Читать книгу Espresso mit Zitrone - Mein wechselvoller Weg als Unternehmerin - Monique R. Siegel - Страница 8

Ende Einzelkind

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Ich mag entfernte Verwandte.

Je entfernter, desto besser.

Trevor Prescott

Bevor Sie zu falschen Schlüssen kommen: Die oben erwähnten entfernten Verwandten beziehen sich durchaus nicht auf meine Schwester, die mir nicht nur viel näher, sondern auch sehr willkommen war. Aber in diesem Kapitel lernen Sie einen Teil meiner Verwandtschaft kennen: die unangenehmere von zwei unangenehmen Hälften. Ich könnte mir vorstellen, daß auch Sie zum selben Schluß kommen wie ich: Diese Verwandten sind glücklich vergeßbar!

Lassen Sie mich etwas vorgreifen, damit Sie sehen, daß Sie es mit einer Autorin zu tun haben, die in bezug auf Familie recht widersprüchliche Empfindungen an den Tag legt: Ich habe, wie ich in der Rückschau erkennen mußte, meinen Mann in erster Linie geheiratet, weil er ungefähr achtzig nahe und nähere Verwandte in die Ehe brachte – im Gegensatz zu der einen Schwester, die ich in die Waagschale werfen konnte. Ein etwas ungleiches Verhältnis, werden Sie sagen, und Sie haben natürlich Recht. Aber das war es ja gerade, womit sich dieser Mann einer im Grunde Heiratsunwilligen empfahl: Familie = Geborgenheit, Zuneigung, Wärme, Rückhalt und Familien-Feste. Oder etwa nicht? Auf die Antwort auf diese Frage müssen Sie warten bis zum achten Kapitel, denn im zweiten geht es um die Verwandten, die man halt einfach mitgeliefert bekommt – ohne Rückgabe- oder Umtauschrecht.

Aber ich bin schon viel zu weit. Noch sind wir in Siersleben: jetzt vier Menschen in einem Zimmer, plus permanent Windeln, die quer durch die Stube zum Trocknen aufgehängt worden sind. Selbstverständlich stillte meine Mutter – wenn Sie nach Wundern der Natur Ausschau halten wollen, dann war das eines: Eine völlig entkräftete, brandmagere Frau, die immer noch genügend Milch produzierte, um dieses gesunde kleine Mädchen bei Laune zu halten. Der Einzug der kleinen Schwester in unser Leben bedeutete für mich mehr Platz im Bett, das ich ja mit meiner Mutter teilte, die bereits erwähnten Windeln, eine explosivere Stimmung – und das schönste Spielzeug, das ich je bekommen hatte. »Kümmere dich um deine kleine Schwester« wurde ein vielgehörter Satz – einer, der mich noch viele Jahre begleiten würde –, und das tat ich nur zu gerne, es sei denn, sie schrie, was ich gar nicht schätzte.

Im Dezember 1945, kurz vor Weihnachten, passierte etwas Monumentales: Aufgrund eines Abkommens der Alliierten, dem sich die Russen nur sehr widerwillig gefügt hatten, gab es eine ganz kurze Phase, in der sich die Evakuierten in Deutschland entscheiden konnten, ob sie bleiben wollten, wohin sie der Krieg verschlagen hatte, oder in ihre Heimat zurückzukehren wünschten. Als ob das für uns eine Frage gewesen wäre! Leider war da ein Haken an der Sache: Man konnte überall hin übersiedeln – außer nach BERLIN! Meine Mutter traute ihren Augen nicht, als sie das las. Hieß das für sie, auf ewig in diesem Kaff zu bleiben? Nein, denn mein Vater kam ja schließlich nicht aus Berlin, sondern aus dem Rheinland, aus Duisburg, um genau zu sein. Und für diese Destination konnten wir den Antrag auf Ausreise aus der russisch besetzten Zone stellen.

Ich habe keine Erinnerung mehr an Weihnachten 1945 und weiß auch nicht, warum wir offenbar bis zur letzten Minute gewartet haben, um unsere Zelte abzubrechen und den Treck nach Westen anzutreten. Aber ich erinnere mich, daß es Anfang Januar war, sowie an gewisse Einzelheiten dieser Horror-Reise.

Helmstedt hieß unser Grenzübergang; er würde einer der bestbekannten Grenzstationen werden. Die Reise, die sich eher als Flucht gestaltete, denn sie fand gegen das Ablaufen der Zeit statt, ging mit dem Zug bis zu einem gewissen Ort, der einige Kilometer von der eigentlichen Grenze entfernt war. Diese Strecke legten wir zu Fuß zurück, und das muß man sich so vorstellen:

Die drei von uns, die gehen konnten, trugen in beiden Händen, was immer sie konnten. Es wundert Sie sicher nicht, daß die berühmten Federbetten immer noch zu unserer Requisiten gehörten. Daneben gab es Bündel aller Arten, wobei man darauf achten mußte, daß die meinen noch in der richtigen Proportion zu meiner Körpergröße waren. Sechs Hände, sechs Bündel – aber war da nicht noch etwas? Ja, richtig: ein Baby, das praktischerweise in einem klapprigen Kinderwagen kam. Diesen Kinderwagen hatte meine Mutter bis oben hin vollgepackt mit Hand- und Küchentüchern, Lappen und Bettwäsche, soweit noch vorhanden. In der Mitte dieser Textilien war das Bügeleisen, das sie den Krieg hindurch wie ihren Augapfel gehütet hatte. Wahrscheinlich war es die Tatsache, daß dieses Bügeleisen keinen Millimeter nachgab, wenn der Wagen über den Schotter der Landstraße oder die Pflastersteine von Dorfstraßen holperte, die zu unserer ganz persönlichen Geräuschkulisse führte: Meine kleine Schwester schrie nämlich den ganzen langen Weg, was ihre zwei Monate alten Lungen hergaben – und das war beeindruckend!

