Читать книгу Espresso mit Zitrone - Mein wechselvoller Weg als Unternehmerin - Monique R. Siegel - Страница 9
Wenn ich je jemanden aus meiner Schulzeit träfe...
ОглавлениеJe berühmter man wird,
desto mehr Schulfreunde trifft man.
Franklin D. Roosevelt
Also, wenn die zweite Zeile von Roosevelts Aphorismus ein Gradmesser für die erste wäre, dann muß ich sagen: Berühmt bin ich offensichtlich nicht geworden. Obwohl ich bei dem Gesellschaftsspiel Fame or Fortune immer Fame gewählt habe, hat sich das nie so weit niedergeschlagen, daß ich jemanden aus meiner Schulzeit getroffen hätte. Und das ist gut so. Für alle Beteiligten.
Ich lebe seit über dreißig Jahren in einem der schönsten Länder der Welt, der Schweiz, die neben Schönheit auch sonst noch einiges zu bieten hat, worauf ich an anderer Stelle eingehen werde. Aber sie nervt auch hie und da, und zu den Dingen, auf die ich geradezu allergisch bin, gehört das Ritual, das sich jeweils bei Einladungen oder Zusammenkünften aller Art abspielt. In der ersten halben Stunde entdecken mindestens zwei der Anwesenden, daß sie vor 783 Jahren miteinander in den Kindergarten oder zur Schule gegangen sind! Und wenn sie es nicht selbst waren, dann waren es ihre Geschwister oder Cousins, oder ihre Eltern sind im selben Dorf in dieselbe Klasse gegangen. In der Schweiz muß man nicht berühmt sein, um Schulfreunde zu treffen. Aufgrund der Größe des Landes genügt es einfach, zur Schule gegangen zu sein – und schon trifft man Menschen, mit denen man gemeinsame Erinnerungen austauschen kann. Sicher bin ich besonders empfindlich, was das Thema Zugehörigkeit angeht, aber mir wird einfach jedesmal wieder bewußt, daß es hier einen Bereich gibt, der für eine Zugereiste Sperrbezirk ist.
Sie haben recht: Ich bin ja auch zur Schule gegangen, aber ganz abgesehen davon, daß sich der Schulbesuch mit Ausnahme des ersten und letzten Halbjahrs in Duisburg abgespielt hat und einem in Zürich nicht jeden Tag jemand aus dieser Gegend über den Weg läuft, möchte ich klar festhalten: Wenn ich je jemanden aus meiner Schulzeit träfe, würde diese Person danach für den noch verbleibenden Rest ihres Lebens einen bleibenden Schaden davontragen. So absurd das klingen mag: Ich blicke eigentlich noch gerne auf meine Kindheit zurück, trotz Krieg und all seiner Begleiterscheinungen. Wenn ich jedoch an meine Jugend denke ..., also ich werde Ihnen hier ein paar »Müschterli« geben, und dann können Sie selbst entscheiden, okay?
Fangen wir mit der Volksschule an, die so hieß, weil sie fürs ganze Volk ein achtjähriges Pensum als Mindestausbildung bot. Ich habe mich dort nur für eine Mindestdauer aufgehalten. Das erste halbe Jahr hatte ich ja verpaßt, weil Deutschland Ostern 1945 andere Sorgen hatte, als mich einzuschulen. Das zweite Halbjahr, das für mich ab Herbst desselben Jahres begann (Sie erinnern sich an die Schiefertafel mit »Anna und Alma«?), wurde durch die Flucht unterbrochen; in Duisburg mußte ich neu eingeschult werden, machte noch den Rest der ersten Klasse mit und kam dann mühelos in die zweite. Dort begann das Elend. Ich fand sehr bald heraus, daß meine Schularbeiten in einem Bruchteil der dafür zur Verfügung stehenden Zeit gemacht werden konnten; ich las etwas und hatte es im Kopf oder konnte sofort die Aufgabe lösen, ohne nochmals nachzuschauen. (Wenn das heute nur auch so wäre!)
Das ging mit allen Fächern so, bis auf die Rechenaufgaben, für die ich mich gar nicht begeistern konnte. Mein Vater wurde von meiner Mutter aufgefordert, mir dabei zu helfen – Sie ahnen, was kommt. Wir haben eine Wiederholung der Fahrrad-Geschichte, nur daß ich diesmal nicht so schnell erlöst wurde. Es gab dann sehr oft Krach zwischen meinen Eltern, weil meine Mutter die Erziehungsmethoden meines Vaters für ausgeprochen unmotivierend hielt – eine tolle Zeit! Ich freute mich zwar einigermaßen auf den Schulmorgen, aber gleichzeitig langweilte ich mich tödlich. Die Lehrerin nahm mich einfach nicht oft genug dran, obwohl mein Arm bei fast jeder Frage nach oben schoß. Bis auf die Rechenaufgaben, die dann am Nachmittag in Nachhilfe- »Unterricht« bei meinem Vater mündeten.
Eine Lösung mußte gefunden werden, und sie kam auf ungewöhnliche Weise. Eines Tages sprach die Lehrerin – eine bildhübsche, sanfte junge Frau von fünfundzwanzig, die ich sehr mochte – bei meinen Eltern vor. Ob sie beabsichtigten, ihre Tochter auf die Höhere Schule (Gymnasium), wie es damals hieß, zu senden. Selbstverständlich, meinte mein Vater, der eine doofe Tochter als Schicksalsschlag empfunden hätte. Gut. Dann würde sie folgendes vorschlagen: Da sie mir in der zweiten Klasse offenbar nichts mehr beibringen konnten – bis auf die Rechenaufgaben natürlich –, schlug sie vor, mich in die dritte Klasse zu nehmen, wo ich gefordert wäre und die anderen mit meiner Frustration nicht mehr verunsichern würde. Und was die Rechenaufgaben anging: Sie würde mir kostenlos Nachhilfestunden geben, um mich auf den nötigen Stand zu bringen. Toll. Wir hatten gleich zwei Probleme aus der Welt geschafft: meine Langeweile in der Schule und die Demonstrationen des pädagogischen Talentes meines Vaters. Jetzt liebte ich die Lehrerin, die sich so liebevoll um mich kümmerte und mir den Einstieg in den Stoff der dritten Klasse so leicht wie möglich machte, geradezu. Ich war also sieben Jahre alt und in der dritten Klasse.
Das wäre vielleicht auch sonst nicht leicht; unter den gegebenen Umständen war es unmöglich. Die älteste Schülerin war eine vollentwickelte Dreizehnjährige, die einfach aufgrund des Krieges einige Schuljahre ausgesetzt hatte. Na ja, vielleicht nicht nur aufgrund des Krieges, den viele andere ja mit ganz normalen Versetzungen überstanden hatten; vielleicht hatte eher ihr IQ etwas damit zu tun. Die anderen Kinder waren zwischen neun und zwölf, was nicht nur über das Altersgefälle, sondern auch über die gesammelte Intelligenz in dieser Klasse etwas aussagt. Die meisten wären vielleicht gar nicht mal so bildungsunfähig gewesen, wenn sie nicht unter der Knute der dreizehnjährigen Waltraud gestanden hätten, die ein Terror-Regime ausübte. Sie war die Tochter einer Prostituierten, die sich wohl nie richtig um sie gekümmert hat. Dafür müssen Sie wissen: Duisburg war (oder ist immer noch?) der zweitgrößte Binnenhafen der Welt; dementsprechend ausgedehnt war das Rotlichtviertel, das ich später noch gut kennenlernen sollte. Ein Riesenbrocken, dieses Kind, das mitten in der Pubertät stand und die Dehnbarkeit eines jeden Pullovers auf gefährliche Weise testete. Spätestens wenn sie zuschlug, hatte man begriffen, wer in dieser Klasse das Kommando hatte.
Und ich bot mich in geradezu idealer Weise als Objekt fürs Zuschlagen an. »Die Neue« war nicht aus Duisburg, viel zu intelligent und offensichtlich feige. Letzteres hieß: Ich ließ mich verprügeln, ohne zurückzuschlagen. Und das fand an fast jedem Tag statt. Meistens wartete zu Hause niemand auf Waltraud, und sie hatte daher keine Eile, ihr trautes Heim aufzusuchen. Als Zeitvertreib bot ich mich an, und die Horde anderer Kinder, die sich um ihre Gunst bemühten, johlte und zollte ihr nach der Schule den Beifall, den sie während des Unterrichts nie bekommen würde.
