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1. KAPITEL Die Geschichtsschreibung der Französischen Revolution

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»Jede Zeit sieht sich zwangsläufig vor die Aufgabe gestellt, die Geschichte neu zu schreiben. Sie kann nicht einfach das Bild, das sich frühere Geschlechter von der Vergangenheit gemacht haben, übernehmen und ihrem geistigen Besitz einverleiben, als wäre die überlieferte Leistung ihr eigenes Werk. […] An den berühmtesten Werken der Geschichtsschreibung vollzieht sich denn auch in der Einschätzung der Leser ein charakteristisches Schicksal. Die Zeitgenossen fassen sie auf als den Inbegriff der sachlich gültigen Einsicht in geschichtliche Zusammenhänge. Sie gelten ihnen als die höchste Verdichtung des Wissens, das von einem bestimmten Gegenstande möglich ist. Den Nachfahren dagegen erscheinen diese Werke bewundernswert, sofern sie der Ausdruck einer Zeit und der Persönlichkeit des Geschichtsschreibers sind. Den Nachfahren verwandeln sie sich aus reinen Ergebnissen wissenschaftlicher Forschung in Zeugnisse einer menschlichen Haltung. Sie werden befragt nach dem, was sie über den Geschichtsschreiber selbst und die Zeit aussagen, in der dieser gelebt und gewirkt hat. Sie geben Anlaß zur Untersuchung und Darstellung der geschichtsphilosophischen und religiösen, der politischen und ethischen Anschauungen, durch die der Geschichtsschreiber bestimmt worden ist.«1

Es scheint, als gäbe es wenige historische Themen, die das Relative, weil Dynamische an der Rezeption eines historischen Ereignisses so beeindruckend dokumentieren, wie die Rezeption der Französischen Revolution. Man kann ohne weiteres behaupten, daß sich in der Geschichtsschreibung dieser Revolution eines der vielschichtigsten »Raschomons«, das das historische Forschungsterrain jemals hervorgebracht hat, darstellt.2 Hierfür gibt es vielerlei Gründe, wobei nicht alle mit jener zwangsläufigen Perspektivenänderung aus Gründen zeitlicher Verschiebung erklärt sind. Eine diskursive Theorie der Revolution z.B. findet sich schon zur Revolutionszeit sowohl unter ihren Verursachern als auch unter ihren Gegnern.3 Aber auch, wenn man sich vom Ereignis zeitlich entfernt und die aus »Objektivität« versprechender, historischer Perspektive verfaßte Geschichtsschreibung durchsieht, fällt doch ein ungewöhnliches Maß an Emotionalität ins Auge, das die sachliche Forschung und sogar die theoretischen Ableitungen durchdringt.4 Nicht von ungefähr trat daher François Furet mit der Erklärung, daß die »Französische Revolution beendet« sei, sowie mit der ironischen Forderung nach Gleichheit im Status des Historikers der Französischen Revolution und dessen, »der Studien über die Merowinger oder den Hundertjährigen Krieg treibt«, ohne sich »jeden Augenblick als Forscher […] legitimieren« zu müssen, hervor.5 Natürlich ist es nicht die professionelle Qualifikation, welche die Situation des Historikers der Revolution von der seiner Kollegen unterscheidet, sondern ein unentwegt reges öffentliches Klima, in dem »über die Revolution sprechen, [immer heißt]: über die Gegenwart sprechen«, wie, beispielsweise, der gefühlsgeladenen Kontroverse um Andrej Wajdas Film »Danton« im Jahre 1983 zu entnehmen ist.6 Der Historiker der Revolution wirkt in einem Rezeptionsfeld voller Gegensätze und Idiosynkrasien; er nährt zwar sein Publikum mit Daten und Befunden, mit Fakten und Analysen, aber die Rezeption seiner Schlußfolgerungen hängt nur in geringem Maß von der seiner Forschung inhärenten Logik ab, sie findet vielmehr vor allem durch die von vornherein mehr oder weniger gefestigten Rezeptionspattern seiner Leser statt. Hedva Ben-Israel hat zweifelsohne recht mit ihrer Feststellung, daß »die weitreichendsten Auswirkungen der Revolution bis hin zu unserer Zeit mit Sicherheit vom historischen Bewußtsein und von der Interpretation geprägt wurden«7; wie noch zu zeigen sein wird, war jedoch der Anteil der Historiker bei diesem Vorgang eher affirmativen als determinierenden Charakters. Die Historiker selbst waren mehr indizierendes Symptom des Rezeptionsprozesses als seine Gestalter. Es fragt sich daher: Worin wurzelt diese nicht abzubrechen scheinende, heftige Kontroverse?

Zunächst einmal und vor allem in der Revolution als historisch-sozialem Phänomen selbst. Von besonderer Bedeutung ist es nämlich, »ob ein Autor von einem Gesellschaftsbild ausgeht, das von vornherein jede gewaltsame Umwälzung als illegitim und bedrohlich ansieht, oder ob er von einem Gesellschaftsbild ausgeht, das Revolution als eine den Geschichtsprozeß vorantreibende Form des gesellschaftlichen Wandels begreift.«8 Diese paradigmatische Entscheidung ist mitunter auch für den spezifischen Fall der Französischen Revolution relevant, im Grunde liegt sie aber jedem Bild, das wir uns über Wesen und Entwicklung der Gesellschaft machen, zugrunde. Es leuchtet nur zu sehr ein, daß sich die klassischen Theorien der Soziologie im 19. Jahrhundert mit dem Konflikt als einem Schlüsselbegriff für die Erklärung sozialer Prozesse auseinandersetzten: Marx und seine Nachfolger sahen ihn als den sozialen Beziehungen immanent und für den Fortschritt notwendig an, wohingegen Durkheim und die struktur-funktionalistische Schule das Hauptgewicht auf die Frage der gesellschaftlichen Solidarität legten, wobei sie davon ausgingen, daß das Equilibrium erhalten und jede »Anomie«, gleichsam wie eine Krankheit, eliminiert werden müsse. Später versuchte man beide Auffassungen in der Synthese des sogenannten »funktionalen Konflikts« miteinander zu verknüpfen.9 Das Bedürfnis nach strukturanalytischer Durchdringung historischer Entwicklungsprozesse der Moderne bewirkte im 20. Jahrhundert verschiedene Definitions- und Theoretisierungsversuchen des Phänomens »Revolution«10, jedoch ohne bleibenden Erfolg11, denn die Möglichkeit einer theoretischen Konsolidierung ist durch einen von vornherein gegebenen Wertkonsens hinsichtlich des Phänomens selbst bedingt, und einen solchen, wie gesagt, hat es bislang noch nicht gegeben.

Dennoch scheint eine recht weit verbreitete Übereinstimmung bezüglich einer Auffassung der Französischen Revolution als Modell zu herrschen, wie Walter Bußmann behauptet: »Mögen die Definitionen von Revolutionsabläufen auch noch so verschieden sein, so besteht doch unter der Mehrzahl von Historikern und Sozialwissenschaftlern Einigkeit darüber, daß im Verlaufe der französischen Revolutionsphasen seit 1789 alle jene Merkmale nachweisbar sind, die dem Phänomen Revolution als einer ›Totalumwälzung‹ eigentümlich sind.«12 Karl Griewank schreibt dies der »den Franzosen besonders eigene Begabung für klare und klassische Formen« zu, welche »in den verschiedenen Stadien dieser Revolution Losungen und Vorbilder des politischen Denkens und Handelns [hat] entstehen lassen, die als allgemeingültig erscheinen konnten und zur Nachahmung herausforderten.«13 Mit Beziehung auf Jaurès und Mathiez sieht Georges Lefebvre in den verschiedenen Revolutionsphasen ein Bündel von Revolutionen, in welchem eine sich progressiv entwickelnde politische Linie erkennbar wird: Nach der Revolution des Adels und der des Dritten Standes ereignet sich am 10. August 1792 die demokratische und republikanische Revolution und am 2. Juli 1793 eine vierte, welche die soziale Demokratie vorzeichnet; er fügt noch hinzu, daß wenn Babeuf erfolgreich gewesen wäre, hätte es gar eine fünfte Revolution gegeben.14 Auch Walter Markov meint, das »dem Geist und der Sprache der Franzosen einwohnende Regelmaß« sei in dem »cartesianisch übersichtlichen Rhytmen-Ablauf« der Revolution zur Geltung gekommen: »Constitutionelles, Feuillants, Girondins lösten sich am jeweiligen Etappenziel der Umwälzung als adäquate Führungskerne ab, um ihrerseits am 2. Juni 1793 der Montagne zu weichen […]«.15

Die in diese Formulierung eingeschleuste Dramaturgie spiegelt wesentliche Elemente der marxistischen Revolutionstheorie wider: Hinter der Fassade politischer Auseinandersetzungen ereignen sich in Wahrheit soziale Kämpfe, welche als die eigentlich determinanten Faktoren der revolutionären Radikalisierung zu begreifen sind; die Radikalisierung muß ihrerseits als Ausdruck einer Notwendigkeit in zweierlei Hinsicht verstanden werden: einer subjektiven Notwendigkeit der Emanzipation von den durch die materielle Basis bestimmten sozialen Verhältnissen und einer objektiven Notwendigkeit der Veränderung der gesellschaftlichen Struktur infolge eines wesentlichen Wandels dieser materiellen Basis selbst. Der latente Determinismus einer solchen Auffassung gründet praktisch auf der normativen Annahme eines Strebens des Menschen nach Emanzipation a priori und auf der induktiv konstruierten Voraussetzung eines immerwährenden Fortschritts in der Entwicklung der Produktionsmittel. Nicht immer befindet sich aber das subjektive Bewußtsein in Übereinstimmung mit der objektiven gesellschaftlichen Situation. Revolutionäres Bewußtsein manifestiert sich demzufolge in jenem Bewußtsein, das sich eine Einsicht in die Notwendigkeit des Kampfes um die Veränderung sozialer Verhältnisse im Sinne der eigenen (Klassen-) Interessen zueigen gemacht hat. Die praktischen Auswirkungen dieses Ausgangspunktes entspringen dem eine Vielfalt konkurrierender Interessengruppen erzeugenden gesellschaftlichen Antagonismus. Die Entfernung einer Klasse von ihren Herrschaftspositonen garantiert allerdings noch keineswegs die Erfüllung der Interessen der sich gegen sie erhebenden sozialen Gruppen; und da die klassische marxistische Theorie prinzipiell davon ausgeht, daß keine Phase der objektiven Entwicklung »übersprungen« werden könne, ist es quasi unumgänglich, daß sich im Rahmen der Revolution selbst eine evolutionäre Dynamik der einzelnen Phasen entwickelt. In dieser Hinsicht konnte sich die jakobinische Diktatur erst dann etablieren, nachdem die Girondisten die Anhänger der konstitutionellen Monarchie gestürzt und nachdem diese formal den Untergang des Ancien Régime herbeigeführt hatten. Die Radikalität verändert sich also im Zuge der objektiven Entwicklung, diese aber wird ihrerseits von den aufeinanderfolgenden Stadien des evolutionären Radikalisierungsprozesses bestimmt.16

Die Anziehungskraft dieses Paradigmas liegt in der ihm innewohnenden dialektischen Verbindung der nüchternen Analyse menschlicher Beziehungen im gesellschaftlichen Kollektiv mit der emanzipatorischen Verheißung einer möglichen Zukunft dieser Beziehungen. Es wundert daher nicht, daß die sozialistischen Historiker der Französischen Revolution und ihre Kollegen marxistisch-leninistischer Provenienz17 in ihm eine feste Basis für die Interpretation der Revolution als einem für die weiteren historischen Entwicklungen höchst einflußreichen Modell fanden, denn »erst nach 1789 kam der Gedanke auf, daß das Ziel einer politischen Revolution die soziale Emanzipation aller Menschen, die Umwandlung der Gesellschaftsstruktur selber, sei.«18

Andererseits genügte es, das Axiom des marxistischen Paradigmas (wonach die materielle Basis als Determinante zu erachten sei) in Zweifel zu ziehen, um zu einer völlig anderen Bewertung des Wesens der Französischen Revolution zu gelangen. In der wohl provokantesten Form vollzog dies François Furet und rief somit eine für die Fragestellung höchst relevante, wenn auch zuweilen polemische Debatte ins Leben.19 Nach Furets Auffassung handelt es sich bei der Französischen Revolution in erster Linie um eine politische Revolution. Er hat den Antagonismus zwischen den Abgeordneten der Nationalversammlung (die »Gesetze im Namen des Volkes, das sie angeblich vertreten«, machen20) und den Männern in den Sektionen und den Klubs (die »[das Volk] sind«21) im Auge, wenn er postuliert: »Das geläufigste Mißverständnis in der Historiographie der Französischen Revolution besteht darin, diese Zweiteilung auf einen sozialen Gegensatz zu reduzieren, indem man im voraus einer der rivalisierenden Mächten das zubilligt, was eben gerade das unbestimmte und buchstäblich ungreifbare Streitobjekt des Konflikts ist, nämlich das Vorrecht, den Volkswillen darzustellen.«22 Wenn also ein A.S. Manfred davon ausgeht, daß die Jakobiner als Partei des Bürgertums, der Bauern und der städtischen Plebejer das französische Volk vertraten, weil diese gesellschaftlichen Schichten eben die Majorität in ihm ausmachten23, so sieht Furet in der Konstruktion einer solchen »Volksfront« zur Zeit der Regierung des Wohlfahrtsausschusses eine »Scheinerklärung der politischen Dynamik der Französischen Revolution«, welche durch die Reduktion des Politischen auf das Soziale gerade das »normalisiert«, was es zu erklären gilt, »nämlich, daß die Revolution diese Symbolik in den Mittelpunkt des politischen Handelns stellte und daß die Machtkonflikte vorläufig durch sie und nicht durch die Klasseninteressen entschieden werden.«24 Eine solche Auffassung widerspricht auch der auf Plechanows Erörterungen fußenden Erklärung J.Sachers, wonach jeder Klassenkampf ein politischer sei, mit der entsprechenden Folgerung, die Sansculotten hätten sich mittels ihres politischen Kampfes die Erfüllung ihrer sozialen Aspirationen erhofft.25

Nicht nur hinsichtlich der direkten ideologischen Implikationen, sondern auch für die Strukturanalyse der revolutionären Anfangsphasen erweist sich Furets paradigmatische Modifikation als höchst bedeutungsvoll. Wenn, beispielsweise, Manfred die »künstliche Zergliederung des lebendigen Gewebes des historischen Prozesses« beklagt und (im Gegensatz zu den sozialistischen Historikern Frankreichs, welche die Zeit zwischen 1789 und 1794 in verschiedene Entwicklungsstadien untergliedern) deklariert, daß diese Zeit »einen einzigen, unteilbaren revolutionären Prozeß« bilde26, so sprechen Furet und Richet von drei schon im Sommer 1789 stattfindenden, verschiedenen und voneinander unabhängigen Revolutionen27: der Revolution der Abgeordneten in Versailles, der Revolution der kleinbürgerlichen Schichten in der Stadt und der Revolution der Bauern auf dem Land, wobei man wenigstens die zwei letzten dieser Revolutionen einer alten »Tradition« von Handwerker-, Gesellen- und Bauernrevolten zuzuordnen habe.