Moment mal, höre ich Sie sagen, dieses Baby hat sich ja wohl nicht selbst in seinem eigenen Kinderwagen schieben können. Stimmt. Der Kinderwagen wurde von meiner Mutter mit dem Bauch geschoben. Fragen Sie mich nicht, wie das funktionieren konnte, aber es hat funktioniert; ich sehe es noch heute vor mir: nebelgraue Landschaft, freudlos, eiskalt, und auf einer endlosen Landstraße ein endloser Treck von Menschen am Rande ihrer Kräfte. Mutter schob also, Baby schrie, Vater war äußerst schlecht gelaunt, und ich versuchte, nicht aufzufallen, sondern nur einen kleinen Fuß vor den anderen zu setzen. Bald würden wir ja da sein.

Irgendwann einmal, bei einer kurze Pause, fand meine Mutter heraus, warum »das Kind« denn so schrie. Meine Schwester lag zuoberst auf den Textilien, mit ein paar Zentimetern Raum bis zu dem Stückchen Metall, mit dem man das Verdeck des Wagens bei schlechtem Wetter »herunterknöpfen« konnte. Jede Unebenheit, jeder Pflasterstein brachte ihren Kopf an die Decke des Wagens und damit in Berührung mit dem Metallstift. Kein Wunder, daß sie sich die Seele aus dem Leib schreien wollte. Bis wir endlich am Checkpoint ankamen, hatte sie eine blutende Stirnwunde und meine Mutter ein schlechtes Gewissen. Aber zum Glück waren wir ja angekommen, nicht wahr?

Nur nützte uns das leider nichts. Wir kamen um zehn nach vier an, und der Grenzübergang schloß jeweils um vier Uhr. Wir waren zu spät gekommen, und nicht das Leben, sondern die Grenzbeamten bestraften uns. Deutsche Beamte werden mein ganzes Leben lang eines meiner Lieblingsthemen sein, und diese hier, die uns klipp und klar sagten, daß wir halt zehn Minuten zu spät waren und daher an diesem Tag nicht mehr abgefertigt würden, waren ja noch unverfälschte Dritte-Reich-Ware und daher auf Härte abgerichtet worden. Meine Mutter traute ihren Ohren nicht: Nochmals die ganze Strecke zurück und morgen früh wieder in umgekehrter Richtung hin? Aber in solchen Fällen blieb einem keine Wahl: Am Rande unserer Kräfte machten wir uns auf den beschwerlichen Weg zurück, übernachteten in irgendeiner Massenunterkunft, um sehr früh aufzustehen und das Ganze von vorne zu beginnen.

Und das war dann wohl die letzte Möglichkeit, denn an dem Tag lief der Termin ab, den die Russen für Ausreisewillige gesetzt hatten. Diesmal durfte nichts schiefgehen – oder wir würden unser Leben unter russischer Besatzung verbringen müssen. Meine Schwester schrie nicht mehr, sie wimmerte nur vor sich hin; meine Mutter hatte die Textilien, die sie aus dem Kinderwagen genommen hatte, um dem Baby mehr Platz zu geben und ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen, ihrem Gepäck einverleibt, das damit noch unhandlicher wurde. Später, wenn meine Schwester und ich uns zankten, habe ich öfter behauptet, sie hätte eben schon früh ihren Dachschaden abbekommen; erst als Erwachsene habe ich voll realisiert, was für ein traumatisches Erlebnis diese Flucht für das arme Baby gewesen sein muß. Irgendwann hörte die Tortur auf; diesmal gab es für die Grenzbeamten keinen Grund, uns zurückzuweisen, und nach dem in solchen Fällen üblichen Durchleuchten der Ausreisedokumente ging der Schlagbaum endlich hoch, wir ließen den Horror russischer Besatzung hinter uns und setzten den Fuß auf britisch besetzten Boden.

Freundliche Gesichter um uns herum, hilfreiche Frauen, die uns begleiteten und uns etwas Warmes zu trinken gaben. Und dann passierte wiederum ein Ereignis in Zeitlupe: Meine Mutter klappte einfach zusammen und fiel langsam, aber zielgenau neben dem Kinderwagen zu Boden. Der physische Streß für eine völlig abgemagerte, stillende Frau, so kurz nach der Entbindung, plus die unvorstellbare Erleichterung, nicht mehr unter russischer Herrschaft zu stehen, hatten ihren Tribut gefordert. Als sie wieder zu sich kam, wurde sie ins Rotkreuzzelt getragen, während mein Vater und ich, die aus voller Kehle heulte, in die Desinfektionszelte begleitet wurden.

Es war mein erster, aber beileibe nicht letzter Kontakt mit DDT. In Ostpreußen hatte ich ja bereits beim jeweiligen Krätze-Befall Bekanntschaft mit Desinfektionsmitteln gemacht. DDT tat längst nicht so weh, stank aber mindestens genauso schlimm. Zudem war das weiße Pulver danach überall: auf dem Körper, in der Kleidung, in der Luft; man wurde es einfach nicht mehr los.

Helmstedt war nur ein Auffanglager, und nachdem wir neue Papiere bekommen, desinfiziert, entlaust und mit etwas Warmen gefüttert worden waren, wurden wir auf den Weg zum Bahnhof geschickt. Unsere Destination war schließlich nicht Helmstedt, sondern Duisburg. Meine Mutter hatte sich soweit erholt, daß sie – ohne Gepäck in den Händen, das jetzt von anderen getragen wurde – den Kinderwagen schieben konnte, und irgendwann saßen wir dann mal im Zug Richtung Westen. »Saßen« ist hier das operative Wort, denn die längste Zeit stand dieser Zug auf den Gleisen und tat gar nichts; als wir losfuhren, war es bereits Nacht. Bis dahin hatten wir Haushalt gespielt: Mit Pappe und Papier war es meinem Vater gelungen, die scheibenlosen Fenster zu »schließen«, was die Temperatur von »grausam kalt« in »sehr kalt« verwandelte. Meine Aufgabe bestand darin, mit der großen Puppe zu spielen, denn ein weinendes oder schreiendes Baby war das letzte, was hier noch jemand brauchte – unnötig zu betonen, daß der Wagen immer voller wurde. Vorher jedoch hatte meine Mutter Windeln waschen müssen, natürlich in kaltem Wasser. Es gibt Gerüche, die man nie wieder vergißt: Zwei oder drei Rasierwasser erinnern mich an Männer, die mir gründlich den Kopf verdreht haben, und der Geruch von Salmiakgeist wird für mich auf ewig mit den in kaltem Wasser gewaschenen Windeln, die in einem fensterscheibenlosen, ungeheizten Waggon am 9. Januar 1946 auf einer Wäscheleine aufgehängt waren, verbunden sein. Aber das ist ja nicht so schlimm, denn wie oft habe ich im späteren Leben schon Gelegenheit gehabt, in die Nähe von Salmiakgeist zu kommen? Eben.

