Читать книгу In 80 Zügen um die Welt - Monisha Rajesh - Страница 6

2 | Die Welt ist klein

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Das »Bomben« von Zügen ist in Moskau weit verbreitet. Pendlerzüge und innerstädtische Routen sind die Hauptziele, besonders neue Waggons, die gerade in Betrieb genommen wurden. Man braucht gute Nerven, Geschicklichkeit und schnelle Reaktionen, um Züge zu bomben, denn das Risiko, verhaftet zu werden, ist hoch. Der Adrenalinkick jedoch, verbunden mit dem Respekt der anderen Crews, schürt die Sucht. Pläne erfordern Präzision. Die Crews checken die Routen der Polizei, studieren Zugpläne, finden Versteckmöglichkeiten und hecken Fluchtwege aus, für den Fall, dass irgendwas schiefläuft. An einem grauen Nachmittag traf es auch uns: Auf dem Rückweg von Kubinka nach Moskau kam der Zug ächzend zum Stehen, maskierte Männer erklommen die Seiten so behände, als gehörten sie zu einer Sondereinheit des britischen SAS, und flitzten von einem Ende des Wagens zum anderen. Inmitten des schwachen Rasselns und Zischens der Sprühdosen konnte ich den Dunst der frischen Farbe riechen. Bevor wir überhaupt voll erfassten, was passierte, sprangen die Zugbegleiter hinunter und jagten die Crew weg, aber nicht bevor die Gruppe ihre fetten schwarz umrandeten Neontags hatte anbringen können.

Russische Graffitisprayer sind Teil einer wachsenden Gemeinschaft von Straßenkünstlern, von denen viele ihre Arbeit als Ausdruck ihres Widerstands gegen das System verstehen. Die staatlichen Behörden verlieren keine Zeit, die Graffitis wieder zu entfernen. Damit wird das Bomben von Zügen für die Sprayer besonders attraktiv, weil sie die Waggons als mobile Galerien behandeln und mit Stolz auf ihre durch die Stadt rollende Kunst blicken. Diese Allgegenwärtigkeit von Graffitis auf allen Zügen versetzte mich überall im Land in schlechte Laune. Natürlich sah man hin und wieder ein intelligent platziertes Tag, aber die meisten Werke gingen nicht über Frauenhass oder Vandalismus hinaus – das erwachsene Gegenstück zu einem Pimmel, den ein Schüler mit einem Zirkel in seine Schulbank ritzt. Während wir darauf warteten, dass sich der Zug wieder in Bewegung setzte, fiel mir direkt neben einem wulstigen wütenden »SLUT« (Schlampe) das gleiche UTOP-Tag auf, das ich schon zuvor auf der Strecke bemerkt hatte. Ich fragte mich, ob es sich um das Zeichen einer politischen Bewegung handelte oder ob es einfach die russische Übersetzung von »Slut« war. Beim Googeln stieß ich auf ein zweiminütiges Musikvideo der UTOP-Crew, in dem die Sprayer mit Elektrowerkzeugen und Metallschneidern ein Lüftungsgitter entfernten und es in einen Metrotunnel warfen. Über Nacht sprühten sie einen ganzen Wagen orange und schrieben darauf in sauberen riesigen Buchstaben ihren Namen und ein Augenpaar, das frech durch einen Schlitz spähte. Sie dokumentierten so aber nicht nur ihre Arbeit, sondern sie sorgten auch dafür, dass am nächsten Morgen einer aus der Crew auf dem Bahnsteig war, um die Ankunft des Zuges in all seiner neuen Glorie zu filmen. Wenn man das mögliche Nachspiel seitens der russischen Behörden bedenkt, war das ein ziemlich beeindruckendes Kunststück.

An jenem Morgen hatten wir den Pendlerzug nach Kubinka genommen, um Patriot Park einen Besuch abzustatten, Putins neueste Provokation. Der als »militärisches Disneyland« titulierte Park war vor zwei Tagen erst eröffnet worden und weltweit in den Nachrichten. Die Bilder zeigten über Panzer, Raketen und Panzerabwehrraketen kletternde Kinder. Wir dachten, es gäbe schlechtere Möglichkeiten, ein paar Stunden zu verbringen, und hatten die Metro bis zum Weißrussischen Bahnhof genommen, einem Reich von Kuppeln und Türmen in sterilem Grün. Den Zug hatten wir gerade noch so erwischt. Ich wusste sofort, dass wir einen Fehler gemacht hatten: Das Abteil glich einem alten Schulbus, mit Sitzen, die härter waren als Beton, und Gesichtern, die härter waren als die Sitze. Selbst am Rost bröckelte der Rost. Eigentlich hätten wir die Tour abbrechen sollen, aber schließlich war der ganze Sinn des Reisens, Dinge zu tun, die man normalerweise nicht tun würde; mein innerer Fatalist ließ mich also sitzen bleiben, als der Zug knarrend den Bahnhof verließ. In der nächsten Stunde begegneten uns unerträgliche Armut, Obdachlose, hungrig aussehende Kinder und mit Plastikplane abgedeckte behelfsmäßige Unterkünfte. Ich war mir nicht sicher, ob es sich hier um Russen handelte oder ukrainische Flüchtlinge, die vor dem kriegerischen Konflikt in Donezk und Luhansk geflohen waren, aber mein Unbehagen wuchs proportional zu unserer Entfernung von Moskau. Ich versank in meinem Sitz.

Das Leben hier meinte es nicht gut mit den Menschen. Ihre Fingerknöchel waren wund und schwielig von der harten Arbeit und ihre schäbiges Schuhwerk völlig ungeeignet bei dem Regenwetter. Blasse Augen starrten aus blutleeren Gesichtern – keine verstohlenen Blicke, sondern bewusstes Anstieren. Verschränkte Arme enthüllten verblassende grüne Tätowierungen, heruntergezogene Mundwinkel waren voller Fieberbläschen. Ich quetschte mich verschüchtert in eine Ecke, blickte starr aus dem Fenster, versuchte, jeglichen Augenkontakt zu vermeiden, und wünschte, wir wären in der Hauptstadt geblieben. Über die nächsten eineinhalb Stunden leerte sich das zunächst überfüllte Abteil bis auf zwei Männer und eine alte Frau. Die Männer trugen Trägerhemden und Jogginghosen und drehten sich alle paar Minuten zu uns herum, umarmten ihre Rückenlehne mit ihren muskulösen Oberarmen und sahen zu uns.

»Sollen wir ein anderes Abteil suchen?«, flüsterte Jem.

»Vielleicht. Ich hoffe, dass die bald aussteigen.«

»Wenigstens ist die alte Dame noch da. Die werden uns nichts tun, solange sie noch hinter uns sitzt.«

Ich schaute mich nach ihr um. »Sie hat sich die ganze Stunde nicht bewegt, und ich glaube, sie hat sich in die Hose gemacht.«

Der Zug wurde langsamer, und ich bemerkte mit Erleichterung, dass wir fast am Bahnsteig in Kubinka waren. Laut vor sich hin jammernd war die Frau inzwischen aufgewacht, schlug mit dem Kopf gegen die Lehne ihres Vordersitzes und schleuderte wahllose Beschimpfungen in den Raum. Zu ihren Füßen hatte sich eine Urinlache gebildet. Die Männer waren das geringste unserer Probleme, aber auf unserem Weg über die Fußgängerüberführung folgten sie uns dicht auf den Fersen und spuckten in Richtung meiner Beine, als sie uns schließlich überholten.

»Was machen wir überhaupt hier? Lass uns einfach den Zug zurück nach Moskau nehmen«, sagte ich und machte einen Bogen um die Spucke.

»Jetzt sind wir schon mal da. Lass uns den Park finden und schnell durchgehen, dann machen wir uns auf den Rückweg. Wenn du willst, nehmen wir einen Uber zurück nach Moskau.«

Von »Patriot Park« schien noch niemand gehört zu haben. Obwohl die Übersetzung aus dem Russischen eindeutig »Park Patriot« ergab und wir den Namen zudem noch in kyrillisch notiert hatten, machten absichtliche Ignoranz – in Verbindung mit offener Feindseligkeit – unsere Bemühungen, ein Taxi zu finden, unmöglich, bis uns ein Fahrer in einem Tarnanzug auf den Rücksitz seines Autos bugsierte und mit rasender Geschwindigkeit in Richtung Schnellstraße losfuhr.

»Ist das ein echtes Taxi?«, fragte Jem und fingerte nach dem Sicherheitsgurt. »Es gibt keinen Taxameter.«

»Ich hab Angst, zu fragen.«

Der Fahrer schien sich auszukennen und beschleunigte auf der Zufahrt zur Schnellstraße. Er schlängelte sich durch den Verkehr, raste wie ein Irrer an Lastwagen und Transportern vorbei und drehte sich schließlich zu uns um und fragte irgendwas auf Russisch. Jem hatte eine kostenlose App auf sein iPhone geladen und versuchte, es dem Fahrer an sein Ohr zu halten. Dieser schlug ihm das Handy mit seiner Pranke aus der Hand und nahm eine Ausfahrt, die zu einem riesigen Parkplatz führte.

»Park Patriot«, verkündete er und bremste abrupt.

