Читать книгу In 80 Zügen um die Welt - Monisha Rajesh - Страница 5
1 | Der 14:31 nach Paris
ОглавлениеIch stand am Fenster und schaute noch einmal hoch zu dem riesigen Stahlgerippe, das St. Pancras überspannt. Zwischen den Streben glänzte ein strahlend blauer Himmel. Das Dach schien nach hinten wegzugleiten, bevor mir bewusst wurde, dass wir es waren, die sich in Bewegung gesetzt hatten. Sanft schnurrend verließ der 14:31 Eurostar den Bahnhof in Richtung Paris. Ich lehnte mich zurück, zufrieden in der warmen Frühlingssonne, die das Abteil durchflutete. Als London allmählich in die Ferne rückte, nahm ich einen tiefen Atemzug, um so viel wie möglich von der Stadt in mir aufzunehmen und in meiner Brust zu verschließen, bis wir uns in sieben Monaten wiedersehen würden. Eine weite Reise lag vor mir, eine Reise um die ganze Welt. Auf den Tag genau vor fünf Jahren war ich in Chennai aus dem Charminar Express gestiegen, ein Meilenstein: meine 80. Zugreise durch Indien. Damals, mit nichts als einem drei Monate gültigen Bahnpass, einer veralteten Karte und vor allem einer gehörigen Portion Naivität hatte ich gerade 40 000 Kilometer hinter mir – was immerhin dem Erdumfang entspricht – und dabei alle vier Punkte des geografischen Karos dieses riesigen Landes bereist. Von Zugtüren hängend, auf Stufen balancierend und auf Wäschebergen schlafend war mir klar geworden, warum die indische Eisenbahn als »Lebensader der Nation« bezeichnet wird.
Oftmals gerade so davongekommen, hatte ich mir geschworen, nie mehr im Leben ein derart anspruchsvolles Unternehmen anzugehen. Natürlich wusste ich damals noch nicht, dass mich die Eisenbahn nicht mehr loslassen würde. Sie folgte mir nach Hause – ihr Staub in meinen Haaren, ihr rhythmisches Schaukeln in meinen Knochen, ihr Reiz für immer in meinem Blut. Langsam zeigten sich die Symptome: Ich hielt mich auf Brücken auf und beobachtete die Güterzüge, wie sie unter mir hinwegdonnerten. Oder ich kaufte eine Fahrkarte, einfach nur so, an einem schönen Nachmittag, und saß am Fenster und las. Nachts lag ich wach und lauschte dem fernen Hornsignal eines Zuges in der Dunkelheit. Es wurde zur Krankheit – einer unheilbaren Krankheit. Oder wenigstens gab es in London keine Aussicht auf Heilung. Ich musste wieder zurück auf die Schienen – aber ich konnte ja nicht einfach packen und losziehen. Nach meiner Rückkehr aus Indien hatte ich mich allmählich wieder an den Rhythmus des Lebens in London gewöhnt. Ich hatte einen Job als Redakteurin bei der Zeitschrift The Week, aber eigentlich war das eher ein Traum: Morgens kam ich gemütlich um 10 Uhr ins Büro und verbrachte den restlichen Tag mit Zeitunglesen und Teetrinken, mit Coco, dem Büro-Dackel, friedlich schlummernd auf meinem Schoß. Kurz gesagt, ich wurde dafür bezahlt, was für andere Leute der Inbegriff eines gemütlichen Sonntags ist. Und mittlerweile gab es noch jemanden, den ich mit berücksichtigen musste: meinen Verlobten Jeremy, der mir ein paar Monate zuvor einen Heiratsantrag gemacht hatte, neben einer Mülltonne auf der Straße vor der U-Bahnstation St. John’s Wood. Mitten im Antrag wurde er umgerempelt von einem Trupp japanischer Touristen in Regenmänteln und Gummistiefeln; im strömenden Regen, genau da, wo wir uns zum ersten Mal verabredet hatten, fragte er, ob ich ihn heiraten wolle.
Also verwarf ich den Gedanken an eine erneute Reise erst einmal. Ich lebte weiter meinen Alltag und unterdrückte den Drang, wann immer er sich zeigte. Irgendwann gewann meine Reiselust jedoch wieder die Oberhand: Auf den Schienen gab es einfach zu viel zu entdecken, und die Züge warteten – aber nicht mehr ewig. Das Reisen mit der Bahn ändert sich in rasantem Tempo, die Zahl der Hochgeschwindigkeitszüge nimmt zu, und Zugreisen über lange Distanzen verlieren im wahrsten Sinne des Wortes an Dampf. Schlafwagen verkehren immer seltener, und die klassischen Routen sind fast nur noch nostalgische Erinnerungen. Wirtschaftsexperten und Pessimisten zufolge stirbt die Romantik der Eisenbahnen gerade einen eher schnellen Tod. Ich jedoch weigerte mich, dies zu glauben. Nichts in der Welt konnte mit den rollenden Waggons in Indien mithalten. Aber ich ahnte auch, dass die Eisenbahnen in jedem Land ihren ganz eigenen Reiz besaßen; alles, was es brauchte, war ein kleiner Anstoß, ein Stups, um diesen eigenen Charakter zum Vorschein zu bringen. Züge sind wahre Bibliotheken auf Rädern, und ein bisschen Offenheit gegenüber den Mitreisenden ist alles, was es braucht, um aus ihren Geschichten die Bücher dieser Bibliotheken zu binden.