Diese Hervorhebung ist gewichtig, denn es deuten sich in ihr zwei weitere kontroverselle Aspekte der historiographischen Debatte an: das Problem der Ursachen der Revolution und die Frage nach dem Stellenwert der Revolution in der historischen Kontinuität. Auch in diesem Zusammenhang sind jedoch die Unterschiede nicht in den Fakten oder Befunden zu suchen, sondern vielmehr in den sich widersprechenden Interpretationen, welche ihrerseits wiederum von den unterschiedlichen paradigmatischen Ansätzen herrühren; die Ursachen der Revolution28 stellen sich hierbei als weniger umstritten heraus als die Bedeutungen, die ihren Auswirkungen beigemessen werden.

So beschreibt z.B. Markov ein engmaschiges Netz von wirtschaftlichen, politisch-sozialen und institutionellen Konfliktherden im Ancien Régime (und Mathiez spricht von dem sich täglich »vertiefenden Gegensatz zwischen der Wirklichkeit und den Gesetzen, zwischen den Einrichtungen und den Sitten, zwischen dem Geist und dem Buchstaben«29), um resümierend zu folgern, daß das Unterfangen, jenen Staat »mit den Mitteln einer rationalen, d.h. in der Sache also bürgerlich-kapitalistischen Modernisierung leistungsfähiger zu gestalten, ohne seinen feudalen Klassencharakter anzutasten«, einer »Quadratur des Kreises« gleiche.30 Die historisch-materialistische Schule vertritt also die Auffassung, daß die einzelnen antagonistischen Erscheinungen objektiv als Hebel zur Zerschmetterung von Struktur und Gestalt des alten feudalen Staates dienten – dies zumindest von jenem Zeitpunkt an, wo das Bürgertum genügend entwickelt und konsolidiert war, um die Beseitigung der Diskrepanz zwischen seiner wirtschaftlichen und seiner konkreten politischen Macht anzustreben.31 Andererseits sind sich auch marxistische Verfasser dessen bewußt, daß man den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus nicht als ein kurzfristiges revolutionäres Ereignis begreifen könne:

»Als bürgerliche Revolution bildet die Französische Revolution nicht selbst einen solchen Übergang, vielmehr wird dieser erst durch die Industrielle Revolution zwischen 1830 und 1860 vollzogen […]. Aber indem die Revolution das Gesellschaftssystem des Ancien Régime und gleichzeitig auch das damit verbundene absolutistische Staatswesen zerstörte, ebnete sie den Weg […] und verwirklichte sie die notwendigen Voraussetzungen für den Aufschwung des liberalen Kapitalismus.«32

Diese makrohistorische These des Marxismus rief eine besonders heftige Kritik hervor.33 Furet rechnet in diesem Zusammenhang mit der Vulgarisierung der Marxschen Lehre in der Historiographie der Französischen Revolution ab, indem er behauptet, sie stelle »die Welt auf den Kopf«, weil sie außerstande sei, sich von den Illusionen und Werten des historischen revolutionären Bewußtseins zu lösen. Das Ergebnis sei ein Versäumnis, gerade »das radikal Neueste und Geheimnisvollste an der Französischen Revolution« zu erfassen, denn weder der Kapitalismus noch die Bourgeoisie hätten, um sich auszubreiten und die wichtigsten europäischen Länder des 19. Jahrhunderts zu beherrschen, Revolutionen nötig gehabt: »Aber Frankreich ist das Land, das durch die Revolution die demokratische Kultur erfindet und das der Welt einer der grundlegenden Bewußtseinslagen des historischen Handelns offenbart.«34 Im ersten Teil dieser Äußerung kommt die Annahme zum Ausdruck, der Feudalismus als soziales und wirtschaftliches System habe schon in der Periode vor der Revolution und ohnehin in dieser selbst keinen Bestand mehr gehabt, und daß von daher der Gebrauch des Begriffs »Feudalismus«, sowohl in der Revolutionszeit als auch in der nachmaligen Interpretation, die Erfassung des Prozesses konzeptuell entstelle. Albert Soboul hingegen akzeptiert zwar die Ablehnung des Vergleichs des mittelalterlichen Feudalismus mit den herrschenden Zuständen um 1789, er besteht gleichwohl aber darauf, daß »für die Zeitgenossen, die Bürger und noch mehr für die Bauern dieser abstrakte Begriff eine Realität umschloß, die ihnen sehr bekannt war (Feudalrechte, lehensherrliche Gewalt) und die schließlich hinweggefegt wurde.«35

Die Debatte um diesen Aspekt der Revolutionsinterpretation spiegelt ein grundlegendes Mißverständnis in bezug auf die Bedeutung der Französischen Revolution bei Marx und Engels wider. Dieses Mißverständnis hängt mit dem Gebrauch des Begriffs »bürgerliche Revolution« zusammen, und nach Eberhard Schmitt stehen in dieser Hinsicht Furet und Richet den »beiden Klassikern der materialistischen Geschichtsschreibung« näher als die heutigen Marxisten-Leninisten. Er weist darauf hin, daß, ähnlich wie Marx und Engels, auch die beiden französischen Historiker die Revolution als einen »Übergang von der altständischen Privilegiengesellschaft zur bürgerlichen Gesellschaft, vom absolutistischen Staat zum modernen Repräsentativstaat« begreifen, und daß auch sie das »Hauptergebnis der Revolution für die soziale Schicht der Bourgeoisie« in der »Errichtung des Staatsführungsmonopols« sehen.36 Es handelt sich hierbei freilich um ein vermeintliches Paradox: Zunächst muß vorausgeschickt werden, daß sich weder bei Marx noch bei Engels eine systematische Analyse der Französischen Revolution findet, und daß sich jedes Unterfangen, ihre Einstellung zu dieser darzustellen, zwangsläufig auf sporadisch auftretende, zuweilen aphoristische Äußerungen, die an verschiedenen Stellen ihrer Schriften verstreut sind, stützen muß.37 Beide begriffen sich ja selber nicht als ideographisch operierende Historiker; die spezifische historische Erscheinung oder Gestalt dient ihnen oft lediglich als pointiert symbolische Illustration einer Behauptung, die sich strukturell in ihre allgemeine Geschichtstheorie einfügt. Marx’ berühmtes Diktum in der »Heiligen Familie« gibt hierfür ein gutes Beispiel ab:

Die »französische Revolution [hat] Ideen hervorgetrieben, welche über die Ideen des ganzen alten Weltzustandes hinausführen. Die revolutionäre Bewegung, welche 1789 im Cercle social begann, in der Mitte ihrer Bahn Leclerc und Roux zu ihren Hauptrepräsentanten hatte und endlich mit Babeufs Verschwörung für einen Augenblick unterlag, hatte die kommunistische Idee hervorgetrieben, welche Babeufs Freund, Buonarroti, nach der Revolution von 1830 wieder in Frankreich einführte. Diese Idee, konsequent ausgearbeitet, ist die Idee des neuen Weltzustandes.«38

Es steht wohl außer Frage, daß dieser tolldreiste Sprung vom Cercle social des Jahres 1789 bis hin zur Revolution von 1830 – wobei ein Robespierre und ein Marat übergangen werden, dafür aber Roux (den Richard C. Cobb als »eine der sympathischsten Persönlichkeiten der Revolution« beschreibt, die gleichwohl kein »Vorläufer irgendeines politischen Glaubens des 19. oder 20. Jahrhunderts« gewesen sei) und Leclerc (von dem Cobb meint, er habe »kein wirkliches Verständnis für die Nöte des Volkes« gehabt39) ausdrückliche Erwähnung finden – nicht den Anspruch erhebt, den Verlauf der Französischen Revolution widerzuspiegeln; und dennoch sind in ihm wichtige Elemente der Marxschen Revolutionsinterpretation enthalten: Die Französische Revolution »treibt« die Idee eines neuen Weltzustandes hervor, deren Verwirklichung in eine unbestimmte Zukunft verlagert wird. D.h., Marx würdigt wohl die höchste Bedeutung der Revolution als Etappenstation auf dem Weg zum erstrebten Ziel der sozialen Revolution, er gibt sich jedoch keinerlei Illusion hin, was das in dieser Revolution unmittelbar Erreichte anbelangt.40 Wohl sieht er die Notwendigkeit einer politischen Revolution ein, ist sich aber auch ihrer Grenzen bewußt, wie seine Stellungnahme zur Pauperismusfrage deutlich genug bezeugt.41

Auf der Grundlage dieses Ansatzes ist auch seine Einstellung den Jakobinern und dem Terror gegenüber zu verstehen: Die Jakobiner mußten jene (wohl immer noch) umstrittene Methode anwenden, weil die wahren Sieger der Revolution, dazu nicht fähig gewesen wären: »Die Schreckensherrschaft mußte […] in Frankreich nur dazu dienen, durch ihre gewaltigen Hammerschläge die feudalen Ruinen wie vom französischen Boden wegzuzaubern. Die ängstlich-rücksichtsvolle Bourgeoisie wäre in Dezennien nicht mit dieser Arbeit fertig geworden. Die blutige Aktion des Volkes bereitete ihr also nur die Wege.«42 In anderem Zusammenhang wird Marxens zwiespältige Beziehung zum Terror noch deutlicher: »Der ganze französische Terrorismus war nichts als eine plebejische Manier, mit den Feinden der Bourgeoisie, dem Absolutismus, dem Feudalismus und dem Spießbürgertum, fertigzuwerden.«43

Marx’ Zugang ist also seinem Wesen nach funktioneller Natur. Die tatsächlichen historischen Ereignisse erhalten ihren wahren Stellenwert erst im nachhinein, wenn sich sozusagen die Beendigung einer Zwischenetappe im Gesamtprozeß einschätzen läßt. Die unmittelbare Funktion des Terrors (die Absicherung des Sieges der Revolution), auf die Engels in späten Jahren in einem Brief an Kautsky hingewiesen hat44, interessiert Marx in geringerem Maße, denn es handelt sich für ihn hierbei lediglich um die unmittelbare Rettung der politischen Revolution. Man kann daher geteilter Meinung sein über Avineris Behauptung, Marx habe den Terror »aufs höchste« verurteilt; er hat gleichwohl zweifelsohne recht in seiner Feststellung, daß Marx’ Auffassung zufolge, »der Terror sich aus dem Wesen des jakobinischen Versuchs erklärt, eine politische Ordnung zu verwirklichen, der die sozio-ökonomischen Grundlagen fehlten, welche allein eine solche Verwirklichung ermöglichen können«, und daß demnach allein »das Fehlen dieser Grundlagen es dazu brachte, daß das politische Instrument (d.h. der Terror) zum einzigen Weg wurde, die Veränderung zu vollziehen.«45

Andererseits – und dies ist wohl Marx’ wahres Anliegen – enthüllt sich für ihn in den Jahren 1793-94 ein neuer Klassengegensatz, welcher seine Bedeutung daraus gewinnt, daß mit ihm in der Französischen Revolution jener »Schatten« der Bourgeoisie, das Proletariat, als ein durch eigene Aspirationen und Forderungen gekennzeichnetes Kollektivsubjekt zum Vorschein kommt.46 Aber auch in dieser Hinsicht kennt er die historischen Grenzen recht genau: »Als die französische Bourgeoisie die Herrschaft der Aristokratie stürzte, machte sie es dadurch vielen Proletariern möglich, sich über das Proletariat zu erheben, aber nur, insofern sie Bourgeois wurden.« Er folgert also: »Jede neue Klasse bringt […] nur auf einer breiteren Basis als die der bisher herrschenden ihre Herrschaft zustande, wogegen sich dann später auch der Gegensatz der nichtherrschenden gegen die nun herrschende Klasse um so schärfer und tiefer entwickelt.«47

Diese Synthese zwischen dem Noch-nicht-Daseienden und dem andeutungsweise Im-Kommen-Begriffenen ist es, die die Bewertung der politischen Ergebnisse der Französischen Revolution bei Furet und Richet von der Marxens unterscheidet. Den französischen Historikern zufolge stellen diese Ergebnisse, wie wir hervorgehoben haben, die Verheißung an die Welt dar, wohingegen sie dem deutschen Denker vor allem als Symptom der objektiven sozialen und wirtschaftlichen Beschränkungen des sie hervorbringenden Zeitalters gelten, so wichtig sie auch sonst sein mögen. Mehr als auf die Französische Revolution ist Marx’ Interesse auf die sozialistische gerichtet48; sofern er überhaupt der Bezugnahme auf »historische Helden« bedarf, ist sein Augenmerk auf die embryonale Symbolik der Gestalten eines Roux oder eines Leclerc beziehungsweise auf die verhaltene Pionierhaftigkeit Babeufs gerichtet – diese sind ihm die historischen Wegzeichen des Kommunismus, welcher in seiner Zeit noch keinerlei Realität besitzt außer der ideellen Wirklichkeit einer Vision des »neuen Weltzustandes«, deren Wurzeln er aber freilich, wie schon gesagt, in der Französischen Revolution findet.

