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BIOGRAPHISCHES ALS GERICHTSREPORTER IN DER VOSSISCHEN

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Im Mai 1928 befand ich mich im Auftrage meines Blattes und des Verlages auf einer Rundreise durch Holland, die vom Verein der Amsterdamer Presse aus Anlaß der bevorstehenden Olympiade veranstaltet wurde. Auf der letzten Station, im Haag, als wir im Begriffe waren, uns zu einem der vielen Festmähler niederzulassen, begrüßte unser dortiger Korrespondent mich mit der Frage: „Was sagen Sie zu Slings Tode?“ Ich erschrak tief: ich hatte einen Freund völlig unerwarteter Weise verloren. Was ich nicht ahnte, war, daß diese Trauerbotschaft für mich in einen Glücksfall umschlagen sollte.

Sling, mit seinem bürgerlichen Namen Paul Schlesinger, hatte in seinen jungen Jahren dem literarischen Kabarett „Die elf Scharfrichter“ in München angehört, das durch die Teilnahme Frank Wedekinds seinen Rang und seine Weihe erhielt. Aus jener Zeit pflegte Sling zu erzählen, sie wären am Sylvesterabend trübselig im Hinterzimmer ihres Stammkaffees zusammengewesen. Dort hätte ein Gönner sie aufgestöbert und, die Situation durchschauend, sich vernehmen lassen: „Übrigens, meine Herren, da fällt mir ein, ich bin jedem von Ihnen noch zehn Mark schuldig“. Worauf Sling eingewandt haben soll: „Entschuldigen Sie, Herr Baron, bei mir waren es zwanzig.“ Dies sei ihm nur angehängt worden, behauptete Sling, und so war es gewiß. Später ging er zur Presse, gehörte zur Redaktion eines Schweizer Blattes und hatte als ganz junger Eleve Dienst an jenem denkwürdigen Sonntag, als das Luftschiff des Grafen Zeppelin seine erste große Fahrt antrat. Er sah die Wichtigkeit der ersten Meldung, veranlaßte die Herausgabe eines Extrablattes und verfolgte den Kurs des Lenkballons mit immer neuen Extrablättern bis zu der Katastrophe von Echterdingen. Die Größen der Redaktion und des Verlages, die den Sommersonntag im Freien verbracht hatten, kamen am Abend herbeigeströmt, um sich ihr Teil an der Tüchtigkeit des Blattes zu sichern, und waren sehr verblüfft, als spiritus rector der ganzen Aktion den jungen Schlesinger vorzufinden. In späteren Jahren wurde er Ullstein-Korrespondent und saß als solcher lange Jahre in München, geschätzt, ohne hervorzuragen. Als die Inflation Einschränkungen erzwang, wurde er nach Berlin zurückberufen, und es fragte sich für ihn, was nun? Er kam mit dem Plan, wie er sich selbst später mir gegenüber ausdrückte, „Berlin zu schreiben“. Er begann sofort mit kleinen Plaudereien, die er fast täglich zu liefern vermochte und in denen er das Berlin einer gewissen bürgerlichen Schicht aufzufangen wußte. Geistvolles Spiel und melancholischer Humor wurden in künstlerisch geschliffener Form vorgeführt. Für diese Veröffentlichungen erdachte er sich die Chiffre Sling. Sie fanden sofort heitere Resonanz, die Leser ergötzten sich schmunzelnd an den einfallsreichen und vielsagenden Anekdoten und genossen zugleich das literarisch anspruchsvolle Niveau. Binnen Kurzem hatte sich das schlagkräftige Pseudonym Ansehen und Popularität erworben.

Sling besaß jene geheimnisvolle Qualität, die den Erfolg macht. In den wenigen Jahren seiner journalistischen Berühmtheit, die ihm vergönnt waren, schrieb er mehrere Theaterstücke, einen Roman, Kinderbücher und vieles andere. Keine von diesen Arbeiten fand ich bedeutend, aber jede gelangte an die Öffentlichkeit und erntete Beifall. Er verfügte zugleich über das Talent, sich selbst zu lanzieren. Man sagte von ihm, wenn er zum Verlag gerufen würde, weil ihm gekündigt werden sollte, so käme er mit einer Gehaltserhöhung wieder heraus. Eins seiner Rezepte, um sich beliebt zu machen, hat er mir eines Tages uneigennützig verraten. „Ich gehe niemals“, so lautete es, „zu einem der Verleger oder Direktoren, ohne zu wissen, welchen Witz ich binnen fünf Minuten machen werde.“ Er machte sehr gute Witze, die besten unvorbereitet.