Es war dort rein gar nichts zu sehen, außer einem Kongresszentrum und ein paar Panzern. Über die Lautsprecher plärrte kommunistische Musik.

»Das kann nicht der richtige Ort sein, hier gibt’s überhaupt nichts zu sehen!«

»Park Patriot«, wiederholte er und klopfte mit jeder Silbe auf das Lenkrad. Er riss die Tür auf und schlurfte schwerfällig davon, als wolle er sich erkundigen; schließlich verschwand er in einem rosafarbenen WC-Häuschen.

»Sollen wir aufgeben und zurück zum Bahnhof fahren?«

»Wahrscheinlich das Beste.«

Der Fahrer wischte seine Hand an seinem Hemd ab, stieg wieder ein, lenkte das Auto vom Bordstein weg und raste über den leeren Parkplatz. Jem lehnte sich mit seiner App nach vorne und bat den Fahrer, zurück zum Bahnhof zu fahren.

»Elektrische?«, fragte der.

»Nein. Bahnhof. Zug«, sagte Jem und machte mit seinen Armen eine Radbewegung.

»Elektrische?«, schrie der Fahrer und lief purpurrot an.

Jem drehte sich um. »Warum sagt er andauernd Elektrische?«

»Keine Ahnung. Lass uns einfach zum Bahnhof zurückkehren.«

Der Fahrer hielt einen Finger hoch und nickte. Er schien jetzt verstanden zu haben und schwenkte vom Parkplatz zurück zur Schnellstraße. Jem legte seinen Sicherheitsgurt an. »Was ist das für ein komisches Teil hier an dem Gurt? Scheint aus einem …«

»Rettungswagen ausgeschnitten zu sein?«

»Ja, genau.«

Unser Fahrer überholte jedes Fahrzeug, das er sah, überquerte dabei drei Fahrbahnen und touchierte auch noch die Stoßstange eines Ladas, bevor er sich auf die Zufahrt einfädelte.

»Der bringt uns noch um«, stöhnte Jem.

»Moment mal, so sind wir nicht hergekommen.«

Inzwischen rumpelten wir einen Feldweg entlang. Der Fahrer hatte uns zum in der Nähe gelegenen Kubinka-Panzermuseum gebracht. Als das »Taxi« zum Stehen kam, kurbelten wir die Scheibe herunter. Ein Halbstarker ohne Hemd saß auf einem Hocker und ließ sich den Kopf rasieren. Ein paar Mädchen verkauften Kühlschrankmagneten mit Stalin- und Leninbildern.

»Also jetzt reicht’s. Wir wollen zurück zum Bahnhof«, sagte ich.

»Elektrische?«

»Warum sagt der andauernd Elektrische?!«

»Ich hab keine Ahnung, aber mach die Zugbewegung, vielleicht kapiert er es dann endlich.«

Vor sich hin murmelnd legte der Fahrer den Rückwärtsgang ein, fuhr fast ein kleines Mädchen auf seinem Fahrrad um und raste zurück zum Bahnhof, wo er vor einer Bude zum Stehen kam, jedoch nicht ohne vorher noch die Markise mitzureißen. Der Ladenbesitzer trommelte auf die Windschutzscheibe und der Fahrer drehte sich mit kaum verhohlener Wut zu ihm um, schloss per Zentralverriegelung die Türen und schwenkte seine Hände zweimal auf und ab.

»Großer Gott, der will 2000 Rubel!«

»Gib ihm drei, wenn wir damit in einem Stück hier rauskommen.«

Jem zählte die Geldscheine, händigte ihm weitere 500 Rubel aus und die Verriegelung wurde geöffnet. Inzwischen hatte sich hinter dem Ladenbesitzer eine kleine Menschenmenge vergesammelt, die an der Autotür zerrte. Wir kletterten raus und rannten auf den Bahnsteig, wo der Zug nach Moskau bereits wartete.

Am Abend saßen wir im Bett und lasen nochmals all den Schwindel über den Patriot Park. Der Park befand sich noch im Bau und wurde derzeit für Konferenzen und Ausstellungen benutzt; die Bilder, die wir gesehen hatten, kamen von Army-15, nichts weiter als eine Militärausstellung, die ihre Bestände präsentierte. Bei unseren Nachforschungen stießen wir auf eine Warnung auf der Website des Kubinka-Panzermuseums:

»Ein schwieriges System vom lokalen Zugnetz und keine Anzeigen in Russisch können dazu führen, dass ein Tourist ohne Kenntnis von russischer Sprache an verschiedenem Ort entfernt von Moskau sein kann. Manchmal kann auf der Plattform des Bahnhofs und selbst innen in den Zugwagen (Elektrichka) auf unbegleitete Weise nicht sicher sein. Besonders die asiatische Art von Touristen aus China, Malaysia, Japan. Ausländer sind zu Kriminalität hingezogen. Zur Ihrer Sicherheit empfehlen wir, einen Russisch sprechenden Fremdenführer zu nehmen oder einen Wagen mit dem englischsprechenden Fahrer (oder Fremdenführer).«

Jem starrte mich an: »Ausländer sind zu Kriminalität hingezogen?«

»Ich glaube, die meinen, Kriminelle haben es oft auf Ausländer abgesehen.«

»Hättest du das nicht finden können, bevor wir heute losgezogen sind?«

»Du bist ja nur halb malaysisch.«

»Toll. Wir hatten also nur eine halbe Chance, Opfer eines rassistischen Verbrechens zu werden.«

»Ha! Der hat gar nicht ›Elektrische‹ gesagt, der sagte dauernd ›Elektrichka‹, das ist ein Vorortzug.«

»Weich nicht aus.«

»Tu ich ja gar nicht. Ich würde mir sowieso keine Gedanken mehr darüber machen, ab morgen sind wir ja sicher. Die Transsibirische ist weltberühmt, dort werden jede Menge Ausländer sein.«

»Sie sind die ersten Engländer, die ich bisher in diesem Zug getroffen habe«, sagte Alexander, »und Sie sind die ersten Engländer, die er je in diesem Zug getroffen hat«, fügte er mit einer Handbewegung in Richtung seines Abteilgenossen hinzu, der ebenfalls Alexander hieß.

An diesem Nachmittag waren wir in die Transsibirische eingestiegen, für viele der Inbegriff von Eisenbahn. Genau genommen ist die Transsib kein Zug, sondern eine Route über mehr als 9200 Kilometer von Moskau nach Wladiwostok, und die Abzweigung der Transmongolischen führt sogar bis nach Peking. Die Transsib rangiert oft ganz oben auf der Bucket List, also der Liste der Dinge, die man noch erleben will, bevor man das Zeitliche segnet, und ist sozusagen der Maßstab, den Eisenbahnliebhaber an ihre Gleichgesinnten anlegen. Wer in diesen Kreisen eingesteht, noch nie mit der Transsib gefahren zu sein – aber das natürlich und ganz sicher irgendwann tun werde –, muss sich auf zwei Reaktionen gefasst machen: zunächst ein verträumter Blick des Gegenübers, und dann totale Ignoranz mit einem Hauch Verachtung. Wir reisten eigentlich auf der Transmongolischen Eisenbahn, eine interessantere Strecke, die sich durch die Mongolei erstreckt und in Peking endet. Den ganzen Weg bis nach Wladiwostok hinter uns zu bringen, hatte nichts für sich, als eben später Leuten erzählen zu können, wir seien den ganzen Weg bis Wladiwostok gereist. Am Ende dieser Route interessierte uns nichts, und gleich nach unserer Ankunft wieder umzudrehen, war ungefähr das Letzte, wonach uns der Sinn stand. Die Transmongolische hingegen bot weitaus mehr Möglichkeiten für die Weiterreise, als nur am Ende der Weltkarte herumzuwandern und sich orthodoxe Kirchen anzusehen. Wir hatten ja schon die Disneyland-Kuppeln der Basilius-Kathedrale auf dem Roten Platz bewundert – das war architektonisch kaum noch zu überbieten. Auch wenn man dieses Motiv schon unzählige Male auf Fotos gesehen hatte, war es etwas ganz Besonderes, die farbenfroh gestreiften und nach oben gezwirbelten Kuppeln einmal tatsächlich zu sehen. Die transmongolische Trasse erlaubte es uns, die Reise für zwei Nächte in Irkutsk zu unterbrechen und dann nach Ulan Bator in die Mongolei weiterzufahren. Elf Tage nach unserer Abfahrt in Moskau würden wir schließlich in Peking ankommen.

Nach unserer ersten Erfahrung mit russischen Zügen waren wir mit einiger Beklemmung in die Transmongolische gestiegen, gefasst auf eine Mischung von Russen, Rucksacktouristen, Studenten, Spinnern, Eisenbahn-Nerds und Rentnerpaaren, die damit einen weiteren Punkt auf ihrer Bucket List abhakten. An die stierenden Blicke waren wir mittlerweile gewöhnt und realisierten schnell, dass wir die einzigen Ausländer an Bord waren. Wir hatten uns Werbefotos des Rossiya-Zuges angeschaut und erwarteten nun klimatisierte Waggons mit weichen Schlafkojen, elektrischen Strom und Flachbildschirme; stattdessen fanden wir einen schmutzigen harten Liegeplatz mit einem kaputten Fenster und einer Kondomverpackung unter dem Sitz vor.

