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Einleitung

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Die vorliegende Untersuchung beschäftigt sich mit der historiographischen Rezeption der Französischen Revolution im deutschen Vormärz. Sie berührt somit einen bestimmten Aspekt jenes umfassenderen Themas, das die Beziehung der Deutschen im 19. Jahrhundert zur Revolution als einer Möglichkeit wirklicher politischer und sozialer Veränderung zum Inhalt hat. In diesem Sinne wird Frankreich und Deutschland eine paradigmatische Bedeutung zugeschrieben, derzufolge Frankreich als Archetyp eines Revolutionslandes aufgefaßt wird, wohingegen Deutschland ein durch den sogenannten »Sonderweg«1 gekennzeichnetes Staatswesen symbolisiert, ein Land also, in dem sich keine erfolgreich abgeschlossene politische Revolution ereignet hat.

Dieser Gesichtspunkt, das Spezifische am Verlauf der deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert, ist an sich in großem Maße umstritten, da dem »Endpunkt« jenes »Weges«, dem nationalsozialistischen Regime im 20. Jahrhundert, die Funktion eines Kriteriums beigemessen werden muß, das bei keinem Versuch, diesen Weg erklären zu wollen, ignoriert werden kann2. Es läßt sich behaupten, daß sich das Forschungsfeld der modernen deutschen Geschichte seit 1945 im Zeichen der Debatte über die Frage bewegt, welche politische und soziale Bedeutung der Tatsache zuzuschreiben sei, daß Deutschland, im Gegensatz zu den meisten westlichen Ländern, ein Land ohne erfolgreiche bürgerliche Revolution geblieben ist, und ob zwischen diesem Sachverhalt und dem, was Meinecke als »die deutsche Katastrophe« bezeichnet, eine Verbindung herzustellen sei3.

Man kann die in dieser Hinsicht vertretenen Positionen in zwei historiographische Hauptlager unterteilen und ein drittes, das sich in den letzten Jahren herangebildet hat, hinzufügen:

1. Das erste Lager vertritt die Anschauung, Deutschlands »revolutionsloser« Weg sei gerechtfertigt gewesen – habe er doch bewiesen, daß sich sowohl der graduelle Übergang von einer feudalistisch strukturierten in eine industrialisierte bürgerliche Gesellschaft als auch der Eintritt in die nationalstaatliche Phase ohne eine gewaltsame Revolution vollziehen ließ. Das Dritte Reich wird aus dieser Sicht nicht als Resultat der vorangehenden Entwicklung aufgefaßt, sondern vielmehr als eine Art »Betriebsunfall«.

2. Das zweite Lager erblickt gerade im deutschen Faschismus ein gültiges historisches Kriterium für die Fehlentwicklung der deutschen Gesellschaft und erkennt in der von Plessner4 so genannten »Verspätung« der deutschen Nation auf wirtschaftlicher und politischer Ebene sowie in ihrer »Revolutionslosigkeit« unheilvolle Determinanten der Folgen dieser Fehlentwicklung im 20. Jahrhundert5.

3. Das dritte historiographische Lager ist bestrebt, die den obigen Positionen eigenen ideologischen Spitzen abzubiegen, um »Mythen deutscher Geschichte« sozusagen »wissenschaftlich« zu widerlegen. Zwar ignoriert diese Richtung den Nationalsozialismus nicht unbedingt, sie konzentriert sich indes vorwiegend auf die Darstellung der doch auch im monarchistischen Deutschland des 19. Jahrhunderts herangereiften bürgerlichen Gesellschaft sowie auf die Untersuchung der historischen Zulänglichkeit des Begriffs vom »a-politischen Deutschen«6.

Dem ist nicht zu entnehmen, daß die hier gerafft umrissenen historiographischen Bezüge offen als politisch-ideologische Bekenntnisse ausgegeben würden; fast keiner der sich mit der Geschichte Deutschlands im 19. Jahrhundert beschäftigenden Historiker nimmt auf den Nationalsozialismus ausdrücklichen Bezug. Und dennoch: Da man nicht annehmen kann, daß auch nur einer von ihnen die späteren Fakten als Gegebenheit der Chronik aus seinem Bewußtsein auszumerzen vermag (und es ist hierbei von geringer Bedeutung, ob diese Fakten als integraler Bestandteil der Gesamtentwicklung aufgefaßt werden oder nicht), erzwingt das Wissen a posteriori die Konfrontation der vorausgegangenen Ereignisse und Entwicklungsstrukturen aus irgendeiner Position – mit anderen Worten: Der sich seit 1945 mit der modernen deutschen Geschichte auseinandersetzende Historiker kann sich nicht einer Position entziehen, die ihrer Tendenz nach eine Bezugnahme zum Nationalsozialismus als gegebener Tatsache in der Gesamtchronik seines Forschungsobjektes inkorporieren muß. Die ideologische Komponente dieser immanenten Position ist im Modus der inhaltlichen Verknüpfung enthalten, welche der Historiker zwischen dem Ereignis selbst und der ihm vorausgehenden Entwicklung schafft bzw. in der Bedeutung, die er dieser früheren Entwicklung beimißt, selbst dann, wenn er den Nationalsozialismus nicht explizit erwähnt7. In diesem Sinne besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Historiker, der am Ende des 19. Jahrhunderts über die Einigung Deutschlands schreibt, und dem Historiker, der sich mit diesem Thema heute beschäftigt. Der heutige Historiker, der sich des Entwicklungsganges seit der von Bismarck oktroyierten Einigung bewußt ist, wird sich (und sei es indirekt) mit der Problemstellung auseinandersetzen müssen, ob es eine wie auch immer geartete Verbindung gibt zwischen dieser autoritären politischen Lösung der »deutschen Frage«, dem autoritären Regime der wilhelminischen Zeit8, den imperialistischen Bestrebungen, die – unter anderem – zum Ersten Weltkrieg führten9, dem zögernden Eintritt in die Weimarer Republik10 und eben der Etablierung der hitlerischen Terrorherrschaft.

Es sei schon an dieser Stelle angemerkt, daß wir eine solche Verbindung für unsere weiteren Überlegungen voraussetzen. Unserer Auffassung nach läßt sich kein historisches Ereignis von seinen historischen Prädispositionen trennen, auch dann nicht, wenn diesem Ereignis im nachhinein das Attribut eines »Wendepunktes« zugeschrieben wird. Dieser Sichtweise gemäß muß also die »Revolution von oben« der Jahre 1870/71 vor allem mit dem Scheitern der Revolution von 1848/49 oder auch, allgemeiner ausgedrückt, mit dem sogenannten »gestörten Verhältnis der Deutschen zur Revolution« in Verbindung gebracht werden11. So besehen beschäftigt sich die vorliegende Untersuchung mit dem Symptom einer sowohl strukturellen als auch mentalen Entwicklung, die wir als determinant für die gesellschaftliche und politische Kristallisierung Deutschlands im Verlauf des 19. Jahrhunderts bis hin zur nationalsozialistischen Herrschaft erachten.

Dies will wohlverstanden sein: Unsere Auffassung des Nationalsozialismus als Kriterium für die Wesenserfassung der Entwicklung Deutschlands in der modernen Zeit postuliert nicht eine deterministisch vorgegebene, quasi unumgängliche »historische Notwendigkeit«. Die von uns anvisierte historische Epoche weist mehr als genug alternative Optionen12 auf; dennoch läßt sich der Tatbestand nicht ignorieren, daß die republikanischen und demokratischen Möglichkeiten, welche in verschiedenen Phasen die Matrix für eine sozio-politische Selbstbestimmung hätten abgeben können, nicht wahrgenommen worden sind. Man kann dies natürlich mit der Konstellation der »partikularen Umständen« einer jeden Phase erklären wollen; wir hingegen meinen, daß wenn sich eine lange Reihe solcher »Konstellationsumstände« nachweisen läßt, die sich jedesmal durch die Nichtwahrnehmung der emanzipatorischen Möglichkeit auszeichnen, man eher von einem Verhaltensmuster (Pattern) reden sollte. Gemeint ist nicht ein Pattern, das wir (als die nachkommenden Betrachter) den Entwicklungsstrukturen deutscher Geschichte in den letzten 200 Jahren im nachhinein zuschreiben, sondern jene Pattern, welche der politischen Handlungsweise des Kollektivsubjekts »Deutschland« als Grundlage dienten, und jene Entwicklungsabläufe (unter anderem) selbst in Gang setzten.

Der Begriff »Kollektivsubjekt« erfordert eine nähere Erörterung. Selbstverständlich handelt es sich bei Begriffsverwendungen wie »Deutschland« oder »die Deutschen« um Verallgemeinerungen, die spezifische Unterschiede in einem solchen Maße verwischen können, daß man ihre Tauglichkeit als analytisches Instrumentarium nachgerade bezweifeln möchte. So ließe sich z.B. in dem von uns behandelten Zusammenhang behaupten, daß die in Deutschland damals existierenden Klassen- und ideologischen Unterschiede, die man im Rahmen einer Rezeptionsanalyse der Revolution wohl nicht außeracht lassen sollte, mit einer solchen Verallgemeinerung übergangen würden. Diesem Einwand ist folgendes entgegenzusetzen:

Erstens: Wir verwenden Begriffe wie »Deutschland« oder »die Deutschen« als Kategorien zur Unterscheidung der von uns untersuchten Gruppe von anderen Kollektivwesen, wie »Frankreich« oder »die Franzosen«. Die Validität eines solchen verallgemeinernden Vergleichs ergibt sich vorrangig aus dem historischen Kriterium, das wir in Beziehung auf beide Nationen applizieren: In der einen hat die Revolution stattgefunden, und es entstand in ihr gar eine politische Revolutionstradition, wohingegen die andere in ihrer modernen Geschichte keine erfolgreich abgeschlossene Revolution zu verzeichnen hat, und es etablierte sich in ihr eher eine »politische Kultur«, die von je darauf aus war, die Revolution zu umgehen.