Aber auch ein fruchtbarer Schreiber kommt in Gefahr, sich zu erschöpfen, wenn er von sich täglich oder fast täglich Einfälle fordert. Dies erfuhr auch Sling, und so verfiel er auf den Ausweg, Kriminalprozessen beizuwohnen. Seine Absicht war dabei nur, sich Stoff zu holen, um weiter „Berlin zu schreiben“.

Dieser Umweg erwies sich in seiner schriftstellerischen Karriere als ein neuer oder erst der eigentliche Treffer. Gerichtsberichterstattung war bis dahin ohne jeden literarischen Ehrgeiz abgemacht worden. Er zuerst gab ihr Niveau und sogleich das des höchsten Anspruches. Er zuerst zeigte den Angeklagten als einen Menschen nicht nur, sondern als deinen und meinen Mitmenschen. Er zuerst sah und enthüllte das Menschliche auch in den gerichtlichen Amtspersonen. So, während er fortfuhr, Berlin zu schreiben, wuchsen seine Anekdoten zu Enthüllungen der Kreatur, wie sie von einem unerforschlichen Schicksal bald in die Rolle des Gerichteten, bald in die des Richters gedrängt wird. Täglich breitete er seine Moabiter Fälle aus, gelegentlich auch Fälle der Provinz, die abwechselnd Fälle des Sünders oder des Richters oder des Anklägers oder des Verteidigers waren. Niemals bei aller Sachlichkeit begnügte er sich mit dem trockenen Bericht, sondern er durchleuchtete das Stückchen Leben mit Geist oder milderte seine Kraßheit, durch Humor, und hielt jeder Schwachheit und Unzulänglichkeit ein menschenfreundliches Verständnis bereit.

Diese völlig neue Art, die Vorgänge der Kriminalgerichte zu betrachten, wurde mit Enthusiasmus aufgenommen, nicht nur von den Lesern, sondern auch in juristischen Kreisen. Allmählich, ohne daß er danach gestrebt hatte, entwickelte er sich zu einem fachmännischen Kritiker des forensischen Vorganges, dessen Rat gesucht, dessen Feder zugleich gefürchtet war. Er gewann Einfluß, und diese oder jene Begnadigung und diese oder jene Personalveränderung lassen sich auf sein gedrucktes Wort zurückführen. Sein Beispiel machte Schule: bald mußte jede Berliner Zeitung ihren kleinen Sling haben, bisweilen höchst unzulängliche Nachahmungen des Originals.

Kurze Zeit, nachdem Paul Schlesinger von München nach Berlin übergesiedelt war, näherten wir uns einander. Ich rechne es zu den besten Errungenschaften meines Lebens, daß er es war, der meine Freundschaft suchte, und daß er es war, der das Du zwischen uns herbeiführte. Er vertraute mir manches an, was er ande­ren nicht offenbart haben dürfte, und so erfuhr ich von ihm auch nach Verlauf einiger Jahre, daß er fand, er habe nun genug Moabiter Slings geschrieben und sollte sein Gebiet wechseln. Daß dies leichter gesagt als getan sei, fügte er gleich hinzu. Indessen die Entscheidung wurde ihm abgenommen: kurz nach seinem 50. Geburts­tag, den er fast übermütig gefeiert hatte, starb er, völlig unerwartet, selber in keiner Weise auf das Ende gefaßt, mitten im Schaffen und im Erfolg. Er ist, wie mir scheint, unvergessen, nicht nur als Mensch bei denen, die ihn gekannt haben, sondern auch mit seiner Leistung. Der Sammelband der besten seiner Gerichtsberichte, die der Verlag Ullstein nach seinem Tode unter dem Slingschen Titel „Richter und Gerichtete“ herausgab, leuchtet und sprüht heute, in dieser völlig veränderten Welt, so hell wie zu der Zeit, da die Beiträge aus der Lebendigkeit des Tages hervorgesprudelt sind.