Bis zum frühen Abend waren wir allein in unserem Abteil. Dann tauchte ein Mann mittleren Alters mit grauen Haaren und leicht schielenden Augen an der Tür auf und schaute kurz hinein. Nachdem er einen kleinen Beutel und einen schwarzen Koffer unter seiner Liege verstaut hatte, saß er ohne von uns die geringste Notiz zu nehmen am Fenster und blickte vier Stunden lang auf die vorbeiziehenden Birken. Als Geste unseres guten Willens hatten wir ihm ein Magnum-Eis spendiert, das er annahm und auf dem Tisch vor sich ablegte. Wir saßen am Rand unserer Liege und schleckten geräuschlos an unserem Eis, gespannt darauf, was nun passieren würde. Es herrschten fast 40 °C, und das Eis begann zu schmelzen. Wenige Geduldsübungen empfand ich als ähnlich unerträglich wie stumm dazusitzen und zuzusehen, wie ein verschmähtes Eis vor sich hin schmilzt. Um unserem Mitreisenden ein wenig Ungestörtheit zu lassen, verzogen wir uns in den Speisewagen. Als wir eine Stunde später zurückkamen, befand sich das Magnum – oder besser die kleine Pfütze, die es nun war – noch genau an der gleichen Stelle. Er hatte es noch nicht einmal weggeworfen, sondern als stumme, aber eindeutige Zurückweisung unseres Freundschaftsangebots liegen lassen. Jem zog sein Telefon aus der Tasche, öffnete seine Übersetzungs-App und versuchte, mit unserem Abteilgenossen zu kommunizieren, der alles, was wir zu sagen versuchten, missverstand und als Antwort sein eigenes Handy herausholte, um uns Bilder von ihm mit einem Jagdgewehr zu zeigen. Wir fingen an, uns zu fragen, was in dem schwarzen Koffer war.

Genau in diesem Moment erschien Alexander I an der Abteiltür und brüllte: »Habt ihr ein Problem?« In der festen Überzeugung, falls wir bisher keines gehabt hatten, nun sicher eines zu haben, wurde ich ganz klein beim Anblick dieses blonden Riesens in seinem Adidas-Trägerhemd. Wie sich herausstellte, war Alexander II an unserem Abteil vorbeigekommen und hatte gesehen, wie wir mittels der App versuchten, uns mit unserem Mitreisenden zu verständigen. Da Alexander I Englisch sprach, hatte er ihn zu uns geschickt, um zu dolmetschen. Ein mögliches Missverständnis war damit vermieden, doch das nächste folgte sogleich, weil wir anboten, den beiden Alexanders zum Dank ein Bier auszugeben. Bloß verstanden sie diese Geste so, als würden wir annehmen, sie könnten sich kein eigenes Bier leisten. Nachdem dieser kulturelle Unterschied geklärt war, begaben wir vier uns in den Speisewagen, wo wir über Humpen von Hoegaarden Freundschaft schlossen und uns freuten, unseren Abteilgenossen für eine Weile los zu sein. Alexander I und Alexander II zeigten sich belustigt, uns an Bord ihres Zuges zu sehen, was unseren Verdacht bestätigte, dass wir in der Tat auf den langsameren, weitaus schlechteren Zug für Einheimische gebucht worden waren. Wie dem auch sei – für die nächsten fünf Tage war der Zug unser Zuhause.

Alexander I war ein junger Anwalt, der alle zwei Wochen diesen Zug nahm, um in Kirow Gerichtsverhandlungen beizuwohnen; er kannte sich also bestens mit ihm aus. Er übersetzte für Alexander II, der auf dem Weg zu einem Familienbesuch in Tschita war. Trotz der irritierend lauten Techno-House-Musik versuchte ich, den beiden Männern zuzuhören – nicht, dass mir das viel nützte, denn ich kannte noch nicht mal vier russische Wörter, aber es vermittelte den Anschein, ich sei an der Unterhaltung beteiligt. Eine ältere Bedienung namens Oksana schien Jem und mich ins Herz geschlossen zu haben. Jedes Mal, wenn sie ihren Servierwagen an unserem Tisch vorbeischob, streichelte sie meine Haare und schrie dann mit dem Finger drohend die beiden Alexanders an.

»Warum ist sie so wütend?«, fragte ich.

»Sie glaubt, weil ihr uns ein Bier ausgebt, nutzen wir euch aus. Wir sollen euch nicht übers Ohr hauen, sagt sie«, erklärte Alexander I.

Erleichtert, im Zug eine Verbündete zu haben, lächelte ich Oksana an. Sie grinste breit zurück und fuhr dann erneut die Alexanders an. »Sag ihr bitte, dass das nicht der Fall ist.«

»Ich hab schon alles gesagt. Na ja. So, worüber wollt ihr sprechen? Was wollt ihr über die Russen erfahren?«

»Was halten Russen denn von Engländern?«, fragte Jem.

»Das ist direkt! Du willst also die Volksmeinung hören? Okay. England ist ein sehr konservatives Land, pro Amerika, mit einer arroganten Einstellung allen anderen Ländern gegenüber, selbst innerhalb der EU. Großbritannien gilt als Spion für die USA in der EU, dazu da, die europäischen Nationen zu spalten.«

Das war nun auch sehr direkt und vor allem erschreckend prägnant, angesichts dessen, dass das Brexit-Referendum noch gar nicht stattgefunden hatte. Alexander II war über dem Tisch zusammengesackt und murmelte etwas in seine verschränkten Arme.

»Er ist unglaublich frustriert, dass er nicht mit euch sprechen kann«, erklärte Alexander I. »Er fragt im Spaß, ob ihr englische Spione seid.«

»Ich könnte nie als Spion arbeiten. Ich schwatze viel zu viel«, antwortete ich.

Alexander II kratzte sich am Ohr und schaute missmutig vor sich hin. Schließlich stellte er eine lange und detaillierte Frage. Verglichen mit Alexander I war er winzig, mit tiefliegenden argwöhnischen Augen und einem schmallippigen Mund. In der glühenden Junihitze trug auch er ein Adidas-Trägerhemd und Sandalen.

»Er will wissen, wo ihr in Moskau übernachtet habt«, übersetzte der andere Alexander.

»War das wirklich alles, was er fragte?«

»Mehr oder weniger, ja.«

»Im Mercure in der Baumanskaya.«

»Und was kostete eine Übernachtung?«

»Ungefähr 41 Euro.«

»Er will’s in Rubel wissen.«

»Warum?«

»Er sagt, es interessiere ihn einfach.«

»Ungefähr 2800.«

Alexander II schien sich damit zufriedenzugeben, tippte aber dann Alexander I auf den Arm. Wieder eine lange Diskussion, während der Oksana sich am Tisch gegenüber niedergelassen hatte, die beiden Alexanders finster anstarrte und ihr Serviertuch auf den Tisch knallte. Alexander I atmete aus, dann lächelte er: »Wie findet ihr unseren Präsidenten Putin? Es ist seine Frage. Er will wissen, was ihr für einen Eindruck habt.«

In den nächsten drei Stunden gelang es Alexander II herauszufinden, wo ich meine Uhr gekauft hatte, wie hoch unsere Hypothekenzahlungen waren, wie Schulen im Winter den Schnee räumten, wie viel ein Huhn beim Metzger kostet, ob in unserer Heimat auf Bolzplätzen gerne Fußball gespielt werde und warum die Engländer so verklemmt seien. Im Gegenzug erfuhren wir, dass er ein Güterzugingenieur aus Tschita war. Falls hier am Tisch jemand für den Geheimdienst arbeitete, waren es gewiss nicht wir. Ich zog es vor, im Hintergrund zu bleiben und nur zu beobachten, und gefiel mir in unserer Rolle als Botschafter unseres Landes. Alexander II hatte noch nie einen Engländer an Bord dieses Zuges getroffen, und er war an uns genauso interessiert wie wir an ihm. Zufrieden und bereits leicht angesäuselt schwenkte er den Rest seines dritten Biers im Glas herum, als eine Frau zum Tisch trat und ihn an der Schulter packte. Ihr unordentlicher Haarknoten war schweißnass, ihr Gesicht aufgedunsen und rot angelaufen, als habe sie bereits geschlafen. Unwirsch schob Alexander II ihre Hand weg und bedeutete ihr zu verschwinden, jedoch nicht ohne dass sie ein paar Flüche losließ. Ich musste kein Russisch verstehen, um zu merken, dass hier Beschimpfungen vom Stapel gelassen wurden. Er rollte mit den Augen und grummelte in sein Glas.

»Seine Freundin ist wütend, dass er hier mit uns sitzt und trinkt und sie allein lässt. Es ist einfach eine Tragödie«, erklärte Alexander I.

»Er hat sie allein gelassen? Ich wusste nicht, dass er mit jemandem reist.«

»Ja, die sind zusammen, und es gibt noch ein anderes Mädchen in unserem Abteil, das allein reist.«

»Jetzt fühl ich mich schuldig!«

»Nein, fühl dich nicht schuldig, es ist schon in Ordnung. Er ist lieber hier und unterhält sich mit euch. Er sagt, wenn er hier bleibt, streitet er sich wenigstens nicht mit seiner Freundin.«

Nach dem Geschrei aus ihrem Abteil in jener Nacht zu urteilen, stimmte das nicht.

