Читать книгу In 80 Zügen um die Welt - Monisha Rajesh - Страница 7
3 | Von den Hutongs nach Hanoi
ОглавлениеIch war mir nicht ganz sicher, ob ich schreien, weinen, lachen oder die ganze Tortur abbrechen sollte. So hielt ich nur meinen Atem an und ertrug die Klapse auf meinen Po, die mir ein Paar fleischige Hände verabreichten. Trockene raue Finger kniffen michin den Rücken und wanderten zu meinem Nacken, als würden sie auf meinem Rückgrat Klavier spielen. Auf Empfehlung meines in Peking lebenden Bekannten Jamie lagen wir nun nebeneinander im Tang-Massagesalon im Dongcheng-Viertel der Stadt – eigentlich wollten wir uns hier nach der Reise entspannen. Nach Durchsicht der Liste der angebotenen Behandlungen hatte ich mich gegen die Massagen zur Beruhigung der Eierstöcke, Steigerung der Fruchtbarkeit und Heilung von Schlaflosigkeit und für eine einfache Hals- und Rückenmassage entschieden. Daraufhin wurde mir ein rosafarbener Schlafanzug ausgehändigt, Jamie und Jem bekamen blaue. Alle Masseurinnen und Masseure hatten eine Nummer, damit Kunden bei jedem Besuch nach der gleichen Person fragen konnten. Jamie hatte seinen Masseur mit einem vertrauten High-Five begrüßt.
»Benutzen die denn kein Öl für die Massage?«, fragte ich und krempelte meine Schlafanzughose unten um.
»Nein, alles ohne Flüssigkeit«, antwortete Jamie und schlurfte zu seinem Platz. »Na ja, zumindest je nachdem, für welche Massage du dich entschieden hast.«
Ich kannte Jamie vom Journalismusstudium. Er hatte seinen Job beim NME aufgegeben und war nach Peking gezogen, wo er sich ganz dem Leben eines Expats hingab und über seine Erfahrungen in China schrieb, wenn er sich nicht gerade in Bars mit australischem Dekor herumtrieb und Fußball schaute. In den letzten beiden Jahren wies er sich im Zug seiner Recherchen selbst in eine Klinik für Internetsucht ein, schnallte sich in einem Kurs für Männer, die sich dem Geburtserlebnis näher bringen wollten, ein Paar laktierende falsche Brüste um und berichtete aus einer Akupunkturklinik für verkrüppelte Katzen und Hunde – darunter eine Französische Bulldogge namens King Kong, die es nach einem Bandscheibenvorfall schaffte, ihre Blase wieder unter Kontrolle zu bekommen. Außer sich vor Freude über sein Interview in der vergangenen Woche mit dem Dissidenten-Künstler Ai Weiwei hatte Jamie uns am Bahnhof abgeholt. Mit den Händen in den Hosentaschen und seiner diagonal über die Brust geschnallten Tasche war er nicht zu übersehen: Groß und schlaksig, mit dünnem blondem Haar wie der junge Sting fiel er sofort auf in einer Stadt, in der große, schlaksige Doppelgänger des Popstars eher selten waren. Zudem war seine journalistische Tätigkeit nicht das Einzige, was er erfolgreich betrieb: Aufgrund seines ungewohnten Erscheinungsbilds stand ihm die Welt der chinesischen Online-Dating-Apps sperrangelweit offen, und seinem beschwingten Schritt nach zu urteilen, war er via Tinder mit Peking durch und arbeitete sich nun durch die Vororte.
Unsere drei Masseure kamen zurück in die Kabine. Ich verfolgte ihre Füße unter dem Tisch und hörte mit zunehmender Verlegenheit, wie Jem und Jamie im Wechsel von Schmerz und Vergnügen beklopft und betrommelt wurden. Die beiden trafen sich zum ersten Mal; sich gegenseitig unfreiwillig stöhnen und grunzen zu hören, war zweifellos ein Erlebnis, das einander näherbringt.
»Ich wünschte, es gäbe hier drunter ein Bier mit einem Strohhalm«, sagte Jamie, der rechts von mir lag, »oder eine Person, die es für mich hält, aber ohne peinlichen Blickkontakt.«
»Bist du oft hier?«, fragte ich.
»Gott, was für ein Eisbrecher – hat sie dich so aufgegabelt, Jeremy? Ja, so einmal pro Woche.«
»Sorry, ist wahrscheinlich nicht sehr erholsam, wenn ich spreche«, antwortete ich.
»Nein, ich mag’s, wenn jemand mit mir spricht. Sonst kann ich mich nur in meinem großartigen Chinesisch mit diesem Typen hier unterhalten, und ich glaube, Fußball ist nicht so sein Ding.«
»Wie heißt er?«
»Keine Ahnung. Ich kenne ihn nur als Nr. 14. ›14‹ ist fantastisch.«
Während wir drei uns unterhielten, führten ›14‹ und seine Kollegen über unsere Köpfe hinweg ihre eigene Unterhaltung, somit spielte sich die ganze Angelegenheit zur allgemeinen Zufriedenheit ab. Bald jedoch verwandelte sich das Gefühl, meinen Schlafanzug in meine Haut gerubbelt zu bekommen, von bloßem Wundreiben in schmerzhaftes Brennen, und ich schrie auf.