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Es entstand nun die Frage, ob diese Art von Gerichtskritik fortgesetzt werden sollte und wer sie fortsetzen könnte. Der „Vossischen Zeitung“ hatte die Chiffre Sling eine starke Anziehung verliehen, und es war gewiß, daß die Leser sie vermissen würden. Aber ließ sich der Stil des Verstorbenen nachahmen? Oder würde etwas anderes, das man etwa an die Stelle setzte, den gleichen Beifall finden?

Von den Erwägungen, die darüber an der maßgebenden Stelle stattfanden, kenne ich nur das Ergebnis: ich wurde aufgefordert, mit einer Respektspause von wenigen Wochen Slings Platz einzunehmen. Das hatte für mich zunächst die sehr erwünschte Folge, daß ich den Posten eines stellvertretenden Leiters der Lokalredaktion aufgeben durfte und von redaktionellem Bureaudienst überhaupt befreit wurde. Fortan brauchte ich nur zu hören, zu sehen und zu schreiben. Über die Schwierigkeit der Aufgabe täuschte ich mich nicht: Meine Bemühungen würden mit einem sehr anspruchs­vollen Maße und von manchen Beurteilern mit viel Mißgunst und hähmischer Besserwisserei gemessen werden. Julius Elbau setzte voraus, wie er mir ohne Schonung eröffnete, es würden erst drei oder vier Bewerber ausprobiert werden, ehe man sich mit einem endgültig zufrieden gäbe. Dr. Franz Ullstein hingegen, die oberste Instanz der Tageszeitungen und der eigentliche Chef des Hauses, ermutigte mich mit dem Zuspruch: „Lassen Sie sich ruhig Zeit, sich einzuarbeiten.“ Es waren die menschlichsten Worte, die ich je von ihm vernommen habe, eigentlich die einzig menschlichen.

Obwohl ich den Auftrag nicht erwartet hatte, so war ich doch, seltsamer Weise, kein unbeschriebenes Blatt auf diesem Gebiet. Zunächst hatte ich Sling gelegentlich vertreten. Außerdem aber durfte ich auf so etwas wie eine spezielle Vorbereitung hinweisen: In den Anfängen meines Dienstes in der Lokalredaktion, als noch von keinem Sling die Rede war, hatte ich vorgeschlagen, ich würde eine Zeit lang als einfacher Zuschauer Gerichtsverhandlungen beiwohnen und dann über meine Beobachtungen und Erfahrungen schreiben. Das war der Redaktion recht, und ich tat so. Die Ergebnisse faßte ich für die „Vossische Zeitung“ zusammen in einem Zyklus von drei großen Aufsätzen unter dem gemeinsamen Titel: „Vom Tagewerk der Justiz“. Ich finde, daß alle wesentlichen Erkenntnisse meiner jahrelangen Tätigkeit auf den Gerichten darin schon enthalten sind. Georg Bernhard suchte mich in meinem Redaktionszimmer auf und fragte mich, ob ich nicht fortfahren möchte, über Gerichte zu schreiben. Damals also hätte ich Sling werden können lange vor Sling. Aber ich hatte nicht die Vision, ich sah die Möglichkeiten nicht voraus, wie ja auch Sling selber ahnungslos diese Bahn betrat, und so lehnte ich ab.

Der Auftrag des Verlages enthielt die Bedingung, daß ich unter der Chiffre Inquit schreiben sollte. Dieses Pseudonym war nicht ihm eingefallen, sondern mir. Ich weiß nicht mehr, wie ich darauf verfiel, wohl aber, wann und wo es geschah. Während des ersten Weltkrieges stand ich Posten vor einem französischen Dorfe, an einer Stelle, an der es nichts zu bewachen gab, durch Wochen täglich und nächtlich viele Stunden. Dabei konnte man sich allerlei durch den Kopf gehen lassen, namentlich ungestört Pläne für die Zukunft schmieden. Und in Verbindung mit ihnen begegnete mir dieses geläufige Wort aus der Lateinstunde als ein passender, nämlich origineller und doch leicht zu merkender Deckname. Bei der „Vossischen Zeitung“ hatte ich das Pseudonym dann verwendet, nicht sehr häufig, für Beiträge, mit denen ich unwichtige Ereignisse glossierte. Darauf also griff der Verlag jetzt zurück, und vielleicht verfuhr er damit nicht ungeschickt. Am 25. Juni 1928 schrieb ich meinen ersten Gerichts-Inquit „Banderolen“.