Als ich eines Tages mit sehr sichtbaren Spuren der Attacke nach Hause kam – Waltraud besaß als einzige in der Klasse Stiefel und hatte damit meine Kniekehlen traktiert, die mehrere Blutergüsse aufwiesen –, verlangte meine Mutter von meinem Vater, daß er dieser Sache ein Ende mache. Er sollte zur Schule gehen, diese Behandlung seiner Tochter öffentlich anprangern und dafür sorgen, daß dieser Waltraud das Handwerk gelegt würde. Ach, meine naive Mutter, die immer noch nicht begriffen hatte, wie wenig mein Vater sich für solche Dinge eignete ...
Er kam also zur Schule, gleich zum Rektor natürlich. Der mimte Betroffenheit – als ob er nicht schon längst gewußt hätte, was sich da abspielte – und schlug eine öffentliche Konfrontation vor der versammelten Schule am Ende der großen Pause vor. Die Kinder aller Klassen standen also, zu zweit aufgereiht, vor den Stufen, die zum Schulhaus führten. Oben standen der Rektor, meine Lehrerin, mein Vater und ich. Szenen, die sich unauslöschlich einprägen – ich habe dieses Bild fest in meinem Kopf! Wer denn das sei, die mich so traktierte, wurde ich vom Rektor gefragt. Ich zeigte auf die liebe Waltraud, die nach oben befohlen wurde. Der Koloß schlenderte provozierend langsam nach vorne. Irgendwie hatte ich da schon das Gefühl, daß sich diese Geschichte in die falsche Richtung entwickelte, und eine Minute später sollte ich hören, daß ich recht hatte. In einer Mischung aus gespielter Empörung und Aggressivität gelang es ihr, den Rektor davon zu überzeugen, daß ich sie dauernd provozierte – und die Prügeleien jeweils selbst anzettelte!!! Ich traute meinen Ohren nicht, dafür aber meinem Vater, was wieder mal ein Fehler war. Der Rektor wandte sich an ihn und sagte gedehnt: »Ja, wenn das so ist...«, und was tat der liebe Papi? Er sah mich wütend an und zischte zwischen den Zähen so etwas hervor wie: »Also, wenn du damit anfängst, bist du ja mitschuldig. Warum hast du mir das nicht gesagt?!« Ich machte den Mund auf, um zu protestieren, aber da hörte ich schon, wie sich mein Vater bei dem Rektor entschuldigte für die Umtriebe, die er verursacht hatte, worauf er sich verabschiedete und mich da oben stehen ließ! Es ist wirklich kaum zu glauben, daß ich nicht eine einzige Chance hatte, irgend etwas in diese Gerichtsverhandlung einbringen zu können, aber so war es. Die Kinder fingen an zu kichern und zu flüstern, und ich hatte eine ziemlich gute Vorstellung davon, wie mein Heimweg aussehen würde ...
Eine meiner ausgeprägtesten Eigenschaften ist mein Harmoniebedürfnis. Ich litt unter den Krächen meiner Eltern, unter der Kälte und Verlogenheit der Verwandten und natürlich unter der Gewalt dieser Mitschülerin bzw. der Tatsache, daß sie die Klasse so im Griff hatte, daß kein anderes Kind wagte, sich auf meine Seite zu schlagen. Aber ich hasse Ungerechtigkeit. Und diese Regung ist immer stärker gewesen als die Sucht nach Harmonie. Ich bin heute überzeugt, daß ich dafür an diesem denkwürdigen Tag das erste Beispiel geliefert habe.
Ich verstand die Welt nicht mehr. Mein Vater hatte mich vor der ganzen Schule gedemütigt, und nicht einmal meine geliebte Lehrerin war mir verbal zu Hilfe gekommen. Im Laufe der zweiten Morgenhälfte verwandelte sich die Erinnerung an die Demütigung in helle Wut; ich würde meinen Vater zur Rede stellen, wenn ich nach Hause kam. Allerdings freute ich mich nicht auf diese Auseinandersetzung und trödelte mit dem Zusammenpacken meiner Schulsachen herum, als ein Kind atemlos in das leere Klassenzimmer kam und mir zurief: »Sie wartet draußen auf dich.« Das hatte ich ja schon selbst vermutet, aber ich war nicht darauf gefaßt, daß die anderen Kinder Spalier standen und auf das Spektakel warteten, das sich auf dem jetzt leeren Schulhof abspielen würde.
Erinnern Sie sich an die Szene in From Here to Eternity, wenn Frank Sinatra zum zweitenmal ins Militärgefängnis eingeliefert wird und am Ende des langen Ganges Ernest Borgnine, der sadistische Wärter, auf ihn wartet? So ungefähr müssen Sie sich das vorstellen: Nicht alle, aber die meisten Kinder der Klasse standen rechts und links und bildeten die Gasse, durch die ich mußte und an dessen Ende der wütende Koloß stand, mit einem hämischen Grinsen auf dem Gesicht, die Hände in Vorfreude zu Fäusten geballt.
Ich hatte eigentlich keine Chance, aber ich hatte meine Wut. Und was dann passierte, ist ebenso unwahrscheinlich wie das, was ein paar Stunden zuvor geschehen war. Ich rannte durch das Spalier, und ohne richtig nachzudenken – wofür mir ja auch keine Zeit blieb –, schmiß ich meine Schulmappe in die rechte Kinderreihe. Dann stürzte ich mich mit einem Urschrei auf den Koloß, warf ihn zu Boden, schüttelte den massigen Körper wie eine Besessene und schrie – ja was habe ich gesagt? Keine Ahnung mehr, aber es müssen die gesammelten Emotionen des Morgens gewesen sein. Alle waren verblüfft, am meisten die Attackierte, die plötzlich anfing zu heulen und zu jammern. Sie trug einen Flauschmantel, und ich hatte mich in einem der Knopflöcher verfangen, das sich zu einem beträchtlichen Riß erweitert hatte. Vielleicht ahnte sie, daß sie mit diesem erklärungsbedürftigen Kleidungsstück zu Hause Ärger bekommen würde – die Zeiten waren nicht so, daß man einfach hinging und einen neuen Mantel kaufte. Sie hat mich nicht angerührt, sondern stand einfach heulend da mit dem herausgerissenen Knopf in der Hand. Die anderen Mädchen trauten ihren Augen nicht; keine wußte, was jetzt angesagt war. Ich hob meine Mappe auf und war sicher, daß ich diesmal einen sicheren Heimweg haben würde.
Damit war das Drama jedoch noch nicht ausgespielt. Im Zustand höchster Aufregung kam ich nach Hause, wo ich zuerst einmal meine Mutter aufklärte, wie wenig sich mein Vater für die Rolle des unerschrockenen Rächers seiner Tochter eignete, und ihr dann, ziemlich aufgelöst und jetzt auch heulend, berichtete, was sich bei Unterrichtsende zugetragen hatte. Dann kam natürlich der Krach mit meinem Vater, der noch bemerkte, nachdem er meine Geschichte mitgehört hatte, da sähe man ja, wer diese Prügeleien anfinge, und bevor das Ganze eskalieren konnte, klingelte es an der Haustüre. Wir wohnten im vierten Stock, und ich konnte schnell sehen, wer da die Treppen hinaufhastete: Waltraud mit einer Frau, die wohl ihre Mutter war. Ein neuer Showdown bahnte sich an.
Auf dem letzten Treppenabsatz blieben die beiden stehen, denn oben an der Treppe (Sie erinnern sich, wir hatten keine Wohnungstüre, die man vor dieser Frau hätte zuschlagen können) stand die Rachegöttin Nemesis in Gestalt meiner Mutter, mit mir an ihrer Seite. Waltrauds Mutter begann ein Gezeter um den zerrissenen Mantel, dessen Riß sich inzwischen auf mirakulöse Weise noch vergrößert hatte, zerrte ihre Tochter nach vorne, die immer noch diesen blöden Knopf in der Hand hielt und sich auf heulende Unschuld vom Lande verlegt hatte, und verlangte auf der Höhe ihrer Stimme eine völlig absurde Summe Schadenersatz für diesen uralten, zerschlissenen Mantel.
