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Prolog: Von Bern nach Rio de Janeiro in sechs Jahrzehnten

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„Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen – Rahn schießt – Tooooor! Tooooor! Tooooor! Tooooor!“

(Radioreporter Herbert Zimmermann beim Weltmeisterschafts-Endspiel 1954 in Bern)

„Mach ihn! Maaach ihn! Er macht ihn!“

(TV-Kommentator Tom Bartels beim Weltmeisterschafts-Endspiel 2014 in Rio de Janeiro)

Die Füße tragen mittlerweile schwer. Knapp 60 Jahre nach dem legendären Weltmeisterschaftsfinale von Bern humpelt Hans Schäfer über eine große Einkaufsstraße im Kölner Westen. Gut 50 Meter könne er noch gehen, so Schäfer, das rechte Knie mache ihm Probleme. Jahrzehnte vorher war dies noch anders: Schäfer müsse nach innen flanken, rief einst der Rundfunkreporter Herbert Zimmermann in seinem legendären Kommentar. Der Rest waren ein Abpraller, ein Schuss von Helmut Rahn aus dem Hintergrund – und das 3:2 von Deutschland gegen Ungarn im WM-Finale 1954. Doch vom „Wunder von Bern“ will Schäfer heute nicht mehr viel wissen – er ist auf dem Weg zum Friseur. Wie fast jeden Donnerstag bringt er seine Frau dorthin. Schäfer setzt sich dann dazu, wartet und liest in der Kölner Boulevardzeitung Express. „Ich bin 1954 Weltmeister geworden, habe mir danach den Mund abgeputzt, das genügt doch“, sagte er einst in einem der seltenen Interviews, „was soll ich denn 60 Jahre ständig und immer darüber reden?“ In seiner Heimatstadt ist er dennoch bekannt: Im Supermarkt trägt ihm der Filialleiter die Einkaufstaschen zum Auto. Doch der Kult um die „Helden von Bern“ ist ihm fremd: „Die Dinge aus meiner Zeit als aktiver Fußballer habe ich alle verschenkt“, erzählt er: „Ich lebe in der Gegenwart.“ Von daher lehnt er weitere Interviews grundsätzlich ab, auch im Friseursalon – und widmet sich stattdessen wieder dem Express. Lesen mag er, sprechen mit Journalisten dagegen weniger. Auch Wochen später am Telefon bittet er darum, nicht mehr anzurufen, er habe „zu viel zu tun“. Dies sei eine Geheimnummer, man solle sie am besten streichen und sofort vergessen – und legt auf.

Schäfer ist, neben Horst Eckel, das letzte lebende Mitglied der WM-Elf von 1954. Sie sind Weltmeister – genauso wie der Jahrgang von 1974 um Franz Beckenbauer, Sepp Maier und Uli Hoeneß, die „Helden von Rom“ 1990 um Lothar Matthäus, Andreas Brehme und Jürgen Klinsmann oder eben die Weltmeister 2014 aus Brasilien. Doch während der Titelgewinn all diese Männer verbindet, haben sich die Zeiten geändert. Es ist – ohne Vertragsdetails zu kennen – wohl nicht unwahrscheinlich, dass die drei deutschen Final-Siegtorschützen von 1954, 1974 und 1990, eben Helmut Rahn, Gerd Müller und Andreas Brehme, zusammengerechnet in ihrer gesamten Karriere nicht so viel verdient haben wie der damals 22-jährige Mario Götze bei seinem Siegtreffer im Juli 2014.