Damit begannen die fünf besten Jahre meines Lebens. Ich schlug nicht gleich ein, wie das Sling seinerzeit gelungen war; ich mußte mich erst zurechttasten und für diese Art von Schreibe­rei meinen Stil finden. Die Aufsichtsinstanzen des Verlages überwachten mich scharfen Auges und zu Tadel gern bereit. Indessen ich setzte mich durch. Nach einer gewissen Zeit war nicht mehr die Rede davon, daß ich durch einen anderen abgelöst werden könnte. Daß ich mit Sling verglichen wurde, ließ sich nicht vermeiden. Manche zogen ihn vor; andere fanden mich besser. Im Übrigen versuchte ich in keiner Weise, ihn nachzuahmen; sondern, indem ich die überlieferte Art im Ganzen beibehielt, machte ich meine Sache so, wie es meinem Wesen und meiner Begabung entsprach. Allmählich wurde auch aus mir ein Erfolg, und ich glaube, er stieg mit den Jahren; wenn ich auch nie Slings Popularität erreichte. Denn er unterstützte sein literarisches Werk durch persönliche Verbindungen, während ich aus der Isolierung nie völlig herauskam. In mancher Beziehung machte ich dieselben Erfahrungen wie er. Auch bei mir wuchs die Hochachtung vor dem deutschen Strafrichter, je länger ich ihn beobachtete. Umso größer freilich war dann die Enttäuschung, als er vor den Machthabern des Dritten Reiches überall völlig versagte. Auch ich empfand nach einer gewissen Zeit: jetzt ist es genug, ich sollte mich auf ein neues Gebiet werfen. Denn literarisch gesprochen waren schließlich alle Möglichkeiten ausgeschöpft. Man sollte nicht glauben, daß etwa Totschläge aus Eifersucht einförmig werden können. Aber sie spielen sich ab wie über den selben Leisten geschlagen. Alle möglichen Fälle waren wiederholt und immer noch einmal vorgekommen, aus dem ganzen Strafgesetzbuch hatte ich schließlich nur zwei Verbrechen nicht erlebt: Verursachung einer Überschwemmung und Sodomie. Das erste stand einmal zur Verhandlung an, aber es wurde nichts daraus. Das zweite kam nie in Sicht. Einen Ersatz für meine Gerichts-Inquits zu finden, wäre auch für mich nicht leicht gewesen; aber auch mir wurde die Entscheidung abgenommen.

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Wenn ich gefragt würde, was ich über diese Art von Journalistik denke und ob ich sie wieder aufnehmen möchte, so ist die Antwort nicht ganz einfach. Die Regel, daß Gerichte öffentlich verhandeln, in allen Kulturstaaten anerkannt, bedeutet keine bloße Formalität. Ihr Sinn ist vielmehr, daß die Richter in ihrer schicksalsvollen Tätigkeit kontrolliert werden sollen. Aber das Publikum, das in beschränkter Zahl zugelassen wird und sich auf ein paar Bänken im Hintergrunde drängt, von denen aus es meist nicht deutlich sehen noch verstehen kann, hat garkeine kontrollierende Macht. Sollte es sich einfallen lassen, Zustimmung oder Widerspruch zu äußern, so droht der Vorsitzende mit Räumung, die er ohne Weiteres durchführen kann. Sogar darf er Störenfriede kurzer Hand vor die Schranken rufen und bestrafen. Eine wirksame Öffentlichkeit stellt nur die Presse dar, und eine wirksame Kontrolle kann nur von ihr ausgehen.