»Wenn es weh tut, sag einfach ›aaaaaaaaaaaaaaa-au‹«, erklärte Jamie, »das bedeutet ›au‹. Das habe ich als Erstes gelernt, als ich hierherkam.«
Peking war die erste Stadt, in der ich mich verloren fühlte. Sie war die Stadt aller Städte: rußend, sich immer weiter ausdehnend, völlig zugebaut, umgeben von Ringstraßen und einem Wirrwarr an Autobahnen. Die Luft war voller Qualm und schmeckte nach Motoröl und Abgasen, ein Geschmack, der bis in meine Kehle drang und meine Zunge belegte. Smog wie aus der Zeit von Charles Dickens vernebelte die Gebäude, kroch über Mauern und wirbelte um Laternenmasten. Trotz ein paar Fetzen Englisch auf Straßenschildern war es völlig aussichtslos, die richtige Betonung zu erraten, und unmöglich, Taxifahrern irgendetwas verständlich zu machen. Diese machten es sich zur Regel, Ausländer zu meiden: In der – oft völlig zutreffenden – Annahme, diese sprächen kein Chinesisch, winkten leere Taxis verzweifelte Fahrgäste einfach weg, weil sie wussten, dass die ganze Fahrt nichts als Frustrationen mit sich bringen würde: im Kreis herumfahren, rückwärts in Sackgassen setzen und zunehmend aggressiveres Argumentieren. Das einzig Sinnvolle war, die Adresse in Chinesisch auf einem Blatt Papier zu notieren oder den Fahrern ein Foto des Fahrtziels oder von in der Nähe gelegenen Sehenswürdigkeiten zu zeigen. Das Gleiche galt für Restaurants: Mahlzeiten zu bestellen war von wechselndem Erfolg gekrönt. Ich wollte dort essen, wo Einheimische aßen, aber das bedeutete, sehnsüchtig nach ihren Tellern zu schielen, mit dem Finger zu zeigen und der Bedienung Bleistiftzeichnungen von Hühnern und Schweinen vor die Nase zu halten, um sich verständlich zu machen. Es war demütigend, wie die Sprachbarriere uns blockierte. Auf allen Reisen überall in der Welt traf ich fast immer auf Menschen – von Straßenkindern bis zu älteren Rikschafahrern –, die genug Englisch konnten, um sich wenigstens ein bisschen mit ihnen unterhalten zu können. Hin und wieder waren diese Gespräche, in denen es um Premier-League-Vereine, Bollywood-Filme oder Freunde von ihnen, die in Manchester lebten, ging, äußerst unterhaltsam. Beschämt über die imperialistische Arroganz, mit der Engländer immer noch erwarteten, der Rest der Welt solle gefälligst ihre Sprache sprechen, bekam ich nun mit, dass die meisten Chinesen es weder für nötig noch für wünschenswert hielten, Englisch zu sprechen, sondern im Gegenteil auch so völlig zufrieden waren. An diesem Morgen hatten wir uns zu Fuß auf den Weg zur Verbotenen Stadt gemacht; zwei Stunden später kehrten wir unverrichteter Dinge zurück und hatten es gerade mal geschafft, Bubble Tea und eine Strickjacke bei Zara zu kaufen.
Nach unserer Massage hatte Jamie vor, uns in ein Restaurant mit szechuanischen Feuertopfspezialitäten zu führen, in dem die Belegschaft frische Nudeln so lang wie Springseile herstellte, und machte sich daran, ein Taxi zu rufen. Wir standen am Straßenrand und schauten ungläubig zu, wie rund ein Dutzend leere Taxis an uns vorbeifuhren. Jamie hatte sich auf die Straße gestellt und seine Umrisse wurden von den aggressiven Scheinwerfern gut erhellt, aber die Taxis ignorierten ihn und fuhren einfach an ihm vorbei. Die anderen Autos bremsten abrupt und hupten wütend, Fahrräder eierten um ihn herum. Jamie war jedoch wild entschlossen und lehnte sich in die offenen Wagenfenster wie ein Gigolo, nur seine Kinnlade zuckte jedes Mal, wenn ein Taxi einfach weiterfuhr. Natürlich wollte er seinen Besuchern beweisen, dass seine zwei Jahre in China nicht völlig nutzlos gewesen waren, und so blieb ihm schließlich nichts anderes übrig, als einfach eine Taxitür zu öffnen, sich hineinzuschwingen, den Sitzgurt anzulegen und uns zu bedeuten, es ihm gleichzutun. Die Proteste des Fahrers ignorierte er einfach. Wenn ein Fahrgast bereits im Auto saß, blieb dem Chauffeur keine andere Wahl, als ihn zu seinem gewünschten Ziel zu bringen. Um nicht überfahren zu werden, sprangen wir schnell in den Wagen und saßen ruhig hinten, als der Fahrer zu fluchen begann und Jamie erleichtert aufatmete.
Beschämt darüber, dass es uns nicht gelang, Peking in den Griff zu bekommen, räumte ich ein, dass eine Stadtführung der schnellste Weg wäre, die Stadt ein wenig kennenzulernen. Natürlich widerstrebte mir das in höchstem Maße. Selbst im besten Fall waren Führungen die Hölle auf Erden – ich hasste es, Teil einer auffälligen Menschenmenge zu sein, daran gehindert, mein Tempo selbst zu bestimmen. In solchen Fällen dauerte es nicht lange, bis ich mich von der Gruppe löste, um auf einem Markt zu trödeln oder eine Sackgasse näher zu erkunden. Für meine Begriffe sind geführte Touren etwas für Menschen, denen die Initiative fehlt, selbst einen neuen Ort zu entdecken. Das sind die gleichen Leute, die sich auf Kreuzfahrten wohlfühlen, glücklich darüber, in der Herde aufs Schiff geleitet zu werden und zu Zwischenstopps an Land, wo sie wie Schulkinder im Bus herumgefahren werden, sicher in dem Wissen, dass, wo immer man sie hinbringt, alles bereits bezahlt ist und sie keinerlei Risiko eingehen. Dennoch musste ich feststellen, dass Pekings Straßen, so sehr ich die Augen offenhielt, nichts von den mannigfaltigen Geschichten und kulturellen Besonderheiten der Metropole preisgab. Angefangen bei den Farben der Tore, der Höhe der Gebäude und den Markierungen auf den Türen hatte alles eine historische Bedeutung, die nur ein kundiger Stadtführer erklären konnte. An einem ungewöhnlich klaren Morgen hatten wir uns also mit Jamie bei dem Trommelturm und dem benachbarten Glockenturm, beide uralt, für einen Rundgang durch die Hutongs verabredet, den für einige der ältesten Stadtteile typischen engen Gassen.
