Читать книгу Das Trauma des "Königsmordes" - Moshe Zuckermann - Страница 12

2. KAPITEL Die Französische Revolution im Spiegel der Kode-Matrix

Оглавление

Der im vorigen Kapitel aufgebrachte Begriff »Kode-Matrix« erfordert eine zusätzliche kurze Anmerkung. Es scheint, als enthalte er eine deterministische Dimension, die da besagt, der Mensch erfasse mitunter die ihn umgebende Realität, aber auch (wie in unserem Fall) die Geschichte mittels Regungen archaischer, in ihm schlummernder »Motiv-Kodes«, die sich seiner Vernunft, seinem Bewußtsein also, entziehen – mit anderen Worten: der Mensch reagiere auf die Welt mythisch. Ohne den Anspruch erheben zu wollen, somit die komplexe und langwierige Geschichte dieses epistemologischen Problems auch nur angedeutungsweise erörtert zu haben, kann man doch darauf hinweisen, daß ein Philosoph wie Jacob Taubes einer solchen Vermutung zumindest partiell zugestimmt haben würde. Stellt er doch fest: »Es ist das Vorurteil der [Historiker-]Zunft, daß mythische Bilder oder mystische Termini vage Orakel seien, biegsam und jedem Willen gehorsam, während die wissenschaftliche Sprache des Positivismus die Wahrheit gepachtet habe. Nichts kann ferner von den wirklichen Verhältnissen sein als dieses historische Vorurteil.«1 Ähnlich meint auch Claude Lévi-Strauss, daß die Interpretation des Mythos, »die sich als umfassend betrachtet und den Anspruch erhebt, Probleme, die von uns als vollkommen unterschiedlich aufgefaßt werden, gleichzeitig und mit einer einzigen Art der Beantwortung angehen zu können«, in unserer Gesellschaft zwar keinen Bestand habe, weil sie nicht imstande sei, die Funktion zu erfüllen, die sie in primitiven Gesellschaften innehatte, aber er fügt hinzu, daß trotz der »Explosion«, welche mit der Aufteilung der Wissenschaften in unterschiedliche Themenbereiche stattgefunden habe, es doch sicher sei, »daß Mythosüberbleibsel überall herumliegen – die Explosion ist doch nicht im Nichts aufgegangen. In verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen und privaten Lebens lassen sich Reste mythischer Auffassungen und mythischen Denkens auffinden.«2 Eli Barnavi illustriert gar mit der Darstellung der Entwicklungsgeschichte des Sallischen Gesetzes den Prozeß der Hervorbringung eines historischen Mythos durch die Geschichte selbst.3

Es muß also unterschieden werden zwischen dem Anspruch, die Welt (also auch die menschliche Geschichte) vernünftig zu erfassen, und der einem solchen Anspruch fortwährend entgegenwirkenden Anwesenheit mythischer Erkenntnismuster. Zwar intendieren die Menschen nicht die Zulassung solcher Pattern in ihr Denken, und dennoch befinden sich diese in ihm. Dies soll freilich nicht besagen, daß diese »Überbleibsel mythischer Auffassungen und mythischen Denkens« aus dem Nichts auftauchten. Der Mensch selber bringt sie in sich hervor: Mag er dies rational auch nicht beabsichtigen, so befriedigen sie doch gewisse ihm nicht bewußte Bedürfnisse. In der kollektiven Sphäre läßt sich das Phänomen mit dem Marxschen Ideologiebegriff verdeutlichen. »Mit dem Terminus Ideologie bezeichneten Marx und Engels den grundlegenden, wesentlichen Gehalt des bürgerlichen Klassenbewußtseins, d.h. das falsche Bewußtsein der eigenen gesellschaftlichen Situation, der historischen Rolle und Perspektive dieser Klasse, insbesondere die Idee der Ewigkeit der bürgerlichen Verhältnisse«.4 Schon der Ausdruck »falsches Bewußtsein« impliziert das Postulat einer Nichtübereinstimmung zwischen der objektiven, »wahren« Situation des Menschen und dem Modus seines Bewußtseins in Beziehung auf eben diese Situation. Das Funktionale dieser Gegebenheit ist rational im sogenannten »Klasseninteresse« verankert und in »irrationaler« Hinsicht in dem, was Hahn als »Schranke, die [die Bourgeoisie] auch im Denken nicht zu überschreiten vermag«, bezeichnet.5

Daraus geht allerdings weder der genetische Ursprung dieser »Schranke« noch der Einfluß, den sie auf die Tathandlung ausübt, hervor. Horkheimer bemerkt zwar, die Theorie sei kein Rezept, und das Handeln enthalte »ein Moment, das in der kontemplativen Gestalt der Theorie nicht ganz aufgeht«; aber auch seine Feststellung, daß »zwischen Theorie und Praxis, zwischen Denken und Handeln, eine Art von Notwendigkeit bestehen« könne6, löst das Problem letztlich nicht, denn die »Notwendigkeit« kann ebenso eine unbewußte Handlung hervorbringen, wie sie andererseits einer bewußten Handlung unterlegt sein mag. Habermas hingegen hebt hervor: »[…] die Verhaltensreaktionen sind stets vermittelt durch die Interpretationen, unter denen die Handelnden aus ihrem Erwartungshorizont […] die ›beeinflußenden‹ Ereignisse auffassen.«7 Diese Behauptung ist für unsere Problemstellung von immenser Wichtigkeit, weil in ihr das a priori Verhältnismäßige an der Art, wie Menschen ihre Welt auffassen, und der sie zur Handlung bewegenden Kodes – zumindest indirekt – zum Ausdruck kommt. Der »Erwartungshorizont« und die Entscheidung, welche »die ›beeinflußenden‹ Ereignisse« seien, stimmen nicht unbedingt mit der der »objektiven Situation« angemessenen Rezeption überein, und dennoch kodifizieren sie die Einstellungen und Handlungsweisen des Menschen. In dieser Bedeutung hat man auch die »symbolische Sinnwelt« zu begreifen, die von Berger und Luckmann als »die Matrix aller gesellschaftlich objektivierten und subjektiv wirklichen Sinnhaftigkeit« definiert wird. »Die ganze Geschichte der Gesellschaft und das ganze Leben des Einzelnen sind Ereignisse innerhalb dieser Sinnwelt.«8