Wenn es jemals wichtig war, die deutschen Gerichte unter Kontrolle zu nehmen, so ist es heute der Fall, nämlich um nachzuprüfen, wie sie jetzt, nach dem Dritten Reich, arbeiten und ob sie zum Recht zurückgefunden haben. Aber jene unbeschränkte Kritik, die wir uns damals herausnehmen durften, weckt doch starke Bedenken. Es gehört nämlich nicht viel dazu, ein Urteil abfällig zu kritisieren. Der Journalist, der das tut, verfügt zunächst einmal nicht über den vollen Umfang der erreichbaren Information, selbst wenn er der Verhandlung von Anfang bis zu Ende beigewohnt hat und selbst wenn ihm kein Wort entgangen sein sollte. Denn ihm steht nicht das Recht des Fragens zu, das er hätte ausüben dürfen, wenn er selbst ein Mitglied der Urteilskammer gewesen wäre. Ferner aber: es ist kinderleicht, als Außenstehender ohne richterliche Verantwortung milder zu sein als das Gericht, oder auch strenger. Wer weiß, wie der Spruch dieses selben Menschen ausgefallen wäre, wenn er mit von ihm abgehangen hätte, in seiner Eigenschaft als Richter unter seiner Berufspflicht oder als Geschwo­rener oder Schöffe unter seinem Eid; ein Spruch, den er vor seinem Gewissen verantworten müßte. Kritik ist gewiß im Ganzen heilsam, nicht, weil Richter das Recht zu beugen pflegen, sondern weil das, was sie für göttliches Recht halten, abhängt von ihren sozialen Vorurteilen und ihren polischen Anschauungen. Daß ihre Welt nicht die ganze Welt bedeutet, und daß ihre Zeit nicht ewig dauert, das sollte ihnen immer wieder ins Bewußtsein gerufen werden. Aber um dieses Amt auszuüben, dazu gehört ein überlegener, unvoreingenommener und höchst gewissenhafter Mensch. Ich glaube, daß Sling mit seiner wohlwollenden Überwachung im Wesentlichen Gutes gestiftet hat, und ich darf vielleicht dasselbe für mich in Anspruch nehmen. Indessen daß ungeprüft jeder, den irgendeine Redaktion auf die Gerichte schickt, ohne Beschränkung kritisieren darf, sogar noch bevor ein Urteil gefällt worden ist – in angelsächsischen Ländern völlig undenkbar –, das heißt denn doch wohl, den Grundsatz übertreiben. Öffentlichkeit der Gerichte ist heilsam und notwendig, aber Schutz der Richter darf darunter nicht leiden.

Denn obwohl in einer Verhandlung manches sich abspielt wie auf der Bühne, so ist doch das Gericht kein Theater. Und grade darin liegt die Hauptgefahr der unbeschränkten Kritik: sie kann den Richter dazu verleiten, für die Presse zu spielen. Es gibt Richter, denen es völlig gleichgültig ist, was die Zeitungen sagen. Aber es fehlt auch nicht an solchen, die erstens in der Zeitung überhaupt erwähnt und zweitens gelobt sein wollen; namentlich wenn sie sich eine günstige Wirkung auf ihre Karriere versprechen davon, daß sie mit einem gewissen Strom der öffentlichen Meinung übereinstimmen oder übereinzustimmen scheinen. Ich war schließlich im Moabiter Kriminalgericht bekannt, und man wußte im Großen und Ganzen, wie ich über Dinge und Menschen dachte. Nicht ganz selten habe ich bemerkt, wie der Verhandlungsleiter, wenn ich den Saal betrat, seinen Ton gegenüber dem Angeklagten änderte.