Zweitens: Was die innerdeutsche soziale Schichtung anbelangt, so gilt unser Hauptinteresse dem von der Aristokratie allgemein und vom Hofadel besonders abgegerenzten »Bildungsbürgertum«. Diese Kategorie (und speziell die ihr angehörende Intelligenzschicht) wird von uns als eine Art pars pro toto des gesamten Bürgertums aufgefaßt13, und zwar vor allem deshalb, weil in der hier zur Deabatte stehenden Epoche noch keinerlei scharfe ideologische Trennung zwischen den unterschiedlichen Teilen dieser gesellschaftlichen Klasse auszumachen ist. Dies soll keineswegs besagen, es habe damals nicht schon klare sozio-ökonomische Unterschiede gegeben; da sich aber der Industrialisierungsprozeß noch in den Anfängen befand, kann man gewiß nicht von einer bewußten Polarisierung der Klassenideologien sprechen, und in jedem Fall haben besagte Unterschiede keinen Niederschlag in konträr entgegengesetzten, fest umrissenen politischen Programmen gefunden.

Andererseits bildete die Intelligenz als wohl prägnanteste Gruppe innerhalb des Bildungsbürgertums, ähnlich wie in anderen Ländern des 19. Jahrhunderts, auch in Deutschland die Speerspitze der politischen und sozialen Kämpfe. In dieser Hinsicht kommt ihrer politischen Aktivität gerade in Deutschland eine doppelte Funktion zu: Ihr politischer Kampf hat objektiv einen Klassencharakter14, und sei es wegen ihrer sozialen Zugehörigkeit zur Kategorie »Bürgertum«; aber es ist auch der klassenlose Kampf der, von Karl Mannheim so genannten, »freischwebenden Intelligenz«, d.h. also in unserem Fall jener Gebildetenschicht, die in besagter Epoche aus dem Glauben an Ideale und Grundsätze der Aufklärung gegen die politische Realität räsoniert. Wir werden die spezifische Situation dieser Schicht in Deutschland noch genauer zu betrachten haben, es läßt sich indes jetzt schon behaupten, daß der Charakter ihrer politischen Aktivität sowohl von der immanenten Marginalität einer »auf dem Zaun sitzenden« Intellektuellengruppe als auch von der bürgerlich sozialen Herkunft dieser Schicht, welche sich in ihrer Selbstbestimmung sowohl vom Adel als auch von den »unteren Schichten« unterschieden wissen wollte, stark beeinflußt war.

Mehr noch: Die Verwendung verallgemeinernder Begriffe ist gerade in den Geistes- und Sozialwissenschaften höchst verbreitet, denn sie ist letztlich unumgänglich. Denkt man sich nämlich die soziale Realität atomistisch, d.h. als umfassende Zusammensetzung einer Vielzahl von Individuen, so ist jeder Versuch, auch nur einen Teil dieser Realität vernünftig erfassen zu wollen, von vornherein und unweigerlich an einer begrifflichen Verallgemeinerung bzw. an eine Unterteilung in Kategorien gekettet, deren Erklärungsvalidität von der Definition abhängt, die man dem zu erforschenden Objekt nach logischen Erwägungen und methodologischen Zwängen zukommen läßt, Erwägungen, die im Grunde aber nichts anderes sind als das Erzeugnis eines wertbeladenen (sehr oft ideologischen) Ausgangspunktes in der Auffassung des Forschers. Der Grad der Annehmbarkeit besagter Definition und der von ihr abgeleiteten begrifflichen Verallgemeinerung innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinde ist Funktion eines konjunkturbedingten Konsenses, welcher selber jederzeit angesichts eines bevorstehenden Paradigmenwechsels zersetzt werden kann, oder er existiert von vornherein erst gar nicht infolge der die Wissenschaftsgemeinde selbst beherrschenden ideologischen Differenzen. So z.B. unterscheidet sich der »Klassen«-Begriff der marxistischen Theorie von der der struktur-funktionalen Schule; beiden Strömungen gemeinsam ist jedoch der unumgängliche Gebrauch einer verallgemeinernden Abstraktion des Begriffes selbst zwecks Formulierung einer Theorie über das Wesen sozialer Prozesse. Die diesbezüglich mögliche Einwendung, eine Theorie sei nicht gültig, wenn sie nicht empirisch überprüfbar sei, verliert zumindest einiges von ihrer Eindeutigkeit, sobald man sich gezwungen sieht, den Bereich sogenannter »harter Variablen« zu verlassen, um sich mit Parametern wie »Image«, »Ansehen« u.s.w. auseinanderzusetzen; es stellt sich dann nämlich heraus, daß auch der zur Überprüfung der Abstraktion und ihrer Gültigkeit bestimmte Apparat mit Begriffen angefüllt ist, die in nichts anderem als den (wertbeladenen) Erwägungen des Forschers wurzeln.

Wir betonen all dies, um herauszustreichen, daß es vor der Verallgemeinerung und der auf ihr gegründeten Abstraktion praktisch kein Entrinnen gibt15. Gleiches trifft auch für die Geschichtswissenschaft zu16, obwohl deren Selbstbestimmung als idiographische Wissenschaft die Vorstellung erwecken könnte, daß dem nicht so sei. Letztlich besitzt diese Wissenschaft kein wirklich eigenständiges Erkenntnis- und Erklärungsvermögen17; sie kann sich lediglich auf das Grundpostulat berufen, daß die von ihr angegangenen Phänomene sich genetisch aus den ihnen chronologisch vorangegangenen Faktoren entwickelt hätten, d.h. also, daß alle menschlichen Erscheinungen aus ihren historischen Prädispositionen heraus zu verstehen seien. Dieses (an sich richtige und nicht unwichtige) Postulat läßt sich indes nur dann umsetzen, wenn man sich in der Analyse besagter Erscheinungen und deren Prädispositionen auf theoretische Erwägungen stützt. Akzeptiert man aber diese Voraussetzung, so wird es leicht verständlich, wieso sich »das deutsche Bürgertum« als »Kollektivsubjekt« begreifen läßt, ohne daß man deshalb den Nachweis gleichen Verhaltens, identischen Handelns oder gar Denkens aller ihm zugeordneten Individuen erbringen müßte – genauso wie es müßig, ja überflüssig erscheinen muß, beweisen zu wollen, daß jeder der Jakobiner oder der Aristokraten in der Französischen Revolution sich in Übereinstimmung mit der Tendenz verhielt, die man diesen Gruppen in den unterschiedlichen historischen Situationen gemeinhin zuzuschreiben pflegt. Für gewöhnlich sehen wir die häufig auftretende und herausragende Neigung im Verhalten einer Gruppe als deren Charakteristikum an, und die Abweichungen von ihr werden als negative Bestätigung der allgemeinen Tendenz verstanden, als eine Art kontrapunktische Affirmation des Charakteristischen18. Es läßt sich natürlich einwenden, daß es gerade die dieser allgemeinen Tendenz innewohnenden partikularen Unterschiede seien, welche die historische Aussage beleben, sie interessant machen. So wahr dies an sich sein mag, meinen wir demgegenüber, daß das zur Debatte stehende Erklärungsvermögen historischer Aussagen primär in jenen Strukturen, Tendenzen und Mustern, die wir in dem erforschten Phänomen auszumachen vermögen, zu suchen sei, ohne daß dabei der Individualität des Phänomens Abbruch getan werden muß.

Eines der in der Historiographie moderner deutscher Geschichte und im Rahmen der Debatte um das sogenannte »gestörte Verhältnis der Deutschen zur Revolution« am häufigsten erwähnten sozialpsychologischen Verhaltensmuster (wir verwenden künftig den treffenderen englischen Begriff »Pattern«) ist die von Meinecke als »Obödienzgesinnung«19 umschriebene Beziehung deutscher »Untertanen« zur »Obrigkeit«, oder breiter formuliert: das autoritäre Verhältnis der Deutschen zur Autorität. Bereits im Jahre 1918 hat Heinrich Mann diesem autoritären Verhalten in der exemplarischen Gestalt des Diederich Heßling ein eindrucksvolles literarisches Denkmal gesetzt20. Einen besonderen Impetus erhielt die Auseinandersetzung mit diesem Thema aber erst nach 1945, als das akute Bedürfnis aufkam, die Entwicklung, welche zum Dritten Reich, zur Unterwerfung des deutschen Volkes unter das autoritäre Nazi-Regime, geführt hatte, »erklären« zu wollen. Aber die in diesem Zusammenhang etablierte Charakteristik des Autoritären implizierte oft nicht viel mehr als schnöde Stigmatisierung, sodaß sie letzten Endes als leicht abgegriffene Phrase in den gängigen strukturorientierten Faschismustheorien absorbiert wurde und unterging. Die in dieser Charakteristik enthaltene mentale Grundlage verlor somit vollends ihre Gültigkeit und verkümmerte zugunsten einer sich zunehmend ausbreitenden, nach rein politisch-ideologischen Gesichspunkten klassifizierenden und wertenden Ausrichtung. Die Frage, wie es passiert war, daß sich das deutsche Volk dem autoritären Nazi-Regime unterworfen hatte, wurde (unter Heranziehung der Beschaffenheit von Umständen, der Analyse von Machttrukturen und der Darstellung von Repressionsmechanismen) vor allem als eine Frage des Systems thematisiert; so bedeutend die in diesem Zusammenhang gemachten Aussagen gewesen sein mögen, führten sie doch zu einer um sich greifenden Vernachlässigung der sozialpsychologischen Dimension dieser Fragestellung; man meinte, das zur Debatte stehende Phänomen könne durch sie nicht erklärt werden, befürchtete aber auch darüberhinaus die pauschalisierend stigmatisierende Gefahr eines irrationalen Determinismus, der sich in eine solche Erklärung einschleichen könnte.