Exkurs: Das starke Geschlecht

Ich habe Sie von Anfang an gewarnt: Es wird Abschweifungen geben. Erinnerungen aus Kindertagen mischen sich mit Ereignissen, die später stattgefunden haben, und die Kombination gibt hie und da erhellende Erkenntnisse. Salmiakgeist war also verhältnismäßig leicht zu vergessen, Flüchtlingselend jedoch nicht. Drei Jahrzehnte später werde ich in einem ganz anderen Land die Aufmerksamkeit der Medien erregen durch mein Engagement für die Weiterbildung von Frauen. In den vielen Interviews, die diese Tätigkeit begleiten werden, wird es immer wieder die Urfrage geben: »Was hat Sie bewogen, sich so für Frauen einzusetzen?« Die volle Antwort darauf werden Sie dann im entsprechenden Kapitel finden, aber so viel sei vorweg gesagt: Ich habe sehr früh, noch im prägefähigen Alter, viele Beispiele von starken Frauen, allen voran natürlich das meiner Mutter, gesehen, und wenn ich heute am Fernseher die zahllosen Bilder von Kriegen, Stammesfehden, Krisenherden oder der Willkür von autoritären Regimen sehe, dann bestätigen sie das, was ich damals mehr als genug um mich herum wahrnehmen konnte: Wenn die Zeiten schlecht werden, sind sie es für Frauen und Kinder in doppeltem Maße. Wer immer noch Beweise dafür braucht, daß Frauen das starke Geschlecht sind, sollte sich mal damit auseinandersetzen, was sie in Kriegs-, Krisen- und Notzeiten aller Art für das schiere Überleben leisten, und das nicht nur für sie selbst, sondern zusätzlich für ihre Familien, zumindest für ihre Kinder.

Ich schreibe dieses Kapitel nach dem 11. September 2001; bei CNN kann ich täglich die Entwicklungen in Afghanistan verfolgen. Was haben die Frauen in diesem Land nicht alles erleiden müssen unter den Taliban! Und dennoch haben so viele von ihnen, unter Lebensgefahr, für ihre Töchter privaten Schulunterricht organisiert, eine Untergrundbewegung gegründet, Medizin praktiziert und mit Würde ein menschenverachtendes Terrorsystem überlebt. Ihr Leiden ist jedoch alles andere als vorbei, solange sie noch zu den Flüchtlingen gehören.

Es kann sich wohl niemand wirklich ein Bild davon machen, was die Bosnierinnen 1992 erlebt haben; die Brutalität der Vergewaltigungen hat mich zum ersten und einzigen Mal auf die Straße getrieben, als ich bei einem Schweigemarsch im Gedenken an ihre Leiden mitgelaufen bin. Ein paar Jahre später waren es die Frauen in Ruanda, und selbst in friedlichen Zeiten können viele Frauen in Afrika ihres Lebens nicht sicher sein. In manchen Dörfern ist die nächste Wasserstelle bis zu zehn Kilometer entfernt. Wasser holen ist Frauensache, und abgesehen von der Strapaze, täglich zweimal zehn Kilometer zu Fuß zu gehen, davon einmal mit einem vollen Behälter auf dem Kopf, sind sie in doppelter Gefahr: Entweder können sie unterwegs von wilden Tieren oder am Wasserloch von den dort wartenden Männern angefallen werden. Oder denken Sie an die Argentinierinnen und Chileninnen: Sie haben unter den brutalen Militärregimen in ihren Ländern zusätzlich zu den üblichen Foltermethoden auch noch die unvorstellbarsten Vergewaltigungen erdulden müssen.

Die Trümmerfrauen – um wieder in die Zeit des zweiten Kapitels zurückzukehren –, die in ganz Deutschland, besonders aber in Berlin, Aufräumarbeit leisteten, waren genauso abgemagert und unterernährt wie die heimkehrenden Männer. Woher nur nahmen sie die Kraft, diese Schwerstarbeit zu verrichten? Durch das, was sie damit verdienten, wie mit dem, was sie bei den Aufräumarbeiten fanden und wiederverwenden konnten, ist es so vielen von ihnen gelungen, ihre Kinder durch eine der dunkelsten Perioden der deutschen Geschichte zu schleusen.

Es sind solche Frauenschicksale, die bei mir einen starken Eindruck hinterlassen haben. Die Sichtweise der Männer, Frauen als schwaches Geschlecht zu klassieren, das vom angeblich starken beschützt, belächelt oder bemitleidet wird, war mir immer unverständlich. Ebenso wie die Tatsache, daß durch die Jahrhunderte hindurch so viele Frauen das mit sich haben machen lassen. Für mich waren sie immer die Stärkeren, und als ich Anfang der 70er Jahre etwas zu der aus meiner Sicht überfälligen Korrektur der Betrachtungsweise beitragen konnte, habe ich mich förmlich in diese Aufgabe gestürzt. Es schien mir nur fair, daß Frauen Chancengleichheit in der Bildung hatten und sich ihres hervorragenden Verstandes bedienen konnten. Und Fairneß, Gerechtigkeit, Chancengleichheit haben in meinem Leben immer zu den Konzepten gehört, die mein Handeln bestimmt haben. Aber kehren wir zurück zu dem Kind, das die ersten Stunden einer Freiheit erlebt, die es damals sicher noch nicht zu schätzen wußte ...

In den frühen Morgenstunden des 10. Januar trafen wir in Duisburg, der Heimatstadt meines Vaters, ein. Zufällig lag der Bunker, in dem wir einquartiert wurden, genau gegenüber der Wohnung seiner Schwester. Leider war das auch gegenüber den Räumlichkeiten, die wir bald schon zugewiesen bekommen würden und die dann für fast ein Jahrzehnt unsere Bleibe wurden. So wurde meine Mutter jeden Tag ihres Duisburger Daseins an unseren Einzug in diese Stadt erinnert. Und das war nicht gerade wünschenswert.

