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KAPITEL EINS

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Als Lenore aufwachte, dachte sie für einen wundervollen Moment, dass alles ein Albtraum gewesen war. Sie konnte die weiche Matratze unter sich fühlen und sog den simplen Komfort des Zimmers in dem Gasthaus in sich auf, und sie nahm an, dass die schrecklichen Dinge, an die sie sich erinnerte, nicht mehr als die Schrecken der Dunkelheit gewesen sein mussten. Sie konnten nicht real sein, sie …

Sie waren real. Lenore erkannte es eine Sekunde später, als ihr Bewusstsein vollends erwachte, an den blauen Flecken und den Schmerzen in ihrem ganzen Körper. Sie schüttelte den Kopf und versuchte, nicht darüber nachzudenken, wo sie war, aber die Gedanken fluteten herein wie der Ozean und sie konnte sie nicht zurückhalten.

Die Stillen Männer, die König Ravin nach ihr ausgesandt hatte, hielten sie hier fest, sie war eine Gefangene. Als sie versucht hatte, sich zu befreien, hatten sie sie geschlagen. Eoris und Syrelle waren die schlimmsten …

Lenore zwang sich, sich umzusehen und an etwas anderes zu denken.

In diesem Moment war außer ihr niemand in diesem Raum oben im Gasthaus und Lenore wusste, dass dies ihre einzige Chance sein könnte, um lebend aus dieser Situation herauszukommen. Lenore zitterte und zwang sich, den Schmerz, den sie bei jeder Bewegung spürte, zu ignorieren, als sie aufstand.

Sie fiel sofort wieder auf das Bett zurück, doch sie konnte sich noch fangen, sodass sie nicht auf den Rücken fiel. Wenn sie sich zurückfallen ließ, würde sie nicht wieder aufstehen und dann bliebe ihr nur übrig, darauf zu warten, dass sie sie in das Land von König Ravin brachten.

Ich werde stark sein, sagte sie sich.

Erneut zwang sie sich, aufzustehen. Sie sah jetzt nicht mehr wie eine Prinzessin aus. Ihr Kleid war von der Gewalt ihrer Gefangennahme zerrissen, aber Lenore zog es trotzdem wieder an und band die zerrissenen Teile so gut sie konnte zusammen.

Auf leisen Füßen schlich sie zur Tür. Draußen konnte sie Eoris und Syrelle sprechen hören und Lenores Herz hämmerte in ihrer Brust, aus Angst, dass sie gleich wieder hineinkommen könnten.

“… sicher, dass wir keine Zeit haben, hier noch ein wenig mit der Prinzessin zu verweilen?“, fragte Syrelle mit ihrer nörgelnden, halb irrsinnigen Stimme.

„Wir müssen sie zurück in den Süden bringen, meine Liebe“, sagte Eoris. „Und wenn du sie zu sehr verletzt, wird sie schwer zu transportieren sein.“

„König Ravin ist ein Spielverderber“, sagte Syrelle.

„Und wenn ich ihm erzähle, dass Ihr das gesagt habt, was glaubt Ihr, wird er Euch antun?“, schoss Eoris zurück. „Nein, wir gehen in einer Stunde. Wir werden zur nächsten Brücke gehen und sie sehr bald schon überqueren. Denkt daran, einige der Dienstmädchen am Leben zu lassen. König Ravin möchte, dass sie reden.“

Er wollte, dass sie reden? Lenore schauderte zwischen der Erleichterung, dass zumindest einige ihrer Dienstmädchen noch am Leben waren, und dem Entsetzen über all die Dinge, die sie an ihrer Seite erlitten haben mussten, der Angst, wie viele von ihnen gestorben sein könnten, und der Verwirrung, denn warum sollte König Ravin wollen, dass irgendeine von ihnen überlebte, um den Leuten zu sagen, dass er König Godwins Tochter gefangengenommen hatte?

Das war in diesem Moment jedoch nicht wichtig. Das einzige, was zählte, war ihr Versuch, zu entkommen. Sie hatte es schon einmal versucht und war noch nicht einmal bis zu den Ställen gekommen. Wie sollte sie nun entkommen können, wenn sie schon bei ihrem früheren Versuch erwischt worden war, als sie gezeigt hatten, dass sie ihr einen Schritt voraus waren?