Eine Sonderstellung nahm in dieser allgemeinen Entwicklung die Frankfurter Schule21 ein. Ihre Gründer, die die multidimensionalen Grundlagen der Faschismus-Erscheinung im 20. Jahrhundert analytisch anzugehen versuchten, schufen eine theoretische Synthese zwischen der marxistischen Gesellschaftslehre und der Psychoanalyse mit der Zielsetzung, die Verknüpfung der sozialen und mentalen Faktoren des Phänomens systematisch zu untersuchen. Nicht von ungefähr wurde hierbei besondere Aufmerksamkeit dem Wesen des Autoritären und den autoritären Charakterstrukturen der faschistischen Persönlichkeit geschenkt.

In der vorliegenden Untersuchung stützen wir uns weitgehend auf das grundlegende Paradigma dieser Schule. Bevor wir jedoch die ihm unterlegten theoretischen Erwägungen vorstellen, müssen wir kurz bei einem Schlüsselproblem verweilen, das sich schon aus der Verbindung zweier vermeintlich so extrem konträrer Lehren stellt22. Es erhebt sich nämlich in diesem Zusammenhang die Frage, ob es überhaupt möglich sei, ein Begriffssystem, das das Verhalten des Individuums zu erklären vorgibt, auf die Analyse der Verhaltensmuster sozialer Kollektive anzuwenden; oder anders ausgedrückt: Mit welchem Gültigkeitsanspruch kann man vom Verhalten einzelner Individuen auf das Wesen gesellschaftlicher Prozesse schließen?

Soweit bekannt, gibt es kein einziges, allgemein akzeptiertes theoretisches Modell, das dieses mit einer sehr langen Diskurstradition befrachtete Problem, philosophisch gesehen, umfassend angegangen wäre oder gar endgültig gelöst hätte. An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ist die sich um diese Fragestellung zuspitzende soziologische Debatte zu einer Art Höhepunkt in der Form einer Polarisierung der in Emile Durkheims und Max Webers Lehren verkörperten Paradigmen gelangt. Der um die Erfassung des Wesens des gesellschaftlichen Gebildes und der sich aus ihm ableitenden Prozesse bemühte Franzose ging von der Annahme eines a priori existierenden, das Verhalten des Individuums determinierenden sozialen Körpers aus. Der Wille, die Wünsche und somit auch das Verhalten des Individuums sind (dieser Auffassung zufolge) als Ableitungen jenes vom Einzelnen introjizierten und zu einer Art »höheren Natur« seiner selbst gewordenen sozialen Wesens zu verstehen. Aus dieser Sicht wird also das als Teil des sozialen Kollektivs gedachte Individuum von dessen Institutionen beherrscht und überwacht. Demgegenüber ging Weber davon aus, daß das Wesen sozialer Prozesse gar nicht zu begreifen sei, wenn man nicht das Handeln des »Einzelmenschen«, die diesem Handeln zugrunde liegende Entscheidung und die sich in ihr widerspiegelnden Werturteile zum Ausgangspunkt wählt. Der soziale Körper verändert sich unentwegt im Verlauf historischer Prozesse, welche aber widerum letztlich als unzählige Handlungen von Einzelmenschen zu begreifen seien. Die in diesen Prozessen auszumachenden Strukturen und Pattern sind zunächst vor allem Konzeptionen im Bewußtsein dessen, der sie betrachtet und zu verstehen beansprucht: Sie beschreiben nicht die in unzählig vielen Schichten gestaffelte soziale Realität, sondern repräsentieren vielmehr lediglich einen Teil dieser, einen Teil freilich, der das theoretische Verstehen der Strukturen ermöglichen soll. Die soziale Wirklichkeit läßt sich nicht voll erfassen, und in keinem Fall darf ihr eine a priori wirkende, determinierende Kraft zugeschrieben werden; da sie als ein Resultat menschlichen Handelns zu verstehen sei, ist sie auch gewissermaßen kontingent.

Diese im Rahmen der soziologischen Disziplin etablierten, konträr entgegengesetzten Auffassungen verzweigten sich im 20. Jahrhundert in zunehmenderem Maße selbst, sodaß ein Konsens hinsichtlich des Wesens der Soziologie oder gar des sozialen Körpers in immer weitere Ferne zu rücken scheint, zumal die allumfassenden Gesellschaftstheorien der »klassischen« Periode einiges von ihrer Anziehungskraft eingebüßt haben. Ähnliches läßt sich von den Entwicklungen im Bereich der Psychologie behaupten, und es sei hier lediglich auf die paradigmatische Diskrepanz zwischen den Anhängern der Freudschen Tiefenpsychologie und denen des positivistisch ausgerichteten behavioristischen Ansatzes hingewiesen. Obwohl sich jedoch die innerdisziplinären Divergenzen nicht überbrücken ließen, entstand eine Art stillschweigende Übereinstimmung, was die Aufteilung des Forschungsfeldes unter den Disziplinen anbetrifft: Die Psychologie – so das Klischee – untersucht das Individuum und die Soziologie das gesellschaftliche Kollektiv. Dem ungelösten theoretischen Problem der Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft wurde somit eine quasi institutionelle Lösung zugetragen, indem sich eine künstliche Teilung zwischen den verschiedenen Bereichen offizell etablierte.

Es stellte sich indessen heraus, daß eine solche »Lösung« dem Bedürfnis nach konzeptueller Synthese nicht nachkommen konnte. In den letzten Jahrzehneten begannen sich denn auch interdisziplinäre Fachbereiche heranzubilden; so z.B. die Sozialpsychologie, welche sich ihrerseits sowohl an den mikrosoziologischen Studien eines Georg Simmel oder George H. Mead als auch auf den Grundannahmen und Erkenntnissen der rein psychologisch ausgerichteten Forschung orientiert. Indem er sich auf die enge Verknüpfung der individuellen psychischen Welt (samt der ihr entspringenden Verhaltensmuster) mit der objektiven sozialen Realität (samt den in ihr auszumachenden strukturellen Prozesse) konzentriert, überbrückt dieser Forschungsansatz zwar die künstliche Teilung zwischen den pseudoautonomen Entitäten »Individuum« und »Gesellschaft«, er beschränkt sich jedoch gemeinhin auf die Sphäre sichtbarer Erscheinungen und auf rein kognitive Aspekte. Er kettet sich also an eine positivistische Sicht des Problems »Mensch und Gesellschaft« und vermeidet es, sich mit den »irrationalen«, d.h. unbewußten, Dimensionen sozialen Verhaltens und dessen psychisch-individuellen Quellen auseinanderzusetzen.

Es ist nun dieser Aspekt, auf den sich die »Kritische Theorie« der Frankfurter Schule23 (und besonders jener sich mit dem »autoritären Charakter«24 beschäftigenden Teil in ihr) bezieht. In der Einleitung zur deutschen Ausgabe der »Authoritarian Personality« vermerkt Adorno in diesem Zusammenhang die Anlehnung der in diesem Buch präsentierten Untersuchungen an der Hypothese, daß »die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Überzeugungen eines Individuums häufig ein umfassendes und kohärentes, gleichsam durch eine ›Mentalität‹ oder einen ›Geist‹ zusammengehaltenes Denkmuster bilden, und daß dieses Denkmuster Ausdruck verborgener Züge der individuellen Charakterstruktur ist.«25 Zwar ist Adornos Hauptaugenmerk auf das von ihm sobenannte »potentiell faschistische Individuum« gerichtet, wir meinen jedoch, daß die der forschungsmäßigen Auseinandersetzung mit dem Phänomen unterlegten theoretischen Erwägungen ihre Gültigkeit auch auf einer umfassenderen Ebene bewahren. So läßt es sich grundsätzlich behaupten, daß jede Untersuchung, die dem »Problem politischer Typen« nachgeht, einer Unterscheidung zwischen der Konzeption der »Ideologie« und der »der ihr zugrundeliegenden menschlichen Bedürfnisse« bedarf.26 Akzeptiert man die Definition der Ideologie als ein »System von Meinungen, Attitüden und Wertvorstellungen«, als »eine Denkweise über Mensch und Gesellschaft«, so ist es ein leichtes, Adornos Verknüpfung beider Konzeptionen beizupflichten:

»Wir können von der Gesamtideologie eines Individuums sprechen oder von seiner Ideologie in verschiedenen Bereichen des sozialen Lebens: Politik, Wirtschaft, Religion, Minderheiten und anderes. Ideologien bestehen, unabhängig vom Einzelnen, und die Ideologien bestimmter Epochen sind ebenso Resultat historischer Prozesse wie des sozialen Geschehens. Je nach dem individuellen Bedürfnis und dem Ausmaß, in dem dieses befriedigt wird oder unbefriedigt bleibt, haben sie für die einzelnen Individuen verschieden starke Anziehungskraft.«27

Die Meinungen, Attitüden und Wertvorstellungen, welche Bestandteile des ideologischen Systems des Einzelnen sind, artikulieren sich zwar mehr oder weniger offen, psychologisch gesehen bleiben sie indes »an der Oberfläche«. Die Reaktion des Individuums auf emotional geladene Fragen hängt von dessen spezifischer Situation ab; in bestimmten Fällen können sich daher »Diskrepanzen« ergeben »zwischen dem, was er sagt und dem, was er ›wirklich denkt‹«. Adorno betont, daß besondere Wichtigkeit der Erfassung jener »verborgenen Tendenzen« zukomme, welche das Individuum nicht nur vor seiner Umgebung, sondern auch vor sich selbst verbirgt, weil angenommen werden könne, daß genau hier »das Potential für demokratische oder antidemokratische Ideen und Handlungen in entscheidenden Situationen liegen.«28 In diesem Zusammenhang stellt sich denn auch die Frage hinsichtlich einer Unterscheidung zwischen der verbalen und der praktischen Dimension der Ideologie. Zwar ist es klar, daß sie beide von der jeweiligen spezifischen sozio-ökonomischen und politischen Situation des Einzelnen abhängen; dies reicht jedoch nicht zur Erklärung hin, da sich offenbar die einzelnen Individuen wesentlich in ihrer Bereitschaft zur Tathandlung unterscheiden. Das Problem der »Potentialität« muß also näher beleuchtet werden.