Eine letzte Tasse Tee, ein letztes Kuscheln mit Coco – der Abschied von The Week. Jeremy, oder Jem, wie ihn fast alle nennen, hatte beschlossen, mich einen Monat lang zu begleiten. Ich begann, die Reise zu organisieren. Inwischen schmückte eine riesige Weltkarte unser Wohnzimmer, durchlöchert von Pinnadeln, die mit bunten Fäden verbunden waren. So konnte ich verfolgen, wie sich die nächsten sieben Monate meines Lebens wie von einem Fadenknäuel um die Welt abwickeln würden. Inmitten von Stapeln von Reiseführern und Landkarten hockte ich im Schneidersitz auf dem Boden, grübelte über Strecken, markierte wesentliche Ereignisse und plante mit so viel Genauigkeit, wie es ein solches Abenteuer zuließ. Einer der verhängnisvollsten Fehler, den ein Reisender begehen kann, ist es, anzunehmen, dass man eine Reise vollständig im Griff haben könne – eine Unmöglichkeit, besonders bei einer Reise von derartigen Dimensionen. Unterliegt man diesem Trugschluss, führt das zu nichts als Enttäuschungen. Also hielt ich es für das Beste, Verspätungen, Ausfälle und Unpünktlichkeiten gleich mit einzuplanen. Bei meiner Tour durch Indien war mein Plan, keinen Plan zu haben, und damit war ich innerhalb der Grenzen eines einzigen Landes gut beraten. Mein neues Unterfangen beinhaltete jedoch zu viele Städte, Länder und Grenzübergänge, um einfach so aufs Geratewohl loszuziehen. Je näher unser Aufbruchstag rückte, umso besorgter wurde Jem. Eines Morgens hockte er sich neben mich:
»Glaubst du denn, dass du das sieben Monate lang allein schaffen wirst?«
»Ja«, antwortete ich, ganz erstaunt, wie kleinlaut ich klang.
»Bist du sicher?«, fragte er mit einem Blick auf die Karte. »Da stecken einige ziemlich schwierige und unberechenbare Orte unter diesen Pins. Iran? Usbekistan?«
»Ich schaff das schon.«
In Wirklichkeit war ich mir da gar nicht so sicher. Schon in Indien war ich im Nachtzug befummelt worden, am Bahnhof in eine Ecke getrieben, auf dem Bahnsteig verfolgt, angestarrt, anzüglich angegrinst, angespuckt, angeschrien und mit Flüchen bedacht worden. Unzählige Nächte hatte ich in fragwürdigen Hotels verbracht, mein ganzes Gepäck im Zimmer vor der Tür aufgetürmt. Vor allem wollte ich Jem nicht zurücklassen. Was für eine Verschwendung es doch im Grunde wäre, ganz Europa, Russland, die Mongolei, China, Vietnam, Thailand, Malaysia, Singapur, Japan, Kanada und die USA zu bereisen, ohne das alles mit jemandem zu teilen.
Als ich nun zu dem Reisenden neben mir schaute, wusste ich, dass wir die richtige Entscheidung getroffen hatten. Jem hatte seinen Job gekündigt, den ersten Rucksack seines Lebens gekauft und beschlossen, mich während der ganzen Reise zu begleiten. Alarmierend fand ich allerdings, dass er meinte, für die nächsten sieben Monate bloß neue Segelschuhe und ein paar Pullover zu brauchen. Also nahm ich ihm seine TAG Heuer ab, gab ihm dafür eine Swatch und marschierte mit ihm los, damit er sich wetterfeste Kleidung und Socken kaufte. Jem war in der Nähe von London aufgewachsen und konnte sich Gepäck nur in Form von Rollkoffern vorstellen. Das konnte ja interessant werden, dachte ich bei mir. An diesem Morgen war ich noch schnell nach Covent Garden gelaufen und hatte mir bei Stanfords ein Notizbuch für die Reise gekauft. Jetzt fühlte ich das neue weiche Leder seines Einbands, als ich es aufschlug, den ersten von 80 Zügen notierte und dann das Leseband sorgfältig zwischen die Seiten legte. Der Zug war kurz vor der Einfahrt in den Eurotunnel. Ich atmete tief ein, um mich herum wurde es dunkel und England war verschwunden.
Entgegen der Vorstellung, die man üblicherweise von Interrail-Pässen hat, sind diese perfekt für Leute, die gern planen, die niemals spontan sind, die schon 90 Tage vorher genau wissen, wo sie zu Abend essen werden und wann. Ich gehöre leider nicht zu dieser Kategorie von Leuten und machte recht schnell die Erfahrung, dass für uns der einen Monat gültige Rail-Pass eher hinderlich war. Das ganze Konzept funktionierte gut für feste Reiserouten, denn nach fünf oder sechs Langstrecken hatte man sein Geld wieder »eingefahren«. Doch für Leute wie uns, die in Paris aufwachten und beschlossen, in Barcelona zu Mittag zu essen, zahlte es sich nicht aus. Bei jeder Buchung kam ein Aufschlag hinzu, eine Stornierungs- oder Verwaltungsgebühr, und ich verbrachte die erste Woche in Europa Schlange stehend in Schalterräumen, in Erwartung einer Rückvergütung.
Während ich Formulare ausfüllte und von einem Schalter zum anderen geschickt wurde, erstellte Jem eine Liste der Städte und Sehenswürdigkeiten, die er besuchen wollte. Beim Mittagessen in einem Café im Marais präsentierte er mir das Ergebnis.