Wir hatten Pommes bestellt, die tatsächlich eine Stunde später serviert wurden: auf einer Untertasse, in Öl schwimmend und mit Dill besprenkelt. Das Essen im Zug war nicht unbedingt ein kulinarischer Höhepunkt – eigentlich handelte es sich mehr um einen Barwagen als einen Speisewagen, aber immerhin gab es mehr Auswahl als nur Schwarzbrot und ölige Eier. Mit seinen roten Lichterketten, roten Tischnischen und der ständig plärrenden Eurodance-Musik ähnelte der Waggon eher einer schäbigen Kellerbar in Soho, in der man am Ende eines langen Abends landet, nachdem die Suche nach etwas Besserem fruchtlos geblieben war. Reisende, die tatsächlich etwas essen wollten, hatten sich ein Picknick mitgebracht und bauten es nun auf dem Tisch in ihrem Abteil auf: Früchte, Saftpackungen und in Papier gewickelter geräucherter Omulfisch, eine regionale Spezialität, lang und schmal, als hätte man ihn in Streifen gebügelt. Schon bald durchzog sein fischiger Mief die Gänge. Nach seinem vierten Bier schwankte Alexander II davon, um eine Zigarette zu rauchen. Eigentlich war das Rauchen im Zug verboten, aber daran hielt sich keiner: weder die aus den Fenstern hängenden Fahrgäste noch die Köche, die neben ihren Kochfeldern eine Zigarettenpause einlegten. Alexander I schob die Vorhänge zurück und schaute in die Dunkelheit.

»Er sagt im Spaß, ich würde eine Menge Staatsgeheimnisse kennen, weil ich als Anwalt mit Strafverfolgung zu tun habe, und er glaubt, ich würde sie euch alle verraten. Er macht sich Sorgen, ihr wärt Spione.«

»Er oder du?«

»Ich mach mir keine Sorgen.«

Ich war mir nicht sicher, ob seine Antwort ein Kompliment oder eine Beleidigung war. »Benutzen viele Leute die Bahn?«

»Ja. Russen reisen oft mit der Bahn. Nach Autos sind Züge das Hauptverkehrsmittel. Dies hier ist ein normaler Zug für uns, ohne ihn kommen viele gar nicht aus.«

»Gilt dies als komfortabler Zug?«

»Dieser Zug ist ein Dreck! Meiner Meinung nach ist dieser Zug schrecklich. Ich hasse ihn. Ich fahre so ungern nach Kirow, weil dieser Zug so schlecht ist. Ihr seid verrückt, dass ihr so reist.«

Alexander II kehrte mit einer Spiegelreflexkamera zurück und wies auf mein Notizbuch.

»Er mag deine Handschrift, er findet sie sehr schön«, sagte Alexander I. »Er fragt, ob er sie fotografieren darf.«

Beeindruckt von seinem Einfallsreichtum, wollte ich gerade antworten, als Alexander II nach dem Notizbuch griff, es herumdrehte und begann, die Seiten zu fotografieren, als müsse er den Tatort eines Verbrechens dokumentieren. Was er entdecken würde – würde er sich die Mühe machen, die Seiten zu übersetzen –, wären ein paar langweilige Beschreibungen von Birken und hochgestochene Anmerkungen darüber, wie die Evolution von Menschen mit der Landschaft einhergeht; mit Staatsgeheimnissen konnte ich nicht dienen.

In der Zwischenzeit war von der anderen Seite des Wagens ein alter Mann in einem Tanktop zu uns getreten und lehnte sich über unseren Tisch. Er griff nach meiner Hand und hielt einen längeren Monolog, bevor er mir einen Handkuss gab. Dann zog er sich wieder an seinen Tisch zurück und starrte uns weiter über seine Stella-Dosen hinweg an.

»Was sollte das denn?«, fragte ich.

»Er wollte dich willkommen heißen«, sagte Alexander I, »er wollte damit zeigen, dass du in Russland und in den Zügen willkommen bist.«

»Das ist aber nett«, sagte Jem und lächelte den Mann an.

Überwältigt von seinen Emotionen sprang Alexander II plötzlich auf, schüttelte uns beiden die Hände und schloss uns in die Arme. Zum ersten Mal lächelte er. Er roch nach abgestandenem Bier und frischem Schweiß, was einen nassen Fleck auf meiner Wange hinterließ. Über seine Schulter hinweg sah ich Oksana den Kopf schütteln.

Erschöpft kehrten wir in unser Abteil zurück, wo ich einen Becher mit Instantnudeln herauskramte und sie im Gang mit kochendem Wasser übergoss. Jeder Wagen war mit einem Samowar ausgestattet, mit dem sich perfekt heißer Tee und Nudelsuppe zubereiten ließen, der aber auch zum Einweichen von Unterwäsche und Austausch von Klatsch ausgezeichnet geeignet war. Jem ging sich die Zähne putzen, während ich darauf wartete, dass der Becher etwas abkühlte. In dem Augenblick öffnete sich die Verbindungstür und der Handküsser, inzwischen mit einem Borschtschfleck auf der Brust, trat ein und nahm erneut meine Hand. Ich lächelte höflich, aber etwas misstrauisch und zog meine Hand zurück. Er griff erneut nach meinem Handgelenk und küsste meinen Unterarm. Mein erster Instinkt war, ihm die kochenden Nudeln entgegenzuschleudern, aber ich hatte Hunger und wollte sie nicht verschwenden. In Panik geraten hämmerte ich mit meinem freien Arm gegen die Tür des Zugbegleiters; inzwischen hatte der Mann mich um die Hüfte gefasst. Unser Zugbegleiter, russisch Prowodnik, war ein freundlicher, leicht lispelnder Mann, ebenfalls mit dem Namen Alexander, kurz Sascha genannt. Am Nachmittag hatten wir Souvenirmünzen aus verschiedenen Ländern getauscht, und nun betete ich, dass er in seinem Abteil war. Sascha öffnete die Tür; der Reflex, mit dem er die Finger des Mannes von meinem Handgelenk riss, machte mir sofort klar, dass er es nicht zum ersten Mal mit Grapschern zu tun hatte. Eine Hand auf die gegenüberliegende Wand gestützt drängte Sascha sich zwischen uns und zeigte den Gang hinunter. Erst weigerte sich der Mann mit beleidigter Miene, das Feld zu räumen, doch als Sascha eine letzte Warnung brüllte, warf er die Hände in die Luft und rauschte ab in Richtung seines eigenen Wagens. Dankbar für die Intervention flitzte ich schnell in unser Abteil und suchte nach dem letzten Rest unseres englischen Geldes. Ich fand nur noch eine 10-Pfund-Note und wollte sie Sascha geben.

»Nyet, nyet, no, no«, wehrte er ab.

»Ein Andenken«, sagte ich, »Charles Dickens.«

Sein Gesicht hellte sich auf. »Haaaa! Okay! Rubel, Rubel!«, rief er und reichte mir einen Taschenrechner. Ich tippte den Wechselkurs ein, er schaute mit offenem Mund gespannt zu. »Waaaaah!«

»Andenken!«, warnte ich.

»Yes, yes«, antwortete er und begutachtete strahlend den Geldschein.

Natürlich würde er die umgerechnet 800 Rubel nicht als Andenken aufbewahren, aber das war ihm überlassen. Fünf Tage nicht belästigt zu werden, war mir der Zehner wert.

In jener Nacht lag ich in meiner Koje und kochte vor Wut. Hatte ich ein falsches Signal gesetzt, als ich dem Mann erlaubte, mir einen Handkuss zu geben? War es denn nicht klar, dass ich mit Jem zusammen war? War das für ihn ein Wettstreit? Bei meinen Solo-Reisen kleidete ich mich normalerweise so sittsam wie eine viktorianische Jungfer, vermied jeglichen Augenkontakt und vergrub mein Gesicht in mein Reisetagebuch. Doch es lag nun einmal in der Natur meiner Arbeit, offen und umgänglich zu sein und auf Menschen zuzugehen. Auf meinen Reisen durch Indien wurde ich oft belästigt – was nie meine Schuld war –, dennoch war es immer Sache der Frauen, sich zu schützen, sich nicht provozierend zu kleiden, sich zu bedecken, wegzuschauen, sich von der Straße fernzuhalten, früh nach Hause zu gehen, nach Einbruch der Dunkelheit zu Hause zu bleiben, zusammen mit einem Begleiter zu reisen – die Beweislast wurde sozusagen umgekehrt. Männer wurden nie ermahnt, Frauen nicht zu begrapschen, nicht anzustarren, nicht anzufassen, sie nicht zu verfolgen und nicht zu vergewaltigen. Diese Ungerechtigkeit machte mich wahnsinnig. Das war genau der Grund, warum so wenige Frauen sich die Welt mit der Freiheit und Unbekümmertheit von Männern eroberten: Sie hatten viel zu viel Angst, was ihnen seitens genau dieser Männer zustoßen könnte.

