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AUSZUG AUS DEM GEHEIMEN TAGEBUCH VON KYRILL I., PONT. MAX.

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Es ist spät, und der Mond steht hoch. Der Petersplatz ist leer, aber der Nachtwind trägt mir immer noch die Geräusche der Stadt zu — Schritte, die hohl auf Steinen klingen, kreischende Autoreifen, das Signal einer Hupe, Bruchstücke eines fernen Liedes, das langsame Klipp-klapp eines müden Pferdes. Ich finde keinen Schlaf heute abend, und ich leide unter meiner Einsamkeit. Ich möchte durch das Engelstor gehen und mein Volk aufsuchen, in Trastevere, wo die Leute in den Gassen umherschlendern, beisammensitzen oder mit ihren angsterfüllten und liebevollen Gedanken in engen Räumen kauern. Ich brauche sie ebenso sehr wie sie mich. Demnächst muß ich das tun. Ich muß die Bande abschütteln, die mir durch Protokoll und Vorsichtsmaßnahmen auferlegt sind, und meiner Stadt gegenübertreten, so daß wir uns so sehen können, wie wir wirklich sind …

Ich erinnere mich aus meiner Kindheit der Geschichten vom Kalifen Harun al-Raschid, der sich verkleidete und abends mit seinem Großwesir ausging, die Herzen seiner Untertanen zu erforschen. Ich erinnere mich, wie Jesus der Herr mit Zöllnern und Dirnen zu Tisch saß; und es wunderte mich, daß Seine Nachfolger so erpicht darauf waren, das schwere Los der Fürsten auf sich zu nehmen, das darin besteht, von einem verborgenen Zimmer aus zu herrschen und sich wie ein Halbgott nur bei festlichen Anlässen zu zeigen …

Es war ein langer Tag, aber ich habe über mich und auch über andere etwas gelernt. Im Konsistorium machte ich, glaube ich, einen Fehler. Wenn Männer alt und mächtig sind, müssen sie durch Vernunft und Berechnung gelenkt werden, weil der Saft des Herzens mit dem Alter einzutrocknen beginnt …

Wenn man eine Machtstellung innehat, darf man sich vor der Öffentlichkeit nicht zu demütig zeigen, weil der Herrscher durch Kraft und Entschlossenheit beruhigend wirken muß. Offenbart man sein Herz, so muß es unter vier Augen geschehen, so daß derjenige, welcher es sieht, annehmen wird, er sei ins Vertrauen gezogen worden … Ich schreibe wie ein Zyniker, und ich schäme mich. Warum? Vielleicht weil ich starken Männern gegenüberstand, die mich ihrer Meinung gefügig machen wollten … Leone reizte mich von allen am meisten. Ich hatte mir in ihm einen Verbündeten erhofft, statt dessen fand ich einen Kritiker. Ich hätte Lust, ihm ein anderes Amt zu übergeben und ihm die einflußreiche Stellung zu nehmen, die er jetzt hat. Doch das wäre wohl ein Fehler und der Ausgangspunkt zu noch größeren Irrtümern. Wenn ich mich mit schwachen und nachgiebigen Männern umgebe, beraube ich die Kirche hervorragender Diener, und am Ende stehe ich ohne Ratgeber da. Leone ist ein schwieriger Mensch, und wahrscheinlich werden wir in vielen Dingen entgegengesetzter Ansicht sein. Aber ich sehe in ihm keinen Intriganten. Ich hätte ihn gern zum Freund, weil ich Freundschaft brauche; doch ich glaube nicht, daß er sich dazu hergeben wird …

Rinaldi würde ich gern bei mir behalten, aber ich muß wohl sein Rücktrittsgesuch annehmen. Ich halte ihn nicht für einen tiefen Menschen, obwohl er subtil und klug ist. Ich fühle, daß er sich erst spät im Leben mit Gott auseinandergesetzt hat und daß er Freiheit braucht, um mit seiner Seele ins reine zu kommen. Deshalb bin ich ja im Grunde hier — den Menschen den Weg zur Einigung mit Gott zu zeigen. Wenn jemand durch meine Schuld strauchelt, werde ich zur Verantwortung gezogen werden …

Kamenews Brief liegt vor mir und daneben sein Geschenk zu meiner Krönung: ein paar Krumen russischer Erde und ein Päckchen Sonnenblumensamen.