»Das Gaudi-Haus … Valencia … Lourdes? Echt?«, fragte ich, den Kellner beobachtend, der gerade einen Korb frisch geschnittener Baguettescheiben auf den Tisch stellte, zusammen mit zwei papiernen Platzdeckchen und einer Karaffe Wasser.
»Ja«, antwortete Jem, der sich abmühte, harte Butter auf das Brot zu schmieren.
»Aber du bist doch gar nicht religiös!«
»Ja, stimmt, aber ich möchte was lernen. Weißt du, wenn man als Kind von Orten hört und sich die so irgendwie vorstellt. Ich wollte immer schon wissen, wie Lourdes ist.«
Um uns herum herrschte rege Unterhaltung, Stühle wurden gerückt, und ich beobachtete mit zunehmender Verwunderung, mit welcher Hingabe sich die Franzosen auf ihre Mahlzeiten konzentrierten. Bei einem Krug Wein zerbröckelten sie Brot und stippten es in Frischkäse, zerbrachen knisternd die Kruste ihrer Crème brûlée, nippten an ihrem dunklen aromatischen Kaffee und gaben sich dem Nachmittag mit einer Sorglosigkeit hin, als wäre heute Samstag und nicht ein gewöhnlicher Werktag. Auf niemanden schien irgendeine Arbeit zu warten, alle hatten perfekt gepflegte Fingernägel und waren ebenso perfekt gebräunt und die Frauen natürlich bestens gekleidet. Sogar ihre Hunde schienen gerade vom Friseur zu kommen. Ich widmete mich meinem knusprig gebratenen Stück Confit de canard und dachte über einen Abstecher nach Lourdes nach – es würde sicher nicht schaden, unterwegs etwas für mein Seelenheil zu tun.
Nach dem Mittagessen würden wir den Zug nach Limoges besteigen; von dort würde es weitergehen nach Clermont-Ferrand und dann nach Béziers – eine der längsten eingleisigen Hauptbahnen durch Frankreich, besonders bekannt für ihre herrliche Sicht auf das Zentralmassiv. Bevor der Zug in Limoges eintraf, teilten wir uns eine Cola, schlenderten ein wenig durch die kühle, leere Bahnhofshalle, in der nur das Quietschen unserer Schritte zu hören war, und bewunderten das schöne Kuppeldach, das mit Reliefs von spärlich bekleideten Frauenfiguren verziert ist: Le Limousin, La Bretagne, La Gascogne und La Touraine. Kastanien in Händen haltend und von Eichen- und Weinlaub umgeben stellen die Allegorien die vier von der Bahnstrecke erreichbaren Regionen dar. Weiteres Eichenlaub zieht sich hinauf bis oben in die Kuppel und kulminiert in einer herrlichen runden Bleiglasdecke. Für eine Provinzstadt ist der Bahnhof ungewöhnlich kunstvoll. Wir wurden neugierig auf das Äußere des Gebäudes und gingen hinaus, um die Kuppel sehen zu können. Ein paar Schritte weiter über die Straße fanden wir ein Plätzchen am Rande eines Springbrunnens, was uns einen Blick auf die ganze Pracht des Art-déco-Baus und seines Uhrenturms ermöglichte. Von allen Bahnhöfen, die wir auf unserer Reise durch Europa passierten, war Limoges-Bénédictins einer der schönsten – eine zufällige und glückliche Entdeckung, die nun wirklich gar nichts mit unserem Rail-Pass zu tun hatte.
Die französischen TGVs – Trains à Grande Vitesse – haben Bahnreisen in Europa zweifellos revolutioniert, auf jeden Fall für Geschäfts- und Vielreisende. Für Weltenbummler wie uns, die einen Zug mit der Absicht bestiegen, den ganzen Nachmittag aus dem Fenster zu schauen, waren diese Geschosse aber nahezu nutzlos, da sie alle Ausblicke auf verschwommene Farbkleckse reduzierten. In den Regionalzügen von Limoges nach Clermont-Ferrand und dann nach Béziers saßen nur wenige Fahrgäste; die meisten beklagten sich über die Hitze, dösten und stiegen in der Regel bald wieder aus. Wir hatten also mehr als genug Ruhe, um uns an der Landschaft zu erfreuen.
»Schau mal, was die verpasst haben«, bemerkte Jem und lehnte sich weiter zum Fenster, als der Zug über eine tiefe Schlucht rumpelte. Ganz unten paddelten Kinder in Schlauchbooten und sprangen von den Kalksteinfelsen ins Wasser. Als sie uns sahen, hielten sie kurz inne und winkten uns mit ihren Paddeln zu. Die nächsten drei Stunden fuhren wir durch dichte Tannenwälder mit kleinen silbernen Bächen. Bei offenem Fenster hörten wir das leise Rauschen des Wassers, atmeten den sauberen Waldgeruch ein und schaukelten so nach Süden in Richtung Béziers. Ein kurzes Piepen auf Jems Handy ließ ihn nach unten schauen.
»Eigentlich sollte ich genau jetzt in unserem wöchentlichen Meeting sitzen«, erklärte er, lehnte sich zurück, schloss die Augen und lächelte zufrieden.
