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KAPITEL ZWEI

Ohne Thanos kam Stephania die Welt wie eine düstere Einöde vor. Sie fühlte sich kalt an, auch wenn die Sonne vom Himmel strahlte. Leer, auch wenn Menschen in Nähe des Schlosses um sie wuselten. Sie starrte auf die Stadt, und sie hätte sie ohne mit der Wimper zu zucken niedergebrannt, denn nichts davon bedeutete ihr noch irgendetwas. Sie saß an den Fenstern ihrer Gemächer und hatte das Gefühl, jemand hätte ihr das Herz herausgerissen.

Vielleicht würde das auch noch jemand tun. Sie hatte für Thanos immerhin alles riskiert. Was war wohl die genaue Strafe für die Unterstützung eines Verräters? Stephania kannte die Antwort darauf, denn es war auch hier, wie mit jeder anderen Angelegenheit im Reich: was auch immer der König entschied. Sie hatte kaum Zweifel daran, dass er ihren Tod fordern würde.

Eine ihrer Zofen reichte ihr einen Beruhigungstrank aus Kräutern. Stephania ignorierte sie, auch als das Mädchen ihn auf einen kleinen Steintisch neben ihr abstellte.

„Gnädige Frau“, sagte das Mädchen. „Einige der anderen... nun, sie fragen sich... sollten wir keine Vorbereitungen treffen, um die Stadt zu verlassen?“

„Die Stadt verlassen“, sagte Stephania. Sie konnte hören, wie stumpf und tonlos ihre Stimme klang.

„Ich meine... schweben wir nicht in Gefahr? Nach allem was geschehen ist und allem, was Ihr uns aufgetragen hattet... um Thanos zu helfen.“

„Thanos!“ Dieser Name riss sie für einen Moment aus ihren Gedanken und versetzte sie in Rage. Stephania nahm den Kräutertrank vom Tisch. „Wage es noch einmal diesen Namen zu erwähnen, du dummes Mädchen! Verschwinde! Verschwinde!“

Stephania warf das Gefäß mit seinem brühheißen Inhalt nach dem Mädchen. Ihre Zofe duckte sich. Das allein genügte schon, doch das Geräusch des Bechers, der auf dem Boden zerschellte, brachte das Fass zum Überlaufen. Braune Flüssigkeit rann die Wand hinab. Stephania ignorierte es.

„Lasst mich alle in Ruhe!“ schrie sie dem Mädchen nach. „Oder ich werde euch die Haut abziehen lassen.“

Stephania brauchte die Ruhe, um mit ihren Gedanken allein zu sein, auch wenn diese Gedanken so dunkel waren, dass sie sich am liebsten vom Balkon ihres Zimmers in den Tod gestürzt hätte. Sie hatte Thanos verloren. Alles was sie getan hatte, alles das, worauf sie hingearbeitet hatte war mit Thanos nichtig geworden. Sie hatte vor ihm nie an die Liebe geglaubt; sie war überzeugt gewesen, dass es eine Schwäche war, die den Menschen dem Schmerz auslieferte, aber mit ihm war es das Risiko wert gewesen. Jetzt stellte sich heraus, dass sie Recht gehabt hatte. Liebe machte es der Welt einfach, den Menschen zu verletzten.

Stephania hörte, wie sich eine Tür hinter ihr öffnete, und sie wirbelte erneut herum, um nach etwas zu suchen, dass sie nach der Person werfen konnte.

„Ich habe doch gesagt, dass ich nicht gestört werden will!“ zischte sie, bevor sie sah, wer dort eingetreten war.

„Nicht so undankbar“, sagte Lucious während er das Zimmer durchquerte, „schließlich habe ich dafür gesorgt, dass du wohlbehalten wieder zum Schloss eskortiert wirst.“

Lucious sah in dem weißen und mit Gold und Edelsteinen bestickten Samt aus wie ein Prinz aus dem Märchenbuch. Er trug noch immer einen Dolch an seinem Gürtel, hatte jedoch seine goldene Rüstung und sein Schwert abgelegt. Selbst sein Haar sah frisch gewaschen aus und stank nicht mehr nach der Stadt. Er sah für Stephania eher aus wie ein Mann, der unter ihrem Balkon seine schönsten Minnegesänge zum Besten geben wollte als jemand, der die Verteidigung der Stadt organisierte.

„Eskortiert“, sagte Stephania mit einem gequälten Lächeln. „Das trifft es ganz gut.“

„Ich habe dafür gesorgt, dass du sicher durch unsere vom Krieg zerrüttete Stadt gelangst“, sagte Lucious, „meine Männer haben Sorge getragen, dass du den Rebellen nicht zum Opfer fällst oder von deinem mordlustigen Ehemann entführt wirst. Wusstest du, dass er entkommen ist?“

Stephania funkelte ihn böse an. Was für ein Spiel spielte Lucious hier?