Selbstverständlich entstehen so unzählig viele Kode-Matrizes. Dieser Umstand ist sowohl unserer Beschränktheit in der ontologischen Erfassung der Realität als auch den diese Realität konstituierenden, letztlich vorgegebenen Antagonismen zuzuschreiben. Dasselbe läßt sich über die Kode-Matrizes der mannigfaltig möglichen Historiographien der Französischen Revolution sagen; Lévi-Strauss hat hierauf Bezug genommen:

»Sobald man sich vornimmt, die Geschichte der Französischen Revolution zu schreiben, weiß man (oder sollte wissen), daß sie nicht gleichzeitig und mit demselben Anspruch die des Jakobiners und die des Aristokraten sein kann. Der Hypothese zufolge sind ihre jeweiligen Totalisierungen (deren jede sich antisymmetrisch zur anderen verhält) gleicherweise wahr. Man muß also zwischen zwei Parteien wählen: entweder einer von beiden oder einer dritten (denn es gibt ihrer unendlich viele) den Vorrang geben und darauf verzichten, in der Geschichte eine Gesamttotalisierung partieller Totalisierungen zu suchen; oder allen eine gleiche Wirklichkeit zuerkennen: doch nur um zu entdecken, daß die Französische Revolution, so, wie man von ihr spricht, nicht existiert hat.«9

Dieses Problem ist letztlich unlösbar. Man kann sich lediglich einer von zwei Auffassungen anschließen: Eben der Ansicht von Lévi-Strauss, daß »der Historiker oder der Agent des historischen Werdens« die historische Tatsache »durch Abstraktion und gleichsam unter der Drohung eines unendlichen Regresses« konstituiere10, oder der kompromißhaften Entscheidung Alexander Demandts, das Problem als ein hermeneutisches und kein ontologisches zu begreifen, um somit wenigstens eine gewisse begriffliche Prägnanz zu erreichen: »Mit der Französischen Revolution wurde der Begriff […] zur Metapher aus der Geschichte, insofern beim Gebrauch des Begriffs ›Revolution‹ immer die Erinnerung an jene spezielle Revolution mitschwingt und erwarten läßt, daß jeder mit ›Revolution‹ bezeichnete Vorgang wesentliche Gemeinsamkeiten mit der Französischen Revolution besitzt, zumindest eine Dosis Gewaltsamkeit.«11

So besehen, wird die Französische Revolution zur »Erinnerung« oder Assoziation, die sich in der einen Matrix mit dem Schlüsselbegriff »Gewaltsamkeit«, in der anderen mit »Emanzipation« und in der von uns herausgearbeiteten eben mit der Verbindung »Gewalt und Emanzipation« kodifizieren läßt, wobei diese vom motivischen Kode »Auflehnung gegen die Autorität« abgeleitet wird.

In der Französischen Revolution findet die dialektische Verknüpfung von Auflehnung gegen die Autorität, Gewalt und Emanzipation ihren nahezu fortwährenden Ausdruck – von jenem ersten dramatischen Moment der berühmten Antwort Mirabeaus an den Zeremonienmeister an bis hin zum großen Wendepunkt der gesamten Revolution, dem Sturz der Monarchie und der Hinrichtung des Königs. Fügt man die Phase der jakobinischen Herrschaft hinzu, so kann man behaupten, jedes dieser Elemente habe sich in dieser Zeitspanne solchermaßen verdichtet, daß durch die Ereignisse selbst idealtypische Modelle der kodifizierten Rezeption entstanden seien: Die Auflehnung gegen die Autorität durch die zunehmende Schwächung der traditionellen Position des Königs, die Gewalt durch seine Hinrichtung und durch den Terror und die Emanzipation durch die Errichtung der Republik und die sich daraus ergebende Machtübernahme durch die Volksrepräsentation. Angesichts einer solchen mit sowohl positiven als auch negativen Gefühlen und Assoziationen beladenen Kode-Matrix, ist es unumgänglich, daß die Bewertung der Revolution stets mit einer gewissen Ambivalenz einhergeht, wie sie, beispielsweise, in den Worten Andre Maurois’ ihren Niederschlag gefunden hat: »Die Französische Revolution ist gleichzeitig ein weltgeschichtliches Abenteuer, ein erhabenes Heldenlied und der Anlaß zu blutigen und schmutzigen Szenen. Diese Verflechtung von Größe und Schrecken zu entwirren, ist fast unmöglich […]«.12 Wir werden die psychologische Grundlage dieser Kode-Matrix noch eingehend zu erörtern haben; es sei indes schon an dieser Stelle hervorgehoben, daß die »Ambivalenz« zwar als eine »Reaktion« auf die übrigen (vermeintlich antagonistischen) Kodes erscheinen mag, in ihrer Bedeutung als psychologischem Faktor sind jedoch die Prädispositionen ihres Bestehens und ihrer Wirkung als vorgegeben anzusehen. Wir begreifen sie demnach als integralen, sozusagen »gleichwertigen« Bestandteil der Kode-Matrix der Französischen Revolution.