60 Jahre liegen zwischen dem ersten und dem bislang letzten WM-Erfolg der deutschen Fußball-Nationalmannschaft. Auch 1954 jubelten die Menschenmassen den „Helden von Bern“ zu, doch deren Erfolg war beispielsweise der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) einst nur eine kleine Meldung auf der ersten Seite wert. 60 Jahre später übertrugen mehrere Fernsehsender den Empfang der „Helden von Rio“ in Berlin – und es gab keine deutsche Tageszeitung, die nicht mit dem Titelgewinn 2014 aufgemacht hat. In den sechs Jahrzehnten zwischen 1954 und 2014 hat sich der Fußball enorm entwickelt: Das Leben von Schäfer, der einst eine Tankstelle betrieb, als Kaufhof-Vertreter arbeitete und heute zurückgezogen lebt, ist nur eine dieser unzähligen Geschichten. Und die (fast) grenzenlose Kommerzialisierung ist auch nur ein Kapitel dieser Erfolgsgeschichte Fußball. Denn in den vergangenen sechs Jahrzehnten hat sich der Deutschen liebster Sport in fast alle gesellschaftlichen Bereiche vorgearbeitet und dort etabliert.

Von welchem Ausgangspunkt, das lässt sich gut 270 Kilometer von dem Friseursalon im Kölner Westen entfernt, in dem Schäfer häufig sitzt, feststellen: Horst Eckel öffnet die Tür zu seinem Haus in Vogelbach, einer Ortsgemeinde von Bruchmühlbach-Miesau in der Pfalz. Es ist ein kleines Dorf, in dem nicht nur die Geldautomaten ausgeschildert sind, sondern – sozusagen als Kontrast – auch die französische Hauptstadt. Bis Paris seien es 430 Kilometer, zeigt das Verkehrsschild an. Sein ganzes Leben hat Eckel hier verbracht. Hoch oben, über dem Dorf, liegt der Fußballplatz des SC Vogelbach, Eckels erstem Verein. Idyllisch, mitten im Wald. Im Jahr 1985 haben sie Eckel hier eine Gedächtnisbuche hingestellt. Und normalerweise fährt er für Interviews hoch in die Vereinsgaststätte. Dann muss man unten klingeln, „ihren Mann abholen“, wie Hannelore Eckel sagt, die sich um die Termine kümmert. Doch heute könne das Gespräch auch zuhause stattfinden. Im 60. Jahr nach dem „Wunder von Bern“ mehren sich mal wieder die Interview-Anfragen. Eckel trägt einen braunen Rollkragenpullover, an seiner linken Hand glänzt der goldene Siegel-Ring des 1. FC Kaiserslautern. Dazu eine Uhr für den WM-Erfolg.

Schäfers Schweigen macht Eckel zu „so etwas wie den inoffiziellen Nachlassverwalter des ‚Wunders von Bern‘“, stellte die Berliner Zeitung fest. Dabei sind ihre Herkunft und ihr Lebensweg jeweils typisch für die damalige Zeit: Ähnlich wie Schäfer blieb Eckel seinem Verein – dem 1. FC Kaiserslautern – immer verbunden. Ähnlich wie Schäfer lebte Eckel sein ganzes Leben an einem Ort. Und ähnlich wie Schäfer lernte Eckel nach der Karriere einen Beruf (Realschullehrer) und arbeitete darin. Während der WM 1954 teilten sich die beiden ein Zimmer, doch der Kontakt zueinander ist abgerissen. Schade findet Eckel das. Und auch der Umgang mit dem WM-Erfolg könnte nicht unterschiedlicher sein: Während Schäfer schweigt, sich mithilfe einer Telefon-Geheimnummer von der Öffentlichkeit abschottet und auf Anfragen knurrig reagiert, gibt Eckel bereitwillig Interviews, geht weiterhin zu Benefiz-Spielen und betreibt sogar einen eigenen Twitter-Account.

