Читать книгу unkaputtbar - Moon River - Страница 8
Оглавление(K)eine ganz normale Familie
In den Bergen wurde es sehr schnell kühl, sobald die Sonne untergegangen war. Das kannte Susi von ihren sommerlichen Aufenthalten auf der Alp. Ihr Vater hatte den Senn gekannt und so stieg die Familie jeweils im Sommer für sechs Wochen in die Sennerei Ahorni hoch, was wiederum dem Alphirten eine Entlastung bescherte. Er nutzte die Zeit, um mit einem Teil der Kühe zur höher gelegenen Steini-Hütte zu ziehen. Die Ziegen blieben zurück. Diese Hütte war schwieriger zu erreichen und man musste rund drei Stunden zu ihr aufsteigen. Die Familie tat es jeweils zwei bis drei Mal pro Aufenthalt, um frische Butter zu bekommen und Käse. Unterwegs nutzte man die Gelegenheit, um von den reichlich gedeihenden Heidelbeeren und Pilzen zu sammeln.
Zu jener Zeit gab es kaum Touristen und schon gar keine Mountainbiker, die rücksichtslos durch die Landschaft bretterten. Man konnte in Ruhe Tiere beobachten und noch viel mehr Pflanzen. Ihr Halbbruder Jürg verfiel jeweils beim Anblick irgendwelchen Getieres in Panik, begann zu schreien und mit Stöcken und Steinen auf das Wesen einzuprügeln, bis nur noch ein Matschfleck zu sehen war, wo das Tier einst war. Susi hasste dieses Verhalten. Susi mochte auch weder Spinnen noch Schlagen, aber sie ging einfach einen anderen Weg. Aber zu Brei schlagen. Nein. So teilte sie ihre Sichtungen nur noch dem Vater mit, wenn Jürg weit genug entfernt war. Aus sicherer Distanz beobachtete sie auch diese Wesen immer neugierig.
Das Ahorni war etwa eine Tageswanderung von der Zivilisation entfernt und mehr als schlicht, aber damals für eine Alphütte durchaus üblich ausgestattet. Eine kleine Rauchküche und über dem offenen Feuer ein russgeschwärzter Kessel. Einfachheitshalber wurde das Feuer einfach in einem Steinkreis auf dem Küchenboden gemacht. Einen Kamin gab es nicht, der würzige duftende Rauch zog durch die Ritzen im Dach ab. Unter der Decke hingen in Netzchen verschiedene Lebensmitteln. Das hatte gleich mehrere positive Effekte. Ungeziefer blieb fern und die Speisen bekamen einen feinen Rauchgeschmack.
Das Essen in der Sennerei unterschied sich nicht wesentlich vom Alltag zu Hause. Vater trug in seinem Rucksack die Lebensmittel für den gesamten Aufenthalt hoch, darunter eine Speckseite, Rollgerste und einige Kartoffeln. Mehl für Brote befand sich neben Kleidung, Seife, zwei Kilogramm Zucker, etwas Kaffee und Zigaretten für ihren Ehemann in Mutters Gepäck. Als Winzling trug Susi einen entsprechend leicht bepackten Rucksack. Sie trug zwei Kartenspiele, ein paar Buntstifte, einen Zeichenblock und einige andere nützliche, aber leichte Dinge. Das war‘s. Mehr brauchte man nicht.
Der zehn Jahre älter Jürg weigerte sich, irgendetwas zu tragen. Er war Mutters Augenstern, der Prinz der Welt, wenn nicht sogar Gott selbst. Sie hatte ihn mit in die Ehe gebracht, ebenso ihre Eltern, die aber nicht mit auf die Alp kamen. Dazu waren sie definitiv zu vornehm und mit einem Rollstuhl war es zu mühsam, vor allem auch weil Vater sich ausnahmsweise weigerte, Opa hinaufzutragen. Bei Wanderungen im Flachland trug Vater Opa öfters auf dem Rücken mit. Vaters Schwiegereltern waren ohnehin gegen die Heirat gewesen. Ihre Tochter und ein kleiner, schwarzhaariger, eher dunkelhäutiger Mann. Gott bewahre. Der konnte nur von minderer Qualität sein.
Als erste Amtshandlung bei ihrer Ankunft in der Hütte buddelte Vater ein Loch und errichtete mit Planen und kleinen Tännchen eine Latrine. Huflattichblätter wurden als Klopapier verwendet und eine Schaufel Erde respektive Asche bedeckte das Geschäft.