Desinfektion, Entlausung, Decken fassen für die Holzpritschen, ein Stück Brot und etwas Warmes zu trinken – und schon sah die Welt anders aus. Für mich jedenfalls, die die Kälte der Zugfahrt und den Geruch der Windeln hinter sich gelassen und die Begegnung mit ihrer Patentante unmittelbar vor sich hatte. Diese Patentante, Tante Änne, war eine der beiden Schwestern meines Vaters; daneben gab es noch einen Bruder, der sich jedoch frühzeitig von seiner reizenden Familie losgesagt und nach Amerika ausgewandert war. Ein Foto bezeugt, daß sie bei meiner Taufe dabei gewesen ist, zusammen mit dem Berliner Patenonkel, der traditionsgemäß der noch lebende Bruder meiner Mutter war. Während die nicht gerade schlanke Tante Änne besitzergreifend das Baby zum Fotografieren hinhält, steht Onkel Erwin etwas verlegen daneben. Ich vermute, daß beide offenbar nicht einmal einen Anfängerkurs im Pate-Sein genommen und einfach keine Ahnung von dieser Aufgabe und keinerlei Bezug dazu hatten. Wie sonst hätte die nun folgende Szene stattfinden können?

Es war kurz nach sieben Uhr früh, als die vierköpfige Familie ihres Bruders vor der Türe ihrer bürgerlich-behaglichen Behausung stand. Ich gebe zu, daß es angenehmere Dinge gibt als solch einen Familienüberfall, aber freiwillig hätte diese Familie das ja nie getan. Tante Änne war gut verheiratet, mit einem höheren Beamten von äußerst schwacher Durchsetzungskraft, der das Familien-Management klaglos an seine tatkräftige Frau abgetreten hatte. Drei Söhne hatte er mit dieser Frau, alles Vorkriegsware, und aus irgendwelchen Gründen war er vom Krieg verschont geblieben. Selbst jetzt, 1946, ging es ihnen verhältnismäßig gut, wozu Luxusfaktoren wie Zentralheizung, Badezimmer und solide Chippendale-Möblierung ihren Teil beitrugen. Den Empfang herzlich zu nennen käme einer unverschämten Beschönigung gleich, aber ihn mit »frostig« zu bezeichnen entspräche auch nicht der Wahrheit. »Nervös« wäre vielleicht das Wort, das die Stimmung am besten kennzeichnet. Vom ersten Händeschütteln (wie bitte, ein Kuß für das Patenkind? Aber doch nicht bei Tante Änne!) an verpaßte sie keine Gelegenheit, zu jammern und zu klagen, wie schlecht es ihnen ginge. Natürlich hatten wir nicht erwartet, in dieser Wohnung die nächsten Jahrzehnte zu verbringen, aber die penetrante Art, in der sie uns klar machte, wie schwierig das Leben für sie und ihre Familie war, zeigte uns bald, daß auch eine kurzfristige Unterkunft in dieser großen, komfortablen 5-Zimmer-Wohnung nicht einmal für die nächsten paar Tage eine Option sein könnte.

Sobald meine Mutter sich gefaßt hatte, drängte sie auf Abgang. Ihr Körper war zwar entkräftet, aber ihr Stolz nicht gebrochen, und so packte sie ihr Baby, für das Tante Änne übrigens weniger als null Interesse zeigte, nahm ihre kleine Tochter an der Hand und drängte meinen Vater zur Türe hinaus. Keine zwei Stunden waren vergangen, und wir waren wieder im Bunker, einige Illusionen ärmer und ziemlich ratlos.

Das Haus, in dem meine Patentante wohnte, war das zweite von vier Häusern, die zusammen einen der besseren Wohnblocks in Duisburg darstellten und, o Wunder, keinerlei Bombenschaden erlitten hatten. Zu jeder Wohnung gehörte ein Mansardenzimmer für das Dienstmädchen. Die Dienstmädchen gab es inzwischen nicht mehr; die Mansarden waren voller Gerümpel. Irgend jemand im vierten Haus bekam mit, daß die Familie der einflußreichen Patentante gegenüber diesen Häusern im Bunker vegetierte, und bot uns eine dieser Mansarden zu einem Spottpreis an. Ein Bett, eine Pritsche, ein Tisch, ein paar Stühle wurden auch aufgetrieben, und bald schon kam eine zweite Mansarde hinzu, so daß wir eine Schlafkammer mit einer Dachluke und eine Küchenmansarde mit einem echten Fenster hatten. Diese beiden Zimmerchen (wie auch das dritte, das im Laufe der nächsten neun Jahre irgendwann dazugemietet worden war) waren nicht miteinander verbunden; es gab also keine Wohnungstüre, sondern anfänglich zwei, später drei einzelne kleine Räume am Ende des Ganges, von dem die anderen Dienstbotenkammern abzweigten. Am Anfang dieses Ganges, gleich oben an der Treppe, gab es eine Toilette und ein Waschbecken. Dort holten wir und die Bewohner der anderen Mansarden jeweils in einem Eimer das saubere Wasser und schütteten den Inhalt des zweiten Eimers mit dem verbrauchten Wasser in die Toilette. Wir hatten also immerhin den Komfort von fließendem Wasser und einer Innentoilette mit Wasserspülung, aber keine Badewanne. Haarewaschen in der schmalen Küche wurde zu einem Meisterwerk in Akrobatik – ich erinnere mich, daß ich im Alter von neun Jahren zum erstenmal erfuhr, was Rückenschmerzen sind, als ich mich von der Prozedur aufrichtete und vor Schmerzen fast nicht mehr gerade stehen konnte. Wir haben also von Januar 1946 bis Oktober 1955 in unmittelbarer Nachbarschaft zu dieser schrecklichen Familie meines Vaters gewohnt, deren Wohnung wir nur zu besonderen Gelegenheiten wie zum Beispiel Geburtstagsfeiern für die bald siebzigjährige Mutter meines Vaters betraten.