Nachdem sie mal die erste Schreisalve abgespult hatte, war meine Mutter an der Reihe. Auch sie war erregt, aber sie schrie nicht. Verhältnismäßig ruhig erklärte sie, sie sei stolz auf ihre Tochter, die sich zum erstenmal gewehrt habe, und der kaputte Mantel sei nicht mehr als die gerechte Strafe für einen selbstverschuldeten Streit, abgesehen davon, sei er so abgetragen, daß er ohnehin fast auseinanderfiele. Sie dächte nicht im Traum daran, irgendetwas zu zahlen, und dann forderte sie die beiden auf, das Haus zu verlassen. Waltrauds Mutter schrie (inzwischen waren einige Wohnungstüren im Haus auf- und zugegangen, und ich bin sicher, alle Bewohner bekamen irgend etwas von diesem Spektakel mit), daß das mit dem Sichwehren ja wohl umgekehrt sei – ihre Tochter sei von mir angegriffen worden, obwohl auch ihr das etwas komisch vorgekommen sein muß, wenn man die Größenverhältnisse zwischen ihrem Goldkind und mir in Betracht zog. Wie bitte? meinte meine Mutter, drehte mich um und zeigte meine blutunterlaufenen Kniekehlen, wo die Stiefelspuren noch sichtbar waren. »Warst du das?« fragte Waltrauds Mutter ihr Unschuldsengelein, drehte deren Fuß um und sah, daß der Stiefelabsatz dasselbe Muster aufwies. »Davon hast du mir ja gar nichts gesagt!« herrschte sie ihre Tochter an, und wenn sie sich auch nicht gerade bei meiner Mutter entschuldigte, so wiederholte sich die Geschichte meiner Demütigung durch meinen Vater jetzt an der verhaßten Mitschülerin. Zwar drohte die Mutter noch, daß sie Schritte unternehmen würde, um von uns einen neuen Mantel für ihre Tochter zu bekommen, aber das machte meiner Mutter keinen Eindruck: Sie wußte, wo in dieser Situation die Sieger und die Verlierer waren. Waltraud heulte jetzt laut, die Mutter schimpfte ebenso laut, und zusammen traten sie den Rückzug an. Ich hatte an einem einzigen Morgen gleich zwei begnadete Pädagogen in Aktion gesehen!
Natürlich haben wir von der Mutter nichts mehr gehört, obwohl ich öfter von ihr geträumt habe. Mit Waltraud hatte ich nie wieder Probleme. Sie ging mir aus dem Weg. Bei den anderen Kindern hatte sie jede Autorität verloren, und einige bemühten sich jetzt um mich. Aber schon da zeigte sich eine andere meiner ausgeprägten Charaktereigenschaften: Ich habe ein Elefantengedächtnis für erlittene Verletzungen und bin ausgesprochen nachtragend. Diese Kinder hätten sich früher auf mich besinnen sollen; sie waren nicht da, als ich ihre Hilfe hätte gebrauchen können, und jetzt konnte ich auch ohne sie auskommen, zumal ich eine der wenigen war, deren Abschied von der Volksschule programmiert war – das Ende war also absehbar. Und schließlich war ich ja auf der Schule, um etwas zu lernen, und nicht, um Autoritätskämpfe zu bestehen oder Popularitätswettbewerbe zu gewinnen. Lernen war immer noch meine erklärte Lieblingsbeschäftigung.
Ich war gefordert mit dem Stoff der dritten Klasse; inzwischen konnte ich jedoch auch bei den Rechenaufgaben mithalten. Und dann kam die vierte Klasse mit einem wunderbaren Lehrer, der mich voll unterstützte. Gegen Ende dieses Schuljahrs mußte man sich für die Aufnahme am Gymnasium anmelden. Das heißt, zuerst einmal mußte man bestimmen, welche Richtung man einschlagen wollte: Studieren? Dann mußte es das Gymnasium sein. Oder genügte es, eine gutausgebildete höhere Tochter zu sein, die dann wiederum andere höhere Töchter gebären und zu gebildeten Wesen erziehen sollte? Dann war wohl eher das Lyzeum geeignet: Am Ende von dessen ebenfalls neunjährigem Lehrgang stand das »Pudding«-Abitur, so genannt, weil der Lehrplan Handarbeit und Kochen mit einschloß, aber auf Latein und Griechisch verzichtete. Weil mein Vater der Ansicht war, ich würde bei der Mathematik am Gymnasium nicht mithalten können, entschied er, daß es das Lyzeum würde. Kein Wunder, habe ich viele, viele Jahre gebraucht, bevor ich dem Kochen etwas abgewinnen konnte...
Also: Stichtag für meine Anmeldung zur »Höheren Schule« ist der 8. Februar 1948. Solche Sachen erledigte mein Vater, denn die seltenen Momente, wo er sich mit meiner Existenz arrangierte, waren die, wo er mit mir angeben konnte: Als ich eine Klasse übersprungen hatte, wußte das ganze Viertel innerhalb weniger Tage davon. Wenn ich Klassenbeste war, ging er mit mir spazieren und forderte mich auf, jedem, der uns begegnete, meine guten Noten herunterzubeten. Ich bin also am Stichtag für die Anmeldungen acht Jahre alt, vier Tage von meinem neunten Geburtstag entfernt. Sicher eine Art Rekord in der Geschichte der Johanna-Sebus-Schule, mit dem der Rektor dieser höheren Lehranstalt überhaupt nicht umgehen kann.
Es ist immer noch Nachkriegszeit in Deutschland. Das heißt: Die Verhältnisse sind alles andere als geordnet. Noch immer fehlen Möbel oder Schulbücher, von Landkarten oder Ausstattungen von Biologie- und Chemiezimmern ganz zu schweigen. Die Schulhäuser sind, wo nötig und möglich, notdürftig repariert worden; es mangelt jedoch an allen Ecken und Enden, ganz besonders auch an entnazifizierten Lehrerinnen und Lehrern. Die chaotischen Verhältnisse während des Krieges haben immer noch Folgen; so sind zum Beispiel viele Kinder einiges älter als üblich, und die Klassen sind weit über ihre zulässige Höchstzahl hinaus belegt.
Und in dieser Situation steht da nun dieser Mann und möchte seine achtjährige Tochter anmelden! Der Rektor traut seinen Ohren nicht, erklärt meinem Vater, daß er Dreizehnjährige zurückstellen muß, weil die Klassen übervoll sind, und daher eine Achtjährige null Chancen hat, aufgenommen zu werden. Mein Vater macht ihn darauf aufmerksam, daß ich ja nur noch vier Tage lang acht Jahre alt bin, aber auch Neunjährige sind nicht gefragt. Es würde mindestens noch zwei Jahre dauern, bis sich die Verhältnisse einigermaßen normalisiert hätten.
Offenbar will mein Vater nicht so schnell die Segel streichen, und als er fragt, was er denn mit seiner hochintelligenten kleinen Tochter tun soll, sieht der Rektor seine Chance, uns endgültig loszuwerden. Da gebe es ja noch eine Mittelschule (würde heute der Schweizer Sekundarschule entsprechen); dorthin würden sie all die abschieben, die es auf der Höheren Schule nicht schafften. Vielleicht würden die mich aufnehmen. Ich verstand das nur bedingt, denn vor dem Abschieben hätte ja zumindest eine Aufnahme erfolgen sollen, aber mein Vater erkundigt sich bereits nach der Adresse der Schule, die für mich in Frage käme; der Rektor liefert sie bereitwilligst. Wir würden es dann in zwei Jahren noch einmal versuchen, meint nun mein Vater. Der Rektor ist offensichtlich genervt von diesem Mann, und er dehnt seine Ablehnung auf mich aus. »Machen Sie sich da mal keine Hoffnung«, meint er zum Abschied mit kaum verhohlenem Hohn, »es hat noch keine geschafft, von der Mittelschule aufs Lyzeum zu kommen – der Weg geht in die umgekehrte Richtung!« Er hätte mir keinen größeren Motivationsschub vermitteln können; ich bin ihm heute noch dankbar dafür.
Die Aufnahmeprüfung für die Mittelschule war nicht schwer und die Tatsache, daß ich die Jüngste in der Klasse war, nicht neu. Ich gewöhnte mich schnell daran, daß ich hier wieder einmal Bestnoten liefern mußte – nicht nur, um meinen Vater zufriedenzustellen, sondern weil mich keiner auch nur für einen Moment vergessen ließ, daß ich ja nur für zwei Jahre ein Gastspiel geben wollte. Wenn ich wirklich den Weg zurück einschlagen wollte, den angeblich niemand erfolgreich beschreiten könnte, durfte ich nicht nachlassen. Leistung war also gefragt.