Die entscheidende Bedeutung der Hinrichtung des Königs findet ihren historiographischen Ausdruck sowohl in der Rezeption ihrer unmittelbaren Ergebnisse als auch in der ihrer langfristigen Auswirkungen. »Ein König, der auf so gewaltsame Weise stirbt, wirkt, wie es nicht anders sein kann, mächtig auf die Einbildung ein. Und doch ist es im Grunde nicht der König, der stirbt, sondern der Mensch!«13 sagt Carlyle im Jahre 1837. Demgegenüber meint Pierre Gascar: »Den König töten: Das ist für die meisten Franzosen dieser Zeit weit schlimmer als der Mord an einem Menschen. Es bedeutet, das Bild zu zerstören, das sich auf den kleinen Geldstücken befindet, die man täglich in der Tasche mit sich herumträgt; es bedeutet, eine Institution zu vernichten, die dem nationalen Leben so integriert ist wie das Gold dem Taler«.14 Eine solche Trennung zwischen dem menschlichen und dem politisch-institutionellen Aspekt scheint indes rein technischer Natur zu sein. Gaxotte z.B. gibt zwar vor, sich auf die »politischen Beweggründe« für den »Leidensweg« des Königs zu konzentrieren, aber er tut dies doch nicht ohne den Leser vorher ausdrücklich wissen zu lassen, daß der Prozeß gegen den König »eine der ergreifendsten Geschichtstragödien« darstelle: »Eines der schönsten und menschlichsten Bücher, die je geschrieben wurden, könnte aus der schlichten Schilderung der Gefangenschaft und der letzten Augenblicke Ludwigs XVI. zusammengestellt werden.«15

Der »tiefe Eindruck«, den der Tod des Königs hinterließ, entwickelte sich sehr bald zu einem Bürgerkrieg im Innern Frankreichs und führte zur Erklärung eines »Vernichtungskrieges« des übrigen Europas gegen die »Königsmörder«.16 Jedoch, so Mathiez, der Tod des Monarchen »traf das traditionelle und mystische Ansehen des Königtums ins Herz. Mochten die Bourbonen wiederkommen, nie wieder werden sie im Herzen der Völker von der Aureole des Gottesgnadentums umstrahlt sein«17; der Königsgedanke erschien seitdem »fast nur noch als Anhängsel aristokratischer oder klerikaler Strömungen oder als Deckmantel bourgeoiser Klassenbestrebungen«18, wie Griewank bemerkt. Nach Walter Grabs Auffassung kennzeichnet der Tod des Königs den endgültigen Bruch zwischen dem der konstitutionellen Monarchie anhängenden Liberalismus und der nach der Republik strebenden Demokratie; von gesamtfranzösischer Warte aus gesehen, bedeutet er den Riß der »Bande des Landes mit seiner Vergangenheit und mit Europa«, ohne einen Weg zurück.19 Eine solche dramatische Interpretation ist es wohl auch, die Alex Karmel gar folgern läßt, die Revolution habe mit dem Tod des Königs »begonnen«, da mit ihm das Legitimitätsprinzip auf politischer Ebene für immer eingestürzt sei: »Eine tausendjährige Geschichte wurde ignoriert.«20 Historiker, die die Revolution als sozialen Prozeß begreifen, widersprechen gemeinhin dieser Auslegung. Schon Mitte des letzten Jahrhunderts erklärte Lorenz von Stein, nach dem Sturz der Monarchie hätten der Prozeß und die Hinrichtung des Königs keinerlei Einfluß auf den weiteren Verlauf der Revolution gehabt, und Karmel selbst weist darauf hin, daß in der herkömmlichen marxistischen Interpretation der Umwälzung der König kaum erwähnt werde: »Die Monarchie wird lediglich als ein Bestandteil des feudalen Systems und der König als Oberhaupt der Aristokratie angesehen.«21 Karmels Behauptung ist zweifelsohne übertrieben; wie dem aber auch sei, es genügt, an die verärgerte Kritk Kropotkins an den vielen »pathetischen Worten« und »Tränen« der Historiker, wenn sie vom Prozeß des Königs berichteten, zu erinnern, um einzusehen, daß es sich hierbei um ein sowohl für die Revolution als auch für deren historiographische Rezeption höchst bedeutsames Ereignis handelt.22 In dieser Hinsicht bleibt es sich gleich, ob Louis Blanc zur Schlußfolgerung gelangt, die Hinrichtung des Monarchen sei »ein gewaltiger Mißgriff, wenn auch kein unberechtigter« gewesen, denn »das Ziel der Revolutionäre war, die monarchische Idee zu töten, das Schafott aber hat sie erhöht und veredelt«23, oder ob sie Griewank lobt, weil sie »den Schimmer der Unverletzlichkeit, […] der bis dahin das Königtum immernoch für das einfachste Empfinden umgeben hatte«, zum Verschwinden gebracht habe.24 Beide Bezugnahmen enthalten die für unsere These relevanten Elemente: den Kode der Auflehnung gegen die Autorität (die Tötung der monarchischen Idee), den Kode der Gewalt (die Hinrichtung selbst), den Kode der Emanzipation (Liquidierung des Schimmers der Unverletzlichkeit) und den Kode der Ambivalenz, der sich in den Folgen des Ereignisses manifestiert, zumindest nach der Interpretation Louis Blancs.

Wie schon gesagt, ist aus diesen Kodes das fundamentale Netz der Matrix gewoben, durch welche die Revolution rezipiert und interpretiert wird. Wir vertreten daher die Ansicht, daß die nun folgenden Worte Aulards, gesprochen am 12. März 1886 anläßlich der Einweihungsfeier des Lehrstuhls für die Geschichte der Französischen Revolution an der Sorbonne, eine mehr als nur politische Bedeutung aufweisen. Mit Bezug auf auf die Wichtigkeit des Revolutionsereignisses für das französische Volk erklärt er:

»Unser ganzer Charakter mit seinen guten und schlechten Eigenschaften ist dabei in Erscheinung getreten, und für den Zurückblickenden erscheint die Französische Revolution wie ein Spiegel, in dem Frankreich sich wiedererkennt, sich seiner selbst bewußt wird, sich seine Gewissensbisse, seine Freuden, seine Befürchtungen und seine Hoffnungen erklärt. Die Revolution kennen heißt für dieses Volk: sich selbst in der Tiefe seiner Instinkte kennen, sich seiner Stärke und seiner Schwäche bewußt werden und entdecken, wessen es in einer Stunde höchsten Lebenskampfes fähig ist.«25

Gerade die zweiwertige Tendenz in den Worten Aulards und der ihnen anhaftende verallgemeinernde Charakter – dies zu einer Zeit, da die Französische Revolution sozusagen offiziell zum bestimmenden Maßstab für das französische Selbstbild aufgewertet und zum unteilbaren »Block« deklariert wird – lassen die zunächst unzusammenhängend erscheinenden Fragen aufkommen: Welchen Ursprungs ist diese durch die Revolutions-Kodes hervorgerufene Zweideutigkeit? Was ist so sehr revolutionär an der Zerstörung der Gottesgnadentum-Aureole und an der Übertretung des »Unverletzlichkeits«gebots? Was bedeutet der Bürgerkrieg nach der Hinrichtung des Königs? Was steckt hinter der auf das Kollektivsubjekt »Frankreich« bezogenen Zusammenfügung von »Freuden«, »Befürchtungen«, »Gewissensbisse« und »Hoffnungen« in den Worten Aulards, und in welcher Verbindung steht diese Zusammenfügung mit den ebenfalls erwähnten »Instinkten« des besagten Subjekts?