Da jedoch eine Verwirklichung des Kommunismus ohne Proletariat doch objektiv nicht möglich ist, die Bewußtwerdung des Proletariats sich aber nur in der gesellschaftlichen Praxis des bürgerlich-kapitalistischen Systems vollziehen kann, stellt sich die Frage nach dem Stellenwert der Französischen Revolution bei Marx und Engels von einem anderen Aspekt: Ist die Revolution als »historischer Bruch« oder lediglich als katalysierende Station auf der Achse einer langfristigen historischen Kontinuität zu begreifen?49

Die Problemstellung in einer solchen dichotomischen Auslegung ist für sie offenbar bedeutungslos. Engels z.B. erklärt: »Während in Frankreich der Orkan der Revolution das Land ausfegte, ging in England eine stillere, aber darum nicht minder gewaltige Umwälzung vor sich. Der Dampf und die neue Werkzeugmaschinerie verwandelten die Manufaktur in die moderne große Industrie und revolutionierten damit die ganze Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft.«50 Zwar bezeichnet Engels auch die Veränderung der ökonomischen Grundlage als »Umwälzung«, es ist indes wohl unverkennbar, daß es sich hierbei um einen ungleich weniger explosiven und dramatischen Prozeß als bei der politischen Revolution handelt, eben um eine »stillere Umwälzung«, und es läßt sich noch hinzufügen: Sofern der da erst ansetzende Verbreitungsprozeß jener »neuen Werkzeugmaschinerie« gemeint ist, so muß man ihn als einen graduell fortschreitenden, in seinem Wesen evolutionären Prozeß begreifen. Was sich hier historisch als Parallelverlauf darstellt, sind im Grunde Faktoren einer engen dialektischen Beziehung, die man letztlich nicht auseinanderhalten kann. Der springende Punkt ist, daß eine Veränderung in den materiellen Grundlagen der Gesellschaft determinant ist für die Modifizierung der Lebensweise und des aus ihr resultierenden Klassenbewußtseins. Der Funke zu der sich im politischen Kampf objektivierenden Revolution entspringt demnach einem evolutionären Prozeß: Der »Bruch« ist also keine Alternative der »Kontinuität«, sondern ein konsequentes Ergebnis der in ihr herangereiften konfliktträchtigen Widersprüche. In diesem Sinne sollte man Schmitts und Meyns Behauptung verstehen, daß auch wenn die Französische Revolution »für die ökonomische Entwicklung Frankreichs und Europas von vergleichsweise geringer Bedeutung [war], so war sie aus der Sicht von Marx und Engels für die Entwicklung der Bourgeoisie und des Proletariats als Klassen in ihrem dialektischen Bewußtsein voneinander von kaum zu überschätzender Bedeutung.«51 Jedoch, gerade weil die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft eine für den sozialen Fortschritt unabdingbare Phase darstellt, muß der Stellenwert dieser bedeutenden Revolution relativiert werden: »Marx und Engels haben ihre Sicht niemals auf ein einziges europäisches Land beschränkt. Aus dieser Sicht kommt den unterschiedlichen Ländern Europas jeweils eine besondere Funktion zu. Das Wesen der bürgerlichen Revolution spiegeln sie in ihrer Gesamtheit.«52

Diese Schlußfolgerung muß hervorgehoben werden; enthält sie doch den Hinweis darauf, daß die relevanten Variablen für die nach der Auffassung von Marx und Engels anzusteuernde Entwicklung sich letztlich nicht auf nationaler, sondern eben auf internationaler Klassenebene befinden. Vergleichsanalysen von Ländern, die sich zuweilen in ihren Schriften finden, werden in methodischer Absicht vorgenommen und nicht etwa wegen eines spezifischen Sentiments für diese oder jene Nation – das wertbeladene Postulat und das konfliktorientierte Kampfprinzip, die ihrer Gesellschaftstheorie sowohl als objektive Notwendigkeit als auch als »Schlachtruf« unterlegt sind, beziehen sich auf die Emanzipation aller Menschen, ihr Zweck ist universell.53

Bei oberflächlicher Betrachtung scheint es, als ließe sich auch hinsichtlich der Konzeption eines in der »Kontinuität« verankerten historischen »Bruchs« eine Ähnlichkeit der Auffassung Furets mit der von Marx und Engels feststellen. Reiht doch Furet – sich paradigmatisch auf die Ansätze Tocquevilles und Cochins54 stützend – die Französische Revolution als integralen Bestandteil in den Verlauf französischer Geschichte der letzten Jahrhunderte ein. Nicht von ungefähr lehnt sich sein Zugang hierbei an diese beiden Denker; Tocqueville z.B. schreibt schon zu Beginn des Vorwortes seines Buches »Der alte Staat und die Revolution«:

»[…] Ich war überzeugt, daß sie [die Revolutionäre von 1789], ohne es zu wissen, großenteils die Gesinnungen, Gewohnheiten, ja sogar die Ideen des alten Staates beibehalten hätten, mit deren Hilfe sie die Revolution, die ihn vernichtete, bewerkstelligten, und daß sie, ohne es zu wollen, sich seiner Trümmer bedient hätten, um das Gebäude der neuen Gesellschaft aufzuführen, so daß man, um die Revolution und ihr Werk richtig zu verstehen, das gegenwärtige Frankreich einen Augenblick vergessen und das ehemalige Frankreich in seinem Grabe befragen müsse.«55

Von dieser Grundlage ausgehend, folgert Furet, daß die Revolution »kein neues Volk, kein neues Frankreich« geschaffen habe, und daß sie »viel eher das Ergebnis, die Krönung von Tendenzen, die in der Gesellschaft des Ancien Régime am Werk waren,« sei, »als eine radikale Umwandlung Frankreichs und der Franzosen.« Er betont zugleich das »politische« dieses Ergebnisses in der Auffassung Tocquevilles.56 Ähnlich verhält es sich für ihn mit Cochin, der »nicht nach den Ursachen [fragt], die die Revolution möglich machten, sondern nach der durch die Revolution möglich gewordenen Geburt einer neuen kulturellen Legitimität, der Gleichheit, die von der Entwicklung einer neuen politischen Spielregel, der ›reinen Demokratie‹ begleitet wird«.57 Es handelt sich also wiederum um eine nur vermeintliche Nähe des Furetschen Interpretationskonzepts zu der Auslegung von Marx. Die unterschiedliche Gewichtung der das Paradigma konstituierenden Elemente (soziale und politische Dimension) und die entgegengesetzte Auffassung des Kausalzusammenhanges sind auch hier unverkennbar.

Die bisherige historiographische Darstellung könnte jedoch den Eindruck aufkommen lassen, als setze sich Furet in seiner Debatte mit Marx auseinander. Dem ist natürlich nicht so; der scharfe polemische Ton seines »revolutionären Katechismus«58 richtet sich vorwiegend gegen Tendenzen der französischen sozialistischen Geschichtsschreibung der Revolution, und seine Bezugnahme auf die von ihm sobezeichneten »marxistischen Vulgata« hat keine Kritik Marxens, sondern die der ideologischen Glorifizierung der Revolution im linken »Lager« zum Inhalt.59

Andererseits muß betont werden, daß die linke Historiographie selber keineswegs als homogen aufzufassen sei. Natürlicherweise hebt sie die zentrale Funktion der Massen im revolutionären Prozeß hervor; schon Anfang des Jahrhunderts bemerkte indes Heinrich Cunow, der Dritte Stand sei »schon bei seinem ersten politischen Auftreten nichts Einheitliches« gewesen, sondern »ein Konglomerat verschiedener Erwerbsgruppen mit mannigfaltig differierenden Interessen«, und beklagte den Umstand, daß nichtsdestotrotz »diese Klassenschichtung im ›dritten Stand‹ und die ihr zugrunde liegende wirtschaftliche Struktur […] in den Geschichtswerken über die große französische Revolution fast gar keine Beachtung« fänden.60 Mehr noch: Sofern die Lage von Minderheiten als »Indiz für den Stand der Emanzipation einer Gesellschaft« gesehen werden kann, so stellt sich heraus, daß die Revolution, wenigstens in ihren Anfangsphasen, keinesfalls eindeutig, geschweige denn entschieden und bestimmt gewesen ist.61 Die Zusammenballung von Gegensätzen und Widersprüchen innerhalb der revolutionären historischen »Massen« sowie deren zunehmende Radikalisierung mußten daher ihren Niederschlag in den verschiedenen ideologischen Strömungen der Historiographie finden.

So behauptet George Rudé (der in den sechziger Jahren die Masse des 18. und 19. Jahrhunderts als eine der Verwirklichung ihrer Ziele durchaus nachstrebenden Entität, welche diese gleichwohl aber nicht immer klar zu artikulieren vermag, darstellte62), daß »die Haltung der Sansculotten gegenüber sozialen und politischen Problemen der Epoche nicht ganz eindeutig« gewesen sei, daß ihnen (weil sie »aus den verschiedenartigsten Elementen« bestanden) »der Zusammenhalt einer sozialen Klasse« gefehlt habe, und daß sie daher nicht imstande gewesen seien, »eine bewußte ›Vorhut‹ der Revolution zu bilden«; folgerichtig mißt er denn auch den Streiks in Paris eine viel geringere Bedeutung bei als den Hungerrevolten und stellt fest, daß es vor allem der Brotpreis und nicht der Lohn gewesen sei, der die Arbeiter sowie die übrigen kleinen Konsumenten in den Revolutionsjahren beschäftigt habe.63 Eine ähnliche Position bezieht der wohl bedeutendste Sansculotten-Forscher Albert Soboul. Auch er vertritt die Meinung, daß der die sozialen Kämpfe der Pariser Massen dominierende Faktor nicht in den Fabrikarbeitern oder im »Vorproletariat«64, sondern in einem »Bündnis von Meistern und Gesellen« zu sehen sei. Die Arbeiter seien meist »vom Handwerkergeist und der Ideologie des Kleinbürgertums durchdrungen« gewesen, sodaß sie weder in ihrem Denken noch in ihrem Handeln »ein unabhängiges soziales Element« bilden konnten.65

Demgegenüber sind die auf Rudés Behauptungen gegebenen Antworten Jakob Sachers und Sophie A. Lottés durch den beharrlichen Versuch gekennzeichnet, das »Vorproletarische« zumindest eines Teils der Sansculotten zu bewahren. So z.B. spricht Sacher vom »tiefgehenden Egalitarismus der plebejischen Massen (und vor allem ihres vorproletarischen Kerns) […], der sich vom seichten Egalitarismus der jakobinischen Bourgeoisie« wohltuend unterscheide66; und Lotté bemerkt gar: »[…] im vorrevolutionären Frankreich des 18. Jahrhunderts hatte das Leben aller Schichten des Vorproletariats gewisse gemeinsame Züge, die zu ähnlichen Forderungen gegenüber verschiedenen Kategorien von Unternehmern führten.«67

Die Verwendung des Begriffs »Vorproletariat« verfolgt zweierlei Zwecke: Einerseits soll sie die methodische Identifizierung jener Gruppen innerhalb der Masse ermöglichen, von denen behauptet werden kann, sie hätten schon in jener »politischen Revolution« ein soziales Bewußtsein gehabt. Andererseits erfüllt sie ein außeranalytisches Bedürfnis, indem durch sie sozusagen die Väter des großen Proletariats, zumindest begrifflich, in die Welt gesetzt werden – hat doch jenes »große Proletariat […] das Recht auf die sorgfältige und wissenschaftliche Erforschung seiner Geschichte in allen Ländern.«68 Akzeptiert man jedoch den Hinweis Sobouls darauf, daß der Ausdruck »Vorproletariat« »im Hinblick auf die künftige soziale Entwicklung« erfunden worden sei69, und Marx’ Feststellung, daß das, »was man mit den Worten ›Bestimmung‹, ›Zweck‹, ›Keim‹, ›Idee‹ der früheren Geschichte bezeichnet, weiter nichts ist als eine Abstraktion von der späteren Geschichte, eine Abstraktion von dem aktiven Einfluß, den die frühere Geschichte auf die spätere ausübt«70, so erhebt sich die Frage: Was liegt marxistischen Historikern im 20. Jahrhundert so sehr daran, die Geschichte des proletarischen Klassenbewußtseins nach hinten hin zurückzuverlängern, wenn sich doch Marx und Engels selber mit dem Postulat begnügen, daß die Geschichte der Menschen objektiv eine Geschichte des Klassenkampfes sei, auch dann noch, wenn das subjektive Bewußtsein dessen nicht besteht bzw. historisch nicht bestehen kann? Es scheint, als hinge die Antwort hierauf mit dem Zeitpunkt zusammen, an dem der jeweilige Verfasser seinen Bestrebungen nachkommt: Für den im 20. Jahrhundert, nach der Oktoberrevolution, schreibenden Historiker hat die Französische Revolution eine affirmative Funktion; die Revolutionsgeschichte gewinnt an Bedeutung durch eine im nachhinein konstruierte, polsternde Legitimierung des begangenen Weges – die Historiographie wird zum ideologischen Akt.71 Marx und Engels hingegen war die Französische Revolution vor allem das Sprungbrett zur theoretischen Erkenntnis und die empirische Erweiterung einer praktisch orientierten Lehre, welche (wenn man will) den theoretischen Überbau einer zukünftigen proletarischen Revolution abgeben sollte; sie schrieben aus utopischer Position.72 Um jegliches Mißverständnis aus dem Weg zu räumen, sei hier nochmals darauf hingewiesen, daß wir (im Gegensatz zu Cobban73) die Tendenz, historische Entwicklungen anhand ihrer nachmaligen Ergebnisse zu beurteilen, nicht nur als durchaus akzeptabel, sondern, wie wir bereits oben darlegten, als unumgänglich erachten.