Nein, sie würde nicht aufgeben, sie durfte es nicht. Sobald sie sie über den Fluss hinaus gebracht hatten, würde ihre Hoffnung, je wieder nachhause zurückzukehren, sterben … wie konnte jemand hoffen, von dort zu fliehen? Es musste jetzt sein, während sie beschäftigt waren; während sie immer noch glaubten, dass sie hilflos auf ihrem Bett lag.

Lenore wusste, dass es keine Fluchtmöglichkeit durch die Tür gab und ging zum Fenster hinüber. Das Fenster war alt, das Holz abgesplittert und die Läden gaben nicht nach, als sie versuchsweise daran ruckte. Als sie die Fensterläden auseinanderdrückte, war Lenore sicher, dass es laut knarren und protestieren würde, und jedem, der es hörte, verriet, was sie tat. Lenore öffnete sie und erstarrte und wartete darauf, ob es eine Reaktion gab. Doch niemand stürmte in den Raum, niemand schrie oder schlug Alarm.

Lenore blickte auf den Boden unter ihr. Da war ein niedriges Dach, dass zu der Etage unter ihr gehörte und darunter sah sie den offenen Raum hinter dem Gasthaus, mit einem Innenhof, der zu den Ställen führte. Darin befanden sich jetzt Leichen, die man auf einen Haufen gezogen hatte, als wären sie nur Abfall, etwas, das für die Stillen Männer, die sie getötet hatten, überhaupt keine Rolle spielte. Lenore konnte jetzt einige dieser Stillen Männer sehen, die nun nicht mehr Bauernkleidung trugen, sondern in dunkles Leder und glanzlose schuppenartige Rüstung gekleidet waren – sie sahen aus, als wären sie bereit, gegen eine ganze Armee zu kämpfen.

Eine Frau stand über einer Gruppe von vier von Lenores Dienstmädchen. Sie waren so weit entfernt, dass Lenore nicht erkennen konnte, wer sie waren. Sie zeigte auf zwei von ihnen und bedeutete ihnen, zu rennen. Dann hob sie eine kleine, handgroße Armbrust.

„Nein“, flüsterte Lenore entsetzt, als der erste Bolzen herausschoss. Er traf das erste Dienstmädchen mitten im Rücken und sie fiel in den Dreck. Schreiend stand sie wieder auf und sah zurück zu dem, der sie angeschossen hatte …

Das bedeutete jedoch nur, dass der zweite Bolzen sie mitten in die Brust traf.

Lenore wollte auch schreien, ihr Herz brach beim Anblick des unschuldigen Mädchens, das ihr fast wie eine Freundin war und die ohne Grund ermordet wurde. Sie schrie jedoch nicht, denn dann wäre es vorbei gewesen; es hätte keinen Ausweg gegeben. Sie konzentrierte sich auf diejenige, die noch rannte und wusste, dass so mindestens eine von ihnen frei sein würde.

Lenore wartete, bis sie beobachtete, dass sich die Stillen Männer alle in verschiedene Richtungen bewegten, um sich den Vorbereitungen für die Abreise zu widmen, sodass niemand auf sie achten würde. Als sie ihren Moment  gekommen sah, nahm Lenore all ihren Mut zusammen und kletterte aus dem Fenster. Ihre Schritte knirschten auf dem überhängenden Dach des unteren Gebäudeteils und sie hoffte, dass es ihr Gewicht tragen würde.

Sie schlich geduckt bis an die Dachkante, überprüfte, ob sich niemand darunter befand, und versuchte, beim Blick in die Tiefe nicht laut nach Luft zu schnappen. Sie konnte es tun; Sie musste es tun. Lenore schwang sich von der Seite des Daches, hielt sich einen Moment mit ihren Händen am Dach fest, holte Luft und ließ sich fallen.

Sie schlug hart auf dem Boden auf und es verschlug ihr den Atem, was nur gut war, weil es Lenore davon abhielt, laut genug zu schreien, um gehört zu werden. Sie rollte sich auf die Knie, wartete darauf, dass sich ihr Kopf nicht mehr drehte, und zwang sich, wieder aufzustehen. Sie stand auf und lief in den Schatten des nächsten Gebäudes.