In die Zeit der Mittelschule fallen ein paar wichtige Ereignisse: Zum Beispiel der Beginn der Arbeitslosigkeit meines Vaters und, im Juni 1948, die Währungsreform, Beginn des deutschen Wirtschaftswunders. Die ersten Erfahrungen mit Heimarbeit und die ersten Lektionen einer Sprache, die einmal Anspruch erheben würde, mir meine Muttersprache zu ersetzen. Die Freundschaft mit der Bäckerstochter und die Geschichte mit den Schuhen meines Vaters. Der Vorfall mit dem Priester und mindestens zwei abortierte Schwangerschaften meiner Mutter. Es war eine Zeit des Lernens und Erfahrens, auch außerhalb der Schule. Aber nun mal hübsch eins nach dem anderen ...
Im Grunde war die Mittelschule nicht die schlechteste Schulzeit. Mein Schulweg dauerte eine Dreiviertelstunde mit der Straßenbahn oder gut zwanzig Minuten mit dem Fahrrad. Eine Zeitlang hatte ich ein Fahrrad, ein älteres Modell natürlich, nicht mehr solch ein schönes, rotes, nagelneues wie in Ostpreußen. Wie ich dazu gekommen bin, weiß ich nicht mehr, aber es hat mir sehr gute Dienste geleistet. Und eben: Natürlich konnte ich radfahren, sobald mein Vater es mir nicht mehr beibringen wollte.
Leider wußten alle in der Klasse, daß ich nicht die Absicht hatte, dort Wurzeln zu schlagen, und so mußte ich mich erst einmal bewähren und mich als verläßlich erweisen, bevor ich akzeptiert wurde. Dann aber machte wiederum das Lernen Spaß, besonders der Englischunterricht. Ich weiß nicht, was es war mit dieser Sprache – vielleicht die positiv besetzte Erinnerung an den jungen Amerikaner, der mich verwöhnt und meine Mutter angehimmelt hatte, oder Uncle Fred? –, aber vom ersten Tag an war ich ihr verfallen. Mit Ausnahme von Deutsch ist mir nichts je so leicht gefallen wie Englisch. Es waren die schönsten Stunden; gleich danach kam Aufsatz schreiben. Mit Rechnen, das nun schon Mathematik hieß, hatte ich immer noch nichts im Sinn, und das würde auch für den Rest meines Lebens so bleiben. Aber ich hatte auch Geschichte oder Geographie sehr gerne und konnte mich mit dem Lehrplan gut arrangieren. Die Hausaufgaben waren jetzt anspruchsvoller, und oft machte ich sie zusammen mit anderen Kindern nach der Schule. Zu mir nach Hause konnte ich natürlich niemanden einladen; als sich doch einmal eine Mitschülerin bei uns einfand, mußte ich dafür einen unverhältnismäßig hohen Preis zahlen.
Die Mitschülerinnen hatten schnell begriffen, daß sie bei mir die eine oder andere Lösung holen konnten. Und sie wußten auch, wie man mich dazu kriegen konnte: mit Pausenbroten zum Beispiel. Ich hatte immer Hunger und lernte zu essen, wann immer sich dazu Gelegenheit ergab. Zu der Zeit war ich noch hoch aufgeschossen und brandmager, später, nach der Pubertät, würde sich das dann in unnötigen Kilos niederschlagen. Noch aber war ich ein dünnes, hungriges Kind – mit einer Bäckerstochter als Freundin! Ediths Vater hatte eine gutgehende Bäckerei, aber keine so intelligente Tochter. Sie war dankbar, wenn ich ihr bei den Hausaufgaben half, und ich besuchte sie, so oft ich konnte, denn ich durfte das Haus durch die Backstube betreten! Dort konnte ich mich bedienen mit allem, was mein Herz begehrte bzw. was meine Hände auf dem Weg zum ersten Stock noch halten konnten. Ich fand Edith großartig, denn sie ließ mich nicht nur essen, sondern hie und da durfte ich dort auch baden, was mir das Höchste an Luxus schien.
Dann aber bekam das Bild einer harmonischen Schulzeit doch einen Riß, der alles verändern würde. Ich war in jeder Beziehung gewachsen und hatte inzwischen Schuhgröße dreiundvierzig. Als sich das einzige Paar Schuhe, das ich besaß, in Wohlgefallen auflöste und ich eines Morgens effektiv mit Schuhfetzen dastand, mußte eine Lösung her. Mein Vater hatte dieselbe Schuhgröße, und obwohl ich heftigst protestierte, mußte ich seine Schuhe anziehen und damit zur Schule gehen.
Wir alle kennen Geschichten von der Grausamkeit von Kindern – bitte glauben Sie, was immer Sie hören! Ich war das Gesprächsthema des Tages! Von dem Moment, wo ich auf den Schulhof radelte, bis zum Ende des Unterrichts ließen mich meine Mitschülerinnen nicht vergessen, was da wie Klumpen an meinen Füßen hing. Als ob ich das hätte vergessen können; die schweren Herren-Halbschuhe hingen an meinen dünnen Beinen und machten jeden Schritt zur Qual. Das Interessante ist, daß sich die Alternative eines verpaßten Schultags offenbar gar nicht gestellt hat; wahrscheinlich haben wir irgendeine Klassenarbeit geschrieben, die ich nicht verpassen konnte oder wollte.
Bis zum Nachmittag hatte meine Mutter genügend Geld aufgetrieben – wir waren jahrelang Stammkunden bei den Pfandleihen –, um mit mir einen Schuhladen aufzusuchen. Die Verkäuferin fiel fast in Ohnmacht, als sie meine Schuhgröße hörte. Nach langem Suchen fand sie dann doch ein Paar Schuhe, für das unser Geld reichte. Die hatten nur einen Schönheitsfehler: Sie waren Größe zweiundvierzig. Die Verkäuferin redete auf uns ein, daß wir in ganz Deutschland keinen Kinderschuh in meiner Größe fänden (womit sie zweifellos recht hatte) und froh sein sollten, daß sie noch etwas gefunden hatte. Mit dem zur Verfügung stehenden Geld hatten wir ohnehin keine Wahl, und der nächste Schultag kam bestimmt. Ich hatte zwar einen Vormittag in den Schuhen meines Vaters verbracht, aber ich hatte keinen Zweifel daran gelassen, daß ich dieses Spießrutenlaufen nicht noch einmal über mich ergehen lassen würde. Also kauften wir diese Schuhe, die natürlich weh taten. Meine Zehen haben das offenbar nicht so geschätzt, daß sie sich den Schuhen anpassen mußten – die Spuren von einer solchen Prozedur bleiben einem ein ganzes Leben lang.
Viele Jahre später, als die schwedische Schauspielerin Liv Ullman einer meiner Leinwandlieblinge war, habe ich einen großen Artikel über sie im TIME Magazine gelesen. Darin stand, daß sie sich für ihre Füße, die im Krieg in zu kleine Schuhe gepreßt worden waren, geschämt und sie, besonders als junges Mädchen, am Strand immer im Sand vergraben habe. Ich habe sie danach doppelt bewundert und fühlte mich ihr sehr verbunden! Und als ich dann noch hörte, daß Ingrid Bergman und Audrey Hepburn mit Schuhgröße dreiundvierzig durchs Leben gegangen sind, empfand ich es auch nicht mehr als Makel, daß ich mal Größe dreiundvierzig hatte – aber wenn man zehn Jahre alt ist und eine Verkäuferin vor sich hat, deren Einfühlungsvermögen in die Psyche eines Kindes wohl etwas unterentwickelt war, kann einen das schon umhauen. Kein Wunder, habe ich später im Leben eine Art Schuhtick entwickelt, der eben nur halb ein Tick ist. Es ist nicht nur die Schönheit eines Schuhs, die mich zum Kaufen animiert, sondern etwas ganz Pragmatisches: Ich muß Schuhe dann kaufen, wenn ich welche finde, die mir passen und nicht weh tun. Heute schlagen Verkäuferinnen zwar nicht mehr die Hände über dem Kopf zusammen, wenn sie meine Schuhgröße – jetzt zweiundvierzig – hören, aber in kleineren, sehr teuren Schuhläden haben sie dieses Lächeln auf dem Gesicht, das man für mild Verrückte bereit hält. So ist denn auch meine erste Frage in jedem Schuhgeschäft: »Was ist die größte Größe, die Sie führen?« Das verkürzt viele Aufenthalte.