Besonders scharfen Widerspruch der marxistischen Revolutionshistoriker riefen die Thesen Daniel Guérins hervor74. Mehr als andere verficht er die Auffassung eines embryonal schon zur Zeit der Jakobinerherrschaft bestehenden proletarischen Klassenbewußtseins der Sansculotten und sammelt Zeugnisse ihrer Aktivität in den Sektionen, welche »bereits einen Beweis der Fähigkeit zur Selbstverwaltung« liefere.75 Gegenüber der zwielichtigen Egalitarismusideologie des revolutionären Bürgertums entdecken – so Guérin – jene »bras nus« spontan das »politische System der direkten Demokratie, [das] völlig verschieden war von der liberalen Demokratie, wie die Bourgeoisie sie verstand.«76 Guérin beraubt somit sowohl die »ängstlich um die Wahrung ihres Monopols in öffentlichen Angelegenheiten besorgten Bourgeois« als auch die Theoretiker der Revolution und bis zu einem gewissen Grad auch die die Sansculotten anführende jakobinische Elite ihrer Schirmherrschaftsfunktion. Dies kann nicht allzu sehr überraschen; war doch die Problematik der Führung des revolutionären Proletariats unter den Marxisten selbst von jeher umstritten. So hat Joachim Israel darauf hingewiesen, daß unterschiedliche Theoretiker, wie der junge Lukács, Rosa Luxemburg, Max Horkheimer und Herbert Marcuse, die Auffassung vertraten, daß wenn »das Proletariat auf Grund seiner faktischen Situation – des Ausgebeutet- und Unterdrücktwerdens – eine historische Mission hat, dann wird es sich seiner historischen Situation bewußt werden und die politischen und organisatorischen Mittel entwickeln, die es zur Erfüllung dieser Mission braucht«77; die alternative Auffassung habe in Lenin und den Theoretikern der stalinistischen Epoche ihre Vertreter gehabt: »Sie behauptet, daß das Proletariat nicht fähig sei, ein revolutionäres Klassenbewußtsein zu erlangen. Dieses Klassenbewußtsein muß durch eine Elite, die in einer revolutionären Partei organisiert ist, in das Proletariat eingebracht werden.«78

Dieses bedeutungsvolle Thema, das angesichts der Entwicklungen im 20. Jahrhundert an aktueller Brisanz gewann, wird also auf das Ende des 18. Jahrhunderts verlagert. Damals – so läßt sich Guérins Interpretation verstehen – war die Konfrontation des Problems von besonderer Relevanz, denn »Danton und Robespierre, die Retter der Bourgeoisie, haben ›das Volk geschickt verraten‹«.79 Das Volk seinerseits benötigt aber eine solche Führung gar nicht, es ist imstande, seine Schwächen aus eigener Kraft zu meistern: »Keine Anarchie, kein Schwanken bei dieser neuen, improvisierten Verwaltung durch das Volk. […] Man sieht hier, wie die Masse, als wäre sie sich ihres natürlichen Hanges zur Undiszipliniertheit bewußt, ständig besorgt ist, sich selbst zu disziplinieren.«80

Eine solche provokant radikale Auffassung mußte die heftige Kritik marxistischer Historiker hervorrufen.81 Georges Lefebvre stellt entschieden fest, die Französische Revolution habe die vom hohen Adel auf die Gesellschaft ausgeübte Herrschaft gestürzt, dies (und nichts mehr) sei ihr Sinn und Zweck gewesen. Das Volk habe zwar die Revolution gerettet, »aber es konnte das nur im Rahmen und unter der Führung der Bourgeoisie tun.« Überdies seien die Sansculotten keinesfalls als Proletariat zu begreifen; habe doch die Mehrzahl unter ihnen dem Kleinbürgertum angehört: »Sie waren an die bürgerliche Ordnung gebunden, weil sie bereits Eigentümer waren oder danach strebten, es zu werden«. Die große Masse dessen, was Guérin als »bras nus« bezeichnet, sei nicht durch den proletarischen Wunsch motiviert gewesen, die Gesellschaftsstruktur zu verändern, sondern habe Brot gewollt, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Was die Bourgeoisie selbst anbelangt, unterscheidet Lefebvre zwischen zwei Kategorien in ihr: Die eine habe die Versteinerung der sozialen Hierarchie und die Absperrung der Mobilität der unteren Schichten gewollt. Es habe aber auch eine zweite Kategorie gegeben, welche es als die Pflicht der politischen Demokratie erachtete, den sozialen Aufstieg zumindest zu begünstigen. Die in der Erklärung der Rechte von 1793 auf Antrag Robespierres eingefügte Bestimmung, daß die »staatliche Unterstützung« eine »heilige Schuld« sei, habe man als den »ersten Keim einer Sozialversicherung« zu sehen, und so folgert Lefebvre: »Die Montagnards haben sich in das Buch der Geschichte eingeschrieben als die Ahnen dessen, was man seither soziale Demokratie genannt hat […]«.82

Die heftige Kontroverse zwischen Guérin und Lefebvre ist von großer Bedeutung, weil sie einen Höhepunkt der ideologischen Debatte im Lager der marxistischen Historiker bildet. Ernest Labrousse hat auf die historiographische Linie hingewiesen, welche sich von Aulards politisch dominierten Ereignisgeschichte, über die Verbindung von Sozial- und politischer Geschichte bei Mathiez bis hin zur »Klasse als materiellem und geistigem Phänomen, eingebettet in den Zusammenhang der historischen Ereignisse und Besonderheiten« im Werk Lefebvres durchzieht.83 Mit Guérins Buch besteigt nun zum ersten Mal jene anonyme Masse der Gesellschaft, jene Erniedrigten und Beleidigten, die historiographierte Bühne der Geschichte, jedoch nicht mehr als utopische Vision oder als ideologische Funktion anderer Sozialschichten, sondern als gesellschaftliche Kategorie, welche ihrem Bestehen durch Aktionen, die ihre politische Mündigkeit und ihr angehendes Klassenbewußtsein bezeugen, Ausdruck verleiht. Um die Individuation dieses kollektiven Wesens zu gestalten, sieht sich Guérin gezwungen, es mit einem diskreditierten jakobinischen Establishment zu konfrontieren. In dieser Weise wird Danton, aber auch Robespierre, zum »Verräter«. Ohne auf die historische Wahrhaftigkeit einer solchen Auffassung einzugehen, läßt sich behaupten, daß sie die meisten marxistischen Historiker a priori nicht akzeptieren konnten – die sowjetischen wegen der aus ihr herauslesbaren Herausforderung gegenüber der Parteidoktrin, die französischen als Repräsentanten der Zeit nach dem Tode Lefebvres, in der »ein nahezu unbestrittener Konsens über die Positionen der ›jakobinischen‹ Historiker« herrschte.84

Eine solche weitverbreitete historiographische Übereinstimmung war in Frankreich keineswegs selbstverständlich gewesen. Die Debatte um die Bedeutung der jakobinischen Bewegung (und ihres Kampfes gegen die Gironde) für den Verlauf der Revolution hatte noch im 19. Jahrhundert begonnen und ist in gewisser Hinsicht noch immer nicht beendet.85 Auch über die Phase, die dem Sturz der Gironde folgte, d.h. über die Jakobinerherrschaft selbst, gehen die Meinungen auseinander, wie sich der Rezeption der Schlüsselgestalten Danton und Robespierre deutlich entnehmen läßt.

Es war Aulard, der die »Ehrenrettung« Dantons zuerst in Angriff nahm, indem er »dessen Größe und Vitalität, dessen elementare Menschlichkeit im Kontrast zu Robespierre« herausstrich.86 So beschreibt er Robespierre als hypokritischen Demagogen, der die Konsequenz seiner Positionen hervorhebe, sich in Wahrheit jedoch vom Monarchisten vor dem 10. August zum Republikaner nach dem 22. September wandle, der also im Grunde nicht so sehr der Führer der Massen, sondern der von ihnen Geführte sei. Zwar vermöge er, auf das Gute hinzuweisen, nicht aber auf das Mögliche; er könne wohl darauf deuten, was zu geschehen habe, niemals aber wie. »Er liebt das Vaterland, die Menschheit; er ist bereit für das Volk zu sterben. Aber er betet sein Ich an, stellt es zur Schau. Sein Haß ist ewig […]«.87

Gegenüber diesem heuchlerischen Redner, der eine Politik der Macht und Gewalt betreibt, wird Danton als »Mann der Tat und des Kampfes« dargestellt, der »seine Zuhörer keinen Augenblick in Unwissenheit darüber [läßt], was geschehen soll und mit welchen Mitteln.« Er gebe »bestimmte, rasche Ratschläge, die er nicht durch Gesetze motiviert, die aber dem Geiste der Revolution nach Möglichkeit entsprechen«. In scharfem Gegensatz zum Dogmatismus Robespierres charakterisiert Aulard die Politik Dantons als das, »was man heutzutage Opportunismus nennt, wenn dies Wort im günstigen Sinne gemeint ist.«88 In dieser seiner Politik sei er vom »durch die Geschichte aufgeklärten Verstande« geleitet. Er habe kein fertiges Programm zur Organisation der Demokratie, sei aber dennoch Demokrat. »Er eilt der öffentlichen Meinung nie voraus. […] Seine Methode ist die des Handelns von Tag zu Tag, der unmittelbaren Lösung der Schwierigkeiten in empirischer Weise, wie sie sich einstellen.« Auf dieser Basis hat man wohl auch seine Kompromißbereitschaft sowohl in der Innen- als auch in der Außenpolitik zu verstehen; die Revolution und die Einheit gehen ihm über alles; für diese »opfere [man] alles, bisweilen sogar die Wahrheit«, wenn es der Sache dienlich ist. Aulard betont jedoch: »Haß und Groll sind ihm unbekannt.«89

Gerade ein Schüler Aulards, Albert Mathiez, drehte den Spieß um und widmete einen Großteil seines wissenschaftlichen Wirkens der Rehabilitierung des »unbestechlichen« Robespierre. Auch er gebraucht die Diskreditierung des Gegners seines historischen Helden als Methode zur Schaffung einer »reinen«, sich durch makellose Persönlichkeit und Taten auszeichnende Gestalt. So wird Danton indirekt beschuldigt, die »Volksjustiz« vor den Septembermorden begünstigt, und während des Geschehens, »nicht einen Finger« gerührt zu haben, um ihnen Einhalt zu gebieten.90 Demgegenüber hebt Mathiez dessen Bereitschaft zur Kooperation mit dem Emigranten Theodor Lameth beim Versuch, den König zu retten und seine bevorstehende Verurteilung abzuwenden, hervor. So erklärt sich denn auch das (an sich nicht uninteressante) in der Charakterisierung von Dantons Psychologie enthaltene Paradox: »Danton hatte zu viel Verachtung für das menschliche Leben, um blutgierig zu sein. War der Streich geführt, das Ziel erreicht, dann war sein Herz sogar dem Erbarmen aufgeschlossen […]«.91 Sein Widerstand gegen die Politik des Wohlfahrtsausschusses wird als reaktionär aufgefaßt, sein Aufruf zur Milde als durch persönlich-politische Interessen motiviert, und so sei er im Grunde ein korrumpierter Abenteurer gewesen, »der sich nur auf seine revolutionäre Vergangenheit berief, um die Revolution besser vernichten zu können.«92 Mathiez meint gar, Danton habe den Sturz der Revolutionsregierung und die Änderung der Staatsform gewünscht; man wundere sich also nicht, daß sich die Hinrichtung Dantons und seiner Freunde »unter völliger Gleichgültigkeit« der Bevölkerung vollzogen habe: »Wie sollten sich auch Franzosen welcher Gesinnung immer für Abenteurer interessieren, die hintereinander den verschiedensten Parteien gedient und sie verraten hatten und nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht waren!«93

Als Gegenstück zur menschlichen Gestalt Dantons in dem von Aulard geschaffenen Porträt erscheint in Mathiez’ Skizze ein Robespierre, »dessen Herz menschlich und sogar weich, dessen Glauben an die Freiheit tief und aufrichtig war«, und der auch im Kampf gegen Feinde der Revolution »sich doch zumindest bemühte, die Repression auf das strikt notwendige Minimum zu beschränken.«94 Während seines gesamten Kampfweges habe er versucht, eine Spaltung unter den Revolutionären zu vermeiden, wobei er sich allerdings, abgesehen von den das Land von außen bedrohenden Gefahren, sowohl mit den Angriffen der »Gemäßigten« unter Dantons Führung als auch mit denen der Hébertisten habe auseinandersetzen müssen. Jedoch selbst als die Einführung des Schreckensregimes unumgänglich geworden war, sei er nicht durch Rache- und Mordgedanken motiviert worden, sondern habe es getan, um die Revolution zu retten, denn »Robespierre hatte einzig das Interesse der Revolution im Auge.«95 Der Sturz Robespierres und seiner Leute wird von Mathiez denn auch als Tragödie aufgefaßt; sei es ihnen doch darum zu tun gewesen, gerade mittels des Terrors den Umsturz der Besitzverhältnisse zu bewirken. »Die von ihnen erträumte Republik der Gleichheit, in der es keine Reichen und keine Armen geben sollte, und die sie mit den Gesetzen des Ventôse zu errichten gedachten, war mit ihnen zu Tode getroffen.« Ein kleiner Teil der Handwerker und Kleinbürger habe dies begriffen, viele Patrioten hätten aus Verzweiflung Selbstmord begangen; andere hätten später ihre Teilnahme am 9. Thermidor bereut, zu spät, denn: »Sie hatten in Robespierre die demokratische Republik für ein Jahrhundert getötet.«96

Diese letzte Äußerung demonstriert aufs deutlichste, wie historische Figuren in ihrer Funktion als Symbolgestalten herangezogen werden, um politische bzw. soziale Konzeptionen metaphorisch zu veranschaulichen; ihre persönlichen Eigenschaften werden gleichsam zum äquivalenten Attribut ganzer staatlicher Gebilde oder breiter gesellschaftlicher Schichten. Aulards »guter Danton« vertritt das »Gute« am republikanischen Prinzip, ebenso wie der »korrupte und opportunistische Danton« von Mathiez die »verräterische Bourgeoisie« personifiziert; ähnlich wie im »zur Gewalt neigenden Robespierre« Aulards Ablehnung der politischen Radikalisierung verkörpert ist, so ist der von Mathiez dargestellte »unbestechliche Robespierre« Sinnbild tugendhafter Reinheit des revolutionären Kampfes.