»Ich ahne nicht«, schreibt er, »ob der Samen in Rom aufgehen wird, aber vielleicht werden die Sonnenblumen im nächsten Sommer blühen, wenn Sie ihnen etwas russische Erde geben. Ich weiß noch, während eines Verhörs fragte ich Sie, was Sie am meisten vermißten, und da antworteten Sie lächelnd: die Sonnenblumen der Ukraine. In jenem Augenblick haßte ich Sie, weil sie auch mir am meisten fehlten und wir beide Verbannte in kalten Landen waren. Jetzt sind Sie immer noch ein Verbannter, während ich der oberste Mann in Rußland bin.

Bedauern Sie uns? Das frage ich mich. Ich stelle es mir gern vor, weil ich Sie bedaure. Wir hätten zusammen große Dinge verrichten können, Sie und ich; aber Sie huldigten dem inbrünstigen Traum vom Jenseits, wohingegen ich glaubte — und ich glaube es noch immer —, daß die beste Tat eines Mannes darin besteht, kahle Erde fruchtbar und ungebildete Menschen weise zu machen und dafür zu sorgen, daß die Kinder elender Väter unter den Sonnenblumen groß und gerade wachsen.

Es dürfte der Höflichkeit entsprechen, Sie zu Ihrer Wahl zu beglückwünschen. Wenn man meiner Gratulation Wert beilegen kann, sei sie Ihnen gegeben. Ich bin gespannt, was dieses Amt aus Ihnen machen wird. Ich ließ Sie gehen, weil ich Sie nicht ändern konnte und es nicht über mich brachte, Sie noch mehr zu erniedrigen. Es wäre jetzt eine Schande für mich, wenn Sie durch den hohen Rang verdorben würden.

Vielleicht haben wir einander noch nötig, Sie und ich. Sie haben von diesem Land noch nicht die Hälfte gesehen; aber ich sage Ihnen wahrheitsgemäß, wir haben es zu einer Blüte gebracht, die es in all seinen Jahrhunderten nicht gekannt hat. Aber wir sind von Schwertern umstellt. Die Amerikaner fürchten uns; die Chinesen grollen uns und wünschen, wir wären um fünfzig Jahre zurück. Innerhalb unserer eigenen Grenzen haben wir Fanatiker, die sich nicht mit Brot, Frieden und Arbeit für alle zufriedengeben, sondern uns in Dostojewskijs bärtige Mystiker zurückverwandeln wollen.

Für Sie bin ich vielleicht ein Antichrist. Was ich glaube, lehnen Sie ganz und gar ab. Doch vorläufig bin ich Rußland, und ich bin der Hüter dieses Volkes. Auch Sie haben Waffen in den Händen, und ich weiß, wenn ich es auch nicht öffentlich zuzugeben wage, wie stark sie sind. Ich kann nur hoffen, daß Sie sie weder gegen Ihre Heimat wenden noch für eine niederträchtige Allianz im Osten oder Westen gebrauchen werden.

Wenn die Samen zu keimen beginnen, denken Sie an Mütterchen Rußland, und denken Sie daran, daß Sie mir Ihr Leben zu verdanken haben. Wenn die Zeit kommt, die Bezahlung zu fordern, schicke ich Ihnen einen Mann, der von Sonnenblumen sprechen wird. Glauben Sie, was er Ihnen sagt; aber lassen Sie sich nicht mit anderen ein, weder jetzt noch später. Im Gegensatz zu Ihnen habe ich nicht den Heiligen Geist zu meinem Schutz, und ich muß mich immer noch vor meinen Freunden hüten. Ich wünschte, ich könnte sagen, Sie wären einer. Mit besten Grüßen. Kamenew.«