Das Beste an dieser Familie war der jüngste Sohn Jürgen. Er war ein Jahr älter als ich, aufgeweckt und frech, und ein ganz brauchbarer Spielkamerad. Diese Freundschaft dauerte jedoch nicht lange. Eines Tages waren meine Eltern im Kino (meine Mutter war geradezu besessen vom Kino, und ich bin sicher, sie hätte oder hat auf eine Mahlzeit verzichtet, um statt dessen ins Kino zu gehen), und Jürgen nutzte die Gelegenheit, seine Cousine »aufzuklären«. »Ich wette, Du weißt nicht, woher die Kinder kommen« begann er. Aber da war er an die Falsche geraten: Natürlich wußte ich das, und wie genau! Schließlich hatte mich das Baby, das im Bauch meiner Mutter heranwuchs, oft genug getreten. Also winkte ich ab – damit konnte er mich nicht schockieren. »Aber wie sie in den Bauch hineinkommen, das weißt du nicht!« triumphierte er. Stimmt. Das wußte ich nicht, aber fünf Minuten später hatte er es mir detailliert und anschaulich erklärt. Er sprach über etwas, was so absurd und so brutal schien, daß ich nichts davon glauben konnte. Ich war empört, gab ihm eine Ohrfeige und schrie ihn an, daß meine Eltern so etwas nie tun würden. Dann rannte ich aus dem Zimmer und den ganzen Weg zum Kino. Er kam mir nach, und wir warteten, ohne ein Wort zu sprechen, bis der Film zu Ende war und die Besucher das Kino verließen. Mitten in der herausdrängenden Menge erspähte ich meine Eltern. Ich lief auf meine Mutter zu und erklärte ihr laut und vernehmlich, was dieser schreckliche Cousin mir da vorgelogen hatte. Meine Mutter versuchte, mich zu beruhigen und auf Zuhause zu vertrösten – meine Güte, muß das für sie peinlich gewesen sein! Zu Hause hat sie dann behutsam versucht, den Schaden wieder gutzumachen, soweit das möglich war. In ihrer Wortwahl hörte sich das alles weniger furchtbar an, aber für eine Siebenjährige war das Wissen um die menschliche Fortpflanzung vielleicht doch noch etwas früh. Muß ich betonen, daß der Kontakt mit diesem Spielgefährten, auch wenn er mein Cousin war, ein abruptes Ende erfuhr?

Das kann Tante Änne nur recht gewesen sein; je weniger Kontakt zu diesen entsetzlichen Verwandten, mit der sie ein rächender Gott für irgend etwas bestrafen wollte, desto besser! Aber wofür nur hätte er diese fromme Frau bestrafen wollen? Daß Gott hier seine Hand im Spiel hatte, war eindeutig, denn sie war zwar keine Nonne geworden, aber ihr Sein wurde sonst ziemlich heftig von der katholischen Religion bestimmt. Sie ging jeden Tag zur Messe und meistens auch zur Kommunion. Das lohnte sich aber nur, wenn genügend andere Gottesdienstbesucher da waren. Stets saß sie in der ersten Reihe, die Augen geschlossen, einen Schritt vor der religiösen Trance, der sie sich jedoch mit einem prüfenden Blick kurz entzog, wenn sie feststellen wollte, wer denn sonst noch da war. Wenn das Resultat sie befriedigte, stand sie auf, ging mit aneinandergelegten Händen, die sie ausgesteckt vor ihre füllige Brust hielt, und halbgeschlossenen Augen in Richtung Altarstufen, um die Kommunion zu zelebrieren. Auf dem Rückweg zu ihrem Platz hatte die Verzückung noch um einen Grad zugenommen.

Ich könnte das heute noch zeichnen, wenn ich zeichnen könnte, denn als Kind war ich öfter dazu verknurrt, mir dieses Schauspiel anzusehen, und ich saß dann immer erwartungsvoll da: Würde sie diesmal eine Stufe verpassen oder in die falsche Bank eintreten? Je älter ich wurde, desto mehr faszinierte mich dieses Ritual. Ich habe in meinem ganzen Leben keinen bigotteren Menschen getroffen, aber das würde sich erst nach und nach zeigen.

Meine Patentante war in dem katholisch geprägten Quartier eine einflußreiche Frau. Sie spendete gezielt für karikative Institutionen, bei denen sie sicher sein konnte, daß sie Katholiken zugute kamen. Sie war eine immer gesprächsbereite Partnerin für die Anliegen der diversen Pfarrer und ging im Nonnenkloster, das einen Block entfernt lag, ein und aus. Ihre penetrant zur Schau getragene Frömmigkeit war für sie das Maß aller Dinge; Menschen, die von ihrer religiösen Überzeugung weniger Aufhebens machten oder – o Schreck, o Graus! – gar keine hatten, zählten nicht.

Ihre alte Mutter, eine kleine, verhutzelte Frau, ging jeden Morgen um sechs Uhr zur Messe. Diese Tatsache, eine furchterregende Warze in ihrem Gesicht sowie der Geruch einer alten Frau sind die hauptsächlichen Eigenschaften, die mir von dieser zweiten Großmutter im Gedächtnis geblieben sind. Zum Geburtstag oder bei Familienanlässen gab sie mir jeweils fünfzig Pfennige, mit der Aufforderung, mir dafür »etwas Schönes zu kaufen«. Wenn sie nicht in der Kirche war, dämmerte sie vor sich hin, nuschelte ab und zu ein paar Sätze heraus oder betete ein paar Rosenkränze.

Ich glaube, es ist Zeit, daß Sie den Rest dieser fragwürdigen Verwandtschaft kennenlernen, damit Sie wenigstens verstehen können, warum es meine Mutter mit aller Kraft nach Berlin zurückzog ...

Tante Änne war die ältere Schwester meines Vaters, Tante Hedwig die jüngere. Sie war verheiratet mit einem gutaussehenden Schwächling, der eigentlich ganz nett war, aber durchaus kein Partner für seine herrschsüchtige, krankhaft geizige Frau. Die beiden hatten zwei Kinder produziert. Bei dem Erstgeborenen, der nur knapp jünger war als meine Schwester, hatten sie sich doch tatsächlich zu dem Vornamen Ingo verstiegen; bei der Tochter, die zwei Jahre später kam, reichte es immerhin noch für Vera.