Unser Führer für die Tagestour war ein Däne namens Lars Ulrik Thom von »Beijing Postcards«, einem Zweimannunternehmen, das seinen Anfang damit genommen hatte, dass Lars und sein Kompagnon alte Fotografien und Postkarten, die sie auf Flohmärkten aufgegabelt hatten, an Galerien verkauften. Bald schon hatten die beiden ihr Geschäft auf Vorträge und geführte Rundgänge ausgeweitet. Gestützt auf Archivforschung und Gespräche mit den älteren Bewohnern der Hutongs vermittelten sie ein möglichst genaues Bild der Geschichte dieser Stadtteile. Als wir ankamen, hatte Lars eine Karte der Altstadt auf dem Boden ausgebreitet und stand mitten auf ihr; ein paar Chinesen aus dem Viertel waren stehen geblieben und machten sich Notizen, und ein dickes, lächelndes Baby saß in einem Kinderwagen und schaute sich die ganze Sache an. Die Hutongs bildeten eine Reihe von engen Gassen, meistens Wohngebäude, und hießen so nach dem mongolischen Wort für eine Straße, die zu einer Wasserquelle führt. So wird der Name meist erklärt, doch war Lars überzeugt, dass der Name den Abstand zwischen den Häuserzeilen beschrieb, der erforderlich war, um zu verhindern, dass Brände die ganze Gasse erfassen konnten. Die Straßen waren nie breiter als zehn Mann, an manchen Stellen verengten sie sich dermaßen, dass nur noch ein Fahrrad durchpasste.
Nach dem Ende der Mongolenherrschaft wurde Peking zur wichtigeren der beiden Hauptstädte (die südliche Hauptstadt war Nanking) und die Stadt zu großen Teilen ganz neu gebaut. Der Verlauf der Hutongs unterlag strengen Vorschriften: In der Innenstadt war alles in geraden Linien anzulegen, und es war verboten, irgendetwas Größeres zu errichten oder farbenfroher auszuschmücken als die Verbotene Stadt. Das erklärte auch das graue Erscheinungsbild der Hutongs – eine absichtliche Wahl, um Untergebenheit zu demonstrieren. Nur in irgendeiner Weise mit dem Kaiserhaus verbundene Bewohner durften ihre Häuser mit goldenen Dachziegeln decken; Tore wurden normalerweise mit schwarzer, grüner oder roter Farbe angestrichen. Nach Beginn der kommunistischen Ära im Jahr 1949 wurde alles rot übermalt.
Lars blieb vor dem Haus eines ehemaligen Angehörigen der Armee stehen und machte uns darauf aufmerksam, dass die Steinplatten je nach Rang und Status des Offiziers verschieden groß waren. Viereckige Steine sollten an Buchdeckel erinnern, um zu demonstrieren, dass der Offizier die kaiserlichen Prüfungen bestanden hatte. Das Wohnhaus, vor dem wir uns gerade aufhielten, hatte kein Tor mehr, da es zu einer öffentlichen Toilette umfunktioniert worden war. Im Vorfeld der Olympischen Sommerspiele 2008 hatte die Regierung verfügt, die Stadt durch Neubauten, Abrisse und Sanierungen grundlegend aufzuhübschen. Dieses Vorhaben enthielt auch die Vorgabe, alle 800 Meter eineöffentliche Toilette zur Verfügung zu stellen, was die Allgegenwart dieser stinkenden Gebäude erklärte. Heutzutage waren die Hutongs nicht mehr reine Wohnsiedlungen, sondern voller Handwerksbetriebe, Gemüse- und Metzgerläden, in denen man geröstete Enten an ihren Hälsen aufgehängt sah, und Kaffeestuben, die weder Milch noch Zucker servierten. Alle paar Hundert Meter fiel unser Blick auf alte Fahrräder oder einzelne Stühle, die scheinbar achtlos in die Mitte der Straße geworfen worden waren; bei näherem Hinsehen jedoch stellten wir fest, dass sie am Boden angekettet waren wie Kunstwerke, die hofften, für den Turner Prize berücksichtigt zu werden. Damit sicherten sich die Anwohner einen Parkplatz, den ihnen kein anderer wegschnappen konnte. Die Räder der parkenden Autos waren mit großen Pappdeckeln versehen, damit Hunde nicht gegen die Reifen pinkeln konnten.