Dienstag, unser zweiter Abend an Bord des Zuges. Wir teilten unser Abteil mit einem niederländischen Vater-Sohn-Duo mit den Namen Frans und Rens, das in Jekaterinburg zu uns gestoßen war. Gerade als ein violetter Blitz während eines Gewittersturms aufleuchtete, standen sie plötzlich in der Tür. Das Wasser lief an ihren Stiefeln hinunter und bildete eine kleine Lache auf dem Boden. Rens hatte gerade sein Studium beendet, und die beiden befanden sich auf einem sechswöchigen Trip von Amsterdam nach Peking. Frans und Rens waren lustige Zeitgenossen; dank ihnen saßen wir nun über Metallbechern von Nescafé, frischen Bagels und Schalen voller kleiner süßer Erdbeeren, die wir auf dem Bahnsteig in Perm gekauft hatten, und tauschten Reiseerlebnisse aus. Die beiden nahmen ihre Reisen ernst – zum Beispiel wohnten sie nur bei russischen Familien mit Schrebergärten – und hatten auch nichts dagegen, ein Eis zu teilen. Nach unserem ersten Abend, an dem wir mit den beiden Alexanders Freundschaft geschlossen hatten, war Alexander I in Kirow ausgestiegen und Alexander II verbrachte den ersten Teil der Nacht damit, sich mit seiner Freundin zu streiten, und den Rest damit, sich zu übergeben. Die weiteren vier Abende ignorierte er uns einfach.

»Bei dem Bau der Transsibirischen Eisenbahn ging es nie um Luxus für eine reisende Elite, damit diese champagnerschlürfend die spektakuläre Aussicht genießen konnte, sondern sie sollte die Umsiedlung von russischen Bauern nach Sibirien erleichtern. Wusstet ihr, dass zwischen 1891 und 1914 mehr als fünf Millionen Auswanderer sich dort eine bessere Zukunft erhofften?«, fragte Jem.

»Wusstest du das? Oder liest du das in Rens’ Reiseführer?«

Jem schaute von seinem Bett hoch. »Letzteres. Aber wenigstens wissen wir, dass wir ganz authentisch im Bauernzug sitzen, statt in irgendeiner aufgemotzten Touristenfalle gelandet zu sein.« Er strich die Seite glatt und las weiter vor: »Die Bahnlinie war früher als ›Kamelspur‹ bekannt, da sie an so vielen kleinen Städten am Ende der Welt vorbeiführte.«

»Diesen Ausdruck mochte ich nie«, sagte Rens und band seinen Pferdeschwanz neu. »Nur Städter benutzen diesen Ausdruck ›am Ende der Welt‹. Ist so anmaßend.«

»Wie ›verlorene‹ Stämme«, bemerkte Frans und zeichnete mit seinen Fingern Gänsefüßchen in die Luft.

Ich hatte mir über diesen unbedachten und oft benutzten Ausdruck nie Gedanken gemacht, aber jetzt, wo ich es mir ein wenig überlegte, hörte ich die Verachtung, die in der Redewendung ›am Ende der Welt‹ steckte. Am Ende der Welt war ja nur aus der Perspektive derjenigen, die dort nicht lebten, am Ende der Welt. Für diejenigen, die dort lebten, war das ihr Zuhause. Ich hatte den Großteil des Tages damit verbracht, von meiner Liege aus dem Fenster zu schauen, die Monotonie der Landschaft unterbrochen von kleinen Dörfern, die Namen, Läden, Schulen und Gemeinden hatten. Der Ausdruck vermittelte die gleiche Arroganz wie bei den ›verlorenen‹ Stämmen, die nur insofern verloren waren, als es der westlichen Welt noch nicht gelungen war, an ihren Ufern zu erscheinen, um ihre handgewebten Teppiche herunterzuhandeln und sich über das vor Ort genossene Getränk zu äußern. Die Annahme, dass diese Stämme den ganzen Tag herumsaßen und darauf warteten, von dem Absolventen einer Eliteschule entdeckt zu werden, der mit wirrem Haar und Malaria daherstolziert kam, war bestenfalls eingebildet und schlimmstenfalls rücksichtslos. Ganz offensichtlich waren diese Leute mit ihrem Umfeld zufrieden und hatten sich dafür entschieden, dort zu bleiben. Mit einem leichten Schuldgefühl machte ich mir eine Notiz, diesen Ausdruck in Zukunft zu vermeiden.

Die Temperaturen in Sibirien erreichen beide Extreme; die derzeitige Hitze war lähmend. Die Klimaanlage funktionierte so gut wie gar nicht und die Fenster ließen lediglich heiße Luft in die Abteile. Die meiste Zeit unserer Reise verbrachte ich bewegungslos in zerknautschten feuchten Leintüchern und schaute auf die vorbeirauschenden blätterlosen Bäume, die mich an Reihen ungespitzter Bleistifte denken ließen. Alle paar Stunden tauchten ein oder zwei Bauernhöfe auf, vor denen ein Lada parkte. Vogelscheuchen flatterten in Kartoffelfeldern, Feldwege führten zu Wäldern. Ich hatte unseren Standort schon in Moskau auf Google Maps geortet und verfolgte nun den blauen Kreis, wie er langsam über unmarkiertes Gebiet hinwegdümpelte. In einem Flugzeug in der Luft ist dieses Gefühl, man befände sich irgendwo »zwischendrin« konstant; bei einer Bahnreise jedoch tauchen immer wieder Dörfer, Städte und Seen wie Trittsteine zwischen den Reisezielen auf. Wir rasten durch Grenzland, waren weder im Westen noch im Osten.

In der Abenddämmerung wirbelten Nebelschwaden leicht über der Erde und waberten magisch über den Wäldern. Fünf ununterbrochene Tage an Bord eines Zuges hatten die seltene Gelegenheit geboten, dicke Schinken zu lesen, und passend zu unserer Umgebung hatte ich Krieg und Frieden, Schuld und Sühne und Der junge Stalin auf meinen Kindle geladen, in der Hoffnung, in China als gebildetere und kultiviertere Person anzukommen. Jedes Mal jedoch, wenn ich Krieg und Frieden öffnete, wiegten mich die Hitze und das leichte Schaukeln in den Schlaf. Ich schaffte es nie weiter als bis zum Verzeichnis der Kuragins, bevor mir die Augen zufielen.

Zwischen Moskau und Irkutsk hielt der Zug an ungefähr 80 Stationen, in der Regel nicht länger als zwei Minuten. Ab und zu machte er eine einstündige Pause, in der die Toiletten und Waschräume verriegelt wurden. Jeder, der sich gerade darin befand, wurde am Kragen gepackt und nach draußen befördert, wo er sein jeweiliges Geschäft auf dem Bahnsteig fortsetzen konnte. In der Regel war das Jem, der die unpassendsten Momente wählte, um seine Zähne zu putzen, und dann schließlich draußen seine Zahnpasta auf die Schienen spuckte. Für alle anderen boten diese einstündigen Aufenthalte die Gelegenheit, aus der Eintönigkeit auszubrechen, sich ein wenig die Beine zu vertreten und wieder ins Bewusstsein zu bringen, dass über die vier Ecken unseres inzwischen nach ungewaschener Wäsche riechenden Abteils hinaus noch eine ganze Welt existierte. Russische Bahnstationen sind äußerst hübsch: pfefferminzfarben gestrichen mit weißen Umrandungen und alten Uhrentürmen. Ich schlenderte bei diesen Gelegenheiten von einer drallen Babuschka zur anderen, kaufte ein Stück Käse oder einen Kuchen und sah dicken Frauen mit knapp sitzenden Shorts zu, wie sie Omulfische verkauften, deren Augen durchbohrt waren, um sie wie an einem Schlüsselbund an den Köpfen aufzuhängen. Einmal durchstöberte ich den Handwagen einer Frau, die viel zu sehr damit beschäftigt war, mit ihrer Freundin zu tratschen, als sich um mich zu scheren, und bot ihr 90 Rubel (1 Euro) für ein Kartenspiel. Lachend stupste sie daraufhin ihre Freundin an, die mich dann ebenfalls auslachte. Selbst ihr Sohn, der unten auf dem Handkarren saß, hielt sich die Hand vor die Augen und konnte es nicht fassen, dass jemand mehr bot als nur einen flüchtigen Blick für etwas, das sich als Spiel mit 36 Karten herausstellte.

Mittwochabend hatte ich aufgehört, mich überhaupt noch umzuziehen oder meine Haare zu kämmen. Ich hing in meinem Schlafanzug im Barwagen herum, wo die Klimaanlage funktionierte; es war geringfügig kühler als in einem Backofen. Oksana brachte mir Teller voller gebratener Pilze, die mit Dill bedeckt waren, tätschelte mir den Kopf und verscheuchte mit ihrem Serviertuch jeden, der mir nahekam. Sie beobachtete genau, wie mir ein älterer Mann, angewidert von meinem Instantbrei, Blinis mit Quark anbot. Oksana plapperte in Russisch, meine Antworten in Englisch ließen sie völlig ungerührt. Keine von uns verstand die andere, aber wir waren gern zusammen. Prowodnik Sascha stolzierte hin und her und schenkte mir Erinnerungsmünzen von den Olympischen Winterspielen in Sotschi sowie von Fahrgästen zurückgelassene Bücher. Mit der Zeit sammelte sich ein kleiner Flohmarkt mit Waren an, die ich feilbieten konnte. Als Gegengabe hatte ich bald nichts mehr anzubieten als die Zahnbürsten, die Jem aus verschiedenen Hotels mitgenommen hatte. Der eisige Empfang, mit dem die Russen uns empfangen hatten, war längst Geschichte, und mit jedem Kilometer wurden wir immer mehr zu einer ganz besonderen Gemeinschaft, wie sie nur bei Bahnreisen entsteht.