Die Vornamen dieses Cousins und dieser Cousine sagen viel aus über deren Mutter. Hedwig war in ihrer fugend weitaus ansehnlicher gewesen als ihre ältere Schwester, und während die sich früh den richtigen Ernährer geangelt hatte, stellte sich heraus, daß Hedwig kein Kind von Traurigkeit war. Was nicht ohne Folgen blieb. Diese Folgen sind in aller Heimlichkeit abgetrieben worden – etwas, was alle wußten, worüber aber nie gesprochen werden durfte. Ihrem späteren Ehemann hat sie offenbar noch Jungfräulichkeit vorgaukeln können – na ja, das sagt dann wiederum einiges über ihn aus. Hedwig hatte mal in Vorkriegszeiten ihre ferne Schwägerin in Berlin unter die Lupe nehmen wollen und war dorthin gereist. Dabei hatte sie sich in Berlin so gut amüsiert, daß sie öfter Gastrecht in Anspruch nahm. Sie war in bezug auf ihre Libido wohl eher die Schwester meines Vaters, konnte das jedoch nicht so offen ausleben. Wenn sie sich dann aber dem gnadenlos forschenden Blick ihrer Familie entziehen konnte, hat sie wohl ziemlich viel unternommen, um ein paar fette Brocken für die nächste Beichte zu haben.

Tante Hety, wie sie sich nannte, wohnte mit ihrer Familie in Mülheim, in einem Reihenhaus mit Gärtchen und, vor allem, einem Zaun. Ihr größtes Bestreben war nämlich, das, was ihr gehörte, vor zudringlichen Händen oder nur schon Blicken zu schützen. Der gewisse Charme, den sie von ihrer jugendlichen Leichtlebigkeit noch in ihr betuliches Eheleben hinübergerettet hatte, verschwand schlagartig, wenn Gefahr drohte, daß sie etwas mit jemandem teilen sollte. Wir waren natürlich Hauptdarsteller in dieser »Jemand«-Gruppe, da wir ja buchstäblich nur das mitgebracht hatten, was wir drei mit unseren Händen tragen konnten und was meine kleine Schwester gnädig in ihrem Kinderwagen geduldet hatte. Und so kenne ich Tante Hedwig eben eher von ihrer dezidiert uncharmanten Seite, wobei mir eine ihrer Strategien unvergeßlich geblieben ist:

Wir waren hie und da zu Geburtstagen bei ihr eingeladen. Ich war dann immer altersmäßig gewissermaßen in einer Beletage: Weder gehörte ich wie meine Schwester, Ingo und Vera zu den »Kindern«, noch war ich groß genug, um bei den Großen zu sitzen. Aber wenn ich mich entscheiden mußte, dann schon eher die Großen, denn dort gab es meistens etwas zu erfahren, zu staunen – oder zu essen. Letzteres zieht sich durch meine Jugend wie ein roter Faden: Die Suche nach Essen wurde fast zur Obsession. Hunger macht käuflich, und so fand ich denn hie und da meine Tante Hety gar nicht so schlecht, weil sie gut Kuchen backen und ebenso gut Aufschnittplatten dekorieren konnte. Die Sympathie endete jedoch jedes Mal abrupt, wenn ihre Strategie zum Zuge kam. Und das ging so: Während ich noch an irgend etwas kaute und in Gedanken schon die nächste Schnitte oder, noch viel besser, das nächste Stück Kuchen ins Visier nahm, lud sie sich mit einer an Professionalität grenzenden Präzision die noch gefüllten Platten auf den linken Arm und marschierte in Richtung Tür. Dort drehte sie sich zu uns um, lächelte eine Mischung aus Scheinheiligkeit und Triumph, und sagte: »Oder wollte noch jemand etwas?« Unnötig zu betonen, daß sie an der Antwort keineswegs interessiert war, denn selbst wenn es noch jemandem – hauptsächlich mir – eingefallen wäre, todesmutig mit »Ja, ich!« zu antworten, hätte man das nur noch an die bereits von außen geschlossene Zimmertüre adressieren können. Nach der Zeit, die sie brauchte, um in der Küche das ihren Gästen Vorenthaltene wegzustellen, war sie wieder da – jetzt ganz entspannte Gastgeberin.

Ganz wenige Male nur ist ihr Timing nicht so gut gewesen, das heißt, ich war gerade nicht am Kauen, wenn sie ihre berühmte Frage stellte, und daher parat, ihre Strategie zu durchkreuzen, indem ich blitzschnell mit »Ich!« antwortete. Ich würde erst viel später lernen, daß rhetorische Fragen keine Antworten vorsehen. Sie kam dann jeweils zurück, schnitt das möglichst kleinste Stück Kuchen ab, das sie unwillig auf meinen Teller gleiten ließ, und begleitete diese schmerzhafte Tätigkeit mit vielen netten Bemerkungen über Kinder, die zuviel essen, oder fragte mich ganz direkt: »Mein Gott, Kind, kriegst du denn nie genug?« Die Antwort wäre ein klares Nein gewesen; ich war immer hungrig. Und eines Tages durfte ich das auch bei ihr unter Beweis stellen.

Es war im Sommer, denn ich weiß noch, es gab Obstkuchen und Vanille-Pudding mit Früchten. Mein amerikanischer Onkel war da, und mit ihm lernen Sie jetzt das letzte Mitglied der Familie meines Vaters kennen. Wir wollen mal nicht damit anfangen, über seinen Charakter zu reden – den hat nämlich keiner so richtig ergründen können, ebensowenig wie die Quelle seines Einkommens. Dieser Onkel imponierte zuerst einmal durch sein Äußeres: groß (im Gegensatz zum Rest der Familie), ausgesprochen gut aussehend, braun gebrannt, mit einer gewissen Eleganz des fülligen Körpers. Dazu kamen ein stark amerikanisch gefärbtes Deutsch, ein schneller Humor, dem nichts heilig war, und, das Wichtigste: ein weißer Cadillac! Man muß sich das mal vorstellen: Nachkriegsdeutschland in der Zeit zwischen Kapitulation und Währungsreform, wo es nichts zu kaufen gab, was wert war, gekauft zu werden – und dann steht da plötzlich ein weißes Cadillac-Cabriolet vor der Haustüre.