Infolge der staatlichen Bemühungen, Peking als hypermodernes Finanz- und Technologiezentrum neu zu positionieren, waren die Hutongs, wie auch viele andere Stadtteile, von einer neuen Abbruchwelle bedroht. Die Belange derjenigen, die durch solche Maßnahmen ihr angestammtes Umfeld verloren, blieben jedoch außen vor. Bei dem Versuch, den ursprünglichen Charakter der Hutongs wiederherzustellen, wurden Restaurants, Bars und die Ladenfronten von kleineren Betrieben zugemauert oder über Nacht einfach abgerissen – ihre Inhaber kamen morgens zur Arbeit und mussten feststellen, dass ihre Existenzgrundlage zerstört war. Bei den meisten Opfern dieser Sanierungsaktionen handelte es sich um chinesische Migranten, die von der Hand in den Mund lebten und unkonzessionierte Buden betrieben, in denen sie alles Mögliche verkauften. Warum gerade sie sich im Visier der Regierung befanden, war auf düstere Weise naheliegend: Um der Übervölkerung der Stadt Herr zu werden, entledigten sich die Behörden dieser Migranten, deren winzige Geschäfte wenig zur Entwicklung der Volkswirtschaft beitrugen. Die Bevölkerung befürwortete diese Veränderungen zum größten Teil, doch mit jedem Shopping-Center, das ein Stück alte Stadtmauer ersetzte, starb ein weiteres Stück von Pekings Geschichte, Charme und legendärer Energie.
»Bist du sicher, dass du nicht Nanking meinst?«, frage Jamie.
»Nein. Nanning, ganz bestimmt.«
»Buchstabier es.«
»N-A-N-N-I-N-G.«
»Oh, okay, also tatsächlich Nanning. Noch nie davon gehört.«
Nanning lag ganz im Süden Chinas, ungefähr genauso weit von Peking wie von Hongkong entfernt, aber seit unserer Reise mit der Transmongolischen Eisenbahn beeindruckten uns solche Distanzen nicht besonders. Was bedeuteten denn schon 23 Stunden? War ja noch nicht mal ein voller Tag. Nach einer Woche in Peking baten wir Jamie, uns die Fahrkarten nach Nanning in einem örtlichen Reisebüro zu buchen, was leichter war, als sich am Bahnhof lange anzustellen. Kein bisschen davon überzeugt, dass wir wussten, wohin wir wollten, hätte er uns fast nach Nanking befördert. Er selbst war auf dem Weg nach Shanghai, wo er über die Zunahme von Scheinehen unter Lesben und Schwulen zur Besänftigung von konservativen Familienangehörigen berichten wollte; er ärgerte sich darüber, dass sein Herausgeber Fotos wollte, was dem ganzen Konzept der Story widersprach. Von Nanning aus wollten wir die chinesisch-vietnamesische Grenze in Richtung Hanoi überqueren. Allein diese beiden Reisen lösten erhebliche Glücksgefühle in mir aus, denn ich verfiel ganz automatisch wieder dem bequemen, mir vertrauten Tempo, in dem Asiaten reisen. Auf unserer 30. Zugreise, von Peking nach Nanning, saßen wir im Speisewagen und beobachteten einen älteren Mann, der über einem Teller mit dampfendem Rindfleisch saß und beim Essen nur ab und zu mal eine Pause für einen Schluck aus einer kleinen Flasche Whisky einlegte, den er trank, als handele es sich um Wasser. Ihm gegenüber saß sein Freund mit verschwollenen, tiefliegenden Augen und grauen Haaren und mampfte sein gebratenes Schweinefleisch mit Bohnen. Ab und zu biss er von einer geräucherten Wurst ab, die so dick war wie sein Arm. Der Fußboden unter ihnen ähnelte dem Boden eines Hamsterkäfigs: völlig bedeckt mit den Schalen von Sonnenblumenkernen, die unter den Rädern eines Servierwagens voller Wurst auf Spießen ein knirschendes Geräusch erzeugten. Fischköpfe und abgenagte Gräten lagen über die Tische verstreut, die ganz ungeniert von einer gerade genossenen Mahlzeit zeugten. An unserem eigenen Tisch wischte Jem seinen Teller mit dem Finger sauber, seine Wangen waren voller Chili und Öl.
Bei diesen Mahlzeiten machten sich geteilte Freude und tiefe Zufriedenheit breit, ganz im Gegensatz zur Stimmung in europäischen Speisewagen, in denen die Reisenden, allein an getrennten Tischen und jeder eine Flasche Pinot noir vor sich saßen. Auf dem Weg zurück in unser Abteil beobachteten wir, wie sich die Leute an den Heißwasserkesseln versammelten, damit beschäftigt, ihre Schalen mit Instantnudeln und Flaschen mit Jasmintee aufzufüllen. Fahrgäste saßen in den Gängen und schauten sich auf goldfarbenen iPhones in ziemlicher Lautstärke Seifenopern an, schälten Erdnüsse und warfen die Schalen auf den Boden. In den offenen Abteilen baumelten schwielige Fersen von den Liegen, T-Shirts hingen auf Kleiderbügeln und Babys schlummerten vermummt in Steppdecken. Männer rauchten in den Gängen oder standen eingeseift an den Waschbecken, um sich vor dem Schlafengehen zu rasieren. Während ich ein wenig herumwanderte, hatte sich Jem mit einem jungen Mann angefreundet, der gerade sein Geologiestudium abgeschlossen hatte. Sein Spitzname war Xué, was passenderweise »lernbegierig« bedeutet. Nach einem halben Jahr in der Ferne war Xué auf dem Heimweg nach Nanning. Er teilte sich das Schlafwagenabteil der untersten Kategorie mit zwei Omas und einem hübschen Mädchen, das fast die gesamte 23-stündige Reise damit verbrachte, ein episches Drama auf ihrem in einer kristallbesetzten Schutzhülle steckenden iPad anzuschauen. Die Omas führten lautstark Telefongespräche, pupsten und aßen Mantou, eine Art Dampfnudeln. Xué hatte sich zwischen uns niedergelassen, und wir schauten Game of Thrones. Keiner benutzte Kopfhörer, und dennoch störten alle diese Geräusche die Harmonie unserer vorübergehenden Gemeinschaft nicht. Am nächsten Morgen begleitete Xué uns zum Frühstück, bestellte weiche Mei-Fun-Nudeln mit schwarzem Kohl und Erdnüssen und schwatzte mit uns über seine beruflichen Aussichten. Draußen schlug der Regen an die Scheiben.