Es wird von der Annahme ausgegangen, daß »ideologische Aufnahmebereitschaft, Verbalideologie und Ideologie in Aktion«, trotz der zwischen ihnen möglichen Unterschieden, Elemente einer einzigen gesamten Struktur seien – und zwar hauptsächlich deshalb, weil diese Elemente, vom psychologischen Standpunkt aus gesehen, logisch miteinander verbunden sind. Jeder Versuch, einer solchen Struktur beizukommen, ist daher unweigerlich gekettet an die Analyse des von Adorno sobenannten »Gesamtcharakters«, welchen er als »eine mehr oder weniger beständige Organisation von Kräften im Individuum, die in den verschiedenen Situationen dessen Reaktionen und damit weitgehend das konsistente Verhalten – ob verbal oder physisch – bestimmen« definiert; er fügt hinzu:

»So konsistent das Verhalten jedoch sein mag, es ist nicht gleich Charakterstruktur; der Charakter liegt hinter dem Verhalten und im Individuum. Die Kräfte im Charakter sind nicht Reaktionen, sondern Reaktionspotential […]. Gehemmte Charakterkräfte gehören tieferen Schichten an als jene, die sich unmittelbar und konsistent im Verhalten manifestieren.«29

Adorno bemerkt, daß sich diese Theorie zur Charakterstruktur »eng an Freud«30 anlehne; die Charakterkräfte hat man daher als »Bedürfnisse«, d.h. also als »Triebe, Wünsche [und] emotionale Impulse« zu begreifen. In diesem Sinne läßt sich der Charakter in seiner Funktion als »Organisation von Bedürfnissen«, welche auf die Meinungen, Attitüden und Wertvorstellungen des Einzelnen einwirken, als »Determinante ideologischer Präferenzen« betrachten, jedoch nicht als »endgültige Determinante«.31 Adorno hebt ausdrücklich hervor, daß der Charakter nie von vornherein gegeben sei, sondern sich unter dem Druck der Umweltbedingungen heranbilde, und dies um so gründlicher, »je früher sie in der Entwicklungsgeschichte des Individuums eine Rolle spielten«; da also die Genese des Charakters in entscheidendem Maß vom Erziehungsprozeß und der häuslichen Umgebung des Kindes geprägt wird, muß man wirtschaftlichen und sozialen Faktoren eine tiefe Einflußnahme auf diese Entwicklung beimessen32; denn:

»Nicht nur folgt jede Familie hier den Gewohnheiten der eigenen sozialen, ethnischen und religiösen Gruppe, auch ökonomische Faktoren beeinflussen das Verhalten der Eltern gegenüber dem Kind. Umfassende Veränderungen in sozialen Bedingungen und Einrichtungenwirken sich daher unmittelbar auf die innerhalb einer Gesellschaft entstehenden Arten von Charakterstrukturen aus.«33

In theoretischer Hinsicht hat man die hier beschriebene Wechselwirkung zwischen individuell-psychischen Prädispositionen und historisch-sozialen Bedingungen als Schlüsselpunkt zu begreifen. Die Annahme einer solchen Wechselwirkung ermöglicht nicht nur die anlogisierende Parallelisierung individuellen und kollektiven Verhaltens34, sondern überbrückt auch darüberhinaus die Diskrepanz zwischen den ontologischen Konzeptionen vom Individuum und von der Gesellschaft, indem sie erklärt, durch welches Element die Individuen im kollektiven Rahmen aneinandergebunden werden und somit die Erhaltung des Kollektivs erst möglich machen. Erich Fromm drückt dies wie folgt aus: »Es sind die libidinösen Kräfte der Menschen, die gleichsam den Kitt formieren, ohne den die Gesellschaft nicht zusammenhielte, und die zur Produktion der großen gesellschaftlichen Ideologien in allen kulturellen Sphären beitragen.«35 D.h. also, dieselben Kräfte, von denen wir behaupteten, sie formierten den Charakter in der individuellpsychischen Sphäre, sind es auch, die jenen »Kitt« bilden, welcher auf die interpersonellen Beziehungen, auf das kollektive Leben also, einwirkt; diese Kräfte sind jedoch selbst von der sozialen Realität beeinflußt, in deren Rahmen sie sich zur Charakterstruktur entfalten. In diesem Sinne kann Adorno die Charakterstruktur als »eine Agentur« definieren, welche »soziologische Einflüsse auf die Ideologie vermittelt«.36

Diese Konzeption schreibt demnach der »Charakterstruktur« eine duale Natur zu. Sie enthält eine passive Seite, welche die Erscheinungen der objektiven Realität aufnimmt und auf sie reagiert, aber es gibt in ihr auch jene aktive Dimension, die (unter gewissen Bedingungen) fähig ist, sich einer »realistischen« Bezugnahme auf eben diese Erscheinungen zu entziehen. Obgleich er sie als vermittelnde »Agentur« definiert hat, betont daher Adorno:

»Die Charakterstruktur, obwohl Produkt der frühen Lebensbedingungen, ist, nachdem sie sich einmal entfaltet hat, dennoch kein bloßes Objekt der gegenwärtigen. Was sich entfaltet hat, ist eine Struktur im Individuum, etwas, das selbst zum Handeln gegenüber der sozialen Umwelt und zur Auswahl unter den mannigfaltigen von ihr ausgehenden Stimuli fähig ist; das, wenn es auch modifizierbar bleibt, gegen tiefgreifende Veränderungen häufig sehr resistent ist.«

Diese Konzeption erklärt auch das konsistent gleiche Verhalten in gegensätzlichen Situationen und die »Hartnäckigkeit ideologischer Trends angesichts ihnen widersprechender Fakten und radikal veränderter sozialer Bedingungen«. So kann denn Adorno postulieren: »Charakterstruktur ist ein Begriff, der für etwas relativ Dauerhaftes einsteht.«37

Begreift man das Individuum als Archetypen, welchem zwar eine historische Wirklichkeit eigen ist, jedoch nicht im Sinne eines »persönlichen Lebensschicksals«, sondern als »idealtypischem« Vertreter des kollektiven Rahmens, dem er angehört38, so kann man sich auf den Begriff des »Gesellschafts-Charakters« (social character) berufen, den Fromm als »den Teil der Charakterstruktur, welcher den meisten Mitgliedern der Gruppe gemeinsam ist«, definiert, und zu dem er bemerkt:

»Der Gesellschafts-Charakter […] umfaßt nur eine Auswahl aus diesen Wesenszügen [des Individual-Charakters], und zwar den wesentlichen Kern der Charakterstruktur der meisten Mitglieder der Gruppe, wie er sich als Ergebnis der grundlegenden Erfahrungen und Lebensweise dieser Gruppe entwickelt hat. Wenngleich es immer ›Abweichler‹ mit einer völlig anderen Charakterstruktur geben wird, stellen doch die Charakterstruktur der meisten Mitglieder der Gruppe Variationen dieses Kerns dar, wie sie durch die zufälligen Faktoren von Geburt und Lebenserfahrung zustande kamen, die ja von Mensch zu Mensch verschieden sind.«39

Fromm sieht in der Konzeption des »Gesellschafts-Charakters« einen der Schlüsselbegriffe für die Erfassung sozialer Prozesse. Seiner Auffassung nach sind einerseits die Anpassungsformen menschlicher Bedürfnisse an die Seinsbedingungen einer bestimmten Gesellschaft im Charakter verkörpert, andererseits werden aber Denken, Fühlen und Handeln des Individuums von eben diesem Charakter geformt. Dies ist ein für unser Anliegen besonders wichtiger Punkt, da Fromm auch die intellektuelle Welt des Menschen nicht von dieser Auffassung ausgrenzt; mit Beziehung auf »Begriffe«, »Ideen« und »Doktrinen« als Elemente dieser intellektuellen Welt, behauptet er:

»Ein jeder derartiger Begriff und eine jede Doktrin besitzt eine emotionale Matrix, und diese Matrix ist in der Charakterstruktur des einzelnen verwurzelt. […] Die Tatsache, daß Ideen eine emotionale Matrix besitzen, ist von größter Bedeutung, denn sie ist der Schlüssel zum Verständnis des Geistes einer Kultur. Verschiedene Gesellschaften oder Klassen innerhalb einer Gesellschaft besitzen einen spezifischen Gesellschafts-Charakter, und auf dieser Basis entwickeln sich unterschiedliche Ideen, die zu mächtigen Triebkräften werden.«40