Von Béziers bekamen wir eine Verbindung über Toulouse nach Lourdes, wo wir gerade rechtzeitig zur Abendprozession eintrafen. Wir trotteten den Hügel hinunter und mischten uns unter die Wallfahrer, die sich aus allen Richtungen dem Pilgerstrom anschlossen, der sich in Richtung Grotte bewegte. Wir hatten ein ruhiges Städtchen erwartet, mit ein paar um eine tröpfelnde Quelle versammelten Nonnen, stattdessen fühlte ich mich, als würde ich inmitten einer Menschenmasse nach einem Fußßballspiel stecken. Vollgestopft mit Pizzerias, Dönerbuden und grell erleuchteten Bars, war Lourdes das S’Arenal der Christenheit. Ein Souvenirladen reihte sich an den nächsten, mit Namen wie »A la Grâce de Dieu« oder »Mystères de Marie«. Jeder von ihnen versuchte, die Konkurrenz mit seiner Auswahl an Gedenktassen, Fächern, Türstoppern und Jesus-Feuerzeugen zu übertrumpfen. Verwirrt grinsend deutete Jem auf eine 30 Zentimeter große fluoreszierende Statue der Jungfrau Maria, die schräg über uns aufgehängt war.
»Kannst du dir vorstellen, du wachst nachts auf und dieses Ding starrt dich an?«
»Oder soll dein Auto vielleicht nach dem Papst riechen?«, fragte ich zurück und zeigte auf eine Kollektion von Autosprays, die angeblich den Duft von Heiligen verströmten.
»Wie riecht denn Jeanne d’Arc? Wie Holzkohle?«
Jeder dieser Religionssupermärkte war vollgestopft mit Ansichtskarten, Rosenkränzen, Schneekugeln, Gemälden, Weihrauch und Wunderwasserfläschchen. Je näher man der Grotte kam, desto teurer wurde es.
Unter den zum Bittgang drängenden Massen befanden sich Kinder in Rollstühlen, geschoben von ihren verhärmt aussehenden Eltern. Ihr Anblick frustrierte mich. Ich hatte mich früher zum Hinduismus bekannt, der Religion, in die ich hineingeboren war, ihr aber recht wenig Aufmerksamkeit geschenkt, schon deswegen, weil mir dieser Glaube nicht allzu viel abverlangte, außer andere so zu behandeln, wie ich selbst gerne behandelt werde, und zu religiösen Festen Barfi und Biryani zu essen. Die Vorstellung, dass da oben irgendein unbekanntes Wesen über mich wachte, war mir ganz recht, und ab und zu murmelte ich sogar ein Gebet, vielleicht vor dem Schlafengehen, in einem Tempel oder in der Gemeindekirche von Hampstead, in deren letzte Reihe ich mich manchmal an einem ruhigen Wochentag verzog. Dies änderte sich nach meinen Reisen durch Indien in Gesellschaft eines – nach seiner eigenen Aussage – »tiefgläubigen« Atheisten. Ich begann, die Existenz einer höheren Macht und meinen Bedarf an Religion allgemein infrage zu stellen. Immer wieder war ich »Männern Gottes« begegnet, die von den Armen und Schwachen profitierten und sie deshalb ausnutzten, Priestern, die Leuten Geld ohne eine Gegenleistung abverlangten und blinden Glauben, der nur enttäuscht wurde. Am Ende meiner Reise kam ich zu dem Schluss, dass die Existenz eines Gottes aller Logik und Vernunft widersprach und ich keine Notwendigkeit mehr sah für jegliche Art von Religion. Ich fühlte mich freier und wacher als je zuvor und konnte nicht mehr beten oder irgendwelche Gedanken auf Gott verschwenden. Dieser Moment, in dem ich all diese kranken Menschen auf die Quelle zuströmen sah, mit teuren Kerzen und allen möglichen Behältnissen für das wunderwirkende Lourdes-Wasser, bestärkte mich erneut in meiner Ansicht: Selbst wenn dieses Erlebnis den Bedürftigen Frieden brachte, wusste ich, dass andere von ihrer Verzweiflungprofitierten, und das konnte ich nicht akzeptieren. Dennoch erstand ich in letzter Minute ein kleines Fläschchen mit einem goldenen blumenförmigen Deckel, um etwas Lourdes-Wasser zumindest als Andenken mit nach Hause zu bringen.
An den Toren der heiligen Stätte angekommen, rückten Jem und ich ein wenig zur Seite, um Patienten von einem nahe gelegenen Hospiz Platz zu machen, die gegen die abendliche Kühle in Wolldecken gewickelt auf ihren Betten herangeschoben wurden. Es war dunkler geworden und am Himmel lag ein tief violetter Streifen über der neobyzantinischen Rosenkranz-Basilika, die den Hintergrund für Tausende von Menschen bildete, die Gebete murmelten und Kerzen in Händen hielten. Wir nutzten die Gelegenheit, um zur eigentlichen Grotte zu gelangen, und reihten uns in die Schlange der Wartenden ein. Ein Mann hatte einen ganzen Koffer mit Plastikbehältern dabei, die er mit dem heiligen Wasser füllte. Langsam passierten wir den unterirdischen Gang, in völliger Stille, das Tröpfeln des Wassers als einziges Echo um uns herum. Das Gestein unterhalb der Marienstatue glänzte von dem herunterfließenden Wasser. Hinter uns warteten ungeduldige Pilger darauf, die kalte, nasse Oberfläche zu berühren. Siereckten ihre Arme über meinen Kopf und legten ihre Hände dann in lautlosem Gebet auf ihre Brust. Beim Verlassen des Durchgangs überkam mich zu meinem Erstaunen eine seltene Ruhe. Ich war noch kurz stehen geblieben, um mein Fläschchen mit Wasser zu füllen, schraubte den Deckel fest zu und steckte es in meine Tasche, als mir auffiel, dass Jem noch immer bei der Grotte verweilte.