Es gibt scheinbar einfache Antworten hierauf. Wie wir im komprimierten historiographischen Abriß des ersten Kapitels angedeutet haben, lassen sie sich ohne weiteres in den antagonistischen Klasseninteressen oder in den politisch-ideologischen Kämpfen, welche (den verschiedenen Interpretationsschulen zufolge) den gesamten Revolutionsverlauf kennzeichneten, verankern. Einer verwandten Denkweise gemäß, nimmt es auch kein Wunder, wenn ein blutiges Ereignis, wie es die Französische Revolution nun mal war, die Moral alarmiert und das Gewissen peinigt; andererseits überrascht es nicht, wenn es Freuden und Hoffnungen erweckt – haftete ihm doch eine emanzipatorische Verheißung an. Das Revolutionäre und das Neue am Ereignis ist also in der Auflehnung gegen die historischen Institutionen und im Schlachtruf gegen menschliche Konventionen zu sehen. Alle diese Erklärungen sind richtig und bewahren auch weiterhin ihre Gültigkeit; unserer Ansicht nach erfassen sie jedoch nicht mit erforderlicher Tiefe die Bedeutung der dem Tode des Königs einwohnenden traumatischen Dimension und die aus ihr resultierende Idiosynkrasie in allen Phasen der nunmehr fast 200 Jahre währenden Rezeptionsgeschichte der Revolution. »In seiner Monumentalität« behauptet Hermann Bortfeldt, »war dieser Tod ein Faktor der Beunruhigung für alle. Hundert Zusammenstöße innerhalb und außerhalb des Parlaments zwischen Gironde und Jakobinern, bei denen es immer um mehr Freiheit oder mehr Gleichheit ging, zeigten in ihrer Form, die schärfer und schließlich tödlich wurde, die Sensibilisierung der Nation im Punkte Königsmord, gesehen als Beseitigung eines Phallussymbols oder als Vatermord.«26

Die Feststellung Bortfeldts ist, unserer Auffassung nach, von gewichtigster Bedeutung; indem er den »Königsmord« einem »Vatermord« gleichsetzt, verleiht er dem historischen Ereignis der Tötung des Königs gewissermaßen einen »ahistorischen« Rang und somit eine für die Klärung des mentalen Aspekts der Hinrichtung Ludwigs XVI. sehr nützliche archetypische Dimension. Seine Analogie lehnt sich an einen der Schlüsselbegriffe der Freudschen psychoanalytischen Theorie an. Auch uns dienen – wie oben angezeigt – Elemente dieser Lehre als theoretische Stütze bei der Herausarbeitung der die Kode-Matrix der Französischen Revolution konstituierenden psychischen Grundlage. Es scheint daher angebracht, die in unserer These zur Anwendung kommenden Grundrisse der Lehre in Kürze darzulegen.

Auf der Basis der Darwinschen Theorie der »Urhorde« geht Freud von der Annahme einer prähistorischen Existenz solch einer Horde aus, in der ein »gewalttätiger, eifersüchtiger Vater, der alle Weibchen für sich behält und die heranwachsenden Söhne vertreibt«, herrscht. Er postuliert: »Eines Tages taten sich die ausgetriebenen Brüder zusammen, erschlugen und verzehrten den Vater und machten so der Vaterhorde ein Ende.« Er fügt noch betonend hinzu: »Vereint wagten sie und brachten zustande, was dem Einzelnen unmöglich geblieben wäre.«27 Dieses »Ereignis« nun gebraucht Freud als Grundhypothese, von der sich sowohl seine phylogenetische Kulturtheorie der Menschheit als auch seine ontogenetische Persönlichkeitslehre ableiten.28 Beide Sphären sind nicht auseinanderzuhalten, denn laut Freud »handelt es sich hier nicht um ein einmaliges Ereignis. Es wiederholt sich im Verlauf der Geschichte der Menschheit und der Geschichte jedes Einzelnen immer wieder.«29 Wir verfolgen zunächst die phylogenetische These, welche da besagt, der Urmord habe seinen Ursprung in den ambivalenten Gefühlen der Brüder dem Vater gegenüber gehabt: Sie haßten den Vater, weil sie durch sein Monopol zum Verzicht auf Macht und Lust gezwungen wurden, aber natürlicherweise liebten und verehrten sie ihn auch, eben als ihren biologischen Vater. Daher kam in ihnen, nach seiner Beseitigung und nachdem sie ihre Haßgefühle befriedigt hatten, eine Empfindung der Reue und ein Gefühl der Schuld auf. Dieses Gefühl ist es nun, das die Grundlage für alle folgenden Entwicklungen bildet. Der Einfluß des toten Vaters wurde gar größer als der des lebendigen; die Sehnsucht nach ihm brachte den Vaterersatz in der Gestalt des Totemtieres hervor, und nachdem er so wieder auferstanden war, schufen die Brüder »aus dem Schuldbewußtsein des Sohnes« zwei Tabus, mit denen sie ihr Verbrechen sühnten: Das Tabu, das Totemtier zu töten, einerseits und das Tabu, sich mit den nun freigewordenen Weibchen der Horde zu paaren, andererseits. Im zweiten Verbot sieht Freud den Ursprung des sogenannten Inzest-Tabus. Wichtiger für unsere Darlegung ist jedoch die dem ersten Tabu beigemessene Bedeutung, wonach im Totemismus der erste Versuch vorliege, eine Religion zu schaffen:

»Die Totemreligion war aus dem Schuldbewußtsein der Söhne hervorgegangen als Versuch, dies Gefühl zu beschwichtigen und den beleidigten Vater durch den nachträglichen Gehorsam zu versöhnen. Alle späteren Religionen erweisen sich als Lösungsversuche desselben Problems, variabel je nach dem kulturellen Zustand, in dem sie unternommen werden, und nach den Wegen, die sie einschlagen, aber es sind alle gleichzielende Reaktionen auf dieselbe große Begebenheit, mit der die Kultur begonnen hat und die seitdem die Menschheit nicht zur Ruhe kommen läßt.«30

Freud beruft sich hierbei auf Beschreibungen von Totemriten primitiver Stämme in zeitgenössischen anthropologischen Veröffentlichungen. Von besonderer Bedeutung erscheint ihm der Kult der Totemmahlzeit, in dem das Totemtier als Opfer geschlachtet und gemeinsam verzehrt wird. Die kollektive Aktion sei es, welche die Tabuübertretung einer Tötung des heiligen Totemtieres ermögliche, ihre Rechtfertigung müsse darin gesehen werden, daß »nur auf diesem Wege das heilige Band hergestellt werden kann, welches dieTeilnehmer untereinander und mit ihrem Gotte einigt.«31 Die Sitte gebietet eine der Opferhandlung unmittelbar folgende Trauerreaktion der Teilnehmer; der ganze Stamm beweint das Opfer, um sich so der Schuld der durch den Tötungsakt vollzogenen Tabuübertretung zu entledigen. Bald danach jedoch bricht der Stamm in eine ekstatische, alle Triebe entfesselnde Freude aus, mit der das Vergehen gefeiert wird. In dieser Weise wird mit der Opferung des Totemtieres der Vatermord rituell wiederholt und die mit ihm einhergehenden Ambivalenzgefühle zeremoniell formalisiert.

Diese primitive Form der Religion, die (wie gesagt) als kulturelle Reproduktion der prähistorischen Begebenheit begriffen wird, bildet für Freud die Ausgangsbasis einer Weiterverfolgung der historischen Evolution der religiösen Institution bis hin zu ihrer entwickeltsten Form, der monotheistischen Religion.32 Jeder Entwicklungsphase liegt jenes Urmuster in verschiedenen Varianten zugrunde, in jeder wird die »Vatersehnsucht« deutlich, so daß die Schlußfolgerung unumgänglich scheint, »daß Gott im Grunde nichts anderes ist als ein erhöhter Vater.«33 Im entscheidenden Moment, als sich das Christentum von diesem Urmuster loszulösen versucht, reproduziert es paradoxerweise die verbrecherische Tat: Jesus opfert sein Leben, um seine Brüder von der Erbsünde zu befreien. Mit diesem Akt wird dem Vater vermeintlich die höchste Sühne geboten.

»Aber nun fordert das psychologische Verhängnis der Ambivalenz seine Rechte. Mit der gleichen Tat, welche dem Vater die größtmögliche Sühne bietet, erreicht auch der Sohn das Ziel seiner Wünsche gegen den Vater. Er wird selbst zum Gott neben, eigetlich an Stelle des Vaters. Die Sohnesreligion löst die Vaterreligion ab. Zum Zeichen dieser Ersetzung wird die alte Totemmahlzeit als Kommunion wiederbelebt, in welcher nun die Brüderschar vom Fleisch und Blut des Sohnes, nicht mehr des Vaters, genießt, sich durch diesen Genuß heiligt und mit ihm identifiziert. […] Die christliche Kommunion ist aber im Grunde eine neuerliche Beseitigung des Vaters, eine Wiederholung der zu sühnenden Tat.«34

Diese »anthropologische«35 Theorie beschränkt sich nicht auf die historische Rekonstruktion einer hypothetischen Entwicklung der religösen Institution. Dasselbe Gefühl der Ambivalenz, aus dem das Schuldbewußtsein hervorgeht, erweist sich auch als relevant für die Erklärung kollektiver Gefühle von Untergebenen in allen von der Zivilisation hervorgebrachten hierarchischen Situationen, Situationen der »institutionalisierten sozialen und politischen Herrschaft«, wie sie Herbert Marcuse nennt.36 In dieser Hinsicht gibt es keinen wesentlichen Unterschied zwischen den kollektiven Psychologien der in Kirche und Heer organisierten »künstlichen Massen«.37 Am deutlichsten drückt sich dies aber in der Beziehung der Untertanen zum König aus, wobei die Tabus eine wiederum tragende Rolle spielen.

Zwei sich ergänzende Grundsätze bestimmen das Verhalten »primitiver Völker« ihren Häuptlingen, Königen und Priestern gegenüber: »Man muß sich vor ihnen hüten, und man muß sie behüten. Beides geschieht vermittels einer Unzahl von Tabuvorschriften.«38 So kann z.B. die Berührung mit dem König einerseits eine gefährliche, ja tödliche, andererseits aber eine beschützende und sogar heilende Bedeutung haben. Solche Vorstellungen und die Notwendigkeit, den König vor den ihn bedrohenden Gefahren zu beschützen, haben eine zunehmende Isolation des Herrschers gezeitigt, und je sakraler die ihm beigemessenen Eigenschaften waren, desto strenger wurden die Isolationsbräuche gehandhabt. So wurden alle Körperteile des Mikados von Japan als dermaßen heilig aufgefaßt, daß man es verhinderte, sie der frischen Luft und den Sonnenstrahlen auszusetzen; es war verboten, sein Kopfhaar, seinen Bart und seine Fingernägel zu schneiden. Ein Nachhall dieses Tabus läßt sich noch in der Beziehung der Römer zum Flamen Dialis, dem Hohepriester Jupiters, finden; nur ein freier Mann durfte sein Haar schneiden, und die geschnittenen Haare sowie seine Nägelabfälle mußten unter einem glückbringenden Baum vergraben werden. Freud erkennt auch in diesem Zusammenhang das gespaltene Verhältnis zum physischen Kontakt mit dem Herrscher: Die vom König ausgehende und in guter Absicht initiierte Körperberührung gilt als schützend und heilend, wohingegen die vom gemeinen Mann am König oder Königlichen verübte Berührung als gefährlich angesehen wird,«wahrscheinlich weil sie an aggressive Tendenzen mahnen kann«. Hieraus ergibt sich die Schlußfolgerung, »daß der Verehrung, ja Vergötterung [der Herrscher] im Unbewußten eine intensive feindselige Strömung entgegensteht, daß also hier […] die Situation der ambivalenten Gefühlseinstellung verwirklicht ist.«39