»Ich war wirklich zu lange weg. Ich bin froh, meine Mutter wiederzusehen.«
»Hast du Geschwister?«, fragte ich und vergaß dabei, dass Xué ja zu der Generation gehörte, die von der Ein-Kind-Politik betroffen war.
»Nein.«
»Wie ist es denn so, ein Einzelkind zu sein?«
»Man denkt eigentlich nicht darüber nach. Bei all meinen Klassenkameraden ist es ja dasselbe. Sie sind auch alle Einzelkinder, also komme ich mir nicht anders vor. Ich habe nicht das Gefühl, irgendwas verpasst zu haben.«
Sofort wurde mir klar, wie dumm meine Frage war. Natürlich kam sich Xué nicht seltsam vor. Keine Geschwister zu haben, war für ihn genauso normal, wie es für mich normal war, einen Bruder zu haben. Ich hatte mir nie darüber Gedanken gemacht, wie das Leben als Einzelkind oder mit mehr Geschwistern verlaufen wäre.
»Im Moment haben wir ein großes Problem«, erklärte Xué. »Alle ziehen vom Land in die Stadt, weil es dort mehr Arbeit gibt. Auf einem Bauernhof kann man vielleicht 10 000 Yen pro Jahr verdienen, in der Stadt hingegen verdienen die Leute bis zu 60 000 Yen. Also verlässt jeder seinen Bauernhof, was ein riesiges Problem für die Regierung darstellt. Es wird versucht, auch auf dem Land bessere Schulen und mehr Krankenhäuser zu bauen, damit die Leute dableiben, aber ich glaube, es wird schwer werden, sie dazu zu bewegen. Es suchen einfach zu viele Menschen Arbeit. Manchmal hat die Regierung recht: Eine gewisse Bevölkerungskontrolle ist nötig.«
Nach unserer Ankunft in Nanning begleitete uns Xué durch die halbe Stadt, um unsere Fahrkarten für die Weiterfahrt nach Hanoi in einem örtlichen Reisebüro zu kaufen, das wir ohne ihn niemals gefunden hätten. Dann brachte er uns zurück zum Bahnhof, führte uns zum richtigen Gleis und wünschte uns viel Glück. Seine Mutter würde sich schon Sorgen machen, wo er bleibe, fügte er hinzu. Diese zufälligen Erlebnisse von Freundlichkeit bestärkten mich immer wieder in meinem Glauben an die Menschheit. Xué hatte das alles nichts gebracht, außer vielleicht Schimpfe von seiner Mutter, dennoch hatte er uns eine Stunde seiner Zeit geschenkt, obwohl er so lange nicht zu Hause gewesen war. Vielleicht wollte er uns einen Eindruck von chinesischer Gastfreundschaft vermitteln oder er hatte sich ganz einfach in unserer Gesellschaft wohlgefühlt – ich werde es nie erfahren.
So wie manche Reisende Ansichtskarten, Münzen, Briefmarken oder Bierflaschen aus anderen Ländern sammeln, bin ich besessen von Schnellimbissen, besonders KFC und McDonald’s, die überall regional angepasste Versionen ihrer Klassiker anbieten – wie beispielsweise den Chicken Maharaja Mac in Indien und den Croque McDo in Frankreich. Hier entdeckten wir einen Fastfoodladen, den ich noch nie zuvor gesehen hatte: Er gehörte zu einer Kette, die nur gebratenes Huhn servierte. Der Kellner knallte mir eine laminierte englischsprachige Speisekarte vor die Nase und wartete geduldig, bis ich zwei Doppeldecker-Burger-Menüs bestellte. So sehr der Westen auch Geschmack und Mode in China beeinflusst hat, blieb diese Kette ganz eindeutig chinesisch: Teenager mit wuchtigen Turnschuhen verschlangen ihr Essen mit ihrem iPhone in der Hand, tranken aber Sojamilch statt Coca-Cola und verzehrten geräuschvoll Shrimps am Stiel statt Pommes.
Die nächtliche Reise nach Hanoi verbrachten wir mit Schlafen, unterbrochen vom Ausladen unseres Gepäcks auf jeder Seite der Grenze, bis wir schließlich mitansehen mussten, wie eine junge Frau weinend in ein Hinterzimmer gebracht und dann in Handschellen abgeführt wurde. Sie war in unserem Abteil gewesen und hatte ihren rosafarbenen Plastikkoffer unter meine Liege geschoben. Jetzt war ich natürlich neugierig, was darin war. Die Vorstellung, in Südostasien vorsätzlich irgendeine Art von Verbrechen zu begehen, erstaunte mich immer wieder. Polizisten und sonstige Sicherheitsbeamte in diesem Teil der Welt haben ein Auftreten, das mich jedes Mal, wenn sie auch nur in der Tür erscheinen, fast zum Weinen bringt. Auch hier wirkten sie nicht so, als würden sie einer dürren Studentin in gelben Flip-Flops Tee anbieten und ihr Mitgefühl zeigen. Als unser Zug aus dem Bahnhof rollte, schaute ich auf die nun leere Liege mit den zerknautschten Decken und ein paar langen schwarzen Haaren auf dem Kopfkissen. Die junge Frau war unversehens nicht mehr Teil unserer Geschichte, und wir waren nicht mehr Teil von ihrer. Ich drehte das Licht aus, starrte im Dunkeln auf ihre Liege und fragte mich, ob wohl jemand in Hanoi auf sie wartete. Ich hoffte, dass es ihr gut ging.