Spätere Historiker waren bemüht, die Interpretation aus dieser unüberbrückbar scheinenden Polarität zu lösen. Lefebvre z.B. vermutet, daß die Danton durch die Masse verliehene Autorität an sich schon eine gewisse ihm eigene Ehrlichkeit bezeuge, sonst wäre er wohl nicht fähig gewesen, seine Führerschaft so lange zu wahren. Das hieße nicht, daß man seine Politik akzeptieren müsse; aber selbst, wenn er der Auffassung gewesen sei, man solle in Frankreich die Monarchie wiederherstellen, so habe man darin kein Verbrechen zu erblicken – den Fortschritt der Demokratie habe er ohnehin allenfalls aufhalten können. Es sei daher angebracht, seine Politik als eine sich entwickelnde Linie zu betrachten: »[…] vom revolutionären Standpunkt aus ist sie im August und September 1792 höchst anerkennenswert, verständlich, aber anfechtbar in den folgenden Monaten; immer noch verständlich, in ihren Tendenzen sowie in ihren Ergebnissen jedoch verhängnisvoll zur Zeit seines Eintritts in den Wohlfahrtsausschuß; höchst beklagenswert in den letzten Monaten seines Lebens.«97

Auch Alfred Cobban registriert eine Metamorphose in der Entwicklung Robespierres vom Oppositionsmann zum Herrscher; er widersetzt sich jedoch Aulards Auffassung, daß es sich hierbei um politischen Opportunismus gehandelt habe. Er legt dar, daß Robespierre weder seine demokratischen Ideale verlassen noch bewußt den Tyrannen gespielt habe; bis zu seinem Ende sei die Wahrung der politischen Freiheit sein höchstes Ziel gewesen, und er habe für Prinzipien gekämpft, die in den heutigen demokratischen Gesellschaften als selbstverständlich erscheinen mögen, unter den gegebenen Umständen seiner Zeit jedoch kaum verwirklichbar gewesen seien. »Seine verzweifelten Versuche, konsequent zu bleiben, zeugen nicht von Heuchelei, sondern vielmehr von der Aufrichtigkeit seiner Zielsetzung.«98

Albert S. Manfred hebt zwar die erkennbare klassenbezogene Dimension in der Gestalt Dantons, der ab 1793 einen Anziehungspunkt für diejenigen Elemente in den jakobinischen Reihen, welche mit der neuen Bourgeoisie verbunden waren, dargestellt habe, betont aber gleichzeitig, es bestehe nicht die geringste Notwendigkeit, »für Robespierre ein genaues soziales Äquivalent oder ein Etikett zu suchen, um ihn in die eine oder andere Kategorie des Mittel- oder Kleinbürgertums einzureihen.« Es genüge festzustellen, »daß Robespierre während der Revolution die Interessen des französischen Volkes vertrat und verteidigte.«99

Für Martin Göhring verkörpert Danton »das Ungebundene, Urwüchsige«. Seine »wilde Kraft« habe ihn dazu getrieben, »Menschen aufzuwühlen und in Bewegung zu setzen«; er sei jedoch nicht als blinder Zerstörer oder Anarchist anzusehen, sondern vielmehr als »eine einzigartige Mischung von brutaler Gewalt und jovialer Schlauheit, von Verwegenheit und List.«100 Ein politisches Konzept habe er zwar nicht gehabt und als Politiker habe er letztlich versagt; sobald indes die Rede vom Vaterland, von Frankreich, gewesen sei, habe sich dieses ungestüme Wesen als Versöhner entpuppt, der, über persönlicher Abneigung stehend, die politischen Gegner zur Einheit gegenüber der äußeren Bedrohung aufruft und anfeuert.

Die Gestalt Robespierres beschreibt Göhring als den vollkommenen Gegensatz zu der Dantons. Neben der leidenschaftlich quellenden Persönlichkeit des Führers der Cordelliers erscheint Robespierre als nüchterner Mensch von scharfem, kompromißlosem Geist, der sich »ganz langsam« und mit großer Beharrlichkeit »nach vorne« durchkämpfen muß. So beschaffen, hat er keine andere Wahl, als sich das ihm »angeborene Mißtrauen« zunutze zu machen: »Männer wie Robespierre, die nicht durch die physische Erscheinung, durch äußere Gaben der Natur als Führergestalten gezeichnet sind und nicht starken Magneten gleichen, die durch ihre Masse anziehen, sind notwendigerweise an das Mißtrauen gebunden. Danton war es fremd. Welche Gegensätze sind diese Männer, die nebeneinander der Revolution dienen!«101 Göhring akzeptiert nicht die pauschalisierenden Angriffe auf Robespierre. Die Behauptung Frankreichs in der kritischen Zeit der Revolution sei untrennbar mit seinem Namen verbunden, so auch die Organisation und Konsolidierung des Wohlfahrtsausschusses. Er sei »ein Demokrat reinsten Wassers« gewesen, der an die von ihm vertretenen Anschauungen unbeirrbar geglaubt habe; dementsprechend wäre es auch verfehlt, ihn als »Terroristen schlechthin« abzutun – Grausamkeit im gewöhnlichen Sinn habe er nicht gekannt und zweckloses Morden sei ihm zuwider gewesen. Dennoch seien in ihm die Eigenschaften eines »politischen Inquisitors« erkennbar, der sich schematisch von einer dualistischen Auffassung der Menschen leiten lasse. Aus diesem Grund sei er auch als Staatsmann gescheitert, als es an ihm gelegen hätte, für die Normalisierung zu sorgen (die große Versöhnung herbeizuführen), nachdem die großen Gefahren vergangen waren. Dazu sei er unbefähigt gewesen, weil ihm eben der Begriff der Synthese fremd war. Alles in allem bleibe er jedoch »Künder einer Idee, die für sich genommen, groß und erstrebenswert erscheint«.102

Es ist schließlich Furet, der den Versuch unternimmt, die metaphorisierende Verknüpfung von Gestalt und historischem Prozeß aufzulösen, indem er die Gestalt Robespierres, samt ihrer psychologischen Eigenschaften, vom Symbol der Revolution in deren Funktion (rück)verwandelt. Seiner Auffassung nach ist Robespierres Darstellung als diktatorisches Ungeheuer ebenso unsinnig, wie die Bezeugung seiner Unbestechlichkeit zwecklos erscheint.

»Der diesen beiden Schulen gemeinsame Widersinn liegt darin, daß man die geschichtliche Rolle, die die Ereignisse ihm aufzwangen, und die Sprache, die sie ihm eingaben, den psychischen Eigenschaften des Mannes zuschreibt. Was aus Robespierre eine unsterbliche Gestalt macht, ist nicht, daß er ein paar Monate lang Herr über die Revolution war, sondern daß die Revolution aus ihm mit der zugleich tragischsten und reinsten Stimme spricht.«103

Es stellt sich indes heraus, daß das Bedürfnis nach Individualgestalten als Symbole politischer, sozialer und moralischer Anschauungen ungleich stärker geprägt ist, als die Einsicht in die Beschränktheit ihrer epistemologischen Gültigkeit. So registrierte schon Cunow die Mannigfaltigkeit der Attribute, die die Historiographie des 19. Jahrhunderts Marat anhängte: Er ist einerseits »brutaler Zyniker«, andererseits »uneigennützigster Humanitätsapostel«; die einen sehen in ihm einen »überspannten, von wildem Ehrgeiz gepeitschten leidenschaftlichen Fanatiker«, den anderen gilt er als »Verrückter und Narr«; mit Vorliebe wird er als »blutige Bestie« betrachtet, und für Göhring verkörpert er gar als »hemmungsloser Demagoge« in »Wort und Tat, in Gebärde und Haltung die schwarze Kehrseite der Revolution«.104 Als noch problematischer entpuppt sich die Personofizierung sozialer Randgruppen und Unterschichten, welche »durch ihren politischen Extremismus den Weg zu einer neuen Ordnung, von der sie selbst zerrieben werden«, öffnen.105 Um dieses Element der Revolution als historisches Subjekt präsentieren zu können, muß man ihn in »Masse«, »Volk«, »Nation«106 oder, im differenzierteren Fall, in »Sansculotten« verwandeln; es tritt dann allerdings gemeinhin in seiner Funktion als Anhängerschaft dieser oder jener politischen Führer auf, welche ihrerseits von ganz anderen gesellschaftlichen Schichten abstammen. Die anonyme Masse bringt – so will es scheinen – keine authentischen Führer hervor, die ein adäquates historiographisches Symbol abgeben könnten.

Genau hierauf bezieht sich Walter Markov, wenn er vom »Elend der [historischen] Biographie« spricht. Er bezichtigt die bürgerlichen Historiker einer bewußten, ideologisch motivierten historiographischen Verdrängung von Gruppen, wie der Bewegung der »Enragés«, und wirft ihnen abschätzige Überheblichkeit vor. Diese Verdrängung resultiere aus einer augenscheinlichen Verwechslung zwischen Jakobinismus und Volksbewegung: »Was jenseits des ›Berges‹ lag, versperrte sich von vornherein die Anerkennung als mitbestimmendes Element im Revolutionsprozeß. Die Herolde einer Klasse, die sich soeben anschickte, die Kommandobrücke der Weltgeschichte zu besetzen, spürten keine Veranlassung, ihrem Gegner von morgen zu einem anfeuernden Urbild zu verhelfen.«107 Markovs Held ist Jacques Roux; sowohl in seiner sozialen Abstammung als auch in seinem Wirken und seinem Schicksal verkörpere er die ungeschriebene Geschichte der unteren Schichten sowohl in der Revolutionszeit als auch nach ihr. Markov meint, es sei der Druck der sansculottischen »Alternativen« gewesen, welche die Jakobiner »zum Erkundungsvorstoß an die äußerste Belastungsgrenze bürgerlicher Demokratie« gezwungen hätte108, er ist sich freilich aber auch dessen bewußt, daß die Volksbewegung kein »Glück auf Erden« zu erwarten hatte – weder von den Jakobinern noch von sich selbst, wenn sie im Jahre 1794 unter Führung der Cordelliers zur Herrschaft gelangt wäre. Er selber behauptet, es habe nicht wenig »Desperados und Wirrköpfe« gegeben, welche nicht der radikalen Linken der Enragés zuzurechnen seien. Und dennoch: Mag es auch nicht in ihrem Sinne gelegen haben, die Jakobiner von der Macht zu stürzen, so sei es doch der herausragende Vertreter der Enragés, Jacques Roux, gewesen, der dem Grundsatz Ausdruck verliehen habe, den nicht jeder laut zu denken bereit gewesen sei: »Daß das ›nützliche Volk der Armen‹ zum Segen der Revolution in ihr verbleiben müsse, um sein Wort zu sagen und nicht den Eigentumskatechismus einer anderen Klasse nachzuplappern«; genau das sei ihm allerdings von der Montagne, »sobald sie sich fest im Sattel wähnte«, strikt verwehrt worden.109

Roux’ Ende ist zwar exemplarisch, jedoch nicht unbedingt im Sinne seiner spezifischen sozialen Zugehörigkeit. Die Revolution frißt bekanntlich ihre Kinder; betrachtet man jedoch das Fazit, so ist freilich die Feststellung unumgänglich, daß letztlich Vertreter aller gesellschaftlichen Schichten und aller politischen Strömungen in dieser oder jenen Phase der Revolution ihr Leben lassen mußten. Von Anfang an war daher die Geschichtsschreibung der Revolution vor einem Sonderproblem gestellt, sobald sie daran ging, sich mit dem Phänomen des gewaltsamen Todes (einem integralen Bestandteil jener Epoche) auseinanderzusetzen. Auch wenn man die vorherrschende historiographische Linie des 19. Jahrhunderts, nach der Terror und Mord unausweichliche Ergebnisse der von der jakobinischen »Pöbelherrschaft« hervorgebrachten politischen Anarchie und Sittenlosigkeit darstellten, übergeht, und sich der Rezeption im 20. Jahrhundert zuwendet, trifft man selbst bei Anhängern der Revolution auf eine unterschwellige Apologie, sobald sie sich auf ein Phänomen wie das der »Septembermorde« beziehen. Es versteht sich von selbst, daß auch in diesem Zusammenhang die Darstellungstaktiken und die aus ihnen hervorgehenden Schlußfolgerungen nicht einheitlich sind.