Aber es bleibt für den Journalisten im Gerichtssaal noch eine andere Aufgabe, die ich für außerordentlich wichtig halte und von deren geschickter und verständnisvoller Lösung ich eine höchst segensreiche Wirkung erwarte; nicht auf das Gericht, aber auf die Leser. Der Bürger im Allgemeinen ist überzeugt, er sei unbestraft, weil er nie gegen die Gesetze verstoßen habe; und er habe nie gegen sie verstoßen, weil er ein anständiger Mensch sei. Er teilt infolgedessen seine Mitbürger in zwei Klassen: die Guten, die man daran erkennt, daß sie unbestraft sind; und die Bösen, das sind die Vorbestraften, mit denen man nichts zu tun haben darf. Ihm muß klar gemacht werden, daß er vielleicht nur deswegen nie gegen die Gesetze verstoßen hat, weil er nie in Versuchung geführt worden ist; und man muß ihm einen Begriff geben von der Schwierigkeit und Härte des Lebens, das diejenigen zu führen gezwungen sind, denen es nicht so gut geht wie ihm, besonders das Proletariat oder auch die untere Beamtenschaft, die eine Familie zu ernähren und Kinder aufzuziehen haben mit einem monatlichen Einkommen von 150 oder 120 Mark (nach Maßstäben vor dem Dritten Reich). Man muß diesen Bürger auch darüber aufklären, daß die Strafe nicht damit abgetan ist, daß der Verurteilte auf eine gewisse Zeit eingesperrt wird; daß vielmehr das Martyrium erst anfängt, wenn er wieder ins Leben tritt und die Gesellschaft in Feindseligkeit und Mißtrauen verschlossen findet. Der ahnungslose Hochmut der Unbescholtenen drängt den Menschen, der einmal gestrauchelt ist, erbarmungslos ins Verbrechen zurück. Vor dem Dritten Reich bemühten sich in Deutschland warmherzige Menschen, hier helfend einzugreifen, indem sie Aufklärung zu verbreiten suchten und dem Strafentlassenen materiell und moralisch beistanden. Unter den Nazis, mehr unter ihrer Dummheit als unter ihrer Rohheit, sind alle diese Anfänge wahrscheinlich zerstört worden. Doch braucht nicht Deutschland allein solche öffentliche Schulung, auch anderswo weiß der Bürger zu wenig von den Zusammenhängen zwischen Not und Verbrechen. Die Gerichtsberichterstattung nach der soziologischen Seite hin zu erweitern, bleibt also eine dringende und lohnende Aufgabe. Aber auch hierfür müßten die Schreiber mit Sorgfalt ausgewählt werden. Denn es darf auch wieder nicht auf eine zu große Nachsicht oder gar auf eine Verherrlichung des Rechtsbrechers hinauslaufen, auf eine neue Art von Räuberromantik.

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Es konnte nicht fehlen, daß, während ich das Kriminalgericht in seinem Tagewerke mit meiner Feder begleitete, die Zeitgeschichte sich widerspiegelte. Da war die große Arbeitslosigkeit, für ungezählte Tausende die Jugendzeit ohne Hoffnung und Freude. Da war der schwelende Bürgerkrieg zwischen den Angehörigen dieser Jugend, von denen die einen in den Radikalismus von rechts, die anderen in den Radikalismus von links gerieten, niemand wußte zu sagen, nach welchem Gesetz der Auswahl. Da waren die Prominenten der Nazis, zynisch und selbstgewiß auf den nahen Tag wartend, der sie an die Macht bringen würde. Nicht wenige von ihnen habe ich in Moabit auftreten sehen. Hitler selbst erschien einmal als Angeklagter, in einem belanglosen Prozeß wegen eines Pressevergehens, einmal als Zeuge für eine Gruppe halbwüchsiger Anhänger, die einen Überfall auf eine Gruppe der Gegenseite verübt hatten. Dabei fanden die Anwälte Gelegenheit, dem nichtsahnenden und hilflosen Gericht auf der Nase herumzutanzen, zur höhnischen Freude der Parteigenossen im Zuschauerraum. Goebbels wurde vernommen, von Anhängern bei der Ankunft und bei der Abfahrt mit Jubel gefeiert, durfte reden, was ihm beliebte, während niemand ihn zu zwingen wagte, auf die Fragen zu antworten, die ihm vorgelegt wurden. Gregor Strasser mußte sich verteidigen, auch wegen Pressevergehens, und außer daß er sich nicht zu schade war, die jüdischen Anwälte der Gegenseite mit billigen antisemitischen Flegeleien zu ärgern, machte er den Eindruck eines Kumpanen, mit dem sich gut arbeiten und gut pokulieren läßt. Graf Helldorf, im Dritten Reich Polizeipräsident von Berlin, stand vor Gericht als Anführer des Landfriedensbruches am Kurfürstendamm, mit dem die nahe Zukunft wetterleuchtete. Er setzte gegen seine Ankläger eine kalte Gleichgültigkeit, die ihm im Kugelregen wohl angestanden hätte; warum man sich so aufregte, fragte er verwundert, es wären „doch blos ein paar alte Juden verprügelt worden“. Frank, der spätere Reichsjuristenführer, wiegte sich selbstgefällig in wohlberechneter Urbanität der Umgangsformen und ließ von Zeit zu Zeit in beliebig markierter Entrüstung seine orgelartige Stimme dröhnen. Auch der entsetzliche Freisler plädierte, damals nichts als ein unbedeutender Anwalt aus Kassel, später Präsident der berüchtigten Volksgerichte; ein aufgeregter Psychopath ohne Geist und Würde.