Er geht gar einen Schritt weiter und postuliert, die Triebkräfte der Ideen könnten sich erst dann voll entfalten, wenn sie eine Antwort auf die besonderen menschlichen Bedürfnisse eines spezifischen Gesellschafts-Charakters ermöglichten. Freilich ist auch in diesem Zusammenhang der Prozeß wechselseitig. Der Gesellschafts-Charakter entsteht natürlich nicht im leeren Raum; trotz des gestaltenden Einflusses, den er auf soziale Prozesse ausübt, ist er in nicht geringem Maße selber eine Funktion der aus dem gesellschaftlichen System resultierenden Zwänge und introjiziert äußere Bedürfnisse, um die menschliche Energie in die Aufgaben des wirtschaftlichen und sozialen Systems, in dessen Rahmen er sich verwirklicht, sozusagen einzubinden. Daher insistiert auch Fromm darauf, daß man die Gesellschaftsstruktur (oder die Persönlichkeitsstruktur der in ihr lebenden Individuen) nicht als Ergebnis des Erziehungsprozesses erklären könne, sondern, umgekehrt, »das Erziehungssystem mit den Erfordernissen erklären [müsse], die sich aus der sozialen und wirtschaftlichen Struktur der jeweiligen Gesellschaft ergeben.« Andererseits liegt die Wichtigkeit der Erziehungsmethoden darin, daß sie Mechanismen darstellen, mittels derer das Individuum »in die gewünschte Form gebracht wird«. Wenn wir also oben behauptet haben, der familiäre Rahmen spiele eine entscheidende Rolle in der Gestaltung der individuellen Charakterstruktur, so kann man mit Fromm »die Familie als die psychologische Agentur der Gesellschaft ansehen.«41

Auf diesen theoretischen Erwägungen stützt sich Fromm bei der Kategorisierung verschiedener Erscheinungsformen des Gesellschafts-Charakters, als deren für unser Anliegen wichtigste die des sogenannten »autoritären Charakters« erachtet werden muß. Er verwendet diese Benennung stellvertretend für die des »sado-masochistischen Charakters« und begründet dies damit, daß sich der sado-masochistische Mensch deutlich durch eine besondere Beziehung zur Autorität auszeichne42: »Er bewundert die Autorität und neigt dazu, sich ihr zu unterwerfen, möchte aber gleichzeitig selbst Autorität sein, der sich die anderen zu unterwerfen haben.«43 Es sei hervorgehoben, daß die Autorität nicht als Eigenschaft des Einzelnen, sondern als »zwischenmenschliche Beziehung« begriffen wird, »bei der der eine den anderen als ihm überlegen betrachtet.« Fromm unterscheidet in dieser Hinsicht zwischen zwei Idealtypen solcher Beziehungen, von denen er den ersten als »rationale Autoritätsbeziehung« (z.B. die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler) und den zweiten als »hemmende Autoritätsbeziehung« (z.B. die zwischen dem Sklavenhalter und dem Sklaven) bezeichnet. Die elementaren Unterschiede zwischen beiden Beziehungsformen sieht er in der Interessengemeinschaft, welche die erste Beziehung im Gegensatz zur zweiten kennzeichnet, und in der grundlegend verschiedenen psychologischen Situation: In der ersten Beziehung herrschen vorwiegend positive Gefühle, wohingegen in der zweiten Ressentiment und Feindseligkeit vorherrschend sind. Natürlich vermischen sich in der Realität beide Arten der Autoritätsbeziehung, und jede Analyse einer konkreten Beziehung erfordert daher die spezifische Gewichtung der jeweils in ihr auftretenden Art.44 Obgleich wir hier also vorzüglich mit dem Begriff der zweiten Beziehungsart operieren werden, betonen wir ausdrücklich, daß die Unterschiede in der Realität, auch in der von uns anvisierten historischen Situation, keineswegs polarisiert sind, schon gar nicht dem Augenschein nach. Wir werden also bemüht sein zu zeigen, mit welchen Schwierigkeit die Auflehnung gegen die Autorität verbunden ist, und zwar gerade wegen der aus der psychologischen Verschmelzung beider Beziehungsarten resultierenden Ambivalenz.

Fromm spricht von einem weiteren Aspekt der Autorität: »Die Autorität muß nicht unbedingt eine Person oder eine Institution sein, die sagt: ›Du mußt das tun‹ oder ›Das darfst du nicht tun‹. Man könnte diese Form als äußere Autorität bezeichnen, aber sie kann auch als innere Autorität: als Pflicht, Gewissen oder Über-Ich auftreten.«45 Im Grunde – so Fromm – läßt sich das ganze moderne Denken vom Protestantismus bis hin zu Kant als die Ersetzung der äußeren Autorität durch die internalisierte denken46:

»Durch die politischen Siege des aufsteigenden Bürgertums verlor die äußere Autorität an Ansehen, und das eigene Gewissen nahm den Platz ein, den diese innegehabt hatte, worin viele einen Sieg der Freiheit sehen. Sich (zum mindesten in religiösen Dingen) Anordnungen von außen zu unterwerfen, schien nun eines freien Mannes unwürdig. Dagegen sah man im Sieg über seine natürlichen Neigungen und in der ›Selbstbeherrschung‹, das heißt in der Beherrschung des einen Teils des Menschen – seiner Natur – durch einen anderen Teil seines Wesens – seine Vernunft, seinen Willen oder sein Gewissen – das Wesen der Freiheit. Die Analyse zeigt, daß das Gewissen ein ebenso strenger Zwingherr ist wie äußere Autoritäten. Außerdem zeigt sie, daß die Gewissensinhalte im letzten keine Forderungen des individuellen Selbst sind, sondern gesellschaftliche Forderungen, die die Würde ethischer Normen angenommen haben. Die Herrschaft des Gewissens kann sogar noch strenger sein als die äußeren Autoritäten, weil der Betreffende die Befehle seines Gewissens als ureigenste erfährt. Wie aber kann jemand gegen sich selbst rebellieren?«47

Fromms rhetorische Frage verdeutlicht die besondere Bedeutung, die dem Begriff »Auflehnung« (und dessen komplementäre Ergänzung »Gehorsam«) im anstehenden Zusammenhang zukommt; nicht von ungefähr bezeichnet er »die Einstellung zur Macht« als das wichtigste Merkmal des autoritären Charakters.48 Wie wir oben darlegten, bewundert der autoritäre Charakter die Macht, welche seine Liebe und seine Bereitschaft zur Unterwerfung entfacht, während Schwäche und Ohnmacht (seien es die eines Menschen oder einer Institution) in ihm Verachtung und die Angriffslust gegen sie erwecken. Es muß jedoch auch hier darauf hingewiesen werden, daß (ähnlich wie die oben beschriebenen Autoritätsbeziehungen) auch der autoritäre Charakter in seiner puren Form selten in der realen Welt vorzufinden ist. Mehr noch: Seine »realen« Erscheinungsformen können trügen; Fromm hebt dies ausdrücklich hervor, indem er auf die Neigung des autoritären Charakters, sich der Autorität zu widersetzen und gegen Einflüsse »von oben« zu wehren, eingeht. Er bemerkt, daß diese Widersetzung zuweilen dermaßen dominant sei, daß sie den äußeren Ausdruck der Unterwerfung bis zur Unkenntlichkeit verwischt. Dieser Typ des autoritären Charakters widersetzt sich immer gegen irgendeine Autorität, ohne dabei wahrzunehmen, wann er sogar seinen eigenen Interessen zuwider handelt. Andere haben ein gespaltenes Verhältnis zur Autorität; sie können sich gegen eine bestimmte Autorität auflehnen (besonders gegen eine, die sich wider Erwarten als schwach entpuppt hat), um sich einer anderen Autorität zu unterwerfen, welche ihre »masochistischen Sehnsüchte« besser zu erfüllen vermag. Es gibt auch den autoritären Charakter, der seine Auflehnungsneigungen vollkommen verdrängt, so daß diese nur a posteriori in Form von Haßgefühlen gegenüber der Autorität auszumachen sind, besonders dann, wenn deren Macht schwindet und sie zu stürzen droht.

Wenigstens bei der ersten Kategorie – so Fromm – handelt es sich vermeintlich um Menschen mit einem stark ausgeprägten Unabhängigkeitsbedürfnis, die mutig gegen jene Machthaber und Autoritäten ankämpfen, welche der Erfüllung dieses Bedürfnisses im Wege zu sein scheinen. Dieser Schein trügt jedoch, denn der Kampf des autoritären Charakters gegen die Autorität ist seinem Wesen nach im »Trotz« verankert49; es handelt sich um den Versuch, das Gefühl der Ohnmacht zu überwinden, ohne daß dabei das (bewußte oder unbewußte) Bedürfnis, sich der Autorität zu unterwerfen, tatsächlich bewältigt würde: »Ein autoritärer Mensch ist niemals ein ›Revolutionär‹, lieber würde ich ihn einen ›Rebellen‹ nennen. Viele Menschen und viele politische Bewegungen sind dem oberflächlichen Beobachter ein Rätsel, weil sie anscheinend unerklärlicherweise vom ›Radikalismus‹ zu einem äußerst autoritären Gehabe hinüberwechseln. Psychologisch handelt es sich bei solchen Menschen um typische ›Rebellen‹«. Fromm geht gar in seiner Behauptung einen Schritt weiter:

»Die Einstellung des autoritären Charakters zum Leben, seine gesamte Weltanschauung wird von seinen emotionalen Strebungen bestimmt. Der autoritäre Charakter hat eine Vorliebe für Lebensbedingungen, welche die menschliche Freiheit einschränken, er liebt es, sich dem Schicksal zu unterwerfen. Was er unter ›Schicksal‹ versteht, hängt von seiner gesellschaftlichen Stellung ab. […] Man kann Schicksal philosophisch als ›Naturgesetz‹ oder als ›Los des Menschen‹, religiös als ›Willen des Herrn‹ oder moralisch als ›Pflicht‹ rationalisieren – für den autoritären Charakter ist es stets eine höhere Macht außerhalb des einzelnen Menschen, der sich jeder nur unterwerfen kann. Der autoritäre Charakter verehrt die Vergangenheit. Was einmal war, wird in alle Ewigkeit so bleiben. Sich etwas noch nie Dagewesenes zu wünschen oder darauf hinzuarbeiten, ist Verbrechen oder Wahnsinn. […] Der Mut des autoritären Charakters ist im wesentlichen ein Mut, das zu ertragen, was das Schicksal oder ein persönlicher Repräsentant oder ›Führer‹ für ihn bestimmt hat. […] Nicht das Schicksal zu ändern, sondern sich ihm zu unterwerfen, macht den Heroismus des autoritären Charakters aus.«50

Es sei wiederum betont: Völlige Unterwerfung, vorübergehende Rebellion gegen die Autorität, ohne sie tatsächlich gänzlich stürzen zu wollen, oder Auflehnung gegen eine Autorität aus Sehnsucht nach einer anderen, gar stärkeren, sind graduell unterschiedliche Erscheinungsformen desselben autoritären Patterns: die Abhängigkeit von der Autorität ist in allen Formen als konstante Determinante erkennbar; in dieser Abhängigkeit ist die emotionale Matrix des autoritären Charakters verkörpert, durch sie wird seinVerhalten und seine Handlungsweise, auch wenn dies zunächst nicht klar ersichtlich zu sein scheint, bestimmt. Mehr noch: Diese Abhängigkeit »neigt« dazu, sich selbst zu erhalten, denn gerade weil sie die »psychologische Sicherheit« des Bekannten und des Gewissen sowie die Abwehr gegenüber der Bedrohung durch das Unbekannte und das ungewisse Neue verkörpert, bedarf es für gewöhnlich mächtiger Anstrengungen, um sich von ihr loszulösen. Die Angst des autoritären Charakters vor der Loslösung von der Autorität ist daher mit seiner Angst vor der Verantwortung, welche es bei der Gestaltung der neuen Lage ohne Schirmherrschaft der Autorität zu übernehmen gilt, aufs engste verbunden. Die Verehrung der Vergangenheit, von der Fromm spricht, ist in diesem Sinne nichts anderes als die Angst vor der Zukunft.

Auf der Grundlage dieses Begriffssystems können wir nun zur Darlegung der Hauptthese dieser Untersuchung übergehen. Wir behaupten, daß die historiographische Rezeption der Französischen Revolution im vormärzlichen Deutschland von dem in breiten Schichten des deutschen Bürgertums und der ihm angehörenden Intelligenz vorwaltenden autoritären Pattern entscheidend geprägt, wenn nicht gar gänzlich bestimmt wurde. Da man den Ablauf der Revolution (zumal in ihren Anfangsphasen) sowohl politisch als auch kollektiv-psychisch als eine Auflehnung gegen die Autorität begreifen kann, meinen wir in diesem Aspekt einen besonders abschreckenden Faktor einer Rezeption der Revolution als Modell einer möglichen Nachahmung in Deutschland erkennen zu dürfen. Unter diesem Gesichtspunkt erhält denn auch die Hinrichtung des französischen Königs eine ganz besondere Bedeutung; sie symbolisiert die gewaltsame Auflehnung gegen die Autorität im allerarchaischsten Sinne: der »Königsmord«, wie ihn viele jener Epoche zu nennen pflegen, wird mit der psychischen Folie des »Urvatermords«51 rezipiert, wenn man will: Der Landesvater wird von den Landeskindern ermordet.

Das historische Indiz für eine solche Interpretation läßt sich am deutlichsten an der Wende in der Reaktion der meisten deutschen Gebildeten auf die Revolution erkennen. Diese Wende setzt zwar vor der Hinrichtung an, jedoch auch da immer im Zusammenhang mit dem, was sich als Auflehnung gegen die Autorität auslegen läßt. In ihren Anfängen wird die Revolution mit großem Jubel empfangen, der in den beiden ersten Jahren teilweise verklingt, mit dem Schock, den die Hinrichtung des Königs auslöst, aber vollends in Abscheu und allgemeine Verwerfung umschlägt. Dieser Prozeß reflektiert an sich das Element der Ambivalenz in der Beziehung zum Gesamtereignis. Von Anfang an ist die Französische Revolution im Grunde nichts anderes als eine Auflehnung gegen die Autorität52, und eben diese ersten Phasen werden von den deutschen Gebildeten begrüßt, weil sich in ihnen der Ausdruck einer eigenen Aggression gegen die Autorität ermöglicht; es handelt sich hierbei freilich um den von Fromm als »Rebellion« bezeichneten Reaktionsmodus: Die deutschen Gebildeten können eine Rebellion gegen die Autorität akzeptieren, nicht aber eine wirkliche Revolution, welche die Autorität gänzlich stürzen würde. Als die französischen Revolutionäre den entscheidenden Schritt machen, indem sie die Monarchie abschaffen und den König physisch liquidieren, setzt sich der autoritäre Charakter der deutschen »Beobachter« in eine psychisch motivierte ideologische Reaktion um, welche sie alsdann veranlaßt, dem gesamten Geschehen den Rücken zu kehren.

Wir werden die individuell-psychischen Quellen der Ambivalenz weiter unten noch zu erörtern haben. Es scheint indes angebracht, schon an dieser Stelle hervorzuheben, daß sich das in diesem konkreten historischen Zusammenhang beschriebene Pattern bei allen politischen Schlüsselereignissen im Verlauf der deutschen Geschichte – von der Französischen Revolution bis hin zum Revolutionsversuch von 1848, wo es am entscheidenden Moment moderner deutscher Geschichtsentwicklung am krassesten zum Ausdruck kommt und den erfolgreichen Abschluß der Revolution letztlich verhindert – reproduzierend wiederholt.

Damit soll nicht behauptet werden, der autoritäre Charakter sei ein Produkt der Französischen Revolution gewesen. Seine kollektive Genese hing vielmehr mit der historischen Sonderheit der strukturellen Entwicklung Deutschlands in den der Revolution vorangegangenen Jahrhunderten, mit den der territorialen Zersplitterung einwohnenden Erziehungsprozessen und mit der aus ihnen erwachsenen partikularistischen Mentalität und »politischen Kultur« zusammen.53 Und dennoch: Die Bedeutung der Französischen Revolution als katalysierender Faktor für die Verfestigung und historische Objektivierung des latenten Patterns in der Ára nach dem großen französischen Ereignis kann gar nicht übertrieben werden; denn die Revolution, als Scheideweg moderner Geschichte, erstellt einen neuen und bis dahin unbekannten Maßstab für die politische Ideologiepraxis. Sie bettet die Auflehnung gegen die konventionelle Autorität in eine umfassende Konzeption der Emanzipation ein: Sie affirmiert nicht nur die bewußtseinsmäßige Möglichkeit, daß der Sturz der Autorität weder eine Sünde noch die Übertretung eines sakralen Tabus darstelle, sondern erhebt ihn gar zur notwendigen Bedingung für die Befreiung des Menschen von seinen herkömmlichen sozialen und politischen Fesseln. Das der Revolution von der Seite »zuschauende« Kollektivsubjekt (wie etwa die deutsche Gebildetenschicht) kann diese Option nicht mehr ignorieren, wenn es daran geht, seine politischen und sozialen Zielsetzungen zu definieren. Freilich, gerade das Revolutionäre am Beschreiten des neuen Weges – d.h. gerade das Verlassen bekannter Strukturen zugunsten der bedrohenden Kontingenz einer ungewissen Zukunft (und trotz der in ihr utopisch umrissenen emanzipatorischen Verheißung) – kann all jene Ängste aufkommen lassen, welche die revolutionäre Wegbeschreitung verhindern und die Klammerung an die bestehenden Verhältnisse sichert, deren wichtigstes und bekanntestes Kontinuitätssymbol eben von der politischen Autorität verkörpert wird.

Wir betonen die Dimension der Entscheidung hinsichtlich der Rezeption der Revolution und der in ihr enthaltenen Optionen. Wir meinen hierbei nicht eine bewußte, auf Zweckrationalität ausgerichtete Entscheidung54, sondern die psychologisch motivierte, auf die Befriedigung emotionaler und mentaler Bedürfnisse zielende Entscheidung, der sich das Subjekt, trotz ihres offensichtlichen Widerspruchs zu seinen sozialen, ökonomischen und politischen Interessen, verschreibt.55 Dies bedeutet, daß die deterministische Dimension des autoritären Charakters als ihrem Wesen nach relativ zu begreifen ist und nicht als eine a priori gegebene alternativlose Unumgänglichkeit. Die Alternative manifestiert sich im Bewußtsein des Subjekts, im Bewußtsein seiner objektiven Lebensbedingungen und der zu deren emanzipierenden Veränderung aufzubringenden Opfer.56 Wenn das Subjekt es vorzieht, in seinen herkömmlich vorgegebenen Lebensbedingungen zu verharren, um sich deren Veränderung zu entziehen, trifft es eine Entscheidung, wenn es sich ihrer auch nicht immer bewußt ist. Die »Rechtfertigung« (d.h. die »logische« Erklärung für das Verharren in Bedingungen, die den eigenen Interessen widersprechen) nennen wir beim Individuum »Rationalisierung« und beim Kollektiv »Ideologie«.57 In diesem Sinne können wir also behaupten, daß jene typische Ideologiestruktur, welche sich in der Beziehung der Gebildetenschicht des Vormärz zur Revolution als politischem Mittel überhaupt und zur Französischen Revolution als historischer Vorgabe ausmachen läßt, ihre Quelle in einem für sie aufgrund einer historischen Entscheidung charakteristisch gewordenen autoritären Pattern hat.58