Mathiez – nachdem er wohlweislich dargelegt hat, daß es Danton gewesen sei, der nichts dagegen hatte, »daß das Volk ›sich selbst Recht schaffe‹« – erwähnt die aufpeitschenden Reden der Sektionsvertreter in der Kommune, während die Sektionen selbst mit der allgemeinen Rekrutierung und den Vorbereitungen für den patriotischen Kampf gegen die äußeren Feinde der Revolution beschäftigt waren. Er beschreibt zwar in Kürze die Greuel der Gemetzeltage und redet auch von einem »Blutrausch«, betont aber ausdrücklich, die Bevölkerung habe »diese Schreckensszenen teils gleichgültig, teils mit Genugtuung« hingenommen und benutzt den Brief der Madame Julien vom 2. September, um klarzustellen, daß »das in seinem Zorn furchtbare Volk [Rache nimmt] für die Verbrechen, die feiger Verrat drei Jahre lang an ihm begangen hat«.110 Eng damit verbunden ist für Mathiez das »patriotische Fieber«, die Hingabe und die Aufopferung, welche die Sektionen in den damals stattfindenden Vorbereitungen zum bevorstehenden Krieg charakterisiert hätten, und so folgert er: »Das Erhabene und das Ungeheuerliche berührten sich.«111

Auch Soboul erwähnt die »quälende Furcht vor Verrat«, welche die Bevölkerung am Vorabend der Ereignisse gepeinigt habe. Aus seiner Darstellung geht hervor, daß der Anlaß für die Ereignisse in den gegen die eidverweigernden Priestern unternommenen Schritte zu sehen sei, und daß »nach der Konzeption der Volkssouveränität […] die Ausübung der Gerichtsbarkeit direkt zu dieser Souveränität, deren sich das Volk dann wieder unmittelbar bemächtigt, wenn es not tut«, gehöre. Soboul begnügt sich jedoch nicht mit der nationalen Dimension der »Reaktion des Volkes« (der Angst vor den einmarschierenden Preußen), sondern verbindet sie mit einem sozialen Aspekt: »Zu der Angst um die Nation kam […] noch die soziale Angst: Angst um die Revolution und Furcht vor der Konterrevolution. Das aristokratische Komplott bedrückte erneut die Gedanken der Patrioten.« Soboul vermeint also einen Zusammenhang zwischen den »Septembermorden« und dem »sozialen Haß«, der angesichts der »Umstände« nur zu verständlich gewesen sei, zu erkennen, und somit erhält das Massaker für ihn einen nahezu symbolischen Charakter: »Zu keinem anderen Zeitpunkt der Revolution zeigte sich die enge Verbindung des nationalen Problems mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in dieser Deutlichkeit.«112

Das im Zusammenhang mit der Rezeption der »Septembermorde« natürliche Gefühl der Doppelwertigkeit ruft bei gewissen Historikern das Bedürfnis nach eindeutiger Aussage hervor, damit sich das Phänomen als integraler Bestandteil der Revolution einfügen lasse. Für Peter Fischer stellen sie daher »eine Strafaktion des Volkes gegen Elemente, die irgendwie in die Konspiration mit dem Ausland verwickelt waren«, dar; man habe in ihnen demgemäß »eine Tat des wachsenden Selbstbewußtseins« zu erblicken, »ein Exempel, das zeigen sollte, daß man mit dem Volk nicht mehr so umspringen könne wie bisher.« Problematisch und »ein Gegenstand des Abscheus« seien die »Septembermorde« ohnehin erst dann geworden, »als sich für die Gironde Gelegenheit bot, sie den Männern des Berges in die Schuhe zu schieben«.113

Eine solche Resolutheit kann freilich gerade im besagten Zusammenhang nur von den wenigsten Historikern geteilt werden. Das Gefühl der Ambivalenz und des Geheimnisvollen dominiert für gewöhnlich die Betrachtungsweise der meisten von ihnen. George Rudé z.B. sieht die Ereignisse zwar in der »panischen Angst« vor der Bedrohung durch Konterrevolution und Invasion begründet, betont aber doch, daß sich diese »mysteriöse Episode« exakter Analyse entziehe114. Ähnlich begreift auch Vovelle die »panische Reaktion« auf die »doppelte Furcht« als »eines der dunkelsten Kapitel der Revolution.« Er hebt hervor, daß neben Aristokraten und Priester auch »unzählige Strafgefangene« unterschiedslos hingemeuchelt worden seien, und so stellt für ihn das Septembermassaker das große Kontrastbild zu Valmy dar.115

Furet und Richet unterstreichen den sozialpsychologischen Aspekt der Septembermorde und verschieben somit die Gewichtung einer vorgeblichen bewußten sozialen Dimension der Aktion. Zwar verbindet sich für sie die Tatsache, daß fast Dreiviertel aller Getöteten gewöhnliche Kriminelle waren, damit, daß sie »besonders verhaßt waren, weil in den Kerkern falsche Assignaten angefertigt wurden«, aber im Grunde – so kann man ihrer Argumentation entnehmen – seien die von der »panischen Angst vor dem Verrat« herrührenden »vernebelten Gewissen« eine Reaktion auf tiefer liegende historische Vorbelastungen gewesen: »Noch einmal erhob sich aus dem Dunkel des Unterbewußtseins die jahrhundertealte Furcht der Geknechteten dieser Welt und entlud sich in einem Delirium kollektiver Gewalttätigkeit.«116 Die Verfasser stützen sich auf Jaurès’ Diktum, daß die Angst keine revolutionäre Kraft sei, um sowohl auf die Notwendigkeit des Geschehens als auch auf das ihm einwohnende Paradox hinzuweisen: »Für den Augenblick, kurzfristig, tritt die Revolution des Elends, der Leidenschaften und der rächenden Gewalt in den Vordergrund, und die eigentliche Revolution ist ohnmächtig ohne diese zweite.«117

Komplizierter und wohl auch von größerer ideologischer Bedeutung als die »Septembermorde« scheint das Thema des Terrors in der Französischen Revolution zu sein, weil sich seine historiographische Deutung nicht in die Unverbindlichkeit einer spontanen, kurzfristigen oder gar unbewußten »Episode« flüchten kann. Die sogenannte »Schreckensherrschaft« war ein bewußt eingesetzter und, zumindest in den Anfängen, wohl organisierter politischer Akt.118 Sein historisches Echo ist noch deutlich in Georges Sorels Erörterung des Zurückschreckens vor proletarischer Gewalt vernehmbar: »[…] die geringste Beobachtung genügt hier für die Feststellung, daß die proletarischen Gewalttaten eine Menge peinlicher Erinnerungen an jene Vergangenheit wachrufen; man beginnt unwillkürlich an die revolutionären Überwachungsausschüsse, an die Roheiten argwöhnischer, plumper und durch die Furcht betörter Beamten sowie an die Tragödien der Guillotine zu denken.«119

In der Darstellung Lefebvres verbinden sich die der Anwendung des Terrors zugrunde liegenden psychologischen Bedürfnisse mit ihrer politischen Funktionalität: Von Anfang an habe sich in der revolutionären Mentalität der Wille zur Bestrafung mit der Verteidigung gegenüber dem »aristokratischen Komplott« vermischt. Nach den »Septembermorden« habe man beschlossen, den Terror zu organisieren, damit sich solche Vorkommnisse nicht wiederholten; die revolutionäre Regierung sei jedoch nicht imstande gewesen, die Repression zu kontrollieren, daher habe man sie erweitern und dezentralisieren müssen, was zur Folge gehabt habe, daß der Terror ungleichmäßig und teilweise willkürlich ausgeübt wurde. Den sozialen Aspekt der Schreckenspraxis sieht Lefebvre darin verkörpert, daß nicht nur Aristokraten, sondern auch reiche Kapitalexporteure, Gegner des Maximums, der Annahme von Assignaten abgeneigte Geschäftsleute und eidverweigernde Priester zu »Volksfeinden« erklärt und als solche verfolgt worden seien. Diese Erweiterung der »Verdächtigen«-Liste sei zwar nützlich gewesen, habe allerdings auch mit sich gebracht, daß viele, die bereit waren, der Revolution zu gehorchen, obwohl sie nicht zu ihren Anhängern zählten, nun vollends vor ihr zurückschreckten. Der Terror habe seinen Zweck als Mittel zur Wiederherstellung der staatlichen Autorität erfüllt, aber nur solange er durch die Revolutionsregierung beherrscht wurde; je weiter der Begriff des »aristokratischen Komplotts« gefaßt wurde, desto mehr habe die Regierung die Kontrolle verloren, seien die gerichtlichen Verfahren vereinfacht und die Hinrichtungen bis zum Exzeß betrieben worden. Erst als »der Sieg der Revolution nicht mehr zu bezweifeln war und die Angst vor dem aristokratischen Komplott sich verflüchtigte, verschwand auch der Wille zur Bestrafung und das Fieber des Volkes sank.«120

Guérin bezieht sich in erster Linie auf die langfristige revolutionäre Bedeutung der terroristischen Diktatur. »Die große Lehre von 1793« erblickt er nicht nur in der Lebensfähigkeit der »direkten Demokratie«, sondern auch darin, »daß die Avantgarde einer Gesellschaft, ist sie auch gegenüber der Masse des Landes, die sie mit sich reißt, noch in der Minderheit, in dem Kampf auf Leben und Tod, wie dies eine Revolution ist, unvermeidlich der Mehrheit ihren Willen aufzwingen muß, zuerst und vorzugsweise durch Überzeugung, wenn diese nichts fruchtet, durch Zwang«. Mit zwei verschiedenen Typen der Repression habe man es im Jahre 1793 zu tun gehabt: »[…] mit der bürgerlichen Diktatur von oben, jener der Revolutionsregierung, und mit dem revolutionären Zwang von unten, jenem der bewaffneten Sansculotten, die in ihren Klubs und in der Kommune demokratisch organisiert waren.«121

Soboul verweilt zwar bei Fällen unbegründeten Blutvergießens und offenbar unmotivierter Grausamkeit des sansculottischen Terrors; er widersetzt sich jedoch der pauschalisierenden Meinung, diese psychologische Einzelerscheinungen seien charakteristisch gewesen für eine vorherrschende Vorliebe der Sansculotten für die Guillotine. Ähnlich wie bei der Rezeption der »Septembermorde«, begreift er die in den Gefahrmomenten auftretende Gewalttätigkeit von sonst ruhigen Menschen als eine Heftigkeit, welche »ein klares politisches Ziel und einen Klasseninhalt« gehabt habe. Die Guillotine sei volkstümlich gewesen, weil man in ihr »ein Racheinstrument der ganzen Nation« gesehen, und sich der »Klassenhaß gegen die Aristokratie« zu einer der »treibenden Kräften« für den »Volkszorn« seit 1789 gesteigert habe. Wie Lefebvre faßt auch Soboul den Terror von 1794 als Mittel zur Lenkung der Wirtschaft auf: »[…] durch ihn war das allgemeine Maximum wirklich zur Anwendung gekommen, das dem Volk sein tägliches Brot sicherte.« Freilich, gerade weil der Terror Klasseninteressen gedient habe, sei es unumgänglich gewesen, daß er früher oder später die Krise heraufbeschwörte; stellte er doch einen Widerspruch zu den politischen Auffassungen der Bourgeoisie und eine Bedrohung ihres Herrschaftsmonopols dar. Der Sturz des »Schreckensregimes« sei also unvermeidbar gewesen.122

Demgegenüber widersetzt sich Furet dem apologisierenden Versuch, die Terrorherrschaft als Funktion notwendiger, unumgänglicher »Umstände« analysiern zu wollen. Ein solcher Ansatz sei eine Art Variante der schon zur Revolutionszeit vorherrschenden »Verschwörungsthese«, welche tendiere, eher Dinge als Menschen zu beschuldigen. Er lehnt sich vor allem gegen die aus dieser Denkweise hervorgehenden Schlußfolgerung auf, daß somit »die historische Initiative zugunsten der Kräfte, die der Revolution feindlich gesonnen sind,« verdrängt werde: »Dies ist der unvermeidliche Preis für einen Freispruch der Revolution hinsichtlich der Schreckensherrschaft.«123 Furet dreht also den Spieß um. Im Grunde – so postuliert er – gehöre die Schreckensherrschaft zur revolutionären Ideologie; diese Ideologie sei es, welche die Bedeutung der »Umstände« steigere, zu deren Entstehen sie aber weitgehend selber beitrage: »Es gibt keine revolutionären Umstände, es gibt nur eine Revolution, die sich aus den Umständen nährt.«124

Es läßt sich indes behaupten, daß die Rezeption des der Revolution ihr »erschütterndes Kolorit« gebenden Terrors125 weniger, als es bei anderen Phänomenen der Fall ist, durch den historiographischen »Raschomon« und durch die zeitliche Entfernung vom historischen Ereignis beeinflußt worden sei. Noch Anfang der fünfziger Jahre, d.h. also nach den entsetzlichen Greuel zweier Weltkriege und des Holocausts, verbinden sich für Martin Göhring die Schrecknisse des 20. Jahrhunderts mit dem Terror der Französischen Revolution; nachdem er in seinen Ausführungen die Inquisition und die Hexenverfolgungen kurz gestreift hat, gelangt er zur jakobinischen Phase der Revolution, zu der er feststellt:

»Jetzt entsteht vor den Augen der Welt ein System des Terrors in bisher nicht gekannter Form, auf rein politischer Grundlage, und man entsetzt sich über die blutigen Verirrungen einer großen Nation. Lange hat das Entsetzen angehalten. Inzwischen aber hat die Menschheit andere Schrecken gesehen. Die Bestie ist auchin den Menschen anderer Völker durchgebrochen, sie hat ihre Opfer gefordert, das Recht verhöhnt, Menschen vergewaltigt. Heiligste Güter sind zynisch in den Schmutz getreten und im Namen der Menschlichkeit ist Unmenschliches verübt worden. So beruht die historische Bedeutung der Schreckensherrschaft des Konvents eigentlich in erster Linie darin, der modernen Geschichte das erste Beispiel eines solchen Systems gegeben, gezeigt zu haben, welcher Mittel eine Minderheit sich bedienen kann, um sich und eine Revolution zu verteidigen.«126

Es geht nicht eindeutig hervor, welche »andere Schrecken« Göhring meint. Bezieht er sich auf den deutschen Faschismus oder etwa auf den sowjetischen Totalitarismus, wie dem Ausdruck »Unmenschliches im Namen der Menschlichkeit« und dem Zeitpunkt der Veröffentlichung seines Buches, der Zeit des Kalten Krieges, zu entnehmen wäre. Wie dem auch sei, die nebulöse Unklarheit an sich ist schon symptomatisch. Ist doch die Französische Revolution, eines der meisterforschten Themen neuerer Geschichte127, im Laufe ihrer langen historiographischen Reise zu einer Art Beziehungsfolie geworden, mittels der sowohl die ihr voraufgegangenen Abläufe als auch die nachfolgenden Entwicklungen aufs gegensätzlichste gewertet werden.128 Soboul glorifiziert ihre Großartigkeit als eine gleichzeitig bürgerliche und demokratische Revolution; mit Beziehung auf einen Ausdruck Jaurès’ unterscheidet er sie von ihren englischen und amerikanischen Vorgängerinnen, welche »borniert bürgerlich und konservativ« geblieben seien, und stellt fest: »Ob bewundert oder gefürchtet – die Revolution lebt im Bewußtsein der Menschen weiter.«129 Schon im Jahre 1931 erklärt Eugen Rosenstock-Huessy:

»Die französische Revolution ist noch heute in aller Munde. Zwischen ihr und der russischen Revolution steht die europäische Welt. Der einzelne Europäer muß seinen Standpunkt wählen im bürgerlichen oder im nichtbürgerlichen Lager. Das bürgerliche Lager aber ist das Lager der Ideen von 1789. Es ist das Lager der liberalen Grundsätze von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Der bürgerliche Bewohner unseres Erdteils lebt also unter der Bürgschaft der bürgerlichen Revolution. Aber auch der unbürgerliche Sozialist oder Kommunist oder Bolschewist sieht die Welt im Lichte der Gesellschaftssordnung von 1789. Er bekämpft die bürgerliche Gesellschaft. […] Sie begreift ihm die gesamte Vergangenheit in sich, aus der er die Zukunft herauszuschlagen hofft.«130

Diese Sicht der revolutionären Auswirkungen verdeutlicht sowohl die Totalität des Einflusses, den die Französischen Revolution auf die heutige Auffassung der politischen und gesellschaftlichen Praxis ausübt, als auch die in ihr enthaltene antizipierende Dimension. Die Antizipation selbst wirkt in zweierlei Richtungen: Das eine historiographische Lager bedient sich der Französischen Revolution als Vergleichsmodell zur Analyse der Gegenwart und zur Wertung des in ihr verborgenen Entwicklungspotentials – die Tendenz dieser Auffassung ist auf die Verhinderung der Reproduktion der Geschichte gerichtet. Im »rationalen« Fall rührt die mit dieser Tendenz einhergehende Furcht von einem Assoziationssystem her, welches (wie es beispielsweise Taine tut) das Verhalten der revolutionären Menge dem eines Betrunkenen gleichsetzt: erst sei er fröhlich, dann euphorisch und brüderlich, schließlich aber zunehmend gewalttätig, irrational und »mordlustig«. Nicht von ungefähr behauptet Vovelle, hinter dieser anthropomorphen Reduktion verberge sich ein Erklärungsmodell, wonach die Menge entweder infantil oder betrunken sei.131 Im »irrationalen« Fall wurzelt die Angst vor der Revolution in einem regressiven Pattern, welches die Revision der Geschichte anstrebt. Die Tatsache, daß neoroyalistische Verfasser, wie Gaxotte oder Aubry, in einem solchen Geiste schreiben, überrascht dabei weniger als die »bedeutende Resonanz«, welche ihren Auffassungen in der Öffentlichkeit zuteil wird.132 In beiden Fällen geht die Assoziation des Infantilen aus der Furcht hervor: Im ersten Fall projiziert sie der Historiker auf seinen Forschungsgegenstand, die Menge; dieses Vorgehen ermöglicht die Distanzierung von eben dieser Menge als einsehbare Konsequenz aus der Delegitimierung ihres mündigen Auftritts auf der Bühne der Geschichte – Kinder haben auf dem Spielfeld der Erwachsenen sozusagen nichts verloren. Im zweiten Fall verharrt das »Infantile« im Historiker selbst, und er flüchtet sich in den nachkonstruierten Schutz eines väterlichen Königs. Die Tatsache, daß der »König«, auch als politisches Paradigma, tot ist und nicht mehr existiert, ist in diesem Zusammenhang von minderer Bedeutung. Wie wir im Verlauf unserer Untersuchung noch zu zeigen haben werden, kann die kollektiv-psychische Realität ungleich persistenter und stärker sein als der Bezug zu Tatbeständen der objektiven Wirklichkeit.

Das zweite historiographische Lager bedient sich der Französischen Revolution zur Antizipation der nachfolgenden Revolutionen. So registriert etwa Guérin eine »evidente« Verbindung »von der Kommune von 1793 zu der von 1871 und zu den Sowjets von 1905 und 1917«. Sacher weiß zwar, daß die Enragés weder Kommunisten noch Sozialisten sein konnten, doch behauptet er, »ihr profunder Egalitarismus« habe sie »zu Vorläufern des Sozialismus« gemacht. Griewank erklärt, die Französische Revolution habe »an der Wiege« des Bürgerkönigtums von 1830, der parlamentarischen Republik von 1848, der bürgerlichen Republik von 1870 wie der Pariser Kommune von 1871 gestanden, und Soboul stellt fest, aus der Französischen Revolution seien Ideen hervorgegangen, die (nach Marx’ Diktum) »›über die Ideen des ganzen alten Weltzustandes‹ hinausweisen: die einer neuen Gesellschaftsverfassung, die nicht mehr die bürgerliche Ordnung sein wird.«133 Aus einem solchen Blickwinkel wird also die Französische Revolution als Meilenstein im Emanzipationsprozeß der Menschheit begriffen, wenn nicht gar als dessen Ausgangspunkt. Sie selbst hat den Menschen zwar nicht von seinen sozialen Zwängen befreien können, aber ihre ideellen und mentalen Ergebnisse – das in ihr verkörperte historische Paradigma – fungieren als Ansätze zukünftiger progressiver Entwicklungen, welche (so die marxistischen Lehre) die soziale Revolution als Manifestation des immerwährenden Klassenkampfes zum Inhalt haben. Aus dieser Perspektive kann Jaurès’ emphatische Deklaration, die Revolution sei noch nicht beendet, als nur zu folgerichtig erachtet werden; ihre Spuren lassen sich jedenfalls in der bis in die Gegenwart hinein andauernden historiographischen Debatte um das Ende der Revolution verfolgen.134

Es ist dieser »finalistische« Ansatz, den wiederum Furet der Kritik unterwirft: Obgleich sich offenbar nach der Revolution von 1917 alles geändert habe, projizierten die Historiker der Französischen Revolution ihre Wertung des Jahres 1917 auf die Vergangenheit, indem sie die antizipatorischen Elemente der ersten Revolution hervorheben. Das Ergebnis sei auch nicht zu verkennen: »Die Bolschewisten haben jakobinische Vorfahren, und die Jakobiner nahmen die Kommunisten in gewisser Weise vorweg.«135 Um den Teufelskreis dieser historiographischen Tradition zu durchbrechen, unterscheidet Furet zwischen dem Wertsystem der »linken Kultur« und dem »Verhängnis der kommunistischen Erfahrung im 20. Jahrhundert«; auf dieser Grundlage attackiert er die Verknüpfungbeider Revolutionen unter Verwendung des sowjetischen Totalitarismus als Kriterium:

»Im Jahre 1920 rechtfertigte Mathiez die bolschewistische Gewalt im Namen vergleichbarer Umstände mit dem französischen Vorbild. Heute führt uns der Gulag dazu, la Terreur, die Schreckensherrschaft, wegen einer gewissen Identität der Absichten neu zu überdenken. Die beiden Revolutionen bleiben miteinander verknüpft; aber vor einem halben Jahrhundert wurden sie systematisch freigesprochen, mit einer Entschuldigung, die von den ›Umständen‹, d.h. von äußeren und ihrem Wesen fremden Erscheinungen hergeleitet wurde. Heute beschuldigt man sie im Gegenteil, wesensgleiche Systeme peinlich genauer Zwangsausübung auf Körper und Geist zu sein.«136

Unserer Auffassung nach ignoriert hier Furet zwei wichtige Gesichtspunkte. Erstens: Es muß darauf hingewiesen werden, daß die russischen Revolutionäre selber der Meinung waren, sie handelten im Rahmen der Tradition der Französischen Revolution. Einige Monate nach der Oktoberrevolution wurde ein Denkmal Robespierres in der Nähe des Kremls errichtet. Die Statue zerfiel zwar bald und wurde nicht wieder aufgestellt; man kann aber Palmers Behauptung zustimmen, daß allein schon die Tatsache der Errichtung dieses Denkmals Lenins Glauben an eine durch den Marxismus vermittelte Verbindung zwischen seiner Bewegung und jener der großen Französischen Revolution bezeuge. Mit der Erinnerung an sie »konnte er an eine lang anhaltende Revolution glauben, an einen Elan der Zukunft, der seine Kraft aus der Vergangenheit schöpft – ein Grundsatz […], der die Oberhand gewinnen muß, weil in ihm der wahre Sinn der Geschichte verkörpert sei.«137 Es läßt sich natürlich behaupten, daß die Überzeugungen der russischen Revolutionäre für die retrospektiven Betrachtungen des heutigen Berufshistorikers irrelevant seien, daß sie ohnehin lediglich ein weiteres Beispiel für die wirklichkeitsfernen Illusionen historischer Akteure abgeben.

Ein solcher Einwand erfordert die Erörterung einer grundsätzlichen Frage: Inwiefern ist der dem historischen Ereignis durch den Historiker beigelegte Sinn der dem Ereignis von den historischen Akteuren zugeschriebenen Bedeutung als überlegen zu erachten? Die Antwort hierauf liegt vermeintlich auf der Hand; der Historiker zeichnet sich durch ein höheres Bewußtsein aus, weil er das empirische Kriterium für die nachfolgenden Abläufe besitzt, er entzieht sich gewissermaßen der den historischen Akteur unweigerlich umhüllenden Kontingenz.138 Es sei hierbei zunächst dahingestellt, inwieweit gerade ein aposteriori-Wissen das Bewußtsein solcherart entstellend zu befrachten vermag, daß eine adäquate Erfassung des historischen Ereignisses nahezu unmöglich wird; wir ziehen es vor, die der Argumentation Furets immanente Logik weiter zu verfolgen: Furet kennt die Entwicklungen in der Sowjetunion seit 1917 und postuliert daher die Notwendigkeit einer Wertungsrevision. Somit wird dem Gulag und dem sowjetischen Totalitarismus die Funktion eines Kriteriums beigemessen, mit dessen Hilfe der revidierten Auffassung der russischen Revolution selber Gültigkeit verschafft wird. Eine solche mechanistische Denkweise ist in der unausgesprochenen Annahme einer Zusammengehörigkeit von Revolution und Gulag verankert, und da nach Furets Auffassung schon der Terror in der Französischen Revolution eine »Entgleisung« (derapage) von der ihr ursprünglich vorgezeichneten Bahn darstellte, verknüpft er selber (assoziativ) den Terror der ersten mit dem der zweiten Revolution, um die von den marxistischen Historikern hergestellte Verbindung zwischen den Revolutionen anzugreifen. Der wesentliche Unterschied ist halt der, zwischen welchen Elementen der Revolution man einen Konnex sucht – und eben darin sehen wir das zweite Versäumnis in Furets Argumentation. Es fragt sich nämlich, ob er seine Ablehnung einer »finalistischen« Verbindung zwischen beiden Revolutionen in gleicher Weise begründet haben würde, wenn sich das sowjetische Regime nach der bolschewistischen Revolution nicht zu dem entwickelt hätte, als was es uns heute erscheint. Wenn wir von einer Verneinung dieser hypothetischen Frage ausgehen, so läßt sich behaupten, daß der sowjetische Totalitarismus höchstens ein historisches Veto ad hoc hinsichtlich der Verwirklichung der Revolutionsziele in diesem (und nur in diesem) Land darstelle, nicht aber eine prinzipielle Widerlegung der Idee der Revolution und der ihr zugrunde liegenden emanzipatorischen Verheißung. Geht man hingegen von der Grundannahme aus, daß die bolschewistische Revolution die nachfolgenden historischen Entwicklungen zeitigen mußte, so manifestiert sich darin eine »finalistische« Argumentation, von der Art, gegen die sich Furet wendet. Wenn man aber eine jegliche Verbindung zwischen den Revolutionen in Absprache stellt, also auch diejenige zwischen ihren positiven (d.h. ihrem Wesen nach emanzipatorischen) Aspekten, so läßt sich die Frage nicht übergehen, welche nun die gültigen Variablen zur Determinierung solcher Verknüpfungen im Rahmen der Geschichte menschlicher Kollektive seien. Warum weist die Variable »Franzosen« oder »Frankreich« eine größere Validität auf, als beispielsweise »Revolutionäre« oder »Revolution«? Anders ausgedrückt: Wenn es akzeptabel erscheint, daß die Französische Revolution in der politischen Tradition des alten Frankreich und seiner politischen Archetypen verankert sei, wie es Tocqueville und in seiner Folge Furet postulieren, so gibt es wohl keinen Grund, die Behauptung zurückzuweisen, die russische Revolution fuße auf der sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend verdichtendenden revolutionären Tradition von 1789 bzw. 1793 – und sei es, weil es die russischen Revolutionäre selber so empfanden.

Das diese Revolutionen verbindende Element ist »Freiheit als intentionales Handeln in emanzipatorischer Absicht«139. Dies ist auch die Bedeutung des Sorelschen Begriffs vom »sozialen Mythos«, welcher »den Menschen zum Handeln bringen« will140, und in diesem Sinne akzeptiert ihn sogar ein akribischer Forscher vom Schlage Lefebvres; der Mythos bezieht sich auf die Zukunft unter Berufung auf revolutionäre Tathandlungen der Vergangenheit: »[…] die Einberufung der Generalstände war eine ›frohe Botschaft‹: sie versprach die Geburt einer neuen Gesellschaft, in der Gerechtigkeit herrschen und das Leben besser sein würde. Im Jahre II beseelte derselbe Mythos die Sansculotten; in unserer Tradition lebt er weiter und wie 1789 und 1793 ist er revolutionär.«141 Die Verwirklichung des Mythosgehaltes, welcher die Menschen zur revolutionären Tat antreibt, kann – nach dieser Auffassung – nicht als Kriterium für den Geltungsanspruch dieser Tat oder für die Wahrhaftigkeit der ihr zugrunde liegenden Motivationen aufgefaßt werden. Das revolutionäre Kollektiv stellt die Authentik seines emanzipatorischen Bestrebens nicht zur Diskussion und schert sich selten um die potentielle historiographische Rezeption seines Tuns.