In Bangkok herrscht der schrecklichste Verkehr in der Welt – zumindest dachte ich das, bis ich zum ersten Mal nach Delhi kam und dort entschied, in Delhi herrsche der schrecklichste Verkehr der Welt. Nun waren wir hier, und es wurde mir sofort klar, dass definitiv in Hanoi der schrecklichste Verkehr der Welt herrscht. Mittlerweile schien das zum Nationalstolz zu gehören, doch tatsächlich war er so schlimm, dass Hotels ihren Gästen Anweisungen zum Überqueren der Straße mitgaben. Seit mehr als 17 Minuten standen wir auf der einen Straßenseite und versuchten auszutüfteln, wie und wo wir lossprinten sollten – wir kamen uns vor wie in dem Videospiel Frogger, bloß dass dies die Wirklichkeit war. In der vietnamesischen Hauptstadt gibt es mehr als fünf Millionen Motorräder, von denen die meisten offenbar genau in diesem Moment unsere Straße herunterknatterten, voll beladen mit Kisten, Geflügel und vierköpfigen Familien. Vorsichtig schoben wir uns zurück auf den Bürgersteig und warteten eine weitere Flut von Mopeds, Motorrollern und Fahrrädern ab, die um die Ecke strömte. Die Frauen trugen Bomberjacken und an den Händen eine Art Ofenhandschuhe; jedenfalls sahen sie für uns so aus. Eingekeilt zwischen geparkten Motorrädern und solchen, die gerade parken wollten, waren wir gerade dabei, vom Bürgersteig auf die Straße zu treten, als eine schwarze Yamaha, beladen mit einem riesigen Flachbildfernseher, auf uns zugeschossen kam und wir erschrocken zurücksprangen. Die Ampeln schalteten von Rot auf Grün und dann wieder auf Rot, und wir sahen, wie sich die Einbahnstraße in ein Zwei- und dann in ein Dreibahnsystem verwandelte, indem sich neue Verkehrsspuren gegen den Strom einfädelten.
Zur Eindämmung der Verkehrsverdichtung und Umweltverschmutzung hat die Verkehrsbehörde angekündigt, bis 2030 alle Motorräder und Motorroller zu verbieten, was aber völlig unrealistisch ist: Ohne ihre Zweiräder können die Einwohner der Stadt kaum auskommen, da sich nur wenige ein Auto leisten können. Wir warteten weitere zehn Minuten auf eine Lücke, bevor wir beschlossen, dass es schneller und sicherer wäre, ein Taxi auf die andere Straßenseite zu nehmen. Die Taxifahrer wussten, dass es keinen Sinn hatte, zu versuchen, den Strom an Zweirädern, die die Straßen wie dünnere und farbenfrohere Versionen der Hells Angels dominierten, zu unterbrechen. Heißt, es war nirgendwo ein Taxi zu sehen. Schließlich machten wir es wie Moses, verließen uns auf unseren Glauben und gingen einfach los, in der Hoffnung, die Zweiräder würden uns durchlassen. Als wir uns resolut zwischen Rädern und Scheinwerfern durchschlängelten, wurde uns schnell klar, dass die Fahrer genauso daran interessiert waren, uns nicht umzufahren, wie uns daran gelegen war, nicht von ihnen umgefahren zu werden. Sobald wir uns näherten, schlingerten sie von uns weg. Auf der anderen Seite angekommen, sprangen wir gerade in dem Moment von der Straße, in dem ein Motorroller den Bürgersteig entlanggerast kam und einen Fußgänger umriss.
Alle Reisenden, die wir unterwegs getroffen hatten, betrachteten Hanoi als Ausgangspunkt für die Erkundung der Halong-Bucht, bevor sie in Richtung Ho-Chi-Minh-Stadt (Saigon) weiterreisten. Bei einem Spaziergang unter einem noch nicht ganz erwachten Morgenhimmel am Hoan-Kiem-See waren wir jedoch ganz zufrieden hier und hatten nicht das Bedürfnis, irgendwo anders zu sein. Yogis machten am Wasser ihre Übungen, und wir setzten uns unter einen Baum, verzehrten unsere gebratenen Eier und mit Schweinefleisch belegten Bánh mì-Brötchen und sahen einer Gruppe alter Frauen zu, die ganz in ihr Tai-Chi versunken waren. Die Ruhe und Präzision ihrer Bewegungen standen im völligen Gegensatz zu dem Tempo, in dem sich der Rest der Stadt um sie herum bewegte. Konzentriert und ohne Hast führten sie ihre Übungen durch, streckten ihre Arme vom Körper weg und zogen sie wieder zu hinaus; in jedem Moment war ihr ganzes Wesen voll präsent. Insgesamt sind wir besessen von Schnelligkeit, wir schauen auf unsere Armbanduhr, werfen einen Blick auf jede Uhr, an der wir vorbeikommen, rennen zur U-Bahn, erfinden Hochgeschwindigkeitszüge, noch schnelleres Internet und sofort löslichen Kaffee – aber wo ist all die Zeit, die wir damit einsparen? Und was machen wir mit ihr? Wenn Geschwindigkeit unser Leben verbessert, wie kommt es dann, dass unsere Tage noch stressiger sind, noch länger und noch härter? Dass unser Kopf überlastet und müde ist? In den letzten Wochen hatte die Gemächlichkeit des Reisens mit der Bahn meinen Kopf geklärt, zugelassen, zur Ruhe zu kommen und meinen Gedanken nachzuhängen – Gott sei Dank waren es recht wenige. Das Hinter-mir-Lassen meiner Arbeit, meines Zuhauses und meiner Besitztümer hatte den Lärm in meinem Kopf verstummen lassen. Ich brauchte mich nur damit zu befassen, wo ich essen und schlafen würde. Je weniger ich mit mir herumschleppte, umso weniger Sorgen hatte ich.