Die inhärente Verbindung zwischen dem autoritären Pattern und der politischen Ideologie des Bürgertums ist in der hier zur Debatte stehenden historischen Epoche besonders eng, und zwar gerade wegen der eigentümlichen Rezeption der Französischen Revolution. Hatte doch diese Revolution die mit der Zügellosigkeit der unteren Schichten einhergehende »Gefahr« und »Bedrohung« deutlich bewiesen, indem sie deren von der »Freiheit« sozusagen sanktionierten »triebhafte Wildheit« konkret veranschaulichte. Es kann freilich von einer etablierten, auf die Kaschierung von Klasseninteressen ausgerichtete Ideologie, wie etwa die des Kapitalismus, noch nicht die Rede sein, denn der Industrialisierungsprozeß und die aus ihm resultierenden polaren Klassengegensätze waren im Vormärz-Deutschland noch nicht weit genug fortgeschritten und entwickelt. Es lassen sich gleichwohl erste Blüten dieses Prozesses nachweisen, und in jedem Fall bestand schon seit längerem die Neigung des Bürgertums, sich selbst »nach unten« hin zu bestimmen und abzugrenzen, und sei es mittels der Konzeption der »Bildung«, welche (genau genommen) zu einer Art politischen Parole dieser Klasse geworden war59; in dieser Situation symbolisieren die unteren Schichten die »Unordnung«, die »Anarchie« und das »Chaos«. Diese Bedrohung ist deutlich genug, denn, wie gesagt, hatte die Französische Revolution die »Massen« als aktives Kollektivsubjekt mit konkret artikuliertem Willen und zielgerichteten Aspirationen auf die Bühne der Geschichte gehievt. Zwar läßt sich daher die ständig lauernde Gefahr der Gewalttätigkeit nicht aus der Welt schaffen, aber man kann ihr zumindest eine Schranke in der Gestalt der herkömmlichen politischen Autorität setzen, um wenigstens ihren akuten Ausbruch zu verhindern; gegen einen König erhebt man sich nun mal nicht so ohne weiteres, er garantiert daher die Erhaltung der althergebrachten sozialen Ordnung.60 Nach unserem Dafürhalten wurzelt das Streben des deutschen Liberalismus nach der konstitutionellen Monarchie und seine Bekämpfung der Republik in diesem für Deutschland eigentümlichen Zusammentreffen einer Verehrung »nach oben« und einer Angst »vor unten«, d.h. in der affirmierenden Verknüpfung des autoritären Charakters mit der politischen Ideologie.

Diese enge Verbindung zwischen dem kollektiv-psychischen Pattern und der ideologischen Struktur ist der Schlüssel zum Verständnis der Tragweite der Französischen Revolution in ihrer Bedeutung als ein die politische Kultur des Bildungsbürgertums im Vormärz und in der Folgezeit prägender Faktor. Wir haben oben dargelegt, daß der Revolutionsrezeption eine emotionale Matrix unterlegt ist, welche sich kognitiv in einem ideologischen System artikuliert.61 Es erhebt sich nun die Frage, durch welche in der Französischen Revolution auftauchenden Motive die beide Beziehungsebenen, nicht nur während des aktuellen Geschehens, sondern auch noch vierzig oder fünfzig Jahre später aktiviert werden. Die Beantwortung dieser Frage hängt mit einer prinzipiellen Klärung des Begriffs »Rezeption« zusammen, wie wir ihn hier verwenden. Wir gehen von der Grundannahme aus, daß historische Ereignisse gemeinhin kodifiziert erfaßt werden: Der Gesamtkomplex historischer Tatsachen enthält Schlüsselworte, Namen und Begriffe, deren Gebrauch eine bestimmte Assoziationsstruktur erweckt. Die Assoziationen können sich mit den Tatsachen verbinden oder gar decken, sie können sich aber auch – und das ist im anstehenden Zusammenhang besonders wichtig – vom eigentlichen historischen Ereignis loslösen, um sich als quasi autonome Gedankengebilde zu verselbständigen. Wir nennen solche Schlüsselbegriffe »Kodes« und schreiben ihnen die Funktion der Symbolisierung von Gestalten, Dingen, Ideen oder Prozessen zu. Unserer Ansicht nach ist es die jedem historischen Ereignis innewohnende »Kode-Matrix«, welche die Rezeption eben dieses historischen Ereignisses erst eigentlich ermöglicht.

Die Französische Revolution assoziert sich, beispielsweise, wie von selbst mit Begriffen und Namen wie »Menschenrechte«, »Guillotine«, »Terror«, »Robespierre«, »Danton« u.s.w. Es ist klar, daß der Begriff »Menschenrechte« (zumindest bei uns heute) eine emanzipatorische Assoziation hervorruft, wohingegen »Guillotine« und »Terror« die von Gewalt und Unterdrückung. »Robespierre« kann sowohl die Gewalt als auch die Befreiung der »Massen« repräsentieren – es hängt ganz vom ideologischen Ansatz ab62; im Grunde kann sich der Begriff »Revolution« selbst sowohl mit »besserer Welt« als auch mit »Zerstörung und Chaos« in Verbindung setzen lassen. Oft erscheint eine solche Zweideutigkeit nicht unbedingt als dichotomische Möglichkeit der Wahl, sondern als untrennbare Einheit (z.B. »Menschenrechte« und »Terror« oder »Mirabeau« und »Marat«). Dies hängt mit der Ambivalenz zusammen, welche sich gemeinhin mit der Idee der Revolution verbindet; sie wird begriffen als ein Etwas, das sowohl die Verheißung einer besseren Zukunft als auch den Preis der Zerstörung und des Chaos für die Verwirklichung eben dieser Verheißung zum Inhalt hat. So lassen sich denn die spezifischen Kodes der Französischen Revolution in vier Sinnwelten zusammenfassen, welche, aneinandergereiht, ihre Kode-Matrix darstellen: »Auflehnung gegen die Autorität«, »Gewalt«, »Emanzipation« und »Ambivalenz«. Obwohl sich die Erscheinungsform dieser Kodes von Fall zu Fall ändern kann und obgleich sie nicht immer leicht zu identifizieren sind, meinen wir feststellen zu dürfen, daß sie in dieser oder jener Form in jeder historiographischen (und wohl nicht nur historiographischen) Rezeption der Revolution vorzufinden seien.

Man kann dagegen einwenden, daß diese Feststellung wohl eine Selbstverständlichkeit sei: Begann doch die Revolution tatsächlich als eine Auflehnung gegen die traditionellen Autoritäten, es gab in ihr wirklich extreme Erscheinungen der Gewalttätigkeit, und sie bewirkte in der Tat die politische Emanzipation der sich auflehnenden Bevölkerung; und weil eben in ihr Freiheit und Tod, Emanzipation und Repression nebeneinander und gleichzeitig auftraten, kann das Gefühl der Ambivalenz als legitim und natürlich erachtet werden. Die Kode-Matrix hat also nichts anderes zum Inhalt als was die historischen Fakten ohnehin zeigen, und es ist von daher nur zu logisch, daß sie sich aus jeder einigermaßen akzeptablen Geschichtsschreibung der Französischen Revolution herauslesen läßt. Darauf muß in zweierlei Hinsicht geantwortet werden:

Erstens: Nicht der Konnex zwischen den Kodes und dem historischen Ereignis ist im zur Debatte stehenden Zusammenhang relevant, sondern die Tatsache, daß die Kodes zwischen dem, was in dem Ereignis selbst motivisch enthalten ist, und dem Assoziationshorizont, der sich (unabhängig von der Beziehung zum konkreten historischen Geschehen) auf der Grundlage dieser Motive auftut, vermitteln. D.h., wir sind nicht an der Strukturierung der Französischen Revolution zwecks besseren Verständnisses ihrer selbst interessiert, sondern an den in ihr befindlichen Gebilden, welche ihren Rezeptionsprozeß im historischen Zusammenhang dieses Prozesses selbst bestimmen.63

Zweitens (und dieser Punkt ist entscheidend für unsere These): Die oben dargestellte Kode-Matrix ist nicht nur die der Französischen Revolution. Wie wir im 2. Kapitel noch ausführlich darlegen werden, sind die in ihr enthaltenen Kodes auch Schlüsselbegriffe der Freudschen Konzeption des ödipalen Konflikts. Kodifiziert läßt sich dieser Konflikt beschreiben als emotionales Bestreben des (männlichen) Kindes zur gewalttätigen Auflehnung gegen die Autorität des Vaters (um der Mutter willen); dieses Bestreben ist in der Realität zum Scheitern verurteilt, unter anderem wegen der ambivalenten Gefühle des Kindes seinem potentiellen Opfer gegenüber. Das aus diesem Konflikt resultierende Schuldgefühl ist ein Haupthindernis im langwährenden Kampf um die Emanzipation, welches das Kind bestreiten muß, um seine emotionale Abhängigkeit von den Eltern überwinden und sich auf dem Weg der Entwicklung zum eigenständigen Individuum von der Autorität seines Vaters lösen zu können.