Die Zeitgeschichte spiegelte sich auch in solch beklagenswerten Prozessen wie dem Familienstreit zwischen dem preußischen Geheimrat Caro und dem tschechischen Kohlenmagnaten Petschek, wobei die beiden Gegner sich auf wohlerzogene Weise mit Dreck bewarfen. Geheimnisvoll kündigte sich hier das Verhängnis an, das sich über der europäischen Judenheit entladen sollte. Und eine Vorahnung der Zukunft lag auch über dem Bruderzwist im Hause Ullstein, bei dem Georg Bernhard, übel beraten, sich auf die falsche Seite stellte. Er bereitete sich eine Niederlage, die ihn seine Stellung kostete. Damit schied er nicht nur von der „Vossischen Zeitung“ und dem Ullsteinhaus, sondern von der Presse überhaupt, wenn er auch mit Artikeln noch hier und da zu Worte kam. Vor den Nazis floh er nach Paris, dann gelang es ihm, ihnen ein zweites Mal nach New York zu entkommen. Dort starb er jämmerlich in einem Hospital des Negerviertels Harlem.

Übrigens beschränkte sich meine Tätigkeit nicht auf das Moabiter Kriminalgericht. Vergebens freilich bemühte ich mich, den Zivilprozeß für unsere Art von Betrachtung zu erobern. Aber dabei stieß man gegen zu viele private Interessen, und der Versuch mußte bis auf gelegentliche Spezialfälle aufgegeben werden. Indessen da waren die vortrefflichen, unparteiischen und weitsichtigen Arbeitsgerichte, aus deren Verhandlungen man meistens Belehrung und Genugtuung davontrug. Sie blieben unparteiisch und weitsichtig auch, als sie schon über Entlassungen unerwünschter Personen durch die Nazis, zum Beispiel aus dem Rundfunk, zu entscheiden hatten. Vor dem Bühnenschiedsgericht durfte ich die vollkommenen, damals noch völlig unberühmten, aber schon großherzig zur Schau gestellten Beine der jungen Marlene Dietrich bewundern, die sich zu verantworten hatte wegen eines Kontraktbruches, zu dem sie sich gezwungen glaubte, um ihr erstes Engagement in Hollywood anzutreten. Sie mußte Konventionalstrafe zahlen, aber wenn sich je eine Ausgabe gelohnt hat, so war es diese. Gerichte der Behörden zog ich in meinen Kreis, gelegentlich bot das Kammergericht einen geeigneten Fall. Dem wieder aufgenommenen Prozeß gegen Bullerjahn, einen kleinen Angestellten, der wegen Landesverrates furchtbar hart verurteilt worden war, wohnte ich vor dem Reichsgericht in Leipzig bei und war Zeuge des Freispruches. Wichtige Kriminalprozesse führten mich in die Provinz. Im Landgericht Essen, während eines Aufsehen erregenden Mordprozesses, stand eine Gruppe von Presse­leuten auf dem Flur in Bereitschaft für die Telephonverbindung mit ihren Redaktionen. Da trat ein älterer Herr ohne Hut und Mantel, also offenbar zum Hause gehörig, möglicher Weise der Gerichtspräsident, auf uns zu, zeigte mit dem ausgestreckten Arm auf mich und redete mich im schroffsten Ton eines unzufriedenen Vorgesetzten an: „Sind Sie Inquit?“ – Ich schreibe unter der Chiffre Inquit. – „Sind Sie Jurist?“ – Nein, ich bin nicht Jurist. –“ Was sind Sie denn?“ – Von Studium bin ich Germanist. – „Treiben Sie diesen Beruf schon lange?“ – Seit ein paar Jahren. – „Macht Ihnen das denn Spaß?“ – Ich habe viel Freude daran. – Und dann, immer mit der Stimme vorwurfsvoller Gereiztheit: „Lese Ihre Berichte stets mit dem größten Vergnügen. Morjen!“ Drehte sich um und ließ mich verblüfft stehen.