„Natürlich weiß ich das“, keifte Stephania zurück. Sie stand auf, denn sie mochte es nicht, wie Lucious über ihr thronte. „Ich war dort.“

Sie sah, wie Lucious seine Augenbrauen in gekünstelter Überraschung nach oben zog. „Stephania, warum willst du dir selbst anlasten, deinem Ehemann bei der Flucht geholfen zu haben? Denn kein Hinweis deutet darauf hin.“

Stephania blickte in geradewegs in die Augen. „Was hast du getan?“

„Ich habe nichts getan“, sagte Lucious, der die Situation offenkundig zu sehr genoss. „Ich habe lediglich mit allen Mitteln versucht, die Wahrheit herauszufinden. Mit allen Mitteln.“

Das hieß, dass er Leute dafür hatte foltern lassen. Stephania hatte nichts gegen Grausamkeit, aber sie teilte mit Sicherheit nicht sein Vergnügen daran.

Sie seufzte. „Hör auf, Spielchen zu spielen, Lucious. Was hast du getan?“

Lucious zuckte mit den Schultern. „Ich habe dafür gesorgt, dass sich die Dinge so entwickeln, wie ich es will“, sagte er. „Wenn ich mit meinem Vater spreche, dann werde ich ihm sagen, dass Thanos auf seinem Weg ein paar Wachen getötet hat, während ein anderer ihn wegen seiner Sympathien für die Rebellen geholfen hat. Leider, leider hat er nicht überlebt, um seine Geschichte zu erzählen. Ein schwaches Herz.“

Lucious würde mit Sicherheit dafür Sorgen, dass niemand, der Stephania gesehen hatte, überlebte. Selbst Stephania wurde bei so viel Kaltblütigkeit übel, auch wenn ein anderer Teil von ihr bereits überlegte, was das für sie eigentlich bedeuten würde.

„Leider hat sich eine deiner Zofen in den Plot verstrickt“, sagte Lucious. „Thanos hat sie anscheinend verführt.“

Wut entbrannte daraufhin in Stephania. „Sie sind meine Zofen!“

Es war jedoch nicht bloß der Gedanke an die Frauen, die ihr so treu gedient hatten, der sie schmerzte, auch wenn das allein schon genügte. Es war der Gedanke, dass Lucious jemandem etwas antat, der so eindeutig zu ihr gehörte. Es ging nicht nur darum, dass eine ihrer Bediensteten Leid widerfahren war, es ging um die Anmaßung an sich!

„Genau darum ging es mir“, sagte Lucious. „Zu viele Menschen hatten gesehen, wie sie für dich Dinge erledigt hat. Und als ich dem Mädchen ihr eigenes Leben im Tausch gegen alles, was sie wusste, angeboten habe, war sie äußerst hilfreich.“

Stephania wandte den Blick ab. „Warum tust du all das, Lucious? Du hättest mich mit Thanos ziehen lassen können.“

„Thanos hat dich nicht verdient“, sagte Lucious. „Und er verdient es sicherlich nicht, glücklich zu sein.“

„Und warum hast du meine Spuren verwischt?“ fragte Stephania. „Du hättest dich zurückhalten können und meiner Hinrichtung zusehen können.“

„Ich habe tatsächlich darüber nachgedacht“, gab Lucious zu. „Oder zumindest hatte ich überlegt, den König zu bitten, dich zu begnadigen, nachdem wir es ihm erzählt hatten. Aber das Risiko, dass er sich einfach hinrichten lassen würde, wäre zu groß gewesen und das konnten wir nicht zulassen.“

Nur Lucious konnte so offen über so etwas sprechen, nur er konnte glauben, dass Stephania etwas wäre, um das er seinen Vater bitten könnte als wäre sie ein wertvolles Schmuckstück. Der Gedanke daran bereitete Stephania Gänsehaut.

„Aber dann ist mir eingefallen“, sagte Lucious, „dass ich die Spielchen zwischen uns zu sehr genieße, um so etwas zuzulassen. Es geht nicht darum, dass ich dich will. Ich will dich als Ebenbürtige, als Partnerin. Als wahrhaftig die Meine.“

Stephania trat an den Balkon, auch um frische Luft zu schnappen. Lucious war ihr so nah, dass sie den Duft seiner teuren Rosenwasser und Parfüms riechen konnte, die er offenbar aufgelegt hatte, um den Gestank des Bluts der heutigen Kraftanstrengungen darunter zu übertünchen.