Die nächsten paar Tage verbrachten Jem und ich damit, die Alleen Hanois entlangzubummeln, große Schüsseln Pho zu essen und in Dachgartencafés zu sitzen und Filterkaffee mit Kondensmilch zu trinken. Winzige Vögelchen schlugen ihre Flügel in hölzernen Käfigen. Eines Nachmittags besuchten wir das Ho-Chi-Minh-Mausoleum, ohne dass uns klar war, dass der verstorbene Staatsführer nur bis 11 Uhr morgens Gäste empfing. Einbalsamiert lag er in einem gläsernen Sarg inmitten eines nüchternen Marmordenkmals sowjetischen Stils. Wie wir später herausfanden, entsprach das ganz und gar nicht seinem letzten Willen, denn Ho wollte eingeäschert werden und seine Asche sollte in drei Urnen auf unmarkierten Hügeln im Norden und Süden und in der Mitte von Vietnam verteilt werden. 1989 gab die vietnamesische Regierung zu, sein Testament eigenwillig geändert und sein Todesdatum gefälscht zu haben, damit es nicht mit dem Nationalfeiertag des Landes zusammenfiel und diesen zu einem Trauertrag machen würde. Nachdem wir erfahren hatten, dass wir für eine Besichtigung des Innenraums zu spät gekommen waren, drückten wir uns noch ein wenig auf der Anlage herum, fluchten über die Luftfeuchtigkeit und redeten uns gegenseitig ein, dass Onkel Ho sowieso nie so daliegen wollte.
Mit einer Träne im Auge verließen wir Hanoi, um noch etwas vom übrigen Vietnam sehen. Am Hauptbahnhof wollten wir den Reunification Express (Wiedervereinigungsexpress) von Hanoi nach Saigon nehmen. Ähnlich wie bei der Transmongolischen Eisenbahn trägt kein einzelner Zug diesen Namen, aber die Trasse als solche ist unter diesem Namen bekannt. Die Bahnlinie wurde 1936 von den Franzosen während ihrer Kolonialherrschaft erbaut, aber 1954 getrennt, als Vietnam geteilt wurde. Während des Vietnamkriegs wurde die Strecke durch amerikanische Bombenangriffe schwer beschädigt, doch wurde nach der Wiedervereinigung des Landes 1976 der normale Linienverkehr wieder aufgenommen. Wir waren zur Hauptreisezeit unterwegs, und die Bahn hatte einen zusätzlichen Zug, den Limited Express Nummer SE17, eingesetzt, um dem erhöhten Fahrgastaufkommen gerecht zu werden. Als ich den Rost am unteren Ende der Wagen sah, hatte ich Mühe zu sagen, welche Farbe der Zug wohl ehemals gehabt haben mochte. Nervös setzte ich meinen Fuß auf die Stufen, ich hatte Angst, sie würden abbrechen und auf die Gleise fallen. Ich ging ins Abteil, der Boden knarrte unter meinem Gewicht. »Limited« war eine Untertreibung: Im Inneren des Abteils sah es aus, wie nach einem Brand. Die Farbe blätterte von der Wand wie tote Hautzellen und bedeckte die Sitze mit gelben Schuppen. Rattengraue Büschel quollen aus den Rändern der Klimaanlage, die ohnehin nur noch von vier Klebebändern zusammengehalten wurde, von denen zwei lose flatterten. Die Decke war übersät mit schwarzem Schimmel und Fäulnisgeruch breitete sich von einem unter einem Waschbecken geplatzten Rohr aus, von dem das Wasser nun in die Abteile lief. Knöcheltief schwappte es an die Wände und wurde von einem Zugbegleiter in einem schweißnassen Hemd aufgewischt.
Immer wenn ich über derartige Züge in Blogs las, war von bequemen Abteilen die Rede und von Mahlzeiten, die am Sitzplatz serviert wurden. Schöne Fotos zeigten adrett geraffte Vorhänge, rosafarbene Plastikblumen und kahlköpfige Männer mittleren Alters, die fröhlich ihr Bier hochhielten. Niemand schien in diesen fahrbaren Müllcontainern zu reisen, doch trotz allem war ich tief in meinem Inneren von derartigen Reisen begeistert. Für mich war das eine Willensprobe, um herauszufinden, was wirklich in mir steckt und wie lange es dauern würde, bis ich mir eine gefährliche Infektion einfangen würde. Ich stellte meinen Rucksack ans Fußende meiner Liege und ging zum Fenster, als das Abteil zu wackeln anfing. Ich nahm an, wir waren dabei abzufahren, bis ich entdeckte, dass die Erschütterung von vier Geschwistern stammte, alle jünger als sechs, die in Unterhemden, Hosen und barfuß wie die Wilden die Gänge entlangtobten. Unsere Abteilgenossen waren ein dänisches Paar, das auf seinen Schlafkojen lag, las und zunehmend ärgerlicher wurde, je mehr wir versuchten, uns mit ihnen zu unterhalten. Schließlich drehten sie sich weg von uns zur Wand.