So wird denn der Historiker der Revolution zu einer Art »Voyeur«. Für gewöhnlich nimmt er keinen Anteil an der Revolution; er kann sich mit dem revolutionären Akt identifizieren oder ihn ablehnen – so oder so wird für ihn die Revolution zur Matrix, die sich ihm durch die sie zusammensetzenden motivischen Kodes vermittelt. Die von diesen Kodes ausgehenden Stimulationen bewirken den »Kontakt« des Historikers mit der Revolution auf der Basis seiner Weltanschauung, seiner politisch-ideologischen Glaubenssätze und der seiner psychischen Regungen; er gestaltet also den (historiographischen) »Charakter« der Revolution, wobei er auf sie seine Anschauungen, Bekenntnisse, seine Ängste und Hoffnungen projiziert. Unter diesem Gesichtspunkt gibt es zwischen Michelet, der sich »alljährlich« an den »allmächtigen Deuter« seiner Lehre, »den Geist der Revolution«142, wendet, und Cobban, der daran geht, die von ihm so benannten historiographischen Mythen der Französischen Revolution zu zerstören143, keinen eigentlichen Unterschied.

Diese an sich für jede Geschichtsschreibung gültige Behauptung gewinnt im Zusammenhang mit der Französischen Revolution an besonderer Prägnanz; zwei Gründe seien hierfür angeführt. Erstens: Wir befinden uns mittlerweile in der fünften oder sechsten Generation der Revolutionshistoriographierung. Die Revolution selbst wird nur noch selten als historisches Ereignis, sondern gemeinhin als Problemstellung der Historiographie gehandhabt; wir begegnen fast keiner eigentlichen »Geschichte der Französischen Revolution« mehr, sondern eher historiographischen Diskursen über die Geschichtsschreibung dieser »Geschichte«. Und dennoch – so behaupten wir – haben sich die Hauptkodes der Matrix, hat sich die ursprüngliche Kode-Matrix der Französischen Revolution, auch in ihrer fünften oder sechsten Ableitung, nicht wesentlich geändert. Es ist frappant, wie »gegenwärtig« die Französische Revolution noch immer ist.

Zweitens: Es läßt sich schwerlich ein historisches Ereignis aufzeigen, das in einem relativ kurzen Zeitraum eine solche Fülle widerspruchsvoller Motive aufweist, wie das französische Geschehen zwischen den Jahren 1789 und 1799. Der diese Zeitspanne behandelnde Historiker trifft auf extrem unterschiedliche Staatsformen, auf fortwährenden Wechsel der Dominanz verschiedener sozialer Schichten und auf historische Auftritte von bis dahin anonymen gesellschaftlichen Gruppen, er begegnet einer intensiven Konzentration organisierten Tötens neben Erscheinungen schier unbezähmbaren Freiheitshungers, und er verfolgt erstaunliche strukturelle und mentale Veränderungen, vehement geführte politische und soziale Kämpfe, sowie eine Ansammlung überaus bemerkenswerter Führungsgestalten. Die Matrix des Historikers der Französischen Revolution ist besonders reichhaltig und mannigfaltig angefüllt, und jeder dieser motivischen Kodes kann sowohl als Grundlage einer polemisch-ideologischen Kontroverse herangezogen als auch als Rohmaterial für die Gestaltung nahezu atavistischer Symbole gebraucht werden – wie sich der von Martin Göhring gelieferten Darstellung der Ermordung Marats entnehmen läßt: Charlotte Corday erreicht das Zimmer Marats.

»Alles ist von erschreckender Einfachheit, alles starrt vor Schmutz, die Luft des Raumes ist unerträglich; ein Gefühl des Ekels überkommt die Besucherin. Sie steht vor Marat, sieht seinen entblößten, abgemagerten, von Schwären zerfressenen Oberkörper, sieht seine Züge, die Leidenschaften, Haß und Krankheiten verwüstet haben; sie sieht einen bereits vom Tode gezeichneten Menschen. Kaum jemals trafen größere Gegensätze aufeinander: hier die verkörperte Reinheit und Schönheit, die blonde Tochter des Nordens, dort die Verworfenheit und Häßlichkeit in der verfallenden, zerfressenen Hülle des Südländers. Und das Eigenartige: sie bekennen sich zu gemeinsamen geistigen Vätern. Bei ihr haben sie das Göttliche entzündet, bei ihm das Dämonische.«144

Es handelt sich hierbei weder um die Schrift eines frustrierten Exil-Aristokraten noch um die eines erbitterten Konservativen aus dem 19. Jahrhundert, sondern um eine Anfang der fünfziger Jahre unseres Jahrhunderts publizierte Darstellung von einem deutschen Liberalen, der im Vorwort zu seinem Buch feststellt, »unsere demokratischen Ideale« fußten in einer Tradition, welche durch »die große Revolution, die Frankreich erfaßte und umwandelte«, bestimmt worden sei.145 Gleichwohl hievt die dramatische Szene der Ermordung Marats Göhring in eine Assoziationssphäre, aus der sowohl ein verdichtetes ideologisches Paradigma eines der Höhepunkte der Revolutionskämpfe als auch ein eklektisches Konglomerat von Aussagen, welche augenscheinlich wenig mit dem eigentlichen historischen Ereignis zu tun haben, erwächst:

Marat (»Volksfreund«, wie er von seinen Anhängern genannt wird, und Vertreter der unteren sozialen Schichten) wird als ein häßlicher, sich in Schmutz wälzender, in seinem Körper von Krankheit, in seiner Seele von Haß zerfressener Verworfener dargestellt. Corday, Vertreterin des reichen und gebildeten Bürgertums, ist nichts als Schönheit und Reinheit. Solche Gegensätze müssen den Kampf auf Leben und Tod auslösen; stellt sich doch hier das »Göttliche« unentrinnbar dem »Dämonischen« entgegen, gleichsam wie in Miltons »Verlorenem Paradies« die himmlischen Scharen Satans Truppen entgegentreten müssen. Konkret: Wir sind Zeugen einer symbolisierten Konfrontation zwischen den sansculottischen Massen der Jakobiner und der girondistischen Bourgeoisie. In dieser Weise wird die Botschaft übermittelt, daß Marat, jakobinische Personifikation einer Herrschaft der »Masse«, vernichtet werden müsse, wenn das »Gute« siegreich aus dem Konflikt hervorgehen soll. Dies ist (laut Göhring) auch der Grund dafür, daß sich viele Franzosen mit Charlotte Corday identifizierten, und daß ihnen die Mordtat neue Hoffnung einflößte: »So gewannen sie das Vertrauen in die guten Kräfte zurück, und die Tat Charlotte Cordays wirkte bei ihnen versöhnend.«146

Die Angst des Bürgertums vor der Masse, die sich in Göhrings Beschreibung als Angst vor Marat, dem »Motor der Revolution«147, darstellt, drückt sich auch in der Dialektik der Symbiose beider Gestalten aus: Göhring neutralisiert die im Motiv »der Schönen und des Tieres« enthaltene latente Sexualität, indem er Marats Leidenschaften als zerstörerisch begreift und seine Häßlichkeit an seine Verworfenheit heftet; so erhalten Sensualität und Affekte negative Vorzeichen, und als Charakteristika der Masse werden sie gar in den Stand von Feinden des gesitteten Bürgertums erhoben. In Wahrheit sind diese Gegner aber untrennbar aneinander gekettet: Beide sind Republikaner, Produkte der bürgerlichen Gesellschaft mit gleichen »geistigen Vätern«; hatte doch schon Engels festgestellt: »Von seinem Ursprung an war das Bürgertum behaftet mit seinem Gegensatz: Kapitalisten können nicht bestehen ohne Lohnarbeiter […]«148. In der von Horkheimer und Adorno durchgeführten Odysseus-Parabel entfaltet sich dann das Symbiose-Motiv in der umfassenden Tragweite einer geschichtsträchtigen allegorischen Verdichtung:

Odysseus hat die Prüfungen Kirkes, der Gottheit, in deren Macht es liegt, den Menschen in ein Tier rückzuverwandeln, bestanden. Dafür hat sie ihm Kraft eingegeben, damit er anderen Mächten der Auflösung standhalte. Die Lockung der Sirenen bleibt jedoch übermächtig; niemand kann ihrem Gesang widerstehen. »Die Angst, das Selbst zu verlieren und mit dem Selbst die Grenze zwischen sich und anderem Leben aufzuheben, die Scheu vor Tod und Destruktion, ist einem Glücksversprechen verschwistert, von dem in jedem Augenblick die Zivilisation bedroht war.« Odysseus kennt nur zwei Wege, um der Zwangssituation zu entrinnen. Den einen trägt er seinen Männern auf: Er verstopft ihre Ohren mit Wachs, und sie müssen nach Leibeskräften rudern. »Wer bestehen will, darf nicht auf die Lockung des Unwiederbringlichen hören, und er vermag es nur, indem er sie nicht zu hören vermag. Dafür hat die Gesellschaft stets gesorgt.« Die Arbeitenden müssen konzentriert nach vorne blicken, ohne das auf der Seite Liegende zu beachten. »DenTrieb, der zur Ablenkung drängt, müssen sie verbissen in zusätzliche Anstrengung sublimieren.« Den anderen Weg wählt der die Gefährten für sich arbeiten lassende Odysseus selber:

»Er hört, aber ohnmächtig an den Mast gebunden, und je größer die Lockung wird, um so stärker läßt er sich fesseln […]. Das Gehörte bleibt für ihn folgenlos, nur mit dem Haupt vermag er zu winken, ihn loszubinden, aber es ist zu spät, die Gefährten, die selbst nicht hören, wissen nur von der Gefahr des Liedes, nicht von seiner Schönheit, und lassen ihn am Mast, um ihn und sich zu retten. Sie reproduzieren das Leben des Unterdrückers in eins mit dem eigenen, und jener vermag nicht mehr aus seiner gesellschaftlichen Rolle herauszutreten.«149

Göhring sieht weder die Sansculotten noch eine der anderen radikalen Bewegungen der Revolution als Proletariat an, er weiß jedoch sehr wohl, daß sich mit ihnen eine historische Herausnahme des Wachses aus den Ohren paradigmatisch andeutet. Das Ende der Girondisten betrauert er demgemäß: »Das Ethos des gehobenen Bürgers, der in der Republik die Freiheit zu begründen hoffte, hat keinen Künder mehr; es ist in der Seele getroffen.«150 Dieser Umstand scheint dermaßen bedrohlich zu sein, daß er selbst im nachhinein das Wesen der Begegnung zwischen Marat und Corday durch nichts anderes zu erfassen vermag als durch eine quasi-rassistische Polarisation (»blonde Tochter des Nordens« der »zerfressenen Hülle des Südländers« gegenübergestellt) bzw. durch einen pseudo-religiösen Manichäismus (»das Göttliche« gegenüber »dem Dämonischen«).

Es sei indes wiederum angemerkt: Weder um Göhring noch um einen anderen der erwähnten Historiker persönlich geht es in der vorliegenden Untersuchung. Sie alle gelten uns lediglich als Vermittler historiographischer Botschaften, als Vertreter ideologischer Positionen. Als solche genießen sie jedoch keine Exklusivität, denn wenn schon »die Eule der Minerva […] erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug« beginnt151, so erwachen Kleos Bären für gewöhnlich erst nach einem ausgiebigen Winterschlaf: Gerade im Fall der Französischen Revolution – jenes offenbar noch keineswegs abgehakten historischen Ereignisses – ist die Beteiligung des Historikers an der Gestaltung des kollektiven Gedächtnisses beschränkten Maßes. Ist er doch selbst (geschweige denn sein Lesepublikum) weitgehend von den positiven wie negativen, oft durch außerwissenschaftliche Kulturinstitutionen vermittelten Mythen der Revolution in seinen Anschauungen »geformt«, in seiner Rezeptionsausrichtung gewissermaßen vorgeprägt. Nicht von ungefähr behauptet Peter Stadler, es sei die Vermutung nicht von der Hand zu weisen, »daß Werke wie Victor Hugos ›Notre Dame de Paris‹ oder Meyerbeers ›Hugenotten‹ (wie auch viele historische Prunkgemälde) die Vergangenheitsvorstellungen eines breiteren Publikums weit nachhaltiger gefärbt haben, als manches repräsentative Geschichtswerk.«152 Eine von G.P. Gooch überlieferte Anekdote kann in dieser Hinsicht als exemplarisch gelten: Er berichtet vom außergewöhnlichen Erfolg der Revolutionsgeschichte Lamartines bei dessen zeitgenössischen Lesern. Der französische Dichter, angesichts einer solchen Räsonanz selber verwundert, wandte sich an Dumas mit der Frage, was wohl der Grund für diesen Erfolg des Werkes sei. »Weil Sie Geschichte auf die Ebene des Romans gehoben haben«, soll dieser geantwortet haben.153

Mehr noch: Man kann bezweifeln, ob zu viele Franzosen wußten, was sich im Jahre 1789 tatsächlich auf der Bastille zugetragen hatte, als im Jahre 1881 der 14. Juli zum Nationalfeiertag und die Marseillaise zur Nationalhymne erklärt wurden. »Die differenzierende Erklärung des Revolutionsgeschehens wurde zwar den Fachleuten und Historikern überlassen,« meint Diwald, »aber der Revolution selbst wurde durch die Republikaner ein für allemal der höchste Stellenwert in Frankreichs Selbstverständnis verliehen.«154 Das sogenannte »breite Publikum« scheint da also im Besitze einer eigenen Revolutionsmatrix gewesen zu sein. So ist denn der Historiker, soweit er sich nicht im esoterischen Diskurs mit seinen Kollegen einschließt, vor allem Indikator, wenn man will: Symptom des Rezeptionsprozesses. Denn die stürmische historiographische Kontroverse über die Interpretation der Revolution repräsentiert die anhaltende Debatte um das Wesen der Gesellschaft und die in ihr wirkenden Antagonismen. So besehen ist Eberhard Schmitts Wunsch nach einer »abschließenden Geschichte der Französischen Revolution155 illusionär. Die Französische Revolution ist noch immer nicht beendet.

Das Trauma des

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