Geschlafen wurde im Heu unter dem Dach. Man brauchte nichts weiter ausser der passenden Müdigkeit. Vor dem Einschlafen lauschte Susi den Geräuschen des Abends und der Nacht. Den Geigen der Grillen, dem Ruf der Käuzchen. Manchmal auch dem prasselnden Regen oder dem gewaltigen Grollen des Donners, dessen Echo von den umliegenden Bergen vielfach zurückgeworfen wurde. Die Eltern und Jürg spielten in der unteren Kammer Karten oder ein Brettspiel. Ihre murmelnden Stimmen begleiteten sie in den Schlaf.
Weiter oben floss ein Bach friedlich am Haus vorbei und ein Teil davon in den Brunnen, der dazu diente, Wasser für Getränke zu spenden, aber auch um sich oder die Kleidung zu waschen. Susi spielte gerne im Bach. Sie staute ihn und baute aus Ästchen und Moos Häuser für die Zwerge, die bestimmt in der Gegend wohnten. Selbstverständlich durften auch Käfer, Schnecken und Schmetterlinge zu Gast sein. Hinter dem Haus war ein Tobel. Dort verwandelte sich der Bach in einen tosenden Wasserfall und stürzte viele Meter in die Tiefe. Susi wusste, dass sie von dort weit wegzubleiben hatte.
Man hätte es als Paradies bezeichnen können, wäre da nicht Jürg gewesen. Er hasste Susi und alles was mit ihr zusammenhing. Sobald er die von Susi erbauten Dörfchen entdeckte, machte er sie dem Erdboden gleich. Susi nahm es ähnlich einer Naturkatastrophe hin und fing von vorne an. Manchmal suchte sie dafür neue Stellen, die nicht auf den ersten Blick sichtbar waren.
An einem strahlenden Nachmittag war nichts von Jürg zu hören. Er schien sehr beschäftigt. Susi war neugierig zu wissen, was er tat. Sie fand ihn bäuchlings im Gras liegend, bewaffnet mit einer Lupe. Sie wunderte und freute sich zugleich. Hatte er nun auch gesehen, wie viele kleine Wunder es hier gab? Seltsam allerdings empfand sie den widerlichen Geruch und die ploppenden Geräusche, die sie nicht einzuordnen vermochte. Also kniete sie sich neben ihn, um genauer sehen, was er tat und es machte sie sehr böse. Mit der linken Hand fixierte er Heuschrecken, während er in der Rechten die Lupe hielt und die gebündelten Sonnenstrahlen als winzigen aber leuchtend hellen Punkt auf die Heuschrecke richtete. Es dauerte nur kurz, dann stieg eine kleine Rauchsäule auf und das Opfer explodierte. Entsetzt und wütend im selben Masse rannte Susi zum Vater, um ihm zu berichten, was vor sich ging. Vater nahm Jürg die Lupe weg und schalt ihn.
Am nächsten Tag zeigte Vater Susi und Jürg, dass man mit einer Lupe und der Sonne auch Sinnvolles tun konnte. Er malte mit dem Brennpunkt auf ein Brett und erklärte, welch wunderbare Kraft die Sonne besässe, dass sie aber gefährlich sei und zerstören konnte. Jürg wollte nichts davon wissen.
Am übernächsten Tag nahm Jürg Susi mit in die Sümpfe. Er war stolzer Besitzer eines mit Batterien betriebenen Bootes. Etwas weiter oben am Berg gab es einen kleinen See. Wunderschön anzusehen. Klar und von einer tief blaugrünen Farbe. Um den See herum wuchsen Arnika und Wollsumpfgras, Schilfrohr und andere Pflanzen, die Susi nicht kannte. Keine Luftblasen stiegen aus der torfigen Erde.
Jürg warf sein Boot in den See und erklärte, dass Susi und er jetzt Piraten seien, die das Boot entern mussten. Er, Jürg, würde am Ufer bleiben um das Kommando haben. Sie sollte in den See steigen, um das Boot herausholen, er sei hier nicht tief. Susi tat wie ihr befohlen. Hinein ging ganz ordentlich, fast zu schnell. Heraus allerdings nicht mehr. Jürg war weg. Susi fing an zu rufen. Dann zu schreien. Sie hatte unsagbar kalt und konnte sich kaum bewegen. Es war, als zöge der eisige Boden sie hinunter. Dann hörte sie ihren Vater rufen. Er eilte mit Brettern heran und kroch auf dem Bauch zu ihr, um sie herauszuziehen.
Es war der letzte Sommer, in dem Jürg auf der Alp dabei war. Für die restliche Zeit hatte Jürg die klare Ansage bekommen, mindestens fünf Meter von Susi wegzubleiben. Und sie bekam die ebenso klare Ansage, ihrerseits sofort wegzulaufen, wenn er ihr zu nahekäme. Mutter zeterte und heulte, dass Vater Jürg eben nicht mögen würde, weil er nicht sein Sohn sei und das beste würde wohl sein, sie würde sich scheiden lassen.