Fritz hatte offenbar als junger Mann genug gehabt von seiner komischen Familie und war ausgewandert. Die längste Zeit wußte gar niemand, wo er war – seine Sehnsucht nach den Familienbanden war so klein, daß er es nicht für nötig gehalten hatte, seinen Aufenthaltsort bekannt zu geben. War es ein schlechtes Gewissen, oder war er so beeindruckt von dem, was sein Herkunftsland während des zwölfjährigen Nazi-Grauens durchgemacht hatte? Plötzlich jedenfalls verspürte er das Bedürfnis, diesem Land einen Besuch abzustatten, und eines Tages stand er da. Wann war das? Ende 1946 oder schon 1947? Ich weiß es nicht mehr, aber auf alle Fälle habe ich diesen Onkel als das Positivste gespeichert, was in der Familie meines Vaters existierte.

Das hatte verschiedene Gründe. Zum einen brachte er wunderbare Dinge mit wie Kaffee, Schokolade und Nylonstrümpfe. Ich komme aus einer kaffeesüchtigen Familie – eine Sucht, die sich auf mich übertragen hat –, und meine Mutter war jeweils bester Laune, wenn sie, wie man das zu der Zeit nannte, »echten Bohnenkaffee« bekam, im Gegensatz zu dem grauenhaften Gebräu, das wir sonst tranken. Zum anderen entstand sehr schnell eine Bindung zwischen Uncle Fred und dieser Berlinerin, die einen Hauch von Großstadt in die Familie gebracht hatte, die einen Berliner Sinn für Humor besaß und über seine Familie ähnlich dachte wie er. Im Gegensatz zu seiner jüngsten Schwester war er ausgesprochen großzügig, und seine Dollars konnten zu jener Zeit Dinge kaufen, die offiziell gar nicht zu haben waren – jedenfalls nicht für Reichsmark.

Unvergeßlich ist mir dieser Onkel geworden, als es wieder einmal einen Familienanlaß bei Tante Hety gab, den er großzügigst finanziert hatte. Es war von allem mehr als genug da, und die Tante überlegte sicher schon, wieviel sie von diesem Überfluß für ihre Familie abzweigen konnte. Es kam also wieder der Moment, wo sie mit viel Geschick die noch gut gefüllten Platten auf ihren linken Unterarm stapelte und zur Tür hastete. Sie drehte sich um, um mit diesem falschen Lächeln auf dem Gesicht einmal mehr zu fragen, ob noch jemand etwas wollte, kam aber nicht dazu. Entweder hatte Uncle Fred das enttäuschte Gesicht seiner Lieblingsnichte entdeckt oder er hatte einfach genug von diesem Geiz. »Hedwig!« dröhnte seine Stimme, »stell das sofort wieder auf den Tisch!« »Aber ja doch, natürlich«, säuselte sie, und unter ihren entsetzten Blicken kam ich gerne und ausgiebig der Aufforderung von Uncle Fred nach, zuzugreifen, solange ich wollte. Natürlich habe ich den Triumph zu lange ausgekostet – mir wurde irgendwann einmal an diesem Nachmittag furchtbar schlecht. Aber da waren wir schon auf dem Heimweg, und Tante Hety hat diesen Teil der Geschichte nie erfahren.

Uncle Fred war, glaube ich, dreimal in Duisburg und sorgte bei uns für goldene Stunden in einem ansonsten tristen Dasein. Mit jedem Mal sah er weniger von seiner Familie und mehr von uns, wobei er das angespannte Verhältnis zu seinem Bruder in Kauf nahm. Er adressierte auch die seltenen Briefe, die er aus Florida schickte, an uns, mit der Aufforderung, den Inhalt den anderen mitzuteilen, falls wir Lust dazu hatten. Dann aber kamen auch die nicht mehr, und Uncle Fred verschwand aus meinem Leben so plötzlich, wie er darin aufgetaucht war. So märchenhaft sein Auftreten auch gewesen war, ich habe nie das Bedürfnis gehabt, nach ihm zu forschen. Er kam mit materiellen Gütern aus dem Land der unbegrenzten Eßwaren, und er ließ uns erahnen, was das Wort Glamour, das damals mit den ersten Hollywood-Filmen in den deutschen Wortschatz eingeschleust wurde, bedeuten könnte. Für mich wird er immer mit dem denkwürdigen Anlaß bei Tante Hety in Erinnerung bleiben, und ich danke ihm noch posthum, daß er mich für all die Male gerächt hat, wo sich die noch vollen Platten und Schüsseln unter meinen entsetzten Blicken in Richtung Küche der Tante bewegten.

So, nun kennen Sie die ganze Familie väterlicherseits, und vielleicht begreifen Sie jetzt, warum ich im ersten Kapitel zu Vorsicht bei der Wahl der Eltern gemahnt habe. Falls Sie hoffen, daß das besser wird, wenn wir endlich wieder in Berlin sind und ich Ihnen die Familie mütterlicherseits vorstellen kann, muß ich Sie enttäuschen: Die beiden Familien stehen sich in nichts nach, was Hilfe und Zuwendung in schwierigen Zeiten betrifft, und es macht keinen großen Unterschied, ob sie aus Bigotterie oder krankhaftem Geiz gehandelt haben wie die Duisburger oder aus Egoismus und Desinteresse wie die Berliner. Aber noch sind wir in Duisburg, wo wir bis 1955 bleiben werden – und da sind noch viele Dinge passiert, die nichts mit diesen enttäuschenden Familienmitgliedern zu tun haben.

