Читать книгу unkaputtbar - Moon River - Страница 4
ОглавлениеMitten im Leben
Susi war einen weiteren Tag damit beschäftig, mannshohe Brennnesseln zu roden. Nie zuvor hatte sie solche Unkrautwurzeln gesehen, daumendick und mehrere Meter lang. Entsprechend kräftig musste man zerren, um sie überhaupt herauszubekommen. Es hätte viel zu tun gegeben im Haus, aber die Arbeiten mussten erledigt werden, wenn die äusseren Umstände passten. Das Wetter konnte von einer Minute auf die andere umschlagen.
Erst zwei Wochen waren sie hier oben, aber es fühlte sich an, als ob sie nirgendwo anders hingehören würden. Hier, in Rauschbachwald, im Kanton Bern, auf weit über 1000 Meter über Meer, hier am Ende der Welt, fühlte sie sich zu Hause. Allein. Nur sie und Fionn. Sie fragte sich manchmal, ob er es auch gut fand, oder ob er einfach mitgekommen war, weil sie es gewollt hatte – und weil sie die einzigen Menschen dieser Familie waren, die sich auch als Familie verstanden. Zumindest hoffte sie, dass es ihm auch gefallen würde auf diesem einsamen Stückchen Erde.
Sie hatte Angst vor ihrem eigenen Mut und versuchte dies so gut es ging, für sich zu behalten. In ihrem Leben hatte sie an seltsamen Orten auf der halben Welt gelebt, aber immer ohne Verantwortung für andere Lebewesen. Diesmal war es anders. 26 Seelen vertrauten ihr und hofften auf ihre Kompetenz. Wäre diese Tatsache nicht so befremdlich gewesen, hätte sie gelacht. Ausgerechnet ihr vertrauten sie, ihr, die selbst in der permanenten Angst lebte, alles falsch zu machen und zu versagen. Das Leben hatte sie gelehrt, ein Pokerface zu tragen, sich nichts anmerken zu lassen. Hinterher, im stillen Kämmerlein, war immer noch genügend Zeit für Tränen.
Wochen zuvor hatte sie 90 % ihrer Sozialkontakte beendet. Für ein paar ultrakurze Momente hatte sie sogar darüber nachgedacht, sich in Luft aufzulösen. Einfach zu verschwinden. Aus Grosskopfkaff. Eine Weltreise zu machen oder sonst etwas Seltsames, was man nicht tat, wenn man Verantwortung hatte, zum Beispiel Zigaretten holen, auch wenn man nicht rauchte. Oder sich aus dem Leben zu verabschieden. Diese Gedanken waren nur kurz durch ihren Kopf gehuscht, bevor sie sich im Klaren war, dass sie das nicht konnte. Sie würde den Verstand verlieren, aus Sorge um die Lebewesen, die sie im Stich gelassen hätte. Fionn hatte einmal gesagt, sie sei das geborene Muttertier und ein Kontrollfreak obendrein. Vermutlich hatte er Recht. Sie konnte sehr gut fünfe gerade sein lassen. Bis zu einem gewissen Punkt. Man überliess nicht einfach Schutzbefohlene ihrem Schicksal.
Dennoch war eine Sache sehr sicher gewesen, sie hatte nur noch weg gewollt von dem Ort, wo sie gelebt hatten. Verschwinden aus dem Aargau, wo die Luft so schmutzig war, dass der Schnee, wenn es denn einmal welchen gab, einen schwarzen Schleier trug. Selbst bei schönstem Sommerwetter hatte ein bedrückender Grauschleier über der Senke gelegen, wo ihr Wohnort lag. Ab Ende Oktober hatte dichter Nebel alles eingehüllt, der bestenfalls zur Mittagszeit verschwand, aber sehr oft den ganzen Tag blieb. Nebel konnte ausnahmsweise auch romantisch sein oder zumindest geheimnisvoll. In Grosskopfkaff war er nur erdrückend. Deprimierend. Hartnäckig tagsüber und ebenso hartnäckig bis in den Frühling hinein. Dafür war Schnee Mangelware. Dreaming of a white Christmas ging nur, wenn sie Musik hörte.
Nein, das wollte sie nicht mehr, sie wollte ihren Lebenstraum verwirklichen. Die letzte Zeit die ihr noch verbleiben mochte, das tun, was sie wollte. Den Traum verwirklichen, den sie mit elf Jahren zu träumen begonnen hatte. Zumindest teilweise. Damals im Deutschunterricht hatte der Lehrer von Longo Maï erzählt. Von Menschen, die alles an den Nagel gehängt hatten, um ein einfaches Selbstversorgerleben zu führen, fernab jeglicher Zivilisation.