Es war nicht der erste Versuch von Jürg, Susi loszuwerden und auch nicht der letzte. Susis Schutzengel musste wohl Verstärkung angefordert haben, denn immer im letzten Augenblick konnte sie den Kopf buchstäblich noch aus der Schlinge ziehen. Vielleicht war sie einfach unkaputtbar.
Das Verhältnis von Susi zu Mutters Familie war trostlos. Sie war Mittel zum Zweck, aber nicht das Ergebnis einer Liebe. Zumindest nicht einer gegenseitigen. Ihre Aufgabe war es, Vater am Gehen zu hindern. Halbbruder Jürg, Oma und Opa waren sich einig: «Das da» hätte es wirklich nicht mehr gebraucht. So lange Oma und Opa lebten blieb Susi «Das da». Sie konnte sich nicht erinnern, von ihnen jemals beim Namen genannt worden zu sein.
Sie wurde überhaupt nur selten beim Namen gerufen, hatte dafür jede Menge Spitznamen. Manche waren nett, andere verletzend. Muëti nannte sie Prinzessin, für Vati war sie der Heugümper und Greti nannte sie Elfenkind, weil sie so klein war. Nur für ihren Vater war sie einfach Susi. Er war nicht der Typ Mann, der Kosenamen verwendete. Jürg vermied jeglichen Kontakt mit ihr, wenn es nicht unbedingt erforderlich war oder ihm keine Vorteile versprach. Ebenso hielten es Oma und Opa.
Mutter war da viel einfallsreicher. Ganz von ihrer Tagesform abhängig. «Trampel», «Pimpernell», «fette Freundin», in guten Momenten auch mal «kleine, dicke Freundin», «Pimsmamsell» oder «Koddelsack». Koddelsack war das Gebilde, in welchem man damals Pferdeäpfel von der Strasse sammelte, um sie weiter zu verwenden. Im Ofen oder als Dünger im Garten. Koddelsäcke waren zweifelsohne nützlich, aber mit Sicherheit nicht schön.
Obwohl Susi nicht genau wusste, was eine «Pimpernell» war, einmal von einer Pflanze abgesehen, die zwar unscheinbar, aber immerhin nicht hässlich war, freute sie sich, wenn sie so gerufen wurde. Es verhiess zumindest nichts Schlechtes. Auch «Pimsmamsell» konnte sie nicht richtig einordnen, sie wurde so genannt, wenn sie weinte, was sie allerdings sehr selten tat. Pimsig war die Bezeichnung ihrer Mutter für mimosenhaftes Verhalten. Früh hatte sie gelernt, dass das Zeigen von Emotionen im Zweifelsfall dem anderen Menschen zu Oberwasser verhalf. Ihm anzeigte, wo verletzliche Stellen waren. Wie alle Lebewesen mochte Susi nicht gerne verletzt werden. Es machte sie traurig und liess sie sich unerwünscht fühlen.
Ihre Mutter und Jürg wussten dennoch haargenau, wann sie einen «Treffer und versenkt» gelandet hatten. Wahrscheinlich hatte Susi ihre Augen nicht im Griff, Muëti sagte immer, durch die Augen könne man direkt in die Seele eines Menschen blicken. Irgendwo in einer Ecke, im Innern von Susi sass dann jeweils ein kleines Mädchen und weinte, weil es Schmerzen oder Angst hatte. Äusserlich aber schien sie stark. Immer. Zumindest fast immer.
Susi war in die Küche gegangen, hatte sich einen Weg durch all die Umzugskartons gebahnt und eine kleine Ecke des Kochherdes frei gemacht. Mehr brauchte es nicht, da sie im Augenblick ohnehin nur einen Kochtopf, einen Wasserkocher, zwei Teller und Besteck für zwei Personen sowie eine Holzkelle hatte. Sie kochte, was Fionn liebte und sie auch gerne mochte. Eintopf. Dass am Kochherd nur eine Platte funktionierte, hatte sie noch nicht festgestellt. Auch nicht, dass es im Haus kein heisses Wasser gab. Der Wasserhahn war so verschmutzt, dass Susi es vorzog, mit Mineralwasser zu kochen.
Der Vorbesitzer hatte das Haus einfach offengelassen und ward nie wiedergesehen. Vermutlich, weil er genau wusste, wie sehr er Susi und Fionn betrogen hatte. Trotz allem schmeckte den beiden, im Gras vor der Tür sitzend, das Essen. Sie genossen die Stille und die untergehende Sonne, den Wind der sanft durch die Haare strich. Den Frieden, den beide in diesem Augenblick fühlten und den sie ein Leben lang vermisst hatten.