Am Donnerstagnachmittag hatte ich jegliches Bewusstsein für Ort und Zeit verloren; ich dachte, es sei Mittwoch. Am Tisch neben uns spielten zwei Soldaten Karten. Sie tranken genüsslich ihren Wodka, die erste Flasche, die ich seit unserer Ankunft im Zug sah, und luden uns auf ein paar Gläser ein. Mir fiel auf, wie sie jedes Glas mit ein paar Schlucken Fruchtsaft herunterspülten, was das zählebige russische Image, vor dem ich mich einst gefürchtet hatte, leicht relativierte. Auch wir tauschten Souvenirs aus: Ich schenkte ihnen ein paar Weihnachtsbriefmarken und erhielt dafür großzügigerweise eine Rauchgranate. Die passte gut zu der Gasmaske, die Jem in unserem Hotel in Moskau hatte mitgehen lassen.

Am Freitag erreichten wir frühmorgens Irkutsk. Wir hatten seit Moskau vier Zeitzonen passiert, dennoch zeigte die Uhr an jedem Bahnhof Moskauer Normalzeit. Wir fühlten uns, als hätten wir einen Jetlag, und torkelten herum in einem Zustand totaler Desorientierung.

»Die Mongolei sieht eigentlich nicht viel anders aus als Russland«, meinte Jem.

»Wir sind nicht in der Mongolei.«

»Ich dachte, wir machen halt in Ulan Bator?«

»Stimmt, aber erst in vier Tagen. Im Moment sind wir in Irkutsk.«

»Wo ist Irkutsk?«

»In Sibirien. Russland.«

»Wir fahren seit fünf Tagen mit dem Zug und sind immer noch in Russland?«

Wie die meisten Touristen legten wir in Irkutsk einen Zwischenstopp ein, um den Baikalsee zu besuchen, der tiefste, älteste und größte Süßwassersee der Welt. Frans und Rens machten sich auf den Marsch zum längsten Wanderweg der Gegend. Angesichts der Hitze – die im Freien noch drückender war – wehrten wir uns jedoch gegen jegliche Aktivität, die mehr erforderte, als sich hinzusetzen, und beschlossen, den See von der Baikalrundbahn aus zu bewundern, einer fantastischen alten Dampflokomotive. Nach der ersten Dusche in fünf Tagen verzehrten wir ein paar gefüllte Teigtaschen zum Frühstück im Café gegenüber und machten uns dann, vorbei an verlassenen Holzhäusern, zu Fuß auf den Weg zum Vorortzug nach Sljudjanka, von wo die Baikalbahn abfuhr. Insgesamt fuhr der Zug durch 39 Tunnel und passierte etwa 200 Brücken auf einer Trasse, die früher einmal einen Teil der Transsib bildete. Auf unserem Trip hatten wir gerade mal vier Tunnel und neun Brücken hinter uns, bevor die Bahn steckenblieb, praktischerweise über einer kleinen Bucht, was uns ermöglichte, zu einem kleinen Kieselsteinstrand herunterzurutschen und in dem eiskalten Wasser herumzuwaten. Der Baikalsee liegt inmitten eines riesigen Erdrisses – dem Baikal-Graben – und wird aufgrund seiner einzigartigen Vielfalt an größtenteils einheimischer Flora und Fauna von der UNESCO auch »Galápagos von Russland« genannt. Wissenschaftler sagen voraus, dass sich eines Tages entlang des Sees der eurasische Kontinent in zwei Teile aufspalten werde. Ich hoffte, das würde nicht gerade heute passieren.

Ein paar französische Touristen ließen am Ufer flache Steine über die Wasseroberfläche hüpfen. Jem konnte sich diese Gelegenheit zu einem englisch-französischen Wettstreit nicht entgehen lassen und warf ebenfalls ein paar Steine. Er war stolz wie Bolle, dass seine Steine einige Sprünge schafften, bevor sie im See versanken. Als sich ein paar Russen auszogen und kopfüber ins Wasser sprangen, rührte er sich jedoch nicht von der Stelle. Ich bewunderte die grün und blau schimmernden Streifen im Wasser und ignorierte meine bis zum Knöchel hin völlig tauben Füße. Von Zeit zu Zeit bildeten sich konzentrische Kreise auf der Oberfläche, dort schlugen Baikalrobben Purzelbäume. Ich kam mir plötzlich völlig bedeutungslos vor und kletterte zurück zum Zug, der nun wieder Dampf ausstieß und für die Weiterfahrt bereit war.

Von der anderen Brückenseite konnten wir unseren Zug nach Ulan Bator am Bahnsteig sehen, überzeugt, er würde ohne uns abfahren. Unter der Last unserer Rucksäcke taumelten wir in kurzen kläglichen Spurts zum Bahnhof; uns blieben gerade mal fünf Minuten bis zur Abfahrt. Wir stolperten die Treppe hinauf und gaben uns gegenseitig die Schuld für die Verspätung. Als der Zug aus dem Bahnhof rollte, lehnte ich mich in meinem schönen, weichen Liegesitz zurück; das Abteil war mit Teppichboden und Klimaanlage ausgestattet. Wir befanden uns nun an Bord des Rossiya, dem Zug, den wir eigentlich schon in Moskau erwartet hatten. Irgendetwas hatte ich vor der Abfahrt in Irkutsk noch tun wollen, doch so sehr ich mein Gehirn zermarterte, konnte ich mich nicht mehr erinnern und vergaß es schließlich.

In jener Nacht schreckte ich plötzlich aus dem Schlaf auf und leerte meinen Rucksack auf den Boden. Die Soldaten hatten uns darauf hingewiesen, die Rauchgranate vor der Einreise in die Mongolei besser loszuwerden. Nun stand ich da in meinem Schlafanzug und starrte auf dieses Ding in meiner Hand, das wie eine kleine Atombombe aussah. Ich überlegte kurz, ob ich es im Toilettenraum lassen sollte, aber es würde sicher entdeckt und Panik auslösen. Ich öffnete das Fenster und schmiss die Granate hinaus in die Dunkelheit…

Da ich nun hellwach war und wissen wollte, wo genau wir uns befanden, öffnete ich vorsichtig die Tür und betrat den Gang. Ich hörte die Prowodnitsa mit ihrer Freundin schwatzen, die mit ihrer orangefarbenen Dauerwelle und dem Hohnlächeln aussah wie eine Figur aus einer Seifenoper. Ansonsten war alles ruhig. Ich schob den Vorhang zur Seite und hielt den Atem an, als ein Lichtschimmer auf mein Gesicht fiel. Es war 2 Uhr nachts; der Zug umrundete den südlichsten Punkt des Baikalsees, der wie ein großer Quecksilberfleck schimmerte. Die Sonne war schon vor Stunden untergegangen und ich konnte mir nicht erklären, woher das Licht kam. Ein Streifen roter Himmel lag über dem silbernen See, als ob Feuer auf dem Wasser tanzen würde. Ich lehnte meine Stirn gegen das Fenster, um den Moment einzufangen und für immer zu bewahren. Bis jetzt hatte ich dem Zug keine große Aufmerksamkeit geschenkt und ihn lediglich als Mittel betrachtet, eine weitere lange Strecke hinter uns zu bringen. Nun jedoch sah ich, dass dieser Zug die Erde gleichermaßen aufschnitt und Licht in die dunkelsten Ecken brachte. Das Land war frei und offen in der goldenen, klaren Nacht, und der unendliche Himmel beleuchtete die tiefen, dunklen Wälder.

»Was für eine kolossale Zeitverschwendung!«, rief Jem, knallte die Tür zu und streifte seine Schuhe ab.

»Hast du die Karten gekriegt?«

»Nein, ausverkauft.«

»Wo warst du denn dann die ganze Stunde lang?«

Keiner kommt nach Ulan Bator, um eine Stadtbesichtigung zu machen. Autonarren, Studenten und Abenteurer mit ihren Seifenkisten zieht es jeden Sommer zur Mongol Rally, und dann erzählt man einander die üblichen Geschichten über Erlebnisse mit Polizisten im Ausland, Bestechungen und Pannen. Andere kommen mit der Bahn und werden von ihren Fahrplänen an der Erkundung der weiteren Umgebung gehindert. Wir gehörten zu letzterer Kategorie und hofften, das Beste aus unserer zweitägigen Zwischenstation machen zu können. Unser Hotel lag hinter dem Opernhaus am Süchbaatar-Platz. Daher hatten wir beschlossen, eine Aufführung von Schwanensee zu besuchen, und unseren Concierge gebeten, uns beim Ticketkauf behilflich zu sein. Er hatte versprochen, Jem gleich nach Ende seiner Nachtschicht dorthin zu begleiten. Jem hatte seinen Wecker gestellt und war noch vor dem Frühstück aus dem Bett gekrochen – nun war er äußerst wütend.

»Hat er dir denn nicht geholfen?«, fragte ich.