Ich habe den Brief viele Male gelesen, und ich vermag nicht zu entscheiden, ob er mich an den Rand einer Offenbarung oder eines Abgrunds führt. Ich kenne Kamenew so genau wie er mich, aber ich bin noch nicht zum Grund seiner Seele gelangt. Ich kenne den Ehrgeiz, der ihn treibt, seinen wilden Wunsch, dem Leben etwas Güte zu entpressen, um die Entwürdigung auszugleichen, die er sich und andern jahrelang auferlegt hat … Ich sah Bauern von einem neuen Grundstück eine Handvoll Erde aufschaufeln und kosten, um sich zu überzeugen, ob sie süß oder sauer war. Ich kann mir vorstellen, daß Kamenew das gleiche mit dem Boden Rußlands tut. Ich weiß, wie sehr die Gespenster der Geschichte ihn und sein Volk bedrohen, weil ich einsehe, wie sehr sie auch mich bedrohen. Ich sehe in ihm keinen Antichrist, nicht einmal einen Erzheuchler. Er hat sich dem marxistischen Dogma verschrieben, weil es für ihn das schnellste und schärfste Instrument zur Entfachung einer sozialen Revolution ist. Ich glaube, er würde es beiseite werfen, sowie er sehen müßte, daß es seinem Zweck nicht mehr dient. Ich glaube — sicher bin ich allerdings nicht —, daß er meine Hilfe erbittet, um zu bewahren, was er an Gutem fürs Volk errungen hat, und um ihm die Möglichkeit zu geben, friedlich zu anderen Formen zu finden.

Nachdem er so hoch gestiegen ist, atmet er wahrscheinlich freiere Luft und wünscht dem Volk, das er lieben gelernt hat, das gleiche Glück. Wenn das zutrifft, muß ich ihm helfen …

Es ereignen sich jedoch Dinge, die ihn jeden Augenblick Lügen strafen. An vielen Grenzen finden unter dem Banner mit Sichel und Stern Aggressionen und Überfälle statt. Immer noch werden Menschen dem Hunger ausgeliefert, geprügelt und vom freien Gedankenaustausch ausgeschlossen.

Die große Heuchelei vom irdischen Paradies breitet sich immer noch schleichend wie ein Krebsgeschwür über die Welt aus, und Kamenew trägt immer noch das Gewand eines Hohenpriesters. Dem entgegenzutreten bin ich verpflichtet, und ich habe mich bereits mit meinem Blut dagegen gewehrt … Ich darf jedoch nicht unbeachtet lassen, wie seltsam sich Gott in den Seelen von Menschen auswirkt, bei denen man das am wenigsten erwartet; und ich glaube, ich kann diese Auswirkung auch in Kamenews Seele erkennen —. Ich sehe, wenn auch nur schwach, wie unsere Geschicke nach göttlichem Ratschluß verbunden sind —. Hingegen kann ich nicht sehen, wie ich mich in der Situation, die zwischen uns besteht, verhalten soll …

Er erbittet meine Freundschaft, und gern gäbe ich ihm mein Herz. Er wünscht, scheint mir, eine Art Waffenstillstand, aber ich kann keinen Waffenstillstand mit dem Irrtum schließen, wenn ich auch die edlen Beweggründe jener, die dafür sind, durchaus anerkenne. Andererseits wage ich es nicht, die Kirche und die Gläubigen wegen einer Täuschung in Gefahr zu bringen, denn ich weiß, daß Kamenew mich immer noch verraten könnte, und ich könnte immer noch mich selbst und die Kirche verraten.

Was soll ich tun?

Vielleicht gibt die Sonnenblume die Antwort: Daß der Same sterben muß, bevor die grünen Schößlinge sprießen, daß die Blume wachsen muß, während Menschen vorübergehen, ohne zu merken, daß sich vor ihren Augen ein Wunder vollzieht.

Vielleicht ist dies mit dem »Warten auf Gottes Barmherzigkeit« gemeint. Aber wir können nicht bloß warten, weil die Natur, die Er uns verliehen hat, uns zum Handeln treibt. Wir müssen auch in Dunkelheit und Trockenheit unter einem blinden Himmel beten …

Morgen will ich für Kamenew eine Messe lesen, und heute nacht muß ich beten um Erleuchtung für Kyrill den Papst, dessen Herz ruhelos ist und dessen umherschweifende Seele sich immer noch nach ihrer Heimat sehnt …

In den Schuhen des Fischers

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