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Am 30. Januar 1933 war Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt worden. Ahnungslos über das, was bevorstand, fuhren wir alle in unserer täglichen Arbeit fort, und so schrieb ich auch weiter meine Gerichts-Inquits. Am 31. März, etwa einen Monat nach dem Reichstagsbrand, zog ein nationalsozialistischer Stoßtrupp durch die Berliner Gerichte und trieb die Juden aus, jüdische Richter, jüdische Ankläger, jüdische Rechtsanwälte, jüdische Pressevertreter. Der Vorsitzende übt bekanntlich die Sitzungspolizei aus. Er hätte zum Schutze seiner Verhandlung bewaffnete Hilfe herbeirufen müssen, er hätte es wenigstens versuchen sollen. Nichts dergleichen geschah irgendwo. An manchen Stellen wurde der körperliche Hinauswurf vollzogen, anderwärts kam der Gerichtshof dem schändlichen Schauspiel zuvor, schloß die Sitzung und machte sich davon.

Eine Gunst des Himmels bewahrte mich davor, persönlich die Schmach zu erdulden: zufälliger Weise war ich an jenem Tage nicht in Moabit. Wie ich mich verhalten hätte, ob ich gegangen oder eigensinnig geblieben wäre, bis sie mich die Treppe hinunter schmissen, vermag ich hinterher nicht zu sagen. Von dieser Stunde an war das Betreten des Gerichts den jüdischen Pressevertretern untersagt.

Immer noch nicht im Bilde über den brutalen Ernst der Lage, schlug ich Goetz vor, ich würde wieder zum Dienst der Lokalredaktion antreten. Er stimmte zu, vorbehaltlich der Einwilligung des Verlages. Der Verlag ließ mir sagen, er sei keineswegs einverstanden, ich könnte „sowieso nicht bleiben“, ich möchte Vorschläge für mein Ausscheiden machen.

Das hieß Vernichtung meiner Existenz ohne die Möglichkeit, in Deutschland irgendeinen Unterschlupf zu finden. Meine Lebens­haltung war sofort aufs Äußerste zu reduzieren, aber die Wohnung und sonstige Verpflichtungen konnte ich nicht einfach loswerden. Meine Vorschläge stützten sich auf den Vertrag mit Ullstein, wonach Kündigung nur möglich war, zu einem bestimmten Termin mit einer Frist von sechs Monaten. Die daraus sich ergebende Summe hielt ich für den Mindestbetrag, den ich fordern mußte, um mich abzuwickeln und den Übergang zu einem neuen Leben zu finden. Das Haus Ullstein, vertreten durch seinen völlig unsentimentalen Verlagsdirektor Richard A. Müller, ging keineswegs darauf ein, zeigte keinerlei Verständnis für meine Lage, leugnete mir ins Gesicht, daß diese Maßnahme antisemitisch wäre, und bot mir schließlich eine Pauschalabfindung von 6000 Mark, weniger, als mir rechtlich zustand. Es blieb mir nichts übrig als zuzustimmen. Am 4. Mai packte ich in der Redaktion meinen Kram zusammen, eine Bureaujacke, ein bißchen Geschirr, einen Seifenbehälter, ein paar Skripturen, und ging. Mit merkwürdig wenig Erschütterung; aber die niedergehende politische Katastrophe und die persönliche Sorge um die Zukunft füllten das Bewußtsein und ließen keinen Raum für Gefühle der Wehmut.

Ich war einer der ersten oder vielleicht überhaupt der erste im Ullsteinhaus, die unter dem Druck der Nazis ausschieden. Mein letzter Gerichtsbericht trug die ominöse Überschrift „Wie schlecht ist ein Mensch?“ Er handelte von einem kleinen Mädchen, das ein Bösewicht in seine Wohnung gelockt hatte, um einen Lustmord an ihm zu begehen. Das Kind besorgte ihm auf seinen Wunsch Zigaretten und ahnte nicht im Entferntesten, wie schlecht ein Mensch sein kann. Aber auch wir Erwachsenen ahnten es damals noch nicht.

Damit hörte ich auf, von Berufs wegen zur Presse zu gehören. Im Ausland, abgesehen von ein paar gelegentlichen Beiträgen, habe ich den Anschluß nicht wieder gefunden.

Ein Mensch wie ich, Autobiographie, 1948 (Auszug)



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