»Wenn’s dich nicht stört, möchte ich noch schnell eine Kerze für Dad anzünden«, sagte er. Wir entschieden uns für eine große dünne goldfarbene Kerze und steckten sie zusammen in den Halter. Ihr Licht flackerte ein wenig im Wind. Dann gingen wir in Richtung Ausgang auf die Durchgangsstraße, wo die Prozession inzwischen in vollem Gang war.
An einem Sonntag – Jem war damals 15 Jahre alt und gerade damit beschäftigt, wie jeden Sonntag die Schuhe seines Vaters zu putzen – bemerkte er, wie seinem Dad kalter Schweiß ausbrach. Es war ein frostiger Januartag und Jem beobachtete ihn mit Sorge. Er erkannte gleich, dass etwas nicht stimmte. Innerhalb von wenigen Minuten beugte sich sein Vater über die Lehne des Sofas, fasste sich an die Brust und brach auf dem Boden zusammen. Jem musste hilflos zusehen, wie sein Vater vor seinen Augen an einem Herzinfarkt starb, im Alter von gerade mal 44 Jahren. Ein Elternteil so jung und dazu noch in den Jahren der eigenen Entwicklung zu verlieren, prägte seine gesamte Ansicht über das Leben. Der Gedanke, der Tod seines Vaters könnte der Wille Gottes sein, beleidigte ihn und er wies die Versuche seiner Umwelt, zur Erklärung eines solch ungerechten Ereignisses die Religion zu bemühen, zurück. Stattdessen schwor er sich, von nun an jeden Tag intensiv zu leben. Das Beste aus seiner Zeit mit Freunden und Familie zu machen, sollte ihm weitaus wichtiger werden als Karriere und Geld.
In den nächsten beiden Wochen reihte sich ein Hochgeschwindigkeitszug an den anderen. Von Lourdes aus reisten wir nach Toulouse und weiter nach Barcelona. Auf einen kurzen Abstecher nach Madrid folgte Valencia, von wo aus es die Küste entlang zurück nach Barcelona ging. Nachdem wir Südfrankreich und Monaco durchquert hatten, landeten wir schließlich in Italien. Unser Rail-Pass erlaubte uns Zugang zu 28 Ländern – fast ein Land pro Tag für die Europa zugedachte Zeit. Dies würde jedoch auch bedeuten, keinem Ort irgendwelche nennenswerte Zeit zu widmen. Daher beschränkten wir uns auf einige unserer Lieblingsorte und entschieden uns für Städte mit fantastischem Essen, noch besserem Wein und schönen Stränden. Die Züge jedoch waren alle enttäuschend. Niemand sprach ein Wort mit dem anderen, jeder schlief, und keine der Strecken war in irgendeiner Weise bemerkenswerter als die nächste. Europäische Züge sind effizient, pünktlich und bequem und dienen keinem anderen Zweck, als Fahrgäste von einem Bahnhof zum nächsten zu befördern, allerhöchstens bietet die Fahrt ein paar hübsche Landschaftsausblicke. Da es auf diesen kurzen Strecken keinen Schlafwagenbetrieb gab, boten sie uns keines der aufregenden Abenteuer, auf die wir so erpicht waren.
In einem Café in Mailand überflog ich die Liste unserer bisherigen Züge. Es war schwierig, sich hier Notizen zu machen, das Lärmen der Motorroller brachte mich aus dem Konzept. Junge Frauen mit schlanken Beinen, die mich an Bambi denken ließen, knatterten in Sandalen und Sommerkleidern an uns vorbei und rasten über das Kopfsteinpflaster, als befänden wir uns in einem Werbespot für Dior.
»Eigentlich sollte ich nach diesen Frauen schielen, nicht du«, meinte Jem und hielt sich sein Bier kühlend gegen die Stirn.
»Ich kann’s nicht ändern. Italienische Cafés sind dazu gedacht, Leute zu beobachten. Alle haben ein Getränk vor sich und sitzen mit dem Rücken zum Lokal am Straßenrand, wo es nichts anderes anzuschauen lohnt als hübsche Mädchen in hübschen Sommerkleidern. Glaub bloß nicht, wegen deiner Sonnenbrille würde das niemand mitkriegen. Ich seh ganz deutlich, wie du die anstarrst.«
Jem schaute mich beleidigt an. »Mach dich nicht über meine Brille lustig.«
»Stell dir mal vor, wir haben schon 15 Züge genommen!«
»Hätte gedacht, es wären mehr«, antwortete Jem, als er mir ein Stück Melone mit süßlich-würzigem, fein gemasertem Parmaschinken reichte.
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir den größten Teil unseres Siebenmonats-Budgets für Buchungen und Gebühren verbraucht haben«, bemerkte ich und sah dem Cafébesitzer zu, wie er mit Grandezza ein Tischtuch auf den Tisch legte und dann ein paar Stammgäste auf beide Wangen küsste. In Rom hatte ein italienisches Reisebüro sich geweigert, Fahrkarten umzutauschen, die ich gerade zwei Tage zuvor in Monaco über ein französisches Reisebüro gebucht hatte, wobei ebendieses französische Reisebüro es schlicht abgelehnt hatte, eine Buchung zu ändern, die wiederum zwei Tage zuvor in Valencia von einem spanischen Reisebüro vorgenommen worden war. Jeder der Angestellten beharrte darauf, das jeweils andere Reisebüro sei für die Stornierung der nicht mehr benötigten Fahrkarten verantwortlich, underklärte, dass jede Rückerstattung ohnehin postalisch zu beantragen sei, natürlich gegen eine Gebühr. Ich wurde an eine Schlange verwiesen, die sich als Schlange herausstellte, um eine Nummer für eine zweite Schlange zu ziehen, bei der man wegen einer Kostenerstattung für im Voraus gebuchte Fahrkarten anstand. An diesem Punkt gab ich auf, was vermutlich ohnehin das war, was jedes der Reisebüros sich erhofft hatte. Ich schmiss das ganze Bündel Fahrkarten in den Mülleimer und beschloss, dass es an der Zeit war, Europa zu verlassen, bevor ich mir das Leben nehmen würde.