Wieso konnte es überhaupt zu diesem »Schau mal, die trägt die Schuhe von ihrem Vater!«-Vorfall kommen? Das hatte – wundert es Sie? – wieder mal etwas mit meinem Vater zu tun ...
Kurz nach unserer Ankunft in seiner Heimatstadt hatte er eine Anstellung gefunden, als Chef-Sachbearbeiter in einer Fabrik, die Schrauben und Scharniere herstellte. Ich durfte ihn dort mal besuchen und war fasziniert. Bei meinem ersten Besuch in einer Fabrik zeigte sich schon, daß ich Betriebsbesichtigungen lieben würde – auch heute noch könnte ich locker pro Woche eine davon vertragen. Mich faszinieren Produktions-, Verpackungsund Versandvorgänge, ich finde das Geschehen hinter der Bühne aufregender als das auf der Bühne, und beim Fernsehen nehmen mich Regie und das, was hinter der Kamera alles läuft, so gefangen, daß ich fast vergesse, warum ich eigentlich im Studio bin. Aber Fernsehen ist noch gar kein Thema, sondern vorerst sind wir ja noch bei meinem Vater, der mit dem Schicksal haderte, weil nach dem Krieg noch niemand auf die Idee gekommen war, ihn mit einer Chefredakteur-Position zu betrauen. Als die Schraubenfabrik Anfang 1947 schloß, wurde er arbeitslos – ein Zustand, der ihm so behagte, daß er ihn für die nächsten gut acht Jahre beibehalten würde. Er hatte keine Mühe, sich zu beschäftigen: in der Bibliothek konnte man jedes Buch für fünf Pfennig ausleihen, und da er ja Zeit hatte, schaffte er selbst achthundertseitige Wälzer in ein paar Tagen. Jedenfalls wurde er der Besucher der Stadtbibliothek, der am meisten Bücher ausgeliehen hatte.
Irgendwie ist es ihm gelungen, die Leute ím Arbeitsamt davon zu überzeugen, daß er für viele Arbeiten gar nicht in Frage kam; erst 1955 würden sie darauf bestehen, ihn zum Buchhalter umzuschulen. Er würde dann siebenundfünfzig Jahre alt sein; sicher hat er sich täglich ausgerechnet, wann er den zu befürchtenden Angestelltenstatus mit dem des »in Ehren ergrauten Pensionierten« vertauschen könnte. Ich kann es bis heute nicht fassen, daß ein hochintelligenter, schreibbegabter Mann mit Familie offenbar beschlossen hatte, nicht mehr zu arbeiten – es sei denn, man würde ihm wieder einen Chefposten anbieten. Aber so blieb es, mit ganz wenigen, ganz kurzen Zeitspannen, wo er erwas mehr als die Arbeitslosenunterstützung nach Hause brachte.
Die Lage wurde noch zusätzlich erschwert durch seinen ungeheuren Egoismus. Mein Vater war sein ganzes Erwachsenenleben hindurch ein starker Raucher, mehr als zwei Päckchen pro Tag, und er liebte Kaffee. Dieser Bedarf an Luxusartikeln stand nicht ganz im Einklang mit den Einkünften der Familie, die sich viele Jahre lang auf die beeindruckende Summe von vierundvierzig Mark pro Woche beliefen. Genau dieser Betrag war das, was das Arbeitsamt für eine vierköpfige Familie als angemessen ansah. Ich weiß nicht, wie solche Berechnungen zustande kommen, aber das war das offizielle Einkommen unserer Familie meine ganze Jugend hindurch. Gut eine Wochenzahlung ging für die Miete weg, und von den anderen ca. hundertvierzig Mark hätten wir alles andere bestreiten sollen.
Wenn ich Sprüche höre wie »Armut ist keine Schande«, weiß ich, daß das jemand sagt, der wahrscheinlich noch nie mit Armut in Berührung gekommen ist. Was braucht man auch noch die Schande, wenn der Rest schon schlimm genug ist? Ich werde heute sehr wütend, wenn ich höre, wie Flüchtlinge in »echte« und in »Wirtschaftsflüchtlinge« unterteilt werden. Ich finde, Hunger ist ein verdammt guter Grund, um sich nach einem anderen Land umzusehen, und es ist unentschuldbar, daß wir täglich Tausende von Menschen in Entwicklungsländern verhungern lassen. Vielleicht ist es keine Schande, arm zu sein – aber erzählen Sie das mal einer Klasse von Halbwüchsigen, wenn Sie dauernd irgend etwas nicht mitmachen können oder durch die Klassenkasse finanziert werden müssen! Der Wunsch nach einem eigenen Bett für jedes Kind ist ja auch nicht übertrieben, aber er war uns viele Jahre lang verwehrt, denn nachdem wir irgendwann eine Matratze auf Backsteinen für mich organisiert hatten, war meine Schwester längst dem Kinderbett entwachsen, und nun mußte sie das Bett mit meiner Mutter teilen.
Die Probleme mit unserer Armut waren nicht so gravierend in einem Nachkriegsdeutschland, wo die meisten Menschen vor den Trümmern ihrer Existenz standen und diejenigen, denen der Krieg nicht alles geraubt hatte, klug genug waren, ihre Besitztümer nicht zu zeigen – damals kann man wahrscheinlich den Beginn der deutschen Neidkultur orten. Wenn alle arm sind, ist Armut eher zu ertragen. Das Timing unserer Armut war nicht gut: Sie fand gleichzeitig mit dem deutschen Wirtschaftswunder statt! Ohne zu übertreiben: Nach der Währungsreform im Juni 1948 brauchte es schon eine sehr große Willensanstrengung, um arm zu bleiben! Es war die Aufbruchstimmung schlechthin in einem Land, das sich neu erfand. Handwerker waren auf Jahre hinaus ausgebucht und taten einem bereits dazumal schon einen Gefallen, wenn sie überhaupt, geschweige denn termingerecht auftauchten. Gewerbetreibende mußten an- und umbauen, um alle die Waren unterzubringen, die nach Juni 1948 buchstäblich über Nacht aufgetaucht waren. Die Schwarzmarkthändler hatten zwar ihr Betätigungsfeld verloren, aber die Schrotthändler wußten nicht, wohin mit dem Geld. Schrott gab es in Deutschland nun weiß Gott genug, und wenn auch bei weitem nicht jeder Abtransport von einer Trümmerstelle legal war, so waren doch die meisten Hausbesitzer froh, daß sich überhaupt jemand um die Trümmer kümmerte.
Duisburg war nicht nur eine große Binnenhafenstadt, sondern in erster Linie eine Bergwerksstadt. Kohle und Stahl waren zwei der begehrtesten Rohstoffe; Kohleförderung und Stahlbeförderung wurden die Basis des allgemeinen Wohlstands. Alles mußte repariert, erneuert oder ganz neu hergestellt werden, und eine in jeder Beziehung ausgehungerte Nation stürzte sich in die ersten Konsumräusche, die sich, wie wir aus der Rückschau wissen, in Freß-, Reise- oder Einrichtungswelle unterteilen lassen.
Die Eltern meiner Schulkameradinnen waren fast ausschließlich Handwerker und Gewerbetreibende – ich war die mit dem intellektuellen Vater und der intelligenten, urbanen Mutter, aber ohne Schuhe. Unsere Armut warf bei jedem, der damit in Berührung kam, die Frage auf: Wieso ging es dieser Familie so schlecht, wenn es doch allen anderen so gutging?