Es läßt sich behaupten, daß Freuds Lehre von der Kollektivpsychologie in der Konzeption einer sich zwischen zwei konträr entgegengesetzten Polen bewegenden Gefühlsregung fußt. Der Kampf um die Beilegung dieses Widerspruchs ist es, der die Entwicklung psychischer Mechanismen hervorbringt, in denen die Entstehung zivilisatorischer Institutionen wurzelt, die aber ihrerseits auch wieder ein beredtes Zeugnis von der Fortwirkung der dialektischen Dynamik zwischen den beiden Polen abgeben. In einem solchen umfassenden Sinne gibt es denn auch keinen eigentlichen kollektiv-psychischen Unterschied zwischen den archetypischen Gestalten des Vaters, des Königs und des Gottes. Dieses gesamte theoretische Gebilde würde jedoch ein, wenn auch brillanter, intellektueller Jongleurakt geblieben sein, wäre es nicht mit der ontogenetischen Lehre Freuds verknüpft. Im Grunde bildete sie den Ausgangspunkt für das bisher Dargestellte; es ist demnach kein Zufall, daß Freud die meisten seiner metapsychologischen Schriften in seinen letzten Lebensjahren verfaßte.

Die Mittelachse der psychoanalytischen Theorie ist in der ödipalen Situation als einem ersten »Höhepunkt« in den frühen Entwicklungsphasen des (männlichen) Kindes, wo es seine Mutter begehrt und seinen Vater als Gegner ansieht, verkörpert. Die Kastrationsdrohung zwingt das Kind jedoch, seine Einstellung aufzugeben; es verläßt den ödipalen Komplex, verdrängt ihn und »im normalsten Fall« zerstört ihn gar gründlich, um »als sein Erbe ein strenges Über-Ich« einzusetzen.40 Diese schicksalsträchtige Entwicklung hat zwei zentrale Aspekte: Einerseits stellt sich in ihr der Übergang vom Lust- zum Realitätsprinzip dar; andererseits erwächst aus diesem Übergang selbst eine zusätzliche Schicht im System der menschlichen Psyche. Dieses System läßt sich sodann in folgender komprimierten Form beschreiben: Es besteht aus einem primitiven Es, aus dem sich das Ich abteilt. Jener Bereich im Es, »der mit den Normen des Ichs unvereinbar ist«, bildet den verdrängten Teil der Persönlichkeitsstruktur, wohingegen sich ein anderer Teil des Ichs zum gesonderten Über-Ich entwickelt41, dem die Funktion des Gewissens beigegeben ist, also die, welche »die Handlungen und Absichten des Ichs zu überwachen und zu beurteilen hat,« und somit »eine zensorische Tätigkeit ausübt«.42 Mit anderen Worten: Wenn sich das Über-Ich als Vertreter der moralischen Forderungen definieren läßt, so vertritt das Ich »Vernunft und Besonnenheit«, das Es hingegen »die ungezähmten Leidenschaften«.43

Es stellt sich also heraus, daß sich der Lebensraum der Gegensätze im Menschen selbst befindet: Ein animalischer, vorkultureller, gewissermaßen überzeitlicher Teil – jenes chaotische Es, das, vom Lustprinzip angetrieben, die permanente Befriedigung erstrebt – lebt und strömt in ihm; er wird jedoch unentwegt von einem leidvoll gequälten Ich aufgehalten, das widerum durch die objektive Realität der Außenwelt einerseits und durch einen grausam gestrengen Richter in der Gestalt des ihn mit scharfen Ge- und Verboten überschüttenden Über-Ichs andererseits in die Schranken gewiesen wird. Dem Ich wird also die vermittelnde Funktion zugeschrieben, »die Harmonie unter den Kräften und Einflüssen herzustellen, die in ihm und auf es wirken«.44 Die gewaltige Anstrengung und die große Schwierigkeit, die sich mit der Erfüllung dieser Funktion verbinden, machen es klar, was Freud meint, wenn er vom »Unbehagen« des Menschen an der Kultur spricht, und was Marcuse dazu bewegt, die Ersetzung des Lustprinzips durch das Realitätsprinzip als »das große traumatische Ereignis« der sowohl phylogenetischen als auch ontogenetischen menschlichen Entwicklung anzusehen.45 Denn: Freud analogisiert die psychische Ambivalenz, welche die Grundlage für das Verbrechen am Urvater gebildet hatte, mit der, die das Kind in der Phase des ödipalen Konflikts beherrscht; und ähnlich wie die prähistorischen Söhne im Laufe der Zeit durch Verdrängung der Gewalttat einerseits und durch Idealisierung des Vaters bis hin zur seiner Erhöhung zum Gott andererseits reagierten, so verdrängt auch das Kind, nachdem es mit seiner eigenen realen Ohnmacht konfrontiert worden ist, das ödipale Ereignis in den Abgrund seines Unterbewußtseins und »sühnt« die seinem Vater gegenüber empfundene Aggression mit der Bildung jenes Über-Ichs, das dann zunehmend anschwillt, bis es sich zum kompromißlosen psychischen Hemm-Mechanismus ausbildet; die ursprünglich gegen den Vater gerichtete Aggression kehrt in einem Introjektionsprozeß zum Ich zurück, indem sich das sie nunmehr beherrschende Gewissen gegen das Ich richtet. In dieser Weise wird dem Vater ein machtvolles Monument im Über-Ich errichtet, genauso wie am Ende des Prozesses, der zur Schaffung der Religion geführt hatte, der Urvater zum Gott erhöht wurde.

