet nun den ersten Teil dieses Buches. Ihm fügte ich einen zweiten Teil hinzu, der die folgenden vier Jahre umfasst, in denen ich mir tastend meinen Weg bahnte.

Um meiner Erinnerung auf die Sprünge zu helfen, beschloss ich, an die Orte zurückzukehren, an denen ich während des Krieges gelebt hatte. Während einer Reise nach Luxemburg im November 2012 war ein Freund gerne bereit, mich nach Prüm in der Eifel zu begleiten, dem Städtchen, in dem ich 1944 Abitur gemacht habe. Ich wollte die Barockkirche wiedersehen. Ich erkannte sie, ohne sie wiederzuerkennen. Es war ein wenig wie ein vertrautes Gesicht wiederzusehen, das zu stark geschminkt ist. Wir erkundigten uns und erfuhren, dass das Städtchen nach dem Ende meiner Schulzeit bei einem Bombenangriff zu 85 Prozent zerstört worden war, darunter auch die Kirche, die man detailgetreu wiederaufgebaut hatte. Vertrauen wir darauf, dass die Zeit ihr wieder eine Seele geben wird.

Als ich 2013 zu einer Tagung über die Schriftstellerin und Malerin Anita Albus nach Schwalenberg in Westfalen eingeladen wurde, fuhr ich über Düsseldorf zurück. Der Chauffeur, der mich zum Flughafen bringen sollte, war gerne bereit, mich an die Stellen der Stadt zu bringen, die ich wiedersehen wollte. Die Platanen der Königsallee sind in den letzten siebzig Jahren stark gewachsen. Pflanzen vernarben besser als Stein: Die von den Bomben verstümmelten Bäume haben neue Äste angesetzt, um ihr Gleichgewicht wiederherzustellen. Aber in den Lücken, die die zerstörten Häuser hinterlassen hatten, sind Gebäude entstanden, die diese einst so elegante und luftige Stadt ersticken. Die Parks werden zerquetscht. Überall Bauarbeiten, Kräne, Verkehrsstaus.

Ich bin mir nicht sicher, ob man die Orte seiner Erinnerung noch einmal aufsuchen sollte.

Die Erzählung meiner Kindheit und meiner Jugend lässt sich wie ein Tatsachenbericht lesen. Das einzigartige Schicksal eines belgischen Mädchens mit jüdischer Mutter, das man zwingt, während des „Dritten Reiches“ in Deutschland zu leben.

Dieser Text erlaubt aber auch eine andere Lektüre: eine Heranwachsende im Konflikt mit ihren Eltern, die sie für völlig verantwortungslos hält, weil sie die Familie in den Rachen des Wolfes verschleppt haben.

Beim Schreiben dieses Buches habe ich mit meiner Mutter und meinem Vater Frieden geschlossen.

Paris, im Januar 2014

Im Rachen des Wolfes

Подняться наверх