»Vergiss nicht, dass wir noch unsere Wäsche abholen müssen«, erinnerte mich Jem. Wir waren mit unserem Mittagessen fertig und machten uns auf den Weg ins Hotel.
Die Eingangstür des Waschsalons klingelte fröhlich, als wir eintraten. Der durchdringende Geruch von frisch gewaschenen Leintüchern stieg mir in die Nase, als ich die Tür hinter mir schloss, und die Hitze der Trockner brachte mich sofort zum Schwitzen. Vittoria, mit ihrem ganzen Gewicht auf das Bügeleisen lehnend, winkte uns kurz zu, bugsierte ihre Brille auf die Nase und suchteauf ihrem Klemmbrett nach dem Eintrag für unsere Wäsche. Im Nu schwang sie das in Plastikfolie verpackte Bündel auf den Tresen. Vittoria sprach kein Wort Englisch, und genauso gut beherrschten wir Italienisch, doch war es uns mit einer Kombination von Zeichensprache und einem bisschen gutem Willen gelungen, ihr klarzumachen, dass sie ruhig alles in eine Maschine werfen könnte. Es schien, als habe alles perfekt geklappt. Ich strich mit dem Finger am Rand des Bündels entlang und wartete, während Vittoria die Rechnungssumme in ihren Taschenrechner tippte. Jem stand neben mir und reichte mir einen 20-Euro-Schein. Vittoria drehte den Taschenrechner um und nahm ihre mit einer Schnur befestigte Brille ab und ließ sie vor ihrer Brust baumeln. Das Display zeigte 109 Euro! Jeder Zentimeter meiner Haut kribbelte vor Entsetzen, meine Ohrenspitzen wurden heiß. Ich hob den Kopf und richtete meinen Blick auf Vittoria, ohne ein Wort herauszubringen. Mir stand der Mund offen. Sie schaute auf die Anzeige und fing an, lachend den Kopf zu schütteln. Erleichtert atmete ich auf, drehte mich mit großen Augen zu Jem und formte lautlos mit den Lippen: »Sie hat das Dezimalkomma vergessen!«
Dumm nur, dass das keineswegs der Fall war.
Vittoria hatte vergessen, 9 Euro für ein paar Unterhosen hinzuzufügen, das Ganze kam jetzt also auf 118 Euro.
In Panik rief ich zu Jem: »Sie will 118 Euro für unsere Wäsche!«
»Das ist doch völlig unmöglich!«
»Ich zahl keine 118 Euro für einen Berg Wäsche, den sie einfach in eine dämliche Waschmaschine geworfen hat!«
Vittoria legte uns das Blatt Papier vor, auf dem sie unsere acht T-Shirts, zwei Paar Jeans, drei Baumwollkleider, vier Paar Socken, einen Stapel Unterwäsche und eine Strickjacke, an der nun ein Knopf fehlte, notiert hatte. Das Blatt stammte von einem Briefblock eines nahe gelegenen Fünfsternehotels. Ich bewegte meinen Zeigefinger vor ihren Augen hin und her und schüttelte energisch den Kopf: »Nein, wir nicht zahlen«.
Sie holte ihr Telefon aus der Tasche, sprach etwas in ihre Google-Übersetzer-App und drehte das Display in meine Richtung: Was möchten Sie machen?
»Sag ihr, du möchtest ihren Laden abbrennen, diese diebische …«
»Psst, halt mal«, antwortete ich.
»Nie und nimmer! Ich lass mich doch nicht von dieser Frau ausnehmen. Sag ihr, sie kann unser Zeug behalten. Wahrscheinlich würde es weniger kosten, das Ganze bei H&M neu zu erstehen.«
»Es würde weniger kosten, nach Hause zu fliegen.«
Jem griff nach ihrem Handy. »Das zahlen wir nicht«, sprach er in das Gerät.
Vittoria spitzte den Mund, las, was auf dem Display stand, und stellte den Ton lauter. Sie zuckte mit der Schulter auf eine Weise, wie es Italiener gelegentlich tun, wenn sie jemanden zur Weißglut bringen wollen, lachte und tippte eine neue Zahl in den Taschenrechner. Sie hatte 20 Euro abgezogen.
»Das zahlen wir auch nicht. Sie betrügen uns.«
Vittoria hörte auf die emotionslos mechanische Stimme, grinste süffisant und warf beide Hände in die Luft. Gleichzeitig sprach sie in die App.
»Es gibt einen Bankautomaten um die Ecke«, erklärte die Stimme.
Es war, als führten C-3PO und Stephen Hawking das passiv-aggressivste Gespräch, das ich je erlebt hatte. Vittoria tippte auf ihre Uhr und hatte nicht die geringste Absicht nachzugeben. Ihr Laden war dabei zu schließen. Sie bot einen weiteren 10-Euro Rabatt und schob unser Kleiderbündel aus unserer Reichweite. Ich war kurz vorm Explodieren, denn ich wusste, dass Vittoria sich die Hilflosigkeit zweier Ausländer ohne Italienischkenntnisse zunutze gemacht hatte. Schweißgebadet von der kochenden Hitze und meiner ebenso kochenden Wut zog ich Jem aus dem Laden und machte mich auf die Suche nach dem Bankautomaten.