Es sei betont, daß Freud die Existenz des Schuldbewußtseins keineswegs mit der realen Vollführung des Verbrechens gegen den Vater in Verbindung bringt:

»Es ist wirklich nicht entscheidend, ob man den Vater getötet oder sich der Tat enthalten hat, man muß sich in beiden Fällen schuldig finden, denn das Schuldgefühl ist der Ausdruck des Ambivalenzkonflikts, des ewigen Kampfes zwischen dem Eros und dem Destruktions- oder Todestrieb. Dieser Konflikt wird angefacht, sobald den Menschen die Aufgabe des Zusammenlebens gestellt wird; solange diese Gemeinschaft nur die Form der Familie kennt, muß er sich im Ödipuskomplex äußern, das Gewissen einsetzen, das erste Schuldgefühl schaffen. Wenn eine Erweiterung dieser Gemeinschaft versucht wird, wird derselbe Konflikt in Formen, die von der Vergangenheit abhängig sind, fortgesetzt, verstärkt und hat eine weitere Steigerung des Schuldgefühls zur Folge.«46

Der psychischen Realität wird somit eine Macht zugesprochen, die in ihrem den Menschen antreibenden Einfluß nicht geringer zu schätzen ist als die der objektiven Realität; dennoch ist diese psychische Prädisposition nicht im Nichts entstanden: »Im Anfang war die Tat«, postuliert Freud in dem seine Schrift »Totem und Tabu« abschließenden Satz.47

Dies ist ein für unser Anliegen überaus bedeutsamer Punkt. Er impliziert, »daß im Seelenleben nichts, was einmal gebildet wurde, untergehen kann, daß alles irgendwie erhalten bleibt und unter geeigneten Umständen, z.B. durch eine so weit reichende Regression, wieder zum Vorschein gebracht werden kann.«48 Es ist wohl kein Zufall, daß Freud zur Illustration dieser Erklärung die Analogie der Arbeit des Historikers heranzieht; denn es läßt sich behaupten, daß sich nicht nur in der individuellen Biographie, sondern auch in der kollektiven Geschichte das mental und kulturell Gewordene »erhält«. Das eindrucksvolle Beispiel einer solchen Konservierung haben wir mit der Beschreibung der in der phylogenetischen Theorie aufgeführten Entwicklung der religiösen Institution gegeben, in welcher sich die immer wiederkehrende Reproduktion eines mentalen Patterns, dessen Ursprung in jener verbrecherischen Tat aus weit zurückliegender, längst verdrängter Vergangenheit zu sehen ist, wie ein roter Faden durchzieht. Die Tatsache, daß unser kollektives Gedächtnis nur bestimmte Teile der Vergangenheit erinnert, besagt nicht, daß die unbewußten Teile sich nicht auf unser mentales Verhalten in der Gegenwart indirekt auswirken; ihre Verdrängung in die Sphäre des Unbewußten (wenn man will: des unbewußten Gedächtnisses) beeinträchtigt nicht ihren symptomatisch auszumachenden Einfluß auf die Auseinandersetzung des Menschen mit den zivilisatorischen Einrichtungen und Prozessen, an denen er teilhat. Nietzsche hat den diesem Verdrängungspattern innewohnenden Mechanismus treffend formuliert: »›Das habe ich getan‹, sagt mein Gedächtnis. ›Das kann ich nicht getan haben‹ – sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – gibt das Gedächtnis nach.«49 Langfristig hilft indes das Nachgeben des Gedächtnisses nicht sehr viel. Das Verdrängte pocht auf sein Recht zur Wiederkehr, und es vollzieht sie durch die Hintertür, heimlich und mit socher Raffinesse, daß seine ursprüngliche Gestalt kaum noch erkennbar ist, und schon gar nicht der infantile Anteil – der frühe Ambivalenzkonflikt – in ihr.

Hierin manifestiert sich die pessimistische und bedrohliche Aussage der Freudschen Lehre. Dies ist der den Menschen in seiner Konfrontation mit der fortschreitenden Zivilisation umschließende, deterministische Teufelskreis; in ihm wird die paradoxe Bedeutung dessen, was man »die infantile Kultur« genannt hat50, deutlich sichtbar. Dies ist aber auch, vielleicht mehr als alles andere, die Grundlage für eine in dieser Lehre enthaltene emanzipatorische Verheißung. Die tiefe Einsicht Freuds in die Kultursituation des Menschen gestattet es ihm nicht, sich dem illusionären Begriff eines freien Willens hinzugeben. Er weiß, daß man um die Befreiung des Willens kämpfen muß, und daß dieser Kampf mit Qualen und Leid verbunden ist: Die biologische Dimension der Entwicklung, die objektive Abhängigkeit von den Eltern und die reale Ohnmacht unterliegen nicht der Beherrschung durch das Kind. Der ödipale Konflikt kann ihm nicht erspart werden. Es ist zur Ambivalenz und zum Schuldbewußtsein sozusagen verurteilt. Der Triebverzicht bedeutet die Überführung der nicht befriedigten aggressiven Regungen ins Über-Ich, das sie seinerseits gegen das Ich richtet. »Die Aggression des Gewissens konserviert die Aggression der Autorität«.51 Von hieraus begreift sich also das emanzipierende Ziel der Psychoanalyse: Ihre Absicht ist, »das Ich zu stärken, sein Wahrnehmungsfeld zu erweitern und seine Organisation auszubauen, so daß es sich neue Stücke des Es aneignen kann. Wo Es war, soll Ich werden.«52