»Ich musste noch eine Stunde auf ihn warten, bis er geduscht und sich umgezogen hatte. Dann ging er mit mir endlich zur Oper, wo uns gesagt wurde, die Karten seien schon seit Ewigkeiten ausverkauft. Daraufhin meinte er, wir müssten ja nicht unbedingt ins Opernhaus, sondern könnten was anderes machen.«

»Was zum Beispiel?«

»Nein, wir – er und ich.«

»Was?«

»Ich sagte ihm, ich wollte zwei Karten, um mit dir, meiner Verlobten, ins Ballett zu gehen. Daraufhin wurde er eiskalt und gemein und sagte: ›Diese Frau ist deine Frau? Ist sie aus Indien? Ich war in Indien, alles dreckig, und die Leute sind auch dreckig.‹ Dann brachte er mich zurück zum Hotel, erklärte, er habe heute frei und fragte, ob ich mit ihm zum Frühstück gehen wollte.«

»Der arme Kerl. Der hatte sich wahrscheinlich auf ein Rendezvous gefreut und nun hast du ihm das Herz gebrochen!«

Die Mongolei wurde immer verblüffender. Bis zu diesem Moment hatte ich Steppen und Jurten erwartet und Männer, die wieDschingis Khan aussahen. Stattdessen fand ich Wolkenkratzer, riesige Kräne und Portiers, die Touristen anbaggerten. Gold, Kupfer und Kohlebergbau hatten zu einem derartigen Wirtschaftsboom geführt, dass neue Büros, Eigentumswohnungen und Hotels praktisch über Nacht aus dem Boden schossen. Sozusagen Singapur in den Kinderschuhen. Angeblich war Ulan Bator von Bergen umgeben, doch wegen der gelblichen Dunstwolke, die den Himmel verdüsterte, war davon nichts zu sehen. Wir machten uns enttäuscht auf die Suche nach irgendetwas Ursprünglichem und fanden schließlich ein paar heruntergekommene buddhistische Klöster, die während der kommunistischen Herrschaft vernachlässigt worden waren. Im Nationalmuseum für mongolische Geschichte schauten wir uns Rüstungen, Trachten und Schmuck an; nach zwei Stunden hatten wir einen Einblick in die einstige Kultur der Stadt gewonnen, die nun unter der Last von elf KFC-Restaurants und einem IMAX-Kino in die Knie gegangen war. Den Rest des Nachmittags verbrachten wir in Einkaufszentren, probierten ein paar Kaschmirklamotten an und beobachteten junge Mongolen beim Flirten und Schuhe kaufen. Eines war sonnenklar: Die Vergangenheit des Landes war schwer zu ergründen, aber seine Zukunft war offenkundig.

Beim Frühstück am nächsten Morgen unterhielten wir uns mit Steve und Caroline aus Cumbria, die gerade von einem Wochenende bei einer nomadischen Gastfamilie zurückgekehrt waren und es nicht fassen konnten, dass wir nicht weiter nach draußen gefahren waren.

»Sie können nicht sagen, Sie waren in der Mongolei, wenn Sie nicht mal in der Steppe geritten sind«, meinte Steve. Seine Wangen waren von Wind und Sonne braun gebrannt, er trug ein enges Surferhemd und hatte seine Sonnenbrille über die Stirn geschoben.

»Wie haben Sie diese Gastfamilie denn gefunden?«, fragte ich.

»Google.«

Es war mir völlig klar, dass unsere Ansichten über die Mongolei von einem einseitigen ersten Eindruck geprägt waren, doch fand ich es faszinierender, die Entwicklung der Hauptstadt wahrzunehmen, statt auf einem Pferd zu reiten. Am späten Nachmittag, vor unserer letzten Etappe nach Peking, besuchten wir ein Restaurant mit dem Namen »Moderne Nomaden«, eine beliebte Kette, in der die Bedienungen als Steppenkrieger verkleidet waren. Ich löffelte vorsichtig meine mit Fettbläschen durchzogene Suppe und beobachtete die anderen Gäste, die Johnnie Walker tranken und sich schlechte Musikvideos anschauten. Vielleicht hatte ich nur einen kleinen Teil des Lebens in der Mongolei kennengelernt, aber für mich waren meine Erlebnisse genauso echt wie für Steve und Caroline ihre Erlebnisse waren. In einem Jahr, vielleicht schon in sechs Monaten, würde nichts von dem, was wir gesehen hatten und als »wahr« empfanden, noch genauso bestehen: Hier in der Stadt würde es noch mehr Hotels geben, noch mehr Bars, die Geschäfte würden laufen, die Umweltverschmutzung zunehmen und die Bevölkerungszahl rasant steigen. In der Steppe würde sich im gleichen Zeitraum der Klimawandel bemerkbar machen, die Temperaturen würden nach oben klettern, das Gras würde vertrocknen, der Viehbestand extrem zurückgehen und die Hirten würden in die Stadt ziehen. Kämen wir je zurück, wäre die Mongolei von jetzt nicht mehr da – eine andere würde auf uns warten.

Ein schlanker Mann in einem schwarzen T-Shirt erschien an unserer Abteiltür, schaute kurz herein und verschwand dann wieder ins Nachbarabteil. »Das Bett von denen sieht ohne diese Decke weit einladender aus. Nimm die weg!«

»Nimm du sie doch weg!«, entgegnete eine zweite Stimme.

»Dann hilf mir wenigstens.«

»Das ist wirklich nicht zu fassen«, sagte die zweite Stimme, »es ist, als seien wir von einem Hochsicherheitsgefängnis in den offenen Vollzug entlassen worden. Ich darf sogar meinen eigenen Ventilator bedienen und mein eigenes Fenster öffnen.«

»Was ich an deiner Stelle jedoch nicht tun würde, wenn du nicht die halbe Wüste hier drin haben möchtest.«

»Und schau mal – Moment mal, wo ist die Toilette?«

»Du suchst nach einem Kaninchen im Hut, mein Freund. Gibt’s nicht.«

»Es ist bloß ein Waschbecken. Wenn es nur nicht wie ein viktorianischer Abwasserkanal riechen würde.«

Ed und Alex waren Brüder auf dem Weg nach Peking. Sie schenkten sich jedes Jahr zu Weihnachten ein besonderes Erlebnis, und letztes mal gabs vom einen für den anderen eine Reise mit der Transmongolischen Eisenbahn.

Nachdem wir auf der Strecke immer wieder upgegradet hatten, fanden Jem und ich uns in der letzten Nacht in der ersten Klasse wieder, in einem Abteil mit roten Samtsitzen ganz für uns allein. Es handelte sich um einen chinesischen Zug, der weitaus besser ausgestattet war als der russische. Ich öffnete die Tür zum beiden Abteilen gemeinsamen Badezimmer und knallte sie sofort wieder zu – der Uringestank durchdrang alles.

»Zu blöd, dass wir die Rauchgranate nicht mehr haben«, meinte Jem.

Ed erschien wieder an der Tür. »Die Tür sollten wir wahrscheinlich nicht allzu oft öffnen. Ich mach mir ein wenig Sorgen, weshalb es hier nach Pisse stinkt, da doch gar keine Toilette da drin ist. In diesem Waschbecken werde ich mir auf jeden Fall nicht die Hände waschen.«

Nach Ulan Bator reisten wir durch ausgedörrtes Weideland. Zweihöckrige Kamele ruhten bei den weißen runden Jurten, aus denen oben Rauch herausströmte – sie sahen aus wie riesige Muffins mit Kerzen. Während die anderen eine Unterhaltung begannen, saß ich am Fenster und wartete auf die symmetrischen, vom Wind zu kleinen Hügeln angehäuften Sanddünen, leider ohne Erfolg. In diesem Teil ist die Wüste Gobi flach und steinig, durchzogen von kümmerlichen kleinen Grasbüscheln. Keine Frage: Für die Durchquerung einer Wüste eignet sich ein Zug am besten. Jeeps wirbeln dir den Sand ins Gesicht, und ein Ritt auf einem Kamel für mehr als zehn Minuten ist eine Tortur. Im Zug lässt sich die Wüste im Nu durchqueren, man verpasst nichts und vermeidet Langeweile, Sonnenbrand und einen wunden Hintern. Ich staunte immer noch darüber, dass diese Wüste sich bald nach China erstrecken würde, als Ed erneut erschien, mit einem Päckchen in der Hand.