Angesichts der Tatsache, daß mein Vater keine Anstalten machte, diesen Zustand zu ändern, machte sich meine Mutter auf die Suche nach Verdienstmöglichkeiten und wurde schnell fündig: Ein cleverer junger Unternehmer hatte einen schwungvollen Versandhandel mit Rasierklingen aufgezogen, der einen ungeheuren Aufwand an Heimarbeit bedingte. Das muß ich Ihnen erzählen, denn es ist ein Stück deutscher Nachkriegsgeschichte, die Ihnen authentisch vermittelt, was Aufbruch in ein neues Zeitalter so im Alltag bedeutet. Also:
Bis zum Krieg hatte man offenbar keine oder kaum Rasierklingen gekannt. Jetzt konnte man die erstehen, und eben dieser Achtundzwanzigjährige hatte seine Chance erkannt und beglückte buchstäblich ganz Deutschland mit seinen per Postversand zugestellten Rasierklingen. Die Werbung dafür bestand in einer Musterklinge, die an jeden Männernamen in den Adreßbüchern größerer deutscher Städte geschickt wurde, was in vielen Fällen dann zu einer Bestellung führte. Wir haben diese Werbung in unserer Familie praktisch im Alleingang erledigt, und das bedingte einen Vorgang von sieben Schritten – mal sehen, ob ich sie noch zusammenbekomme:
1 Rasierklinge auf Werbebrief oben links aufkleben
2 Brief falten
3 Bestellkarte einlegen
4 Kuvert beschriften
5 Brief in Kuvert stecken
6 Kuvert zukleben
7 Kuverts in Bündel zu zweimal 25 abpacken
Unsere drei Minizimmer sahen zeitweilig aus wie das Warenlager einer Druckerei, und ich weiß, wie froh wir immer waren, wenn wieder eine Großlieferung weg war.
Wir wurden per ablieferungsbereites Kuvert bezahlt, und das hieß: Akkordarbeit. Da fallen zum Beispiel solche Faktoren ins Gewicht wie die Anzahl der Buchstaben in einem Städtenamen. Wenn Sie nur »Ulm« oder »Köln« schreiben müssen, können Sie einiges mehr produzieren als mit »Düsseldorf« oder »Wuppertal-Elberfeld«. Und es lassen sich jede Menge Minuten herausschlagen, wenn Sie den Aufkleb- und Einpackvorgang logistisch sauber hinkriegen: sehnen- und nervenschonende Plazierung manueller Arbeit habe ich schon als Zehnjährige begriffen. So etwas bleibt einem offenbar: Ich bin immer eine der schnellsten gewesen, wenn irgendwo in meinem Leben Versandarbeit angesagt war.
Selbst jemand wie mein Vater, der ausgesprochen phantasievoll war, wenn es darum ging, der Arbeit aus dem Weg zu gehen, konnte hier nicht passen. Wir hatten alle eine gute, sehr leserliche Handschrift, und so teilten sich Vater, Mutter und älteste Tochter ins Adressenschreiben. Wenn man müde wurde, passierten Fehler: Man irrte sich in der Zeile oder Spalte des Adreßbuches. Diese Kuverts kamen dann mit »Adressat unbekannt« zurück und wurden bei der nächsten Abrechnung abgezogen – direkteres Feedback für eine Arbeit kann man sich kaum vorstellen. Wehe uns, wenn aus dem geöffneten Kuvert die Rasierklinge herausfiel! Das hieß, daß wir nicht richtig geklebt hatten, und ergab einen Verweis oder, wenn es mehrfach vorkam, einen Abzug. Hie und da gab es Fehldrucke bei den Briefen oder Bestellkarten. Es war natürlich unsere Verantwortung, das rechtzeitig zu entdecken. Das heißt, daß die weniger glamouröse Arbeit des Aufklebens und Faltens auch mit großer Aufmerksamkeit erledigt werden mußte. Die kleine Schwester durfte daher in erster Linie den Brief zweimal falten oder den gefalteten Brief mit Karte ins Kuvert stecken. Daneben durfte sie »mitspielen«, indem sie Zählen übte, obwohl wir alles nachgezählt haben, denn schließlich war sie ja noch im Vorschulalter.
Meine Mutter hatte ein ausgesprochen kaufmännisches Flair, was dem Jungunternehmer schnell auffiel. Als sein Business boomte und seine Sekretärin die Versand- und Rechnungsarbeiten nicht mehr alleine schaffte, fragte er meine Mutter, ob sie aushelfen könne. Obwohl der Altersunterschied zwischen ihnen keine Generation ausmachte, sah er so etwas wie eine mütterliche Vertraute in ihr. Sie kannte die meisten seiner Geschäftsgeheimnisse, einschließlich der Tricks, wie er einen Teil seines Einkommens am Finanzamt vorbeischmuggelte. Er wußte, daß sie absolut vertrauenswürdig war, und da er sie mochte, gab es kleine Vergünstigungen. Als er expandierte und auch andere Adressenschreiber eingesetzt wurden, bekamen wir die kürzeren Städtenamen oder Mini-Vergünstigungen wie »Heilbronn«, wo man wenigstens aus den beiden letzten Buchstaben mit dem »o« zusammen einen Schlenker machen konnte. Und sie bekam natürlich zeitweilig so etwas wie einen Lohn – nicht immer, aber immer öfter. Und mit der Sekretärin, einer sehr hübschen, verheirateten Frau von Ende zwanzig, entstand sogar so etwas wie der Beginn einer Freundschaft.
Das Arbeitsamt hatte auch damals schon eine Limite für das Zuverdienen ohne Abzüge an der Wochenauszahlung. Wie mein Vater das gemacht hat, weiß ich nicht, aber egal, wieviel wir arbeiteten, wir waren immer innerhalb der Limite. Ich nehme an, daß es bei der Firma eine sehr kreative Buchhaltung gegeben hat, die halt auch nur soviel auswies, wie zugelassen war ...
Heimarbeit und Schularbeiten: Zum Glück haben mich die Schularbeiten nicht über Gebühr beansprucht, und so konnte ich doch pro Tag einige Stunden zum Familienunterhalt beitragen. Obwohl sich das alles sehr dramatisch anhört, habe ich nicht einmal so schlechte Erinnerungen an diese Jahre. Wenn alle vier zusammen am Küchentisch arbeiteten, kam fast so etwas wie ein Familiengefühl auf. Wenn mein Vater aus irgendwelchen Gründen nicht mitmachte und meine kleine Schwester am Spielen war, unterhielt mich meine Mutter mit Singen. Sie sang sehr gerne und kannte sehr viele Musikstücke. Ich sage bewußt nicht »Lieder«, denn entweder waren es Chansons, wie sie im Berlin der 30er Jahre populär gewesen waren, oder es waren Operettenmelodien. Ich kenne heute noch unglaublich viele Texte aus diesen beiden Kategorien, obwohl ich Operetten nicht ausstehen kann und die Chansontexte oft ziemlich doof finde. Ab und zu war auch mal etwas darunter wie etwa das melodramatische Lied von Friedrich Löwe, Ich trage, wo ich gehe, stets eine Uhr bei mir. Manchmal habe ich die Texte erst Jahre später verstanden, aber wann immer ich die Musik höre, sehe ich meine Mutter vor mir, wie sie am Küchentisch bei der Heimarbeit Regie führt oder auf einer wackeligen Konstruktion von bezogenem Brett, das prekär über zwei Stuhllehnen balancierte, ihre Bügelarbeit verrichtet – immer noch übrigens mit dem Bügeleisen, das Bombardierung, Evakuierung, Flucht und Bunkerleben überstanden hatte.
Armut romantisch zu verklären ist nicht meine Sache. Aber im großen und ganzen war die Arbeit, die mich ab dem zwölften Lebensjahr begleiten sollte, um einiges unangenehmer, und so ist die Erinnerung an die Heimarbeit bei weitem nicht die schlimmste, trotz der Tatsache, daß wir alle hie und da Sehnenscheidenentzündungen hatten, die ja bekanntlich sehr schmerzhaft sind, oder daß ich ein paar Mal in der Schule eingeschlafen bin, weil ich am Abend zuvor unbedingt noch ein Adreßbuch hatte fertig machen wollen.
Eines Tages dann war es soweit: Der angekündigte und programmierte Einzug ins Lyzeum sollte in Angriff genommen werden. Wiederum ging mein Vater mit mir dorthin; es war immer noch derselbe Rektor, dessen Freude sich begreiflicherweise in Grenzen hielt: Schließlich stand er kurz davor, desavouiert zu werden. Aber da gab es noch eine Chance für ihn: die Aufnahmeprüfung, die dieses Kind, das ihm da aufgezwungen werden sollte, erst einmal bestehen mußte. Immerhin fragte mein Vater, wie man mich denn speziell darauf vorbereiten könnte, aber der Rektor blieb ihm die Antwort schuldig, denn es existierte ja gar keine Aufnahmeprüfung. Vor uns war noch niemand auf die absurde Idee gekommen, sich auf dieses Unterfangen einzulassen, und er war mit dieser Situation schlicht überfordert. In einer Lehrerkonferenz würde man bestimmen müssen, in welchen Fächern und mit welchem Schwierigkeitsgrad die Prüfung zu erfolgen hatte.