Wie wir oben bemerkten, erachten wir nicht die sich aus der Parallelisierung beider Ebenen ergebende Ähnlichkeit als bedeutsam, sondern die Tatsache, daß die in der Matrix der Französischen Revolution enthaltenen Kodes emotionale Kodes anregen, welche aus einer persönlichen psychischen Erfahrung »bekannt« sind, einer Erfahrung, von der wir annehmen, daß sie universell sei. Das ist der Grund dafür, daß der Hinrichtung des Königs durch die französischen Revolutionäre eine archetypische Bedeutung beigemessen wird – dies umso mehr, als es sich (in unserem Fall) um die Rezeption des Ereignisses durch den autoritären Charakter handelt. Dies will wohl verstanden sein: Wir behaupten nicht, daß die Hinrichtung des Königs den ödipalen Konflikt als solchen erweckt, sondern, daß das, was Fromm »emotionale Matrix« nennt, als ein im ödipalen Konflikt verwurzeltes Pattern der Rezeption zugrunde liegt und sich im Fall des autoritären Charakters in eigentümlichen Rezeptionsstrukturen artikuliert. Der König symbolisiert den Vater, weil beide, König wie Vater, zur Kategorie »Autorität«64 gehören, und eben diese Kategorie ist, wie wir erläutert haben, von entscheidender Bedeutung für die Reaktion des autoritären Charakters auf Geschehnisse, welche die Autorität involvieren: Die äußere Reaktionsdimension findet sich in der politischen Ideologie vor, aber deren latente, im allgemeinen unbewußte Quelle ist im psychologischen (aus der Kode-Matrix herauslesbaren) Pattern verankert.

Kehren wir also zur Darlegung unserer Hauptthese zurück. Wir vertreten die Auffassung, daß eine Verbindung der Kode-Matrix der Französischen Revolution mit der emotionalen Matrix des autoritären Charakters der spezifischen Rezeption der historischen Umwälzung durch das deutsche Bürgertum zugrunde lagen, und daß sich diese Rezeption in einer politischen Ideologie niederschlug, deren praktische Bedeutung in der Unterlassung, ja Verweigerung einer tatsächlich vollzogenen Auflehnung gegen die (herrschende) Autorität zu sehen ist. Dies besagt nicht, daß es keine Erscheinungen der Auflehnung gab, sie wurden aber sublimierend in die Welt des Geistes verlagert65: Der aggressive Bestandteil der Beziehung zur Autorität verwirklichte sich nicht als politisch-emanzipatorischer Akt, sondern verharrte im Rahmen einer ideellen Konzeption, die die Veränderung zwar ideologisch denkt, sie aber nicht in die Praxis umsetzt.66 Unserer Auffassung nach läßt sich diese Neigung als typisches Charakteristikum deutscher politischer Kultur im 19. sowie im 20. Jahrhundert, als der Autoritarismus im nationalsozialistischen Regime kulminierte, verfolgen. In diesem Sinne muß wohl auch Adornos (gegen den Begriff des »Volkscharakters« gerichtetes) Diktum verstanden werden: »Die Wendung nach innen, das Hölderlinsche Tatenarm doch gedankenvoll, wie es in den authentischen Gebilden um die Wende des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts vorwaltet, hat die Kräfte gestaut und bis zur Explosion überhitzt, die dann zu spät sich realisieren wollten. Das Absolute schlug um ins absolute Entsetzen. Waren tatsächlich über lange Zeiträume der früheren bürgerlichen Geschichte hinweg die Maschen des zivilisatorischen Netzes – der Verbürgerlichung – in Deutschland nicht so eng gesponnen wie in den westlichen Ländern, so erhielt sich ein Vorrat unerfaßt naturhafter Kräfte. Er erzeugte ebenso den unbeirrbaren Radikalismus des Geistes wie die permanente Möglichkeit des Rückfalls.«67

Es dürfte also klar sein, daß unsere These ihrem Wesen nach historisch ist. Es handelt sich weder um den »Nationalcharakter« im Sinne »angeborener Eigenschaften des nationalen Kollektivs« noch um die wie auch immer geartete Dämonisierung des »deutschen Charakters«68, sondern um das spezifische Ergebnis der Entfaltung universeller Prädispositionen auf der Basis einer historisch bedingten sozio-politischen Struktur.69 Mehr noch: Es könnte der Eindruck entstehen, als deuteten wir eine »politische Krankheit« der Deutschen an; davon muß eindeutig Abstand genommen werden, wie auch Adornos in einem solchen Zusammenhang gemachten Bemerkung zu entnehmen ist: »Es gibt keine ›politische Neurose‹, wohl aber beeinflussen psychische Deformationen das politische Verhalten, ohne doch dessen Deformation ganz zu erklären.« In Beziehung auf den deutschen Faschismus im 20. Jahrhundert fügt er noch hinzu: »Die totalitäre Psychologie spiegelt den Primat einer gesellschaftlichen Realität, welche Menschen erzeugt, die bereits ebenso irr sind wie jene selber. Der Irrsinn aber besteht gerade darin, daß die eingefangenen Menschen nur als Agenten jener übermächtigen Realität fungieren, daß ihre Psychologie nur noch eine Durchgangsstation von deren Tendenz bildet.«70 Dennoch muß betont werden, daß die Realität nicht aus dem Nichts entsteht – sie wird von den Menschen geschaffen, auch oder gerade als Funktion der in eben dieser Realität wirkenden Kräfte.71 Daher muß die Wechselwirkung als eine dialektische Verbindung begriffen werden, nach der die Realität zwar die »Agenten« zur Verwirklichung der ihr innewohnenden Tendenzen erzeugt, aber ebenso auch die potentiellen »Agenten« zur Durchbrechung dieser Tendenzen; im nachhinein kann man immer behaupten, die Wende selbst sei eine Tendenz gewesen, dann aber freilich muß auf das, was wiroben als psychologische »Entscheidung« umschrieben haben, hingewiesen werden.

Die äußeren Ausdrucksformen der für das von uns anvisierte Zeitalter typischen sozialpsychologischen Tendenzen lassen sich in unzähligen historiographischen Werken72, publizistischen Aufsätzen und Schriften literarischer Prosa deutscher Verfasser im Vormärz deutlich erkennen. Wir haben darauf hingewiesen, daß dieser Zeitraum von besonderer Bedeutung sei, weil er dem ersten deutschen Revolutionsversuch vorangeht, den wir als entscheidenden Wendepunkt der modernen Geschichte dieses Landes erachten.73 Es darf wohl angenommen werden, daß eine erfolgreiche Beendigung der Revolution eine andere als die tatsächlich stattgefundene soziale und politische Entwicklung Deutschlands zur Folge gehabt hätte.74 Nachdem jedoch die Auflehnung gescheitert war, wurde der weitere Weg von Mächten der Reaktion vorgezeichnet, wobei der politische Liberalismus kapitulierte, sich den alt-neuen Zuständen anpaßte75, und die ohnehin spärlich vorhandenen demokratischen Kräfte machtlos auf die Fortsetzung eines jeglichen Kampfes von wirklicher Bedeutung verzichteten.76 Wir sind, wie gesagt, der Auffassung, daß das Scheitern der Revolution in erheblichem Maße dem Zurückschrecken der Revolutionäre vor dem Sturz der politischen Autoritäten zuzuschreiben sei, und diese Tatsache widerum sehen wir vor allem (und unabhängig von konkreten politischen Erwägungen, die sie bewogen haben mochten) als ein Resultat des für den entscheidenden Teil der an der Revolution aktiv Partizipierenden charakteristischen autoritären Patterns an.77

Unterschiedliche Erwägungen leiteten uns bei dem Entschluß, uns gerade auf die Historiker und deren Schriften zu beziehen.78 Erstens: Einige von ihnen gehörten selber den Revolutionären von 1848 an oder hatten doch zumindest eine »radikale« Vergangenheit aus der Zeit des Vormärz. Man kann sie also als einen politischen Faktor betrachten, welcher sowohl auf die die Revolution theoretisch legitimierende Ideologie als auch auf die Art und Weise, wie diese Revolution im entscheidenden Augenblick dann ausgetragen wurde, signifikanten Einfluß hatte. Zweitens: Die Geschichtswissenschaft erfährt gerade im Deutschland jener Epoche eine beschleunigte Entwicklung sowohl in methodisch-inhaltlicher als auch in institutioneller Hinsicht.79 Dieser Gesichtspunkt ist in unserem Zusammenhang von einiger Bedeutung, weil er mit der Einbindung verschiedener Aspekte der Konzeption deutscher Geschichtsschreibung in eine antirevolutionäre Ideologie aufs engste verknüpft ist, was (wie noch zu zeigen sein wird) in keinem Widerspruch zu unserer ersten Erwägung steht.80 Drittens: Obgleich wir prinzipiell nicht die Auffassung vertreten, daß die akademische Geschichtsschreibung den Anspruch erheben könne, einen allzu großen Einfluß auf die Bildung des historischen Bewußtseins der »breiten Masse« auszuüben, so kann doch kein Zweifel hinsichtlich ihres Anteils an der Kodifizierung des kollektiven Gedächtnisses bestehen.81 Es ist – so besehen – durchaus relevant zu untersuchen, welche Motive die deutschen Historiker ihrem Publikum vermitteln, und welche ideologischen Aussagen sich hinter diesen Motiven verbergen.82 Andererseits ist der Historiker selber nur ein Agent der »Tendenzen« der ihn umgebenden Realität; man kann ihn also als ein Paradigma der allgemeinen Rezeption historischer Geschehnisse begreifen, und je geladener das Ereignis in emotionaler Hinsicht ist (so wie wir es von der Französischen Revolution behaupten), desto anschaulicher erfüllt er seine objektive Funktion als symptomatischer Träger von »Tendenzen« der Realität, ideologischen Tendenzen zumal.83

Das Trauma des

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