»Wir haben keine andere Wahl, als das zu zahlen, sonst gibt die uns nie unsere Klamotten zurück.«
»Okay. Aber eines kann ich dir sagen: Heute Nacht komm ich zurück und schmeiß einen Ziegelstein durch ihre Scheibe.«
Nach der Sache mit der Wäsche hatten wir unser Budget für Europa mehr als verbraucht. Der Vorfall hatte einen Schatten über unseren Abschied von Europa geworfen, und wir machten uns auf den Weg durch die Schweiz und Deutschland, durch Litauen und Lettland; von dort wollten wir den Zug von Riga nach Moskau nehmen. In dem Zug von Mailand nach Zürich saß mir am Tisch gegenüber ein auffällig von Kopf bis Fuß schwarz gekleideter Mann, vor sich eine Flasche Wein. Es war Mitte Juni, er trug ein schwarzes T-Shirt und schwarze Hosen mit tiefem Schritt. Mit seinem grauen Bart und den dunklen Augen sah er aus, als sei er einem Film noir entsprungen. Er schaute immer wieder hoch, und mir war klar, dass er mit unverhohlenem Interesse unserem Gespräch über Moskau zuhörte. Wie sich herausstellte stammte Mark aus Stoke Newington im Londoner Bezirk Hackney und war auf dem Weg zu Recherchen für eine Story für das Sunday Times Style-Magazin.
»Sie fahren also nach Moskau?« Sein Ton stimmte mich nicht gerade hoffnungsfroh.
»Ja, wir waren noch nie da. Sie?«
»Ha!« Mark warf den Kopf zurück, verschränkte die Arme über der Brust und lachte. »Ich war das letzte Mal 1987 dort, auf einem Trip mit meinen Kommilitonen von der Filmhochschule.« Der Gedanke ließ ihn sichtlich schaudern. »Die Geschichtsstudenten waren auch dabei – und die beiden Gruppen hassten sich. Es war eine grässliche Reise. Am Schluss wurde ich von russischen Straßenjungs verfolgt, die in unserem Hotelzimmer verhaftet worden waren.«
»Was? Warum waren die denn überhaupt in Ihrem Zimmer?«
»Die zwei Typen erschienen plötzlich wie aus dem Nichts und fragten, ob wir irgendwas brauchten: Flaggen, Champagner, Pelzmützen, alles Schwarzmarktzeug.« Mark goss den Rest seines Weines in sein Glas, schüttelte die Flasche ein wenig, damit auch der letzte Tropfen herausfloss. »Mein Freund André und ich beschlossen, eine Party in unserem Zimmer zu veranstalten, so eine Art improvisierter Basar mit all den Militäruniformen und den Klamotten, die sie uns andrehen wollten. Ein gewisser Prozentsatz von jedem Verkauf sollte an uns gehen. Die anderen aus der Filmhochschule kauften das Zeug tonnenweise. Na ja, und dann kam die Polizei, und die Jungs mussten türmen. Somit behielten wir all ihren Kram.«
»Na, das ist ja auch nicht die feine Art.«
»Irgendwann gaben wir die Sachen zurück, nachdem sie uns drei Tage lang durch Moskau verfolgt hatten und sich bei unserem Hotel herumtrieben, um uns auf der Straße abzufangen.«
»Wir haben nicht viel Zeit in Moskau«, sagte Jem, »nur ein paar Tage. Wir nehmen die Transsibirische beziehungsweise Transmongolische Eisenbahn nach Peking, und die fährt nur an bestimmten Wochentagen ab.«
»Das ist wahrscheinlich das Beste«, antwortete Mark und kniff die Augen zu. »Russen sind in der Regel nicht gerade herzlich zu, nun, wie soll ich es ausdrücken, Leuten mit Ihrer …«
»Hautfarbe?«, schlug ich vor.
»Ja, genau«, sagte Mark erleichtert.
»Sie sind nicht der Erste, von dem wir das hören«, warf Jem ein.
Jems Mutter stammte aus Malaysia, sein Vater war halb schottisch, halb litauisch. Die malaysische Seite hatte den Krieg der Gene gewonnen, sodass Jem die gleichen schwarzen Haare und braunen Augen wie ich hatte.
»Na, wer weiß. Dinge ändern sich ja auch«, meinte Mark. »Wir nahmen damals den Zug von Moskau nach Leningrad, und ich erinnere mich noch, wie stickig heiß der war«, sagte er. »Ich war so deprimiert, lag in meiner Koje und hörte die Party im Abteil nebenan. Dort war nämlich der Junge, den ich anbetete. Ich war die ganze Woche schlecht gelaunt und heulte die ganze Zeit, weil ich total verknallt in ihn war und er mit einem Mädchen schlief. Wenn ich nur daran denke, wie ich dalag in meinem lächerlichen John-Flett-Kaschmirmantel, voller unerwiderter Liebe. Großer Gott, dieser Zug!« Mark vergrub das Gesicht in seinen Händen, und mein Enthusiasmus für Russland löste sich merklich in nichts auf. »Ich weiß noch genau – unsere mickrigen kleinen Plastikbeutel mit gekochten Eiern und irgendwelchem komischen Zeug, das wir auf dem Bahnhof gekauft hatten. Wir glaubten, wir würden an Unterernährung sterben, und lebten von einer Familienpackung Keksen, die meine Freundin Ceri mitgebracht hatte. Ich hatte das wohl alles in meinem Gedächtnis vergraben, aber jetzt fällt es mir wieder ein: Sie hatte auch eine Orange, und wir bekamen jeder einen Schnitz.«
»War die Verpflegung an Bord denn so schlecht?«, fragte ich.