Und da war noch eine Hürde, die für uns schwieriger war als diese Aufnahmeprüfung: Die Höhere Schule verlangte Schulgeld. Und es war klar, daß wir das nie würden zahlen können. Pro Klasse gab es jedoch eine Freistelle, und auf die spekulierten wir natürlich. An dieser Schule kamen die Kinder aus Anwalts- und Arztfamilien, aus »gutem Hause« also, wo sich die Frage des Schulgelds nie stellte, und so hatte auch noch nie jemand die Freistelle in Anspruch nehmen müssen. Wenn ich Jahrzehnte später in Interviews sagen werde, daß mich in erster Linie Pionierprojekte interessieren, dann ist dieses Interesse wohl darauf zurückzuführen, daß ich ziemlich früh in meinem Leben immer wieder Neuland betreten habe, betreten mußte.
Schließlich kam der Prüfungstag, oder vielmehr waren es eineinhalb Tage. Ich wurde alleine in ein Schulzimmer gesperrt und anhand von ausgeklügelten Aufgaben einen Tag lang mit schriftlichen Arbeiten beschäftigt, zu denen selbstverständlich auch ein längerer Aufsatz gehörte. Wenn ich austreten mußte, kam doch tatsächlich die Aufsichtsperson, die mehrmals am Tage wechselte, mit! Am zweiten Tag gab es dann die mündliche Prüfung. Der Rektor war fast feindlich gesinnt, die Lehrerinnen und Lehrer, die über meine Zukunft zu bestimmen hatten, waren nur desinteressiert. Auf alle Fälle war niemand erpicht darauf, dieses Wunderkind aufzunehmen, das zu allem Elend auch noch Gratisunterricht genießen wollte.
Mal abgesehen von den Mathematikaufgaben, die ich nur halb gelöst hatte, war das Resultat jedenfalls so, daß sie mich nehmen mußten. Und so kam ich in die Quarta der Johanna-Sebus-Schule in ein Klassengefüge, das bereits seit der Sexta, also seit zwei Jahren, bestand, mit einem Fräulein Doktor als Klassenlehrerin. Alle Geschichten, die Sie kennen über Kinder, denen der Einzug in solch eine festgefügte Gemeinschaft schwer oder unmöglich gemacht wird, sind wahrscheinlich untertrieben! Ich kann es den Mädchen nicht einmal verübeln: Da kam diese Elfjährige – die anderen waren zwischen zwölf und vierzehn – von der Mittelschule, igitt! Sie wußte zwar viel, aber sie war arm. Das war neu für diese Kinder, verlor aber schnell seinen Reiz: Die konnte ja nirgendwo mitmachen, und was die anhatte – du meine Güte! Interessant waren allenfalls ihre Pausenbrote ... Meine bestanden nämlich in der Regel aus Margarine mit Zucker auf Graubrot, die meiner Klassenkameradinnen aus Butter und Leberwurst auf Brötchen oder Weißbrot. Irgendwie hatte ich es bereits auf der Mittelschule geschafft, meine Pausenbrote als etwas Begehrenswertes zu präsentieren und damit eine rege Tauschwirtschaft zu begründen. Dort hatten die Kinder es ab und zu ganz nett gefunden, ein Margarinebrot zu essen, hier war es geradezu exotisch. Und dann hatte ich noch einen zusätzlichen unausrottbaren Makel: Ich war nicht katholisch.
Die Gemüter beruhigten sich nach und nach, aber bis dahin hatte ich noch manches zu ertragen. Ich konnte bei keinem einzigen Streich mitmachen, weil mich ein Tadel im Klassenbuch die Freistelle gekostet hätte. Abgesehen davon, fand ich es blöd, einfach abzuhauen, wenn sich die Handarbeitslehrerin verspätete, auch wenn ich die noch blöder fand. So saß ich mutterseelenallein im Klassenzimmer, als die Lehrerin hereinkam. Ich weiß nicht, wie ich als Lehrerin reagiert hätte – vielleicht wäre auch mir das sehr suspekt gewesen, daß da eine nicht mitgemacht hatte, besonders die Schülerin, die sie ohnehin nicht mochte. Jedenfalls ging sie zum Rektor, und am nächsten Tag donnerte das Gewitter auf uns herab – auf alle, auch auf mich. Na ja. Ich weiß nicht mehr, was die Kollektivstrafe war, aber es hat zum Glück meiner Freistelle nicht geschadet.
»Wenn ich je jemanden aus meiner Schulzeit träfe...« heißt dieses Kapitel. Dazu gehören auch die folgenden Erwachsenen, die mir für die ersten drei Jahrzehnte meines Lebens ein Lehrerinnen-Bild vermittelt haben, das Alpträume hervorrufen kann. Das Fräulein Doktor war, im Gegensatz zu mir, sehr katholisch. Jedes zweite Wort bei ihr war »unkeusch«. Ich wußte am Anfang gar nicht, was das war, aber nach und nach begriff ich, daß alles, was nicht in einem Kirchgang mündete, schon Gefahr lief, unkeusch zu sein. Eigentlich hätte sie Nonne werden wollen, und ich bin sicher, sie hätte diesem Profil eher entsprochen als dem einer Lehrerin an einer weltlichen Schule. Bereits im ersten Schuljahr habe ich es mit ihr verdorben. Wir nahmen Maria Stuart durch, und ich glühte vor Begeisterung: Das war der schönste Deutschunterricht, den man sich denken konnte! Deutsch war ohnehin mein Lieblingsfach. Ich konnte viele Gedichte auswendig und mußte bei jeder Schulfeier irgend etwas »aufsagen«; am liebsten hatte ich Schillers Die Bürgschaft, das ich mit der richtigen Dosis Drama in der Stimme auch am häufigsten vorgetragen habe. Später kamen noch Die Kraniche des Ibikus und Der Ring des Polykrates dazu. Letzeres ist heute noch mein Lieblingsgedicht von Schiller, dessen Dramatik ich der Beschaulichkeit der Goethe-Gedichte vorziehe. Also, endlich ein Stück von meinem damaligen Lieblingsdichter. Ich kniete mich in die Hausaufgaben, lernte ganze Textpassagen auswendig und freute mich auf die Stunde.
Die Freude dauerte nicht lange: Die Diskussion war total zentriert auf die Figur der Maria, und die Interpretation völlig einseitig: Sie war um ihres Glaubens willen geköpft worden. Wie bitte? Da hatte ich wohl ein ganz anderes Stück mit dem gleichen Titel gelesen. Ich hörte mir das eine Weile an, aber als die Frustration zu groß wurde, streckte ich auf. In einem flammenden Plädoyer versuchte ich, ein bißchen Verständnis für die Lage von Elisabeth I. zu erzeugen: die Zweifel, die sie bis zuletzt hat, der Haß der Höflinge, die Ablehnung des Volkes, um dessen Gunst sie sich doch so bemüht hatte, und dann, ich bitte Sie, der Schluß, wo sie von dem Mann, den sie liebt, verlassen wird und damit das Stück mit einer der besten Zeilen endet, die ich auf der Bühne kenne: »Der Lord läßt sich entschuldigen; er ist zu Schiff nach Frankreich.« Wow! Wie schwierig muß es gewesen sein, in diesem Umfeld weiterzuleben!
Man hätte das Schweigen in Scheiben schneiden können, es war so dick. Die Lehrerin sah mich mit weit aufgerissenen Augen an; sie brauchte eine gewisse Zeit, um mit dieser Situation fertig zu werden. Ich hatte die protestantische Antagonistin verteidigt, hatte aufzeigen wollen, daß es nicht immer einfach a priori besser ist, als angebliche Siegerin aus einem Konflikt hervorzugehen! Ich drehte mich um und schaute in die Runde, aber keines der Kinder, obwohl nicht alle katholisch waren, wagte es, sich mir anzuschließen. »Setz dich!« brachte das Fräulein Doktor schließlich heraus. »Lies das zu Hause nochmals gründlich durch – du hast offensichtlich nichts verstanden.«
Diese Deutschstunde hatte mich auf die schwarze Liste meiner Klassenlehrerin gebracht, auf die es so sehr ankam, wenn es darum ging, den Antrag für die Freistelle im nächsten Jahr befürwortend weiterzuleiten. Es war also nicht klug, sich mit ihr anzulegen, und ich ging ihr, soweit das möglich war, aus dem Weg. Aber da war ja noch ihre Obsession mit dem Wort »unkeusch«, und ich meine, ein Mädchen, das sich auf die Seite der Elisabeth schlägt, von der kann man alles erwarten, nicht wahr?