Ganz ehrlich gesagt, wäre sie viel lieber in die USA oder nach Kanada gezogen. In die unendlichen Weiten, in ein Blockhaus. Es gab viele Gründe, weshalb sie es dann doch nicht getan hatte. Was würde sein, wenn sie alt und dement würde? Die fremde Sprache vergessen würde? Nur noch eine Last für Fionn seiend, der dann ganz auf sich allein gestellt gewesen wäre. Und sie wollte nicht alles verlieren, was sie bis dahin aufgebaut hatte. In Übersee hätten sie als Investoren einreisen müssen, ohne Sicherheit, tatsächlich bleiben zu können. Als Single konnte man kommen und gehen, wie man mochte, nicht aber mit so vielen Lebewesen im Schlepptau. Diese und die damit einhergehende Verantwortung wogen schwer in der Nein-Schale. Sie wollte ihnen keine solch beschwerliche und lange Reise in eine ungewisse Zukunft zumuten, auch weil sie nicht die geringste Möglichkeit einer Mitbestimmung oder eines Widerspruches hatten. Es war nicht ihre Art, andere willfährig zu machen. Sie wären vollkommen verängstigt gewesen. Hätten Stunden allein, ohne Bezugsperson, in fremder Umgebung und mit fremden Menschen ausharren müssen. Sie hätten vielleicht Todesängste ausgestanden und manche hätten sogar Wochen lang in Quarantäne ausharren müssen.
Eine dreistündige Reise hatte für Susi jedoch überschaubar erschienen, ohne zu ahnen, dass selbst dies für Falk, den alten Schäferhund, zu lange sein könnte. Er hatte nicht mehr in ein normales Hundeleben zurückgefunden, war quasi wahnsinnig geworden. Sobald weder Susi noch Fionn in seiner Nähe waren, zerstörte er alles was er fand. Sein Bett, die Haustüre, seinen Futternapf. Es gab Menschen in Susis Umfeld, die nach dem Motto lebten: Lasst die Tiere doch einfach zurück, ihr könnt neue kaufen. Nein, man kauft schliesslich auch keine neuen Eltern oder Kinder.
Eigentlich hatte sie schon seit vielen Jahren von dieser verlogenen Gesellschaft weg gewollt, von diesem System, in dem Korruption und Vetternwirtschaft nicht die Ausnahme, sondern die Regel waren, in dem immer dieselben Familiendynastien dieselben überbezahlten Stellen bekleideten. Selbstverständlich mit Steuergeldern bezahlt. Grossvater, Vater, Tochter, Enkel. Und immer dieselben Familien sassen im Stadtrat und liessen es sich dank üppiger Spesengelder gut gehen.
Sie hatte keine Lust mehr gehabt, das Leben dieser modernen Raubritter zu finanzieren. In den späten Siebzigerjahren hatten ihre Eltern dagegen gesperrt auszuwandern, was Susi nachvollziehen konnte. Sie hatten sich zu alt gefühlt und sich vor der möglichen Mehrarbeit gefürchtet. Auch Susis Versprechen hatte nichts geholfen, dass die Eltern lediglich eine Reise machen müssten und alles andere für sie erledigt würde.
Beim nächsten Auswanderungsversuch hatte Fionn seiner Freunde wegen nicht gewollt. Auch das hatte sie respektiert. Er sollte nicht so isoliert sein wie sie es gewesen war. Andererseits, er war zu jung um ihn allein zurück zu lassen. Im Laufe des Lebens verändern sich Dinge, Freunde kommen und gehen. Wie das Wetter. Irgendwann jedoch war der Tag gekommen, an dem sie sich gesagt hatte: jetzt oder nie. Wer mag, kommt mit. Sie war so alt gewesen wie ihre Eltern damals. Ausser Fionn hatte sie niemanden mehr.
Nach ihrer Auffassung verhielt sich das Leben ähnlich wie ein Wassermolekül in einem Fluss. Manche Bindungen hielten etwas länger, andere nur einen Wimpernschlag. Weiterziehen war die Devise, ohne sich jedoch plan- und hilflos treiben zu lassen. Wer sich weigerte, gelangte, mit etwas Pech und wenig Glück, in einen Seitenarm mit modrigem Wasser. Selbstredend wäre es bequem gewesen, dort zu verharren, in den Tag zu leben und den Rest des Lebens vor sich hin zu dümpeln. Aber wer mochte schon längerfristig in modrigem Wasser baden? Hilf dir selbst, sonst hilft dir keiner, das hatte sie ihren Kindern von klein auf beigebracht.
Das Brennen der Nesseln auf ihrer Haut nahm sie nur peripher wahr. Es war nicht zu ändern und somit auch nicht wert sich darüber zu ärgern. Das war eine der Lebensregeln, welche ihr Muëti und Vati mitgegeben hatten. Zu akzeptieren, was man nicht verändern konnte, jedoch anpacken, wenn man etwas tun konnte. Susis Herkunft war für Aussenstehende ziemlich verwirrend. Mehr Menschen als üblich gehörten zur Familie. Genau genommen war sie aber nicht mit allen verwandt, denn Familie kann auch aus dem Herzen kommen.