»Schwarzbrot und Eier, die in Öl schwammen. Nehmt euch bloß eigenen Proviant mit. Ich weiß noch, wie Ceri mir auf die Hand schlug, weil ich nach den Keksen gegriffen hatte, und schrie: ›Finger weg! Wir müssen die rationieren!‹« Mark lehnte sich zurück und schaute aus dem Fenster. »Ich erinnere mich auch noch daran, dass ich damals eine Nachricht an meinen Vater nach Hause schickte mit der Bitte, mir am Flughafen eine Flasche Perrier und frisch gepressten Orangensaft mitzubringen, weil es das alles in Russland nicht gab. Ich kann bis heute keinen Mangosaft mehr trinken, weil das alles war, was die hatten, und es erinnert mich immer an diese lange, lange, lange Woche. Aber immerhin brachte ich eine luxuriöse Kaninchenfellmütze mit heim.«
Der Gedanke an fünf Tage an Bord eines Zuges, mit nichts zu essen als Schwarzbrot, öligen Eiern und Keksen und nichts zu trinken als Mangosaft, reichte völlig, damit mir schlecht wurde. Ich nahm mir vor, vorm Einsteigen in die Transmongolische Eisenbahn jede Menge Lebensmittel einzukaufen.
»Meine bleibende Erinnerung an den Trip ist, wie entsetzlich deprimierend Moskau ist. Soviel ich weiß, ist die Stadt immer noch ein Drecksloch. Ich konnte mich bisher nicht dazu überwinden, noch einmal dahin zu fahren. Einer der Geschichtsstudenten schrieb was darüber, die haben eine ganze Seite daraus gemacht in der Daily Mail. Ich hab das noch irgendwo.«
Ein paar Nächte später lagen Jem und ich auf unseren Liegen wie tote Fische, als unser Zug von Riga nach Moskau in der Dunkelheit dahinschwankte. Die Decke bis zum Kinn hochgezogen, starrte ich auf die Koje über mir, in der ein Skinhead im Unterhemd schlief; sein Handgelenk baumelte über die Seite der Liege. Es war fast so dick wie mein Oberschenkel. Ich starrte auf die Hand, die sich im Rhythmus mit dem Zug bewegte, und es graute mir vor den nächsten Tagen. Ich hoffte immer noch, dass Mark mit seinem Urteil über Moskau falschgelegen hatte. Schließlich war er seit fast 30 Jahren nicht dort gewesen, es musste sich ja seit damals einiges verändert haben.
Keiner von uns beiden konnte schlafen, mit unseren Gedanken waren wir bei der bevorstehenden Zoll- und Passkontrolle an der Grenze. Wir wagten es aber nicht, miteinander zu sprechen, um unseren Abteilgenossen nicht zu wecken. Der Zug fuhr jetzt langsamer, für eine Ewigkeit, wie es schien, und kam schließlich ächzend und quietschend zum Stillstand. Sofort waren undeutliche Stimmen und Schritte zu hören, und jemand fuchtelte mit einer Taschenlampe durch das Fenster ins Abteil. Eine Frau schrie auf, als ein Schäferhund den Gang entlanghechelte und sich dabei so heftig gegen die Leine aufbäumte, dass er sich fast strangulierte. Zuerst richtete er sich vor Jem auf, dann beschnüffelte er meine Schlafkoje. Jem setzte sich starr vor Schrecken gegen die Wand, seine Decke war auf den Boden gefallen. Jemand blendete mich mit einer Taschenlampe und sagte etwas, das ich nicht verstand. Wir händigten unsere Pässe aus und warteten bewegungslos ab. Der Hund zerrte immer noch an seiner Leine. Auf dem Gang waren weitere Schritte zu hören. Ein Zollbeamter stellte sich vor unsere Liegen, verschränkte beide Arme in der Luft und bedeutete uns, aufzustehen. Er warf unser gesamtes Bettzeug auf den Boden, hob die Liegen an und prüfte den Raum, wo unser Gepäck verstaut war. Nachdem er alles durchwühlt hatte, signalisierte er uns, uns wieder hinzusetzen. Der erste Beamte gab uns unsere Pässe zurück und blickte uns noch einmal ins Gesicht. Dann zog er an der Hundeleine und ging zum nächsten Abteil.
»Wir waren die einzigen, die kontrolliert wurden«, flüsterte Jem.
»Wir sind auch die einzigen mit brauner Haut«, wisperte ich zurück.
Jems Hände waren wie Eisklötze. Er hasste Hunde. Und selbst ich, die Hunde mochte, hatte mir fast in die Hose gemacht, als ich die Hitze und den Speichelgeruch des Hundes so nah an meinem Gesicht fühlte. Der Zug setzte sich quietschend wieder in Bewegung, in Richtung Russland. Das Schnarchen unseres Abteilgenossen wurde tiefer und irgendwann drehte ich mich zur Seite und schlief ein. Wir wollten ja Abenteuer erleben – und ich hatte das Gefühl, dass wir nicht zu kurz kommen würden.