Fionn und Susi blieben noch eine ganze Weile im Gras liegen und beobachteten den Nachthimmel. In Grosskopfkaff, in dem Fionn geboren worden war und Susi einen Grossteil ihres Lebens verbracht hatte, konnte man keine Sterne sehen. Keine Sterne sehen, hiess für Susi, die Welt, das Leben nicht zur Gänze erfassen zu können. Nicht das Grosse im Kleinen zu entdecken. Irgendwie hiess es für sie auch, keine Hoffnung zu sehen, wenn die Nacht dunkel und die Last erdrückend schien. In Grosskopfkaff war es laut, stickig und überall gab es Licht. Die Schönheit des Himmels verblasste. Die Menschen rannten Wertlosigkeiten hinterher, von denen sie glaubten sie seien wertvoll, nicht bedenkend, dass sie ebenso nackt und besitzlos gehen würden, wie sie einst kamen. Was man vielleicht mitnehmen konnte, war Liebe und Wissen. Darüber war sich Susi aber noch nicht sicher. Sie kannte den Sternenhimmel von der Alp. Vielleicht brauchten Menschen in Grosskopfkaff keinen Himmel, keine Sterne, keine Träume. Diese Menschen sahen auch nur Äusserlichkeiten und nicht die Seelen im Innern des Gegenübers. Fionn und Susi mochten die Sterne und Sternschnuppen. Susi wäre gerne Astrophysikerin geworden.
Allmählich wurde es doch zu kühl und sie beschlossen, ins Haus zu gehen. Es gab nur zwei bewohnbare Zimmer. Rund 400 Jahre hatte es auf dem Buckel. Die Balken knackten, ächzten und knarrten. Susi hätte zu gerne gewusst, wer das Haus erbaut hatte. Was waren es für Menschen gewesen? Eher Vermögende, denn das Dach hatte immerhin eine Fläche von über dreihundert Quadratmeter und die Remise bot locker Platz für vier bis fünf Kutschen. Was mochten sie gefühlt und gedacht haben, als Napoleon durchs Land gezogen war? Waren manche Bewohner Opfer von Hexenverfolgung geworden oder waren sie womöglich die Denunzianten gewesen? Vielleicht würde sie mit der Zeit etwas über das Haus und seine Geschichte erfahren.
Im Erdgeschoss befand sich eine grosse Wohnstube, die wohl einst aus zwei Zimmern entstanden war. Die Küche war früher ein Ziegenstall gewesen. Die meisten alten Bauernhäuser hatten diese Einteilung. Es war sehr sinnvoll, das Vieh in die Wohnung zu integrieren, da dann alle im Winter weniger froren.
Licht gab es noch keines und überall standen Umzugskisten bis unter die Decke. Umziehen gehörte absolut nicht zu Susis Lieblingsbeschäftigungen und aufräumen ebenso wenig, vor allem dann nicht, wenn nichts seinen Platz fand.
Das mittlere Geschoss sollte einmal drei grosse Zimmer haben und einen geräumigen Durchgang. Bis dahin würde aber noch viel Arbeit und Zeit vergehen. Die Raumhöhe war allerdings nur 165 cm. Susi war das egal, sie passte nahezu überall durch. Endlich einmal war es von Vorteil, ein «Bodesurri» zu sein, wie Fionn sie manchmal nannte, wenn er sie aufziehen wollte. Dafür hatte er seine liebe Mühe. Immerhin war er fast 2 Meter gross. Also bekam er das Dachgeschoss, das rund zweieinhalb Meter hoch war. Die ehemalige Dreschkammer.
Alle Katzen befanden sich in einem Zimmer. Sie teilten es sich mit Susi. Zugegeben, es kam leichter Dichtestress auf, aber Susi war die Bezugsperson der kleinen Seelchen. Die Möblierung bestand nur aus einer Matratze am Boden, auf der alle schliefen. Und einigen Katzenklos. Das Zimmer durften die Katzen noch nicht verlassen. Susi hatte Angst, dass welche abhandenkommen könnten.
Am Tag vor ihrer Abreise hatte Buddha darum gebettelt, noch einmal in den Garten zu dürfen. Er war immer zurückgekommen. An diesem Tag kam ein Anruf. Er war auf die Strasse gerannt und überfahren worden. Der Autofahrer hatte nicht angehalten. Wahrscheinlich war Buddha sofort tot. Dennoch brach es ihr fast das Herz. Er war noch ein Kind, nicht einmal ein Jahr alt durfte er werden. Was waren das für Menschen, die ein Lebewesen anfuhren und sich nicht darum kümmerten!
Die Pferde waren noch nicht angekommen, die Hunde hatten ihren Auslauf gehabt und schliefen zur Sicherung der nicht verschliessbaren Haustüre im Eingangsbereich. Wobei sich Susis Angst im Rahmen hielt. Wer wollte schon so viele Kilometer fahren, um sie auszurauben? Im Übrigen gab es nichts Wertvolles im Haus.