Читать книгу unkaputtbar - Moon River - Страница 7
ОглавлениеEin Zwerg mit viel zu grossen Füssen
Als Kind hatte sie viele solche Plätzchen gehabt, an denen sie ganz allein gewesen war. Nur sie, mit ihren eigenen Gedanken, die sie überall hintrugen, wo sie gerne wollte. Sie konnte Tage lang sitzen. Träumen. Über das Leben nachdenken. Die Welt vergessen. Am liebsten unter Sträuchern. Noch lieber unter solchen mit süssen Beeren, wie im Schlaraffenland direkt in den Mund wachsend. Zum Glück war sie so klein, dass sie unter jedem Strauch ein Plätzchen fand. Ihre Mutter hatte ihr ein Buch geschenkt: der Zauberquaddel. Er war wie sie. Viel zu grosse Füsse, ein viel zu grosser Kopf, ansonsten viel zu klein. Susi liebte den Zauberquaddel. Sie liebte überhaupt Bücher. Bücher brachten Neuigkeiten in ihr Leben, Bücher urteilten nicht über den Leser und vor allem waren es Bücher, die eine zarte Brücke zu ihrer ansonsten unnahbaren Mutter schlugen. Jeden Abend las sie ihr vor. Susi liebte Mutters Stimme und jene Zeit, die nur ihr und ihrer Mutter gehörte.
Erstaunlicherweise konnte Susi Bücher lesen, obwohl sie Legasthenikerin war. Sah sie ein Wort zum ersten Mal, musste sie es mühsam entziffern, aber dank ihres fotografischen Gedächtnisses erkannte sie es beim nächsten Mal sofort wieder und konnte es auch fehlerlos aufschreiben. Dennoch hatte sie panische Angst, wenn sie in der Schule etwas laut vorlesen oder beim Diktat an die Tafel schreiben musste. Als Kind kannte sie längst nicht alle Worte und musste sich für jedes die Bedeutung und die korrekte Schreibweise erst erarbeiten, um nicht einen wilden Buchstabencocktail zu mixen. Es machte sie unsagbar traurig, wenn sie unter dem Gelächter der Mitschüler neue Wörter einzuordnen versuchte oder wenn sie an der Tafel bei neuen Wörtern Fehler geschrieben hatte.
Viele Jahre lang waren Sprache in Susis Augen vollkommen überflüssig. Die Menschen, die sie kannten, nahmen sie so wie sie war. Wortkarg wie ihr Vater. Aber aufmerksam. Beobachtend, aber mundfaul. Andere Menschen wollte sie in ihrer Nichtschulzeit so wenig wie möglich um sich haben.
Beobachten war eine ihrer Lieblingstätigkeiten. Tiere, Pflanzen, Menschen. Obwohl es ihr strengstens verboten war, kletterte sie im Hochsommer gerne auf einen sehr hohen und alten Kirschbaum. Er schenkte ihr sein wertvollstes Gut in Form von überreifen Kirschen. Nebenbei konnte sie bei Bedarf mit Steinen nach Passanten spucken. Die Krone des Baumes war dicht, niemand hätte ein kleines Mädchen so hoch oben vermutet und er stand ideal. Jeder der ins Spital ging oder von dort kam, musste daran vorbei. Sie lauschte vielen Gesprächen. Was sie hörte, behielt sie für sich.
Im Sommer und Herbst war sie die meiste Zeit auf Bäumen zu finden. Je nach Reifezeit des jeweiligen Obstes. «Schlimmer als ein Schwarm Spatzen», lachte ihr Vater dann.
Vermutlich hätte Vater gerne einen Sohn gehabt. Aber er war auch mit ihr sehr glücklich. Jemand, der zu ihm gehörte, jemand der ihn einfach liebte, so wie er war. Wortkarg. Aber von tiefem, altem Wissen beseelt. Manchmal etwas ruppig. Immer aber auf der Seite derer, die Hilfe brauchten. Sie fühlte, dass sein Herz ein weiches und liebendes war. Ein Mensch, der die Natur liebte und respektierte. Die Natur schien ihn ebenso zu lieben. Er konnte nur ein guter Mann sein.