»Hier, ich hab euch Käse mitgebracht.«

»Danke«, erwiderte Jem. »Möchtest du ein Kinder Bueno?«

»Wir sind nicht im Gefängnis, Mann, du brauchst nicht alles gegen was einzutauschen. Allerdings würde ich euch fünf Zigaretten für ein kaltes Bier geben. Ich habe bloß eine Flasche Wodka und eine Satsuma, damit der Wodka nicht so … nach Wodka schmeckt.«

In der Zwischenzeit war Alex ins Abteil gekommen, eine Flasche Sauvignon Blanc liebevoll an sich gedrückt. »Mein Baby«, erklärte er. »Hat mich ein Vermögen auf dem Schwarzmarkt gekostet. Ich leg sie im Speisewagen in den Kühlschrank und mach sie an der Grenze auf.«

Bisher waren Zoll- und Grenzübergänge kein Problem gewesen. Während der Passkontrollen wurde ich zunehmned genauer gemustert, da mein jämmerliches Gesicht unter dem angesammelten Schmutz und Schweiß immer weniger zu erkennen war. Die Spürhunde waren meist mehr an meinen Instantnudeln interessiert und hechelten mein Mittagessen an, statt Schmuggelware und blinde Passagiere unter meiner Liege auszuschnüffeln. Ansonsten lächelten wir, folgten den Anweisungen und lauschten dem weitaus interessanteren Handgemenge, das entstand, als echte Verbrecher aus dem Zug abgeführt wurden. Der fünfstündige Übergang von der Mongolei nach China war fast so legendär wie der Zug selbst; Jem hatte fünf Folgen von Game of Thrones heruntergeladen, um uns die Zeit zu vertreiben. Die Gleise in der Mongolei haben eine andere Spurweite als in China. Die mongolische Breitspur ist 85 Millimeter breiter als die chinesische Normalspur – ein Überbleibsel aus Sowjetzeiten, von dem sich die Mongolei nicht trennen will. Wie in einer Light-Version von Game of Thrones erachtet die mongolische Regierung dieses Hindernis wohl als notwendig, um den wirtschaftlichen Höhenflug ihres mächtigen Nachbarn – und ehemaligen Oberherrn – zudrosseln. China war bereits der wichtigste Abnehmer für mongolische Exporte, und die Mongolei, in Sorge über den Aufschwung des riesigen Nachbarlands und die eigene zunehmende Abhängigkeit von ihm, hatte auf eine uralte Strategie des taktischen Eisenbahnbaus zurückgegriffen, um Pekings Dominanz in Schach zu halten. Das bedeutete, dass sowohl Passagier- als auch Güterzüge an der Grenze warten mussten, bis die Fahrgestelle ausgewechselt werden konnten, ein aufwendiges Verfahren, bei dem die Wagen mittels eines hydraulischen Aufzugs angehoben wurden, das gesamte Fahrgestell herausgeschoben und durch ein anderes ersetzt wurde. China spielte das Spiel aber auch zu seinem Vorteil: So hatte das Reich der Mitte im Jahr 2002 in einem Anfall von Trotz den Besuch des Dalai Lamas in der Mongolei dadurch erschwert, dass die Züge für zwei Tage an der Grenze festgehalten wurden.

Gespannt darauf, was der chinesische Speisewagen zu bieten hatte, hatten Ed, Alex, Jem und ich an einer Tischnische Platz genommen. Da wir nun in der ersten Klasse reisten, war die Abwesenheit von Einheimischen auffällig; überall saßen aus Dosen trinkende Engländer. Das chinesische Personal machte keinen Hehl aus seinem Abscheu – wenig verwunderlich angesichts dieser Fahrgäste, die auf den Sitzen knieten, ihr Essen verschütteten und einen chinesischen Akzent nachäfften, während sie die absurdesten Geschichten zum Besten gaben, was einem bei diesen »Ausländern« zustoßen konnte. Bei solchen Gelegenheiten schämte ich mich jedes Mal für meine Landsleute, die sich gerade im Ausland von ihrer schlimmsten Seite zeigten. Wir hielten es nicht länger als fünf Minuten aus, bevor wir uns in unser luxuriöses Abteil zurückzogen. Zuvor jedoch legte Alex seine Weinflasche liebevoll in den Kühlschrank.

»Die Leute schauen mich dauernd so an«, meinte Jem. »Glaubst du, die denken, ich sei Mongole?«

»Ich glaube eher, die haben noch nie jemanden gesehen, der in der Öffentlichkeit in rosafarbenen Badehosen und Slippers herumläuft.«

»So hoch war ich schon lange nicht mehr … jedenfalls nicht seit Dublin.« Ed reckte seinen Hals aus dem Fenster und versuchte zu filmen, wie die Eisenbahner das Fahrgestell unseres Waggons auswechselten. Wir waren in einem Schuppen außerhalb von Erlian (Eren Hot) in etwa drei Meter Höhe. Die Bewegung ging so ruhig vonstatten, dass keiner von uns merkte, wie wir in der Luft schwebten, bis wir nach unten schauten und die auf und ab wackelnden Schutzhelme unter uns sahen. Wir hingen hier schon seit zwei Stunden und konnten das WC unten nicht erreichen. Alex hatte begonnen, hektisch hin und her zu laufen.

»Jetzt verstehe ich, warum dieses Waschbecken so stinkt. Wenn wir nicht bald weiterfahren, geh ich ein.«

Ein Horn ertönte und ein zweiter Zug rollte in den Bahnhof. »Spar dir dein Horn für deine Frau, du Dreckskerl!«, schrie Ed. »Moment mal, das ist ja unser Speisewagen!«

»Scheiße! In der Tat!«, sagte Alex und lief zum Fenster.

Vor ein paar Stunden war unser Zug unerklärlicherweise vom Speisewagen abgekoppelt worden, und wir vier schauten zu, wie dieser in der Ferne verschwand. Zunächst überzeugt, er würde bestimmt wieder zurückkommen, scharrte Alex an unserem runden Fenster und wimmerte in blankem Entsetzen, als er den Speisewagen zusammen mit seiner Flasche Wein davonrollen sah. Nun erschien er wieder, als wolle er ihn necken – bloß hing er an einem anderen Zug. Ein Paar stand am Fenster und winkte uns über die Gleise hinweg zu. Alex hielt die Hände wie ein Megafon an seinen Mund und schrie in Richtung der beiden im anderen Zug:

»Könnten Sie bitte im Kühlschrank nach einer Flasche Sauvignon Blanc schauen?«

Die Frau winkte und lachte.

»Nein … ehrlich! Die Flasche ist in Ihrem Kühlschrank!«

Jem und ich wickelten uns in unsere Decken und widmeten uns wieder unseren Game of Thrones-Folgen. In der nächsten Stunde wurde der Zug mehrfach gerüttelt und geschüttelt. Offensichtlich in einem Anfall von Lagerkoller hatten Alex und Ed sich mit einem betrunkenen Lehrer aus den Niederlanden angefreundet. Jetzt schlugen sie die Zeit tot, indem sie dessen Frau in Leiden anriefen und so taten, als sei er an der Grenze wegen Drogenbesitzes verhaftet worden.

Irgendwann rollte unser Zug aus dem Schuppen und fuhr über die Grenze nach Erlian, wo wir endlich aussteigen durften, um auf dem Bahnsteig herumzulaufen oder uns mit chinesischem Wodka, Nudeln, Saft und Litschis aus dem Bahnhofsladen einzudecken. Es war eine warme, mondhelle, ruhige Nacht und aus unsichtbaren Lautsprechern ertönte ein Walzer. Ich hockte an eine Wand gelehnt und beobachtete unsere Mitreisenden, die in der Dunkelheit umherliefen, rauchten und sich streckten. Allmählich wurde mir die Dimension dessen, was wir hinter uns hatten, klar: In den vergangenen elf Tagen hatte mir die Transmongolische Eisenbahn bewusst gemacht, dass es keine wirklichen Anfänge oder Enden gab, keine Grenzen oder Schranken. Seen wurden zu Meeren, Berge kamen und gingen, Wüsten wurden groß und dann wieder klein. Fahrgäste waren ein- und ausgestiegen; ihre Gesichtszüge wurden allmählich kantiger und dunkler, je mehr der Zug sich seinem Ziel näherte. Die tagelange Reise des Zuges durch Raum und Wildnis hatte in mir ein Gefühl der Unruhe hervorgerufen, ein Gefühl, irgendwo dazwischen zu sein. Doch nun besaß ich einen tieferen Sinn für Raum als je zuvor und wusste, dass die Welt in Wahrheit klein und miteinander verbunden war.

Ich wurde geweckt von Eds Frage an Alex, warum sein Telefon verpasste Anrufe von einer holländischen Nummer anzeigte. Ich kletterte aus meiner Liege und trat gerade rechtzeitig ans Fenster, um noch ein Zipfelchen der Chinesischen Mauer zu sehen, ein schmaler grauer Faden, der sich den Berghang hinaufwand. Der Zug hatte einen wahren Spießrutenlauf über Abgründe hinter sich gebracht und donnerte nun mit frischem Elan über Brücken, bereit für den Endspurt nach Peking. Entlang von Felswänden verschwanden wir immer wieder in schwarzen Tunneln, die uns wie offen stehende Münder verschluckten. Obstplantagen schmiegten sich an die Hänge bis hinunter in die Täler, und an den schlammig grünen Flusswindungen standen Fischer mit Bambushüten. Frauen winkten von den Eingängen ihrer rautenförmigen Häuser, deren Dächer wie neckisch gelüftete Röcke nach oben gebogen waren. Doch bald schon war diese Idylle vorüber; an ihre Stelle traten harter Stahl und Beton, die sich gegen den kränklich aussehenden Himmel abzeichneten. Plakatwände und ein Wirrwarr von Drähten verunstalteten die Gegend, Gebäude kamen den Gleisen so nahe, als wollten sie bei unserer Ankunft unbedingt dabei sein. Der Zug rollte in den Bahnhof ein und blieb kurz darauf endgültig stehen. Wir stiegen aus und betraten den Bahnsteig, an dem China uns erwartete.

In 80 Zügen um die Welt

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