Ich war nicht die einzige, die hungrig war, aber Hunger hat bei mir immer etwas ausgelöst, was meine Umwelt nicht ignorieren konnte: Ich werde ziemlich schwierig, wenn mich der Hunger überfällt. Menschen, die sich die Mühe gemacht haben, mich wirklich kennenzulernen, hatten in dieser Hinsicht einen wichtigen Lernprozeß zu bewältigen: So diszipliniert und beherrscht ich in vielen Belangen sein kann, wenn ich hungrig bin, ist mit mir nicht zu spaßen. Zu diesem Lernprozeß gehört auch, daß man mir nie etwas versprechen sollte, was nicht gehalten werden kann. Aufs Essen bezogen, bedeutet das, daß man mir zum Beispiel nicht in Aussicht stellen darf, nach einer (sportlichen) Anstrengung in ein bestimmtes Restaurant einzukehren, ohne vorher zu überprüfen, ob dieses Restaurant an dem Tag auch offen hat. Denn wehe, wenn es geschlossen ist, wie das mal passiert ist! Dann bricht für mich eine Welt zusammen. Und das, obwohl ich viele Male Heilfasten-Kuren bis zu zwanzig Tagen durchgeführt hat, dabei voll gearbeitet und nicht gelitten habe. Darin liegt eben der Unterschied: Wenn ich selbst bestimme, daß Essen kein Thema ist, ist das eine Sache; wenn jemand anders das für mich übernimmt, wird es dramatisch.

Immerhin hatte mein Hunger damals einen seriösen Grund: Ich wuchs sehr schnell und war dabei sehr dünn. Aufgrund unserer Wohnverhältnisse mußte ich wiederum mit meiner Mutter das Bett teilen, und so dauerte es nicht allzu lange, bis sie herausfand, daß ich nachts stark schwitzte. Ich hatte Kinder-Tbc. Meine inneren Organe hatten mit dem Wachstum der äußeren Hülle nicht Schritt gehalten, und meine Lunge hatte mir mein schnelles In-die-Höhe-Schießen übel genommen. Immerhin bedeutete das, daß wir eine Zeitlang extra Rationen Milch, Butter und andere Eßwaren vom städtischen Gesundheitsamt bekamen, um mich aufzupäppeln. Nach einer Weile beruhigte sich die Lunge wieder; irgendwann einmal hatte ich dann keine Tuberkulose mehr. Eine Weile blieb noch die Angst, daß diese Krankheit zurückkehren könnte, aber dann hat niemand mehr daran gedacht. Erst Jahre später, als ich meinen Auswanderungsantrag nach den USA stellte, sollte ich nochmals beunruhigt sein, denn etwas, wovor die Amerikaner panische Angst hatten, war jede Art von Lungenkrankheit. Die Röntgenaufnahmen zeigten zum Glück nur noch Narben, und die zwar auf meinem Antrag vermerkt, aber kein Hinderungsgrund für mein Visum waren.

Duisburg war gewöhnungsbedürftig, in jeder Hinsicht. Es blieb uns jedoch nichts anderes übrig, als uns wiederum mit einer neuen Umgebung auseinanderzusetzen. Das fällt einem Kind natürlich leichter, aber meine Mutter litt sehr. Tatkräftig wie sie war, versuchte sie, dieses Leiden zu mindern, und eines Tages war es dann soweit: Wir gingen für einen Kurzbesuch nach Berlin. »Wir« hieß: meine Mutter und ich. Und »gingen« ist nicht einmal das falsche Verb, denn ein Teil dieser Reise mußte zu Fuß zurückgelegt werden: Wir gingen nämlich über die sogenannte Grüne Grenze. Offiziell war uns der Besuch von Berlin untersagt; die Russen hatten sämtlichen Absichten von ehemals Evakuierten, nach Berlin zurückzukehren, einen Riegel vorgeschoben. Und so hatte sich schnell ein Schlepper-Geschäft entwickelt, das Menschen, die nach Berlin wollten – für immer oder nur zu Besuch –, diesen Wunsch erfüllten. Keine Ahnung, was meine Mutter dafür gezahlt hat – viel kann es nicht gewesen sein, aber was immer es war, sie muß es sich buchstäblich vom Munde abgespart haben. Und die Schlepper von damals unterschieden sich nicht von den Menschen, die dieses schmutzige Geschäft heute betreiben: Das Geld mußte selbstverständlich im voraus gezahlt werden, eine Garantie gab es ebenso selbstverständlich nicht, und bei Entdeckungsgefahr verzogen sich die »Führer« selbstverständlich sofort. Bis zur Grenze konnten wir einen Zug nehmen; ab einem gewissen Punkt jedoch ging es nur noch zu Fuß weiter. Wir mußten lange und im Dunkeln über Felder und durch Wälder laufen, um dann irgendwann in der Umgebung Berlins zu landen.

Das Ganze war sowohl aufregend als auch anstrengend. Aber die Aussicht, Berliner Luft zu schnuppern, die ja gemäß der Legende besonders anregend sein soll, ließ uns die Anstrengung vergessen. Die Ansicht unterschied sich jedoch dann erheblich von der Aussicht: Wir standen vor dem inzwischen total zerstörten Haus in Wilmersdorf, in dem ich die ersten vier Lebensjahre verbracht hatte, durchsuchten den Trümmerhaufen nach Brauchbarem und weinten uns die Augen aus dem Kopf.

Man sollte meinen, daß eine dieser Erfahrungen genügt. Dem war aber nicht so. Ein Jahr später probte meine Mutter nochmals den Aufstand bzw. die Flucht, und ich bin sicher, es hätte noch ein drittes oder viertes Mal gegeben, wenn ich nicht auf der zweiten Reise im Dunkeln auf einen Frosch getreten wäre! Der Frosch sprang vor mir in Gesichtshöhe auf, und ich ließ einen entsprechenden Schrei aus meiner jugendlichen Kehle. Laut genug, um die patrouillierende Grenzpolizei auf unseren kleinen Trupp aufmerksam zu machen. Nur mit größter Mühe ist es uns gelungen, trotzdem unentdeckt zu bleiben. Offenbar hat meine Mutter danach unsere Sicherheit ihrer Heimwehbewältigung vorgezogen; sie würde allerdings noch acht Jahre warten müssen, bis sie, ganz legal und per Zug, ihrem Heimweh ein Ende machen konnte.

Espresso mit Zitrone - Mein wechselvoller Weg als Unternehmerin

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