„Was hast du gerade gesagt?“ fragte Stephania, auch wenn sie bereits eine Vorstellung davon hatte, was Lucious von ihr wollen könnte. Sie hatte es sich zur Aufgabe gemacht, all das herauszufinden, was die anderen am Hofe umtrieb, Lucious Vorlieben miteinbezogen.

Doch vielleicht hatte sie es nicht sorgfältig genug gemacht. Sie hatte nicht bemerkt, wie Lucious in ihr Informantennetzwerk gedrungen war. Auch hatte sie von Thanos Unternehmungen nichts bemerkt, bis es zu spät gewesen war.

Jedoch wollte sie die zwei nicht vergleichen. Lucious kannte ganz klar weder Moral noch Maß, und er suchte aktiv nach Wegen, anderen wehzutun. Thanos war stark und besaß Prinzipien, er war liebevoll und ein Beschützer.

Aber er war derjenige, der sie stehengelassen hatte. Er hatte sie verlassen, wissend, welche Konsequenzen das für sie haben würde.

Lucious griff mit einer ihm sonst fremden Sanftheit nach ihrer Hand. Stephania verspürte dennoch einen Widerwillen als er ihre Hand an seine Lippen hob und die Innenseite ihres gerade pulsierenden Handgelenks küsste.

„Lucious“, sagte Stephania und entzog ihm ihre Hand. „Ich bin eine verheiratete Frau.“

„Ich habe das äußerst selten als ein Problem erlebt“, hob Lucious hervor. „Und tu doch nicht so, Stephania, du doch auch nicht.“

Stephanias Ärger loderte wieder auf. „Du kennst mich doch gar nicht.“

„Ich kenne dich sehr gut“, sagte Lucious. „Und je besser ich dich kenne, desto mehr erkenne ich, dass wir perfekt füreinander sein.“

Stephania entfernte sich, doch Lucious folgte ihr. Natürlich tat er das. Er war kein Mann, der jemals Zurückweisung erfahren hatte.

„Denk doch mal darüber nach, Stephania“, sagte Lucious. „Ich habe immer geglaubt, dass du nicht sonderlich helle seist, aber dann habe ich das Spinnennetz entdeckt, das du durch Delos gewebt hast. Weißt du was ich dabei empfunden habe?“

„Wut, dass man aus dir einen Narren gemacht hat?“ schlug Stephania vor.

„Vorsicht“, sagte Lucious. „Du kannst nicht wollen, dass du es dir mit mir verdirbst. Nein, ich habe Bewunderung empfunden. Davor habe ich geglaubt, dass du für ein oder zwei Nächte ganz nett wärst. Doch dann habe ich erkannt, dass du jemand bist, der wirklich versteht, wie die Welt funktioniert.“

Oh, das verstand Stephania besser, als Lucious es sich vorstellen konnte. Er hatte seine Stellung, die ihn vor allem, was ihm widerfuhr, schützte. Stephania hatte nichts als ihre Klugheit.

„Und du hast entschieden, dass wir das perfekte Paar wären“, sagte Stephania. „Dann sag mir doch, was du in Bezug auf meine Ehe mit Thanos vorhast?“

„Das können wir getrost beiseite lassen“, sagte Lucious, als wäre es so leicht wie mit den Fingern zu schnipsen. „Nach allem, was er getan hat, hätte ich geglaubt, dass du froh seist, dich aus dieser Bindung zu lösen.“

Es wäre von Vorteil, wenn sich die Priester darum kümmerten, denn sonst würde Stephania riskieren, durch Thanos’ Verbrechen als ehrlos zu gelten. Sie würde die Frau des Verräters bleiben, auch wenn Lucious ihr versicherte, dass ihr niemand ihre Verstrickungen würde nachweisen können.

„Oder wenn du das nicht willst“, sagte Lucious, „ich bin mir sicher, dass es nicht schwer wäre, seinen Untergang anderweitig zu arrangieren. Schließlich ist es dir schon einmal fast geglückt. Wo auch immer er steckt, ein Auftragsmord ist leicht in die Wege geleitet. Du könntest für... eine angemessene Zeit trauern. Ich bin mir sicher, dass dir schwarz ausgezeichnet stünde. Du siehst in allem zauberhaft aus.“

Unter Lucious’ Blick fühlte sich Stephania plötzlich unwohl, denn es kam ihr vor, als würde er sich vorstellen, wie sie ohne jegliche Kleidung aussah. Sie blickte ihm direkt in die Augen und versuchte, einen professionellen Ton an den Tag zu legen.

„Und dann was?“ fragte sie.