Diesmal versuchte sie es gar nicht erst mit dem Stall. Es waren zu viele Stille Männer in der Nähe und ein Pferd unter ihrer Nase zu entwenden, ohne entdeckt zu werden, war unmöglich. Stattdessen wusste Lenore, dass ihre beste Chance darin bestand, sich zu Fuß vom Gasthaus zu entfernen, in den Bäumen und Büschen in der Nähe der Straße zu bleiben und zu hoffen, dass einer ihrer Brüder mit den Männern anrücken würde, die längst schon hätten da sein sollen, um sie zu beschützen …

Warum waren sie nicht gekommen? Warum waren sie nicht da gewesen, um sie zu retten? Vars war geschickt worden, um sie zu beschützen, und Rodry hatte gesagt, dass er diese Aufgabe auf halbem Wege übernehmen würde, bevor die Hochzeitsernte begann, aber keiner von ihnen war dort gewesen, als Lenore sie brauchte. Jetzt war sie allein, musste sich aus dem Dorf schleichen und hoffte die ganze Zeit, dass sie den Stillen Männern lange genug ausweichen konnte.

Sie ging weiter; es war jetzt nicht mehr weit. Nur ein paar Dutzend Schritte und sie hätte das Dorf hinter sich gelassen. Sobald sie die offene Fläche dahinter erreicht hatte, konnten sicherlich nicht einmal die Stillen Männer sie finden?

Dieser Gedanke gab ihr genug Antrieb, weiterzumachen. Lenore kroch vom Schatten eines Gebäudes zum nächsten. Sie war fast da, fast hatte sie es erreicht.

Vor ihr lag ein Stück offenes Gelände, und Lenore erstarrte am Rand, wartete und sah nach links und rechts. Sie konnte niemanden entdecken, aber sie wusste bereits, wie wenig das bei solchen Leuten bedeutete. Aber wenn sie da stand und nichts tat …

Lenore rannte, so weit sie konnte, angesichts der Tatsache, dass ihr Körper bei jedem Schritt schmerzte, und stürmte vorwärts, um die Sicherheit hinter dem offenen Gelände zu erreichen. Hinter sich hörte sie einen Schrei aus dem Gasthaus und sie wusste, dass Eoris oder Syrelle in den Raum gegangen waren, in dem man sie zurückgelassen hatte, und entdeckt hatte, dass sie geflohen war. Der Gedanke, dass sie sie verfolgen könnten, trieb sie an, noch schneller zu laufen und zu dem bewaldeten Stück neben der Straße zu rennen, wo sie sich verstecken konnte.

„Dort!“, rief eine Stimme und sie wusste, dass sie sie entdeckt hatten. Sie lief weiter, denn sie wusste nicht, was sie sonst tun sollte, sie wusste nur, dass sie sie wieder in ihren Klauen haben würden, wenn sie stehenblieb.

Sie konnte nicht mehr schneller rennen, aber sie war jetzt zumindest zwischen den Bäumen und Büschen neben der Straße. Ihr Atem kam keuchend als sie rannte und sich nach links und rechts bewegte, um ihren Verfolger zu entgehen.

Lenore hörte Schritte hinter sich und lief um einen Baum herum, ohne es zu wagen, zurückzublicken. Ein weiterer Baum lag vor ihr, und sie wusste, dass dahinter dichteres Grün lag, wenn sie nur darum herumkommen konnte. Sie könnte sie dort vielleicht abschütteln, aber zuerst musste sie sich entscheiden. Links oder rechts … links oder rechts …

Lenore ging nach links und wusste sofort, dass es die falsche Wahl war, als starke Hände sie packten, das Gewicht des Mannes sie hart auf den Boden drückte und ihr den Atem raubte. Sie versuchte zu kämpfen, aber sie wusste bereits, wie wenig sie ausrichten konnte. Er riss ihre Hände hinter ihren Rücken, band sie dort fest und zog sie dann hoch.

Der Mann, der dort stand, war Ethir, der sie im Stall gefangen hatte; der erste, der … Er hob sie mit Leichtigkeit hoch und stellte sie auf ihre Füße.

„Ihr werdet es bereuen, dass Ihr versucht habt, zu fliehen, Prinzessin“, sagte er mit seiner sanften Stimme. „Wir werden sicherstellen, dass Ihr es bereuen werdet.“

„Bitte“, bat Lenore, aber es machte keinen Unterschied. Ethir zog sie zurück zu den wartenden Pferden und der Reise nach Süden und näher an jeden Moment des Grauens, der sie hinter den Brücken die aus dem Königreich herausführten, erwartete.

Thron der Drachen

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