»Wir machen in diesem Jahr eine Klassenreise!« Das war zwar im Prinzip eine tolle Nachricht, aber sie war auch äußerst problembeladen. Wir redeten hier von zwei Wochen auf der Nordseeinsel Juist. Die Klassenkasse würde mein Fahrgeld zahlen, aber was sollte ich mitnehmen, und vor allem, in was für einem Behälter? Das größte Problem war der Badeanzug, den ich nicht besaß und der natürlich für einen zweiwöchigen Aufenthalt am Meer obligatorisch war. Die nette Sekretärin in der Versandfirma besaß zwei Badeanzüge und konnte mir einen leihen. Gott sei Dank! Oder nein, doch nicht! Ein neues Problem wird mitgeliefert: Es ist ein zweiteiliger, und das Oberteil ist trägerlos! Ich konnte es füllen, das war nicht das Problem, aber auf jedem Zentimeter dieses Badeanzugs stand »unkeusch«, und ich zitterte vor dem Moment, wo das Fräulein Doktor einmal mehr ihren Augen nicht trauen würde ...
Ein Foto beweist es: Ich war nicht die einzige mit einem zweiteiligen Badeanzug, aber die einzige mit einem trägerlosen Oberteil! Als wir das erste Mal zum Strand gingen, borgte ich mir einen Bademantel von einem der Mädchen, rannte damit bis ans Wasser, wo ich ihn auf den nassen Sand und mich in dem flachen Wasser auf die Knie warf. Ich blickte nicht zurück, aus Angst, das Fräulein Doktor ohnmächtig werden zu sehen. Dann blieb ich mal eine Weile im Wasser, und als ich herauskam, schien sie sich beruhigt zu haben.
Eine Horde junger Mädchen auf einer Klassenreise beaufsichtigen zu müssen ist kein Zuckerlecken. Aber sie war geradezu besessen von der Überzeugung, daß diese pubertierenden Schülerinnen etwas Unkeusches anstellen würden. Ständig schnüffelte sie hinter uns her, um uns dabei zu erwischen. Eines Nachts hatten wir das, was die Amerikaner Pyjama-Party nennen, geplant. Ich schlief im größten Zimmer, zusammen mit drei anderen Mädchen, und so fand das Ganze natürlich in diesem Raum statt. Wir müssen wohl zu laut gewesen sein, jedenfalls hörten wir die entschlossenen Schritte des Fräulein Doktor den Gang entlanghämmern. Wir löschten das Licht und verhielten uns ruhig, doch es gab kein Entrinnen. Sie riß die Tür auf, knipste das Licht an und rief entsetzt: »Wie unkeusch!« Na ja, überrascht war niemand, aber verstanden haben wir es auch nicht: Gut zwanzig junge Mädchen saßen, auf die vier Betten verteilt, in ihren Nachthemden und Pyjamas da. Wo zuvor eine Kissenschlacht stattgefunden hatte, gab es jetzt nur noch angstvolles Schweigen. Die Strafe war ein Tag Hausarrest. Strafe wofür? Was hatten wir getan? Eine freudlose Frau hatte ihre Ängste auf ein paar übermütige junge Mädchen projiziert – Papa Freud läßt grüßen.
Meine frühe Seelenverwandtschaft mit Winston Churchill verdanke ich der Turnlehrerin. Turnen war definitiv nicht mein Lieblingsfach. Es stank in der Turnhalle nach »ungewaschen«, und ich haßte die Umkleidekabinen. Außerdem war ich nach der Turnstunde immer viel zu hungrig. Natürlich besaß ich kein richtiges Turnzeug, fand, ich sah verboten aus, war irgendwann einmal zu schwer, um schnell zu sein, und war bei allen Übungen im letzten Drittel anzutreffen. Das wäre ja weiter nicht schlimm gewesen, aber die Turnlehrerin fand, daß aus mir irgendwann doch noch eine Sportlerin werden müßte, und beschloß, mich zu fordern und zu fördern nach dem Motto: »Stell dich nicht so an!«
Eines Tages war Geräteturnen angesagt; wir übten den Sprung über das Pferd. Nach jedem Durchgang wurden die Beine des Geräts eine Stufe höher gestellt. Die ersten beiden schaffte ich noch, bei der dritten hatte ich Mühe und daher Angst vor dem vierten Durchgang. Diese Angst war berechtigt, denn ich schaffte es nicht, blieb mit dem rechten Fuß hängen und baumelte in einer prekären Lage am Gerät. Während meine Mitschülerinnen entsetzt dreinschauten, meinte die Lehrerin, die ca. fünf Meter entfernt mit ihrer blöden Trillerpfeife die jeweiligen Befehle gab, ich solle mich eben nicht so anstellen ... Sie hat ziemlich spät begriffen, daß ich entweder für alle Ewigkeit dort hängen bleiben oder unsanft landen würde. Irgendwann hat sie es dann wohl doch mit der Angst zu tun bekommen und mir geholfen, mich aus dieser Lage zu befreien. Danach war sie für mich gestorben.
Sie ahnen gar nicht, wie kreativ ich wurde im Erfinden von Entschuldigungen, warum ich auch dieses Mal wieder dem Turnunterricht fernbleiben mußte. Das klappte nicht immer, aber die meiste Zeit saß ich in der stinkenden Turnhalle auf der Seite und guckte mit Widerwillen auf die Verrenkungen meiner Kameradinnen. Churchills zwei Silben »No sports!« wurde mein Motto, bevor ich je seinen Namen zum erstenmal gehört hatte, und obwohl ich später eine gar nicht schlechte Skifahrerin und eine passable Langläuferin wurde, ist Sport für mich eher Schicksalsschlag als Entspannung. Ich laufe gerne, kann es aber auch lassen, und wenn ich die Wahl habe zwischen einem gemütlichen Sonntag daheim und einem Waldlauf am selben Tag, wird das Pendel wohl immer zugunsten des Drinbleibens ausschwingen.
Zum Glück gab es noch genügend Fächer, die mir Freude machten. Eines davon, neben all denen, wo man den Kopf brauchen mußte, war – Kochen! Ich fand den Kochunterricht unterhaltsam und sah darin eine willkommene Ablenkung; zudem war es ein Fach, in dem nicht noch zusätzliche Hausaufgaben anfielen. Im Gegensatz zur Turnhalle liebte ich die beiden großen Küchen, die vor Sauberkeit geradezu strahlten. In der einen wurde gekocht, in der anderen Dessert gemacht und Kuchen gebacken. Alle redeten und lachten durcheinander, und die Zeit verging wahnsinnig schnell. Ich machte sogar den Abwasch gerne, und Tischdecken war eine richtige Freude. Jede von uns hatte ihren eigenen Löffel, den sie in jede Schüssel und jeden Topf steckte – nicht gerade hygienisch, aber aufregend, denn die Lehrerin durfte das ja auf keinen Fall mitbekommen.
Hätte ich beim eigentlichen Kochen besser aufpassen sollen? Oder schmeckte das von uns Gekochte im Unterricht einfach besser als zu Hause? Ich weiß es nicht, aber das Resultat dieses Unterrichts war niederschmetternd. Als meine Mutter nach einem Schlaganfall dazu verdammt war, mit einer Thrombose sechs Wochen lang liegen zu müssen, habe ich eines Tages angeboten, ihr etwas besonders Feines zu kochen. Es war ein Nudelauflauf – sie haßte Teigwaren –, und zum Nachtisch gab es »Apfel in Gelee«. Dazu mußte man den Apfel mit Marmelade füllen und Apfelsaft gelieren; das Ganze wurde dann zu einer Art Sulz, auf dem ein gefüllter Apfel thronte. Meine Mutter nahm zwei Löffel von dem Auflauf und einen von dem Dessert. Mit einem »Mein Gott, Kind, was haben die dir nur beigebracht!« gab sie ihr Werturteil ab; danach drohte sie, sofort aufzustehen – auf die Gefahr hin, an einer Embolie zu sterben –, wenn ich mich noch einmal ans Kochen wagen würde. Eine Drohung, der ich mich widerstandslos fügte.
Wieso hat eine Frau Mitte vierzig einen Schlaganfall? werden Sie sich wundern. Eine berechtigte Frage. Die Antwort finden Sie im nächsten Kapitel.