Sie fühlte seine Wunden und Narben, auch wenn er nie darüber sprach. Sie bewunderte ihn dafür, dass es keine einzige Pflanze gab, die er nicht kannte, von der er nicht wusste, wie sie wirkte und wann sie blühte. Wenn er Zeit hatte, zauberte er aus allerlei Blumen Bilder vor den Eingang des Spitales, in dem er nebenbei als Rettungssanitäter arbeitete. Sämtliche Pflänzchen, alle Blumen und alles Gemüse, hatte er selbst gesät, pikiert und ausgebracht. Immer im Spätwinter begann er mit seinem Freund, dem Küster der katholischen Kirche, der ebenfalls Gärtner war, Blumenpolitik zu betreiben und unzählige Saatgutkataloge zu lesen. Susi las früh mit und genauso früh begann sie, mit Bleistift die Blumen zu zeichnen.
Wer immer einen Blumenstrauss oder ein Gesteck haben mochte, bekam es von ihrem Vater. Nicht lieblos zusammengeschnürtes Grünzeug. Nein, seine Pflanzen waren streng biologisch gezogen, hielten in der Vase wochenlang und waren mit viel Geschmack zusammengestellt. Er achtete ebenso auf das harmonische Spiel der Farben, wie auf sich nicht konkurrierende Düfte. Vor Weihnachten sassen Susi und Vater tagelang in der Werkstatt, schnitten Berge von Zweigen zurecht und gossen Kerzen in allen möglichen Formen. Alle liebten Vaters Arrangements. Die Leute gaben ihm dafür, was sie mochten. Plätzchen, Schokolade, Futter für seine Tiere. Vater stellte die Gestecke auf einem Tisch hin. Geben und nehmen. Bis zu jenem Tag, als ein mieser Mensch, alle seine Gestecke auf einmal mitnahm ohne etwas zurückzulassen. Vater war sehr bedrückt, als er es entdeckte.
Die Köche des Spitales kauften kein Gemüse, Obst oder Kartoffeln, Vater versorgte sie mit frischem, biologischem und saisonalem Gemüse. Trotz oder vielleicht gerade wegen seiner schlimmen Kinder- und Jugendzeit war er weltoffen und experimentierfreudig. Er war einer der ersten Gärtner weit und breit, der Broccoli und Artischocken anbaute. Wann immer er von jemandem erfuhr, dass dieser die Ferien in einem fremden Land verbringen würde, fragte ihr Vater, ob er ihm ein paar Samen mitbringen könnte. Manchmal gingen Susi und Vater auch auf eine Art Raubzug in botanische Gärten. Nein, sie stahlen keine Pflanzen. Nur ein paar reife Samen liessen sie mitlaufen.
Für die kleine Susi waren es Glanzpunkte im Leben, wenn sie in der Gärtnerei, nahe des Spitals (Krankenhaus), bei ihrem Vater sein konnte. Das ganze Spitalpersonal liebte das Mädchen und sie durfte fast überallhin mitgehen. Sie half, so gut es ihre kleinen Hände vermochten. Von Muëti und Vati hatte sie gelernt, dass es keine mindere Arbeit gab. So war es ihr einerlei, ob sie kleine Pflänzchen hegte oder den Putzfrauen half. Natürlich gab es auch Arbeiten, die sie besonders liebt. Aber einer musste sie erledigen.
Zu jener Zeit wurden manchmal sogenannt unehrlich geborene Kinder im Spital zurückgelassen. Diese Mütter waren vom Kindsvater verlassen worden, die Kinder kamen also nicht in einer Ehe zur Welt. Erst später wurden sie zumindest zu unehelichen Kindern. Bis sich eine Familie gefunden hatte, die sie aufnahm oder gar adoptierte, wurden sie im Spital versorgt. Wer nicht zu den Glücklichen gehörte und länger als ein paar Monate bleiben musste, kam ins Kinderheim.
Susi durfte schon früh helfen, sie zu füttern, wickeln oder auch beim Baden zur Hand gehen. Niemand redete von oder dachte an Kinderarbeit. Es war normal, dass Geschwister zur Hand gingen. Also war es auch normal, wenn sie im Spital den Schwestern half. All diese kleinen Wesen trösteten Susi über die Tatsache hinweg, dass sie keine Geschwister im eigentlichen Sinne hatte. Oh, wie sehr hoffte sie, dass eines Tages eines der Kinder nicht abgeholt würde und sie es behalten dürfte. Es geschah nie. Ab und zu sagte Mutter zu ihr, dass sie nun ein Geschwisterchen bekommen würde, um es einige Zeit später wieder zu dementieren. Für Susi brach jeweils die Welt zusammen, vor allem auch, weil Mutter nie zu erwähnen vergass, dass dies so sei, weil Susi nicht folgsam gewesen sei.