Aus dem Lautsprecher ertönte der Gesang einer offensichtlich schmerzgeplagten Frau; ihre Stimme glich einer Schallwaffe. Ein warmer tropischer Regenguss empfing uns, kaum dass wir die Station verlassen hatten; wie immer bei diesen Gewittern verwischte und durchnässte er alles in den drei Minuten, die er dauerte. Die roten Lichter der Stadt verschwommen an den Fenstern, an denen Regentropfen wie Würmer herunterliefen. In der ersten Stunde fuhr der Zug parallel zur Schnellstraße, nicht mehr als ein Holzzaun trennte uns von Paaren auf Motorrollern und Lastern, die in die entgegengesetzte Richtung vorbeibrausten. Nach einer Weile Kopf an Kopf mit Lkw-Fahrern, die Zigaretten rauchten und Seitenblicke in unser Abteil warfen, bog der Zug ab und tauchte ein in die eigentliche Innenstadt. Wer immer bei der Bahn für die Ausstattung verantwortlich war, hatte sich wohl mit dem miserablen Zustand des Abteils abgefunden und ein gänzlich unpassendes Paar goldene Vorhänge aufgehängt, in der Hoffnung, sie würden vielleicht von allem anderen ablenken. Diese Vorhänge hielt ich nun zurück und schaute zu, wie der Zug an heruntergekommenen Häusern vorbeikeuchte, in denen die Wohnungen von Petroleumlampen erleuchtet waren und Kinderkleidung zum Trocknen aufgehängt war. Nachtzüge ließen eine besondere Art von Voyeurismus zu. So saß ich, während die anderen schliefen, in der Dunkelheit und beobachtete Familien in den weniger guten Stadtvierteln bei ihren abendlichen Verrichtungen: Väter wuschen das Geschirr, Mütter lösten ihre Haare, bevor bald schon die Geschäfte schlossen und die Lichter gelöscht wurden und ich nur noch ins Dunkle schaute. Die Stadt lag hinter mir, ich ließ den Vorhang los und kroch in meine Schlafkoje, während der Zug weiter in die Nacht donnerte.
Von der Liege über uns kam ein Stöhnen und dann ein Geräusch, als schlage jemand gegen sein Kopfkissen. Die Dänen fanden das offensichtlich gar nicht komisch. Aus dem Lautsprechersystem direkt vor unserem Abteil quengelte Mandolinenmusik, begleitet von derselben Frau, die immer noch Schmerzen hatte oder in Trauer war – oder beides. Es dämmerte gerade, und was sich hier abspielte, war einer erholsamen Reise in der Tat nicht gerade förderlich. Die vietnamesischen Geschwister rasten den Gang entlang und spielten Fangen. Ich musste mich, ob es mir passte oder nicht, damit abfinden, dass der Tag begonnen hatte, und warf meine Decke zur Seite. Als ich die Abteiltür öffnete, fiel mein Blick auf die roten Augen des Vaters der Kinder, der resigniert am Fenster stand und rauchte. Ich nickte verständnisvoll in seine Richtung, und mir wurde klar, dass das, was für mich eine einmalige Erfahrung war, für ihn Alltag war. Er nickte zurück: In seinem Gesichtsausdruck spiegelten sich Entschuldigung, Neid und der Gedanke, aus dem Zug zu springen, als seine Kinder zum dritten Mal vorbeitobten, das jüngste mit dem übel riechenden Wasser vom vorigen Abend bedeckt.
Jem und ich teilten einen Metallbecher mit heißer Schokolade und eine Packung süßlicher Kekse und genossen am Fenster die wärmende Sonne, die zwischen den Bäumen hervorlugte. Dichte, wächserne Blätter schlugen gegen die Seiten des Abteils, raschelten in die Fenster und gaben hin und wieder dicke Fäuste grüner Bananen frei. Dünne Palmen bogen sich seitwärts, Büffel suhlten sich in Gewässern voller Lotusblumen, während weiße Vögel keck auf ihren Rücken herumspazierten. Das dänische Paar war in Hué ausgestiegen; keiner von ihnen hatte ein Wort gesagt, als sie ihre Sachen packten und gingen. Auf einer Fahrt in solcher Nähe mit den anderen Mitreisenden nicht miteinander zu sprechen, kostet eine derartige Mühe, dass ich ihre Entschlossenheit, so unfreundlich wie möglich zu bleiben, fast zu bewundern geneigt war. Zwischen Hué und Da Nang arbeitete sich der Dschungel immer weiter den Hügel hinauf und wickelte sich um unseren Zug, sodass sich Schatten und Sonne im Abteil ständig abwechselten. Dies war der schönste Teil der Reise, und ich freute mich diebisch, dass die Dänen ihn verpasst hatten. An die Tür gelehnt, beobachtete ich, wie sich der Zug durch die Klippen in die Tunnel bohrte und wieder heraus, als sich plötzlich unter mir das Südchinesische Meer in einem herrlichen flimmernden Blauton auftat. Von der Lang-Co-Bucht erstreckte sich ein Streifen cremiger Sand entlang des Wassers, wie ein Finger zog er den Schaum der Wellen nach sich bis nach Da Nang, wo wir einen Halt geplant hatten. Dort blieb der Zug gerade lang genug stehen, dass wir unsere Taschen über die Gleise wuchten konnten, dann ruckelte er ein wenig und machte sich auf seine Weiterreise die Küste entlang bis nach Saigon.