„Dann heiratest du einen dir würdigen Prinzen“, sagte Lucious. „Denk an all das, was wir mit deinem Wissen und meinen Fähigkeiten zusammen erreichen könnten. Wir könnten das Reich zusammen regieren und die Rebellion würde es nicht einmal wagen, uns zu nahe zu kommen. Du musst zugeben, dass wir ein schönes Paar wären.“

Daraufhin musste Stephania lachen. Sie konnte nicht anders. „Nein, Lucious. Das wären wir nicht, denn ich empfinde nichts als Verachtung für dich. Du bist ein Ganove, schlimmer noch, du bist der Grund, weshalb ich alles verloren habe. Warum sollte ich dich jemals heiraten?“

Sie sah, wie sich Lucious’ Gesicht verhärtete.

„Ich könnte“, hob Lucious hervor. „Ich könnte mit dir anstellen, was immer mir beliebt. Glaubst du etwa, dass ich deine Beteiligung an Thanos’ Flucht nicht immer noch auffliegen lassen könnte? Vielleicht habe ich deine Zofe nur zu Sicherheitszwecken am Leben gelassen.“

„Um mich zu zwingen, dich zu heiraten?“ sagte Stephania. „Welcher Mann würde das tun?“

Lucious breitete die Arme aus. „Du bist mir gar nicht so unähnlich, Stephania. Du bist Teil des Spiels. Du würdest keinen Idioten wollen, der zu dir mit Blumen und Juwelen kommt. Außerdem würdest du lernen, mich zu lieben. Ob du das nun wollen würdest oder nicht.“

Er streckte erneut seine Hand nach ihr aus und Stephania legte ihre Hand auf seine Brust. „Komm mir noch einmal zu nahe, und du wirst diesen Raum nicht lebend verlassen.“

„Willst du, dass ich deine Beteiligung an Thanos’ Flucht auffliegen lasse?“ fragte er.

„Du vergisst dabei deine eigene Beteiligung“, sagte Stephania. „Schließlich wusstest du alles darüber. Wie würde der König reagieren, wenn ich ihn das wissen ließe?“

Sie erwartete, dass Lucious nun wütend, vielleicht sogar gewalttätig werden würde. Doch er lächelte sie nur an.

„Ich wusste, dass du perfekt zu mir passen würdest“, sagte er. „Selbst in deiner derzeitigen Lage, findest du einen Weg, auf bezaubernde Weise zurückzuschlagen. Zusammen wären wir unschlagbar. Aber du wirst Zeit brauchen, um das zu verstehen, das weiß ich. Du hast viel durchgemacht.“

Er klang genau so, wie ein besorgter Freier klingen sollte, was Stephanias Vertrauen in ihn noch weiter schmälerte.

„Nimm dir die Zeit, die du brauchst, um über meinen Vorschlag nachzudenken“, sagte Lucious. „Denk an all das, was eine Ehe mit mir dir bieten könnte, vor allem im Gegensatz zu einer Ehe mit einem Verräter. Vielleicht liebst du mich jetzt noch nicht, aber Menschen wie wir treffen ihre Entscheidungen nicht aufgrund solchen Unfugs. Wir treffen sie, weil wir über sie erhaben sind und wir unseresgleichen anerkennen, wenn wir auf sie treffen.“

Stephania war nicht so wie Lucious, aber sie verkniff sich aus gutem Grund, es auszusprechen. Sie wollte nur, dass er verschwand.

„Bis dahin“, sagte Lucious, als sie nicht antwortete, „habe ich ein Geschenk für dich. Besagte Zofe dachte, dass du es brauchen könntest. Sie hat mir alles möglich über dich erzählt, als sie um ihr Leben bettelte.“

Er zog eine Phiole aus seiner Gürteltasche und legte sie auf den kleinen Tisch neben dem Fenster.

„Sie hat mir auch erzählt, warum du das Blutmondfestival vorzeitig verlassen hast“, sagte Lucious. „Dass du schwanger bist. Ich würde natürlich niemals Thanos’ Kind aufziehen. Trink das hier und das Problem ist gelöst. In jeder Hinsicht.“

Stephania wollte ihm die Phiole nachwerfen. Sie nahm sie von dem Tischchen, aber da war er schon durch die Tür verschwunden.

Sie hätte sie dennoch beinahe gegen die Tür geworfen, doch sie besann sich, ließ sich auf dem Fenstersims nieder und starrte auf die Phiole in ihrer Hand.

Das Sonnenlicht ließ die Flüssigkeit unschuldiger aussehen, als sie eigentlich war. Wenn sie das trank, würde sie Lucious heiraten können, was ihr als grauenvoller Gedanke erschien. Und doch würde es ihr eine der mächtigsten Positionen im Reich eröffnen. Wenn sie das trank, wäre alles, was von Thanos noch übrig war, vernichtet.

Stephania saß da ohne zu wissen, was sie tun sollte. Langsam begannen Tränen ihr über die Wangen zu kullern.

Vielleicht sollte sie die Flüssigkeit einfach trinken.

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