An trüben, kalten Regentagen blieb Susi üblicherweise im Spital drin, beobachtend, wie emsige Krankenschwestern hin und her eilten. Besonders die Hauben der Schwesterntracht hatten es ihr angetan. Es gab verschiedene Hauben und dazugehörige Trachten. Hellgraue mit kleinen Häubchen, die es sich auf dem Dutt am Hinterkopf der Schwestern bequem gemacht hatten. Dann waren da Ordensschwestern in schwarz-weiss, deren Hauben Susi an Nachtgespenster erinnerten, wenn die Schwestern den Gang entlang huschten und die Zipfel der Hauben flatterten. Über diese beiden Arten zerbrach Susi sich weniger den Kopf. Andere Schwestern jedoch trugen Hauben von monumentalem Ausmass. Eines Tages, so vermutete Susi, würde eine jener Schwestern damit in der Türe steckenbleiben. Aber das geschah nie.
Schwester Melli, die Mutter Oberin, wie manche sie nannten, erklärte ihr, dass die Schwestern mit den Flügelhauben katholische Ordensfrauen seien, aber aus einem anderen Kloster kämen als jene mit den Nachtgespensthauben. Die hellgrauen Schwestern mit den Dutthäubchen waren reformierte Ordensfrauen. Susi konnte sich nichts vorstellen unter katholisch und reformiert.
Ihr Vater war Protestant, die Mutter Lutheranerin, Muëti Methodistin, Vati und Greti Wiedertäufer (Amish), Oma orthodox und Opa Atheist. Granny hielt von all dem nichts und zog es vor, der Natur Achtung zu zollen. Offenbar hatten alle denselben Gott, zumindest gab es nie Streit über Glaubensfragen. Jeder glaubte eben, was er mochte. Man ging gemeinsam zur Kirche, mal in diese, mal in jene. Susi zog den Schluss daraus, dass es so richtige reformierte und katholische Wesen nur in Spitälern gab und diese sich nur durch die Hauben unterschieden. Sie mochte alle.
Besonders gerne hielt Susi sich bei Fräulein Wertmüller auf. Fräulein Wertmüller flickte alles, was kaputt gegangen war. Strümpfe, Leintücher, Windeln. Nichts wurde weggeworfen. Sollte etwas gar nicht mehr zu flicken sein, so diente es bis zum endgültigen Untergang als Putzlappen. Fräulein Wertmüller war eine Meisterin der Nadel, oft konnte man die Flickstelle kaum entdecken. Noch fast besser allerdings konnte sie Geschichten erzählen, von Drachen und Rittern, Hexen, Zwergen und Königen. Am Ende jeder Geschichte folgte der Satz: «Und wenn es nicht die Wahrheit war, so war es doch fein gelogen.» Beide lachten laut und verstanden den anderen ohne weitere Worte.
Pünktlich um 9 und um 16 Uhr gab es im Spital für alle eine Pause. Das ganze Personal fand sich im grossen Saal ein, Mutter Oberin, die Chefärzte, die Putzfrauen, Schwestern und wer sonst noch herum wuselte. Sowie Susi und ihr Vater. Für jeden gab es zu trinken und zu essen. Für alle das Gleiche. Jeder hatte seinen festen Platz im Saal – auch Susi und ihr Vater. Er liebte Kakao und weil er ihn trank, wollte auch Susi einen solchen haben. Auf den Tellern waren Reste vom Vortag angerichtet. Aufschnitt, Käse, Sauermilch oder Konfitüre. Gab es Speisen, die Susi besonders schmeckten, sagte Vater, er sei schon satt und schob seinen Anteil auf Susis Teller. Im Winter gab es warme Speisen wie Rösti mit Spiegelei oder ähnliches. Bedenkt man, dass die Familie von Susi ziemlich arm war, kann man gut verstehen, dass diese Pausen für sie Glücksmomente waren. Zuhause gab es anstatt Milch eine Art Kaffee. Hauchdünn, mit einigen Tropfen Magermilch und ohne Zucker.
Auch in der Spitalküche war Susi ein gern gesehener Gast. Sie konnte Gemüse rüsten und Plätzchen ausstechen. Letzteres tat sie mit besonderer Hingabe. Nicht ganz ohne den Hintergedanken, das sie immer eine gefüllte Papiertüte mitnehmen durfte. Besonders stolz war sie darauf, ihre Beute abends mit der Familie zu teilen. Genau wie Vater liebte sie es zu teilen. Weil die Küchenbelegschaft das wusste, achtete sie darauf, dass in der Tüte bestimmt genug für jeden war.