„Die Arbeit mit Kindern hat mir mehr bedeutet als das Sportliche“

Durch seine Erzählungen lässt sich erahnen, woher das heutige Massengeschäft Fußball einst kam: Zweimal die Woche hätten sie damals trainiert, erinnert sich Eckel. Die monatliche Obergrenze für die Bezahlung der Fußballer lag bei 320 DM, für den WM-Titel 1954 gab es 500 DM und einen Fernseher. 60 Jahre später waren es 300.000 Euro – pro Spieler. Anders als Schäfer hadert Eckel nicht mit diesen Summen: Wenn er heute noch spielen würde, hatte Schäfer, der als erster deutscher Spieler an drei Weltmeisterschaften teilnahm, immer mal wieder im Friseursalon gegrummelt, dann hätte er hunderte Millionen an Euro verdient. Ob realistisch oder nicht, für Eckel ist dies ohnehin zweitrangig. Denn das „Wunder von Bern“ war ihm zwar wichtig, noch schöner sei aber seine Zeit als Lehrer gewesen: „Die Arbeit mit Kindern hat mir mehr bedeutet als das Sportliche“, so Eckel. „Wenn ich sehen konnte, wie sich die Schüler entwickelt haben, was aus ihnen geworden ist.“ Werte weiterzugeben, bedeutet ihm viel. Und dennoch, bei allem Engagement: Auch Eckel merkt das Alter. Auch ihm wird der Trubel ein wenig zu viel. Weil Schäfer ja schweigt, fragen alle ihn, den damals Jüngsten, nach den alten Geschichten. Und Eckel erzählt. Wieder. Und immer wieder. Und obwohl er dies schon unzählige Male gemacht hat, nimmt er sich jedes Mal Zeit. Der WM-Erfolg von Bern war und ist für ihn auch eine Aufgabe – genauso wie Autogrammwünsche, bei denen er sich auch heute noch, sechs Jahrzehnte später, alle Mühe gibt. „Ohne Brille“, sagt er, an seinem Wohnzimmertisch sitzend, während er seinen Namen auf sein Bild schreibt: „Ich denke, das kann man gut lesen.“ Er blickt auf sein Werk: „Eckel“, steht da, leicht geschwungen, mit einem schwarzen, dicken Edding geschrieben. Wenige Minuten vorher hatte Eckel noch extra zwei Stifte auf einem Papier ausprobiert. „Autogramme muss man lesen können“, sagt er und blickt auf. „Was sollen die Leute sonst damit?“ Wenn er das bei den heutigen Bundesliga-Profis und Nationalspielern manchmal sehe, entfährt es ihm mit einem Kopfschütteln, „die machen einfach einen Haken“. Er fährt durch die Luft: „Das war’s.“ Er schüttelt wieder den Kopf: „Das hätten wir uns früher erlauben sollen.“ Seinen Namen ordentlich zu schreiben, sei eine Anweisung von Sepp Herberger gewesen, so Eckel, „und auch Fritz Walter hat immer darauf geachtet“.

Wie stark sich die Lebensumstände eines Fußball-Weltmeisters in 60 Jahren verändert haben, lässt sich aber nicht nur an den Autogrammen der Profis ablesen, nicht nur an Eckels Erzählungen, sondern auch an einer kleinen Begebenheit auf dem Weg zum WMTurnier nach Brasilien. Denn im Herbst 2013 qualifizierte sich die deutsche Mannschaft mit einem 3:0-Sieg über Irland in Schäfers Heimatstadt Köln für die Endrunde. Die Spieler bekamen daraufhin kurzfristig zwei Tage frei, woraufhin das DFB-eigene Reisebüro fast überrannt wurde. Und während die Spieler für anderthalb Tage von Köln nach London, München oder Madrid flogen, zeigt dies den Kontrast zu den Umständen 60 Jahre vorher. Denn vor dem Viertelfinale der WM 1954 gegen Jugoslawien hatte Hans Schäfer einst seine Frau angerufen: Sie solle in die Schweiz kommen. Schäfers Begründung: Gegen Jugoslawien seien sie chancenlos, würden ausscheiden und könnten anschließend gemeinsam in den Urlaub weiterfahren. „Wir verdienten damals nicht so viel Geld, dass wir hin- und herfahren konnten“, so Schäfer. Eine gute Idee, die aber doch scheiterte. Deutschland gewann, wurde Weltmeister – und das Volk wollte seine Helden sehen. Die Schäfers mussten zurück nach Deutschland. Ohne Urlaub.

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