Die Erweiterung des Bewußtseins wird so zum befreienden Akt, der sich vor allem in der Auflehnung gegen die Autorität niederschlägt. Der »Vatermord«, in seiner Bedeutung als Loslösung und Abschiednahme von der Anhänglichkeit an die Autorität und der Abhängigkeit von ihrer kontrollierenden Bevormundung, erweist sich also als unumgängliche »Station« auf dem Emanzipationsweg des Ichs, auf dem Weg der Werdung eines mündigen Subjekts, das die Verantwortung für das eigene Schicksal bewußt übernimmt. Demselben verdrängten Urereignis mit den antiemanzipatorischen, hemmenden Auswirkungen wird nun im Prozeß der das Unbewußte durchdringenden Selbstreflexion53 eine emanzipierend-befreiende Bedeutung beigemessen. Der Kampf um die Emanzipation ist allerdings ein qualvoller Ablauf. Eine Bereitschaft des Menschen, ihn durchzustehen, ist ganz und gar nicht selbstverständlich, denn er ist unweigerlich mit dem schweren Preis des Verzichts auf bekannte Pattern, mit der Loslösung von der beschützten Geborgenheit einer infantilen Verantwortungslosigkeit und mit der Beschreitung eines unbekannten neuen Weges verbunden. So besehen gibt es einen engen Zusammenhang zwischen der individuellen Neurose und dem, was Marx als »Opium für die Massen« und Freud als »das süße – oder bittersüße – Gift« verurteilen54, wenn sie vom kollektiven Phänomen der Religion sprechen:

»Religion ist ein Versuch, die Sinnenwelt, in der wir gestellt sind, mittels der Wunschwelt zu bewältigen, die wir infolge biologischer und psychologischer Notwendigkeiten in uns entwickelt haben. Aber sie kann es nicht leisten. Ihre Lehren tragen das Gepräge der Zeiten, in denen sie entstanden sind, der unwissenden Kinderzeiten der Menschheit. Ihre Tröstungen verdienen kein Vertrauen. Die Erfahrung lehrt uns: Die Welt ist keine Kinderstube. […] Versucht man, die Religion in den Entwicklungsgang der Menschheit einzureihen, so erscheint sie nicht als ein Dauererwerb, sondern als ein Gegenstück der Neurose, die der einzelne Kulturmensch auf seinem Wege von der Kindheit zur Reife durchzumachen hat.«55

Emanzipation bedeutet also die leidvolle Wegbeschreitung des Reifungsprozesses, samt der ihm immanenten notwendigen Auflehnung gegen die beschränkende Autorität und des schweren Verzichts auf Illusionen, die das Bewußtsein und somit die Öffnung zur Realität versperren. In dieser Hinsicht gibt es keinen wesentlichen Unterschied zwischen dem den Weg zur »vaterlosen Gesellschaft« bahnenden Freudianer Alexander Mitscherlich und dem Jung-Schüler Erich Neumann, der den Helden als den »Feind des alten Herrschaftssystems, der alten Kulturwerte und des herrschenden Gewissens« sieht, der somit »notwendig in Gegensatz zu den Vätern und ihrem Repräsentanten, dem persönlichen Vater, der im Umkreis des Sohnes das herrschende Kultursystem verkörpert«, trete.56 Neumann unterscheidet zwar zwischen dem Archetypen des transpersonalen Vaters und der Gestalt des persönlichen Vaters und behauptet, es sei die »Stimme« des ersten, die den Sohn zur Auflehnung treibe und ihm die Mission der Weltveränderung auferlege, aber auch er gelangt zur Schlußfolgerung, daß obgleich in historisch soziologisch verschiedenen Situationen »der transpersonale Faktor auf verschiedene Objekte projiziert« werde, so erfolge doch in jedem Fall eine Auseinandersetzung mit diesem transpersonalen Faktor, »denn ohne ›Vater‹mord ist keine Bewußtseins- und Persönlichkeitsentwicklung möglich.«57

Lenkt man die Aufmerksamkeit auf die Hinrichtung des Königs als traumatisches Schlüsselereignis, stellt sich also heraus, daß es eine Übereinstimmung gibt zwischen zentralen Erkenntnissen der Freudschen Lehre und jenen Begriffen, die wir als Hauptkodes der der historiographischen Rezeption der Französischen Revolution unterlegten Matrix beschrieben haben.

Allein schon der Umstand, daß es sich bei dem hingerichteten Monarchen um einen König »von Gottes Gnaden« gehandelt hat, weist darauf hin, wie unerhört dreist die in dieser Tat verkörperte Übertretung des Tabus erscheinen mußte. Die Institution des europäischen Königtums durchlief viele Wandlungen bis es zu einer Form gelangt war, dergemäß die Autorität des Königs aus der ihm von Gott übertragenen Macht resultierte. Die theologische Basis für diese Entwicklung läßt sich zwar schon in den Paulinischen Postulaten, daß es keine Macht außer der Macht Gottes gebe, und daß alles, was der Mensch sei, er infolge der Gnade Gottes sei, finden; Zeugnisse von dem Ausdruck »von Gottes Gnaden« gibt es zwar schon im sechsten Jahrhundert für die lombardischen und im siebten für die angelsächsischen Könige; aber erst im achten Jahrhundert – so Walter Ullmann – wurde dieser Ausdruck zum Titel standardisiert:

»Der König, der bislang durch das Volk oder durch die ihn repräsentierende Körperschaft gewählt worden war, machte es mit dieser Betitelung eindeutig klar, daß sein Königtum auf dem Wohlwollen, der Gunst und der ›Gnade‹ Gottes beruhe. Der wesentliche Punkt ist, daß somit die engen Beziehungen, die er mit dem Volk unterhalten hatte, abgebrochen wurden; das Volk verlieh ihm ja keine Macht mehr, konnte sie ihm demgemäß auch nicht mit legalen Mitteln absprechen, und es war ihm lediglich [zu Gehorsam] verpflichtet.«58

Ab dem 8. Jahrhundert begann sich also der König allmählich vom Volk zu lösen. Darin lag durchaus eine Umkehrung der ursprünglichen Grundsätze, und es verging doch noch eine recht lange Zeit, ehe sich die papistisch-monarchistische Auffassung durchsetzte, die jegliches Recht der Untertanen, sich der Autorität des Königs zu widersetzen, endgültig untergrub. Die von Ullmann in diesem Zusammenhang erörterten rivalisierenden Theorien der monarchischen Machtvollkommenheit – nach deren ersten das Volk dem König die Macht verleiht (ascending theory), nach der zweiten indes der König seine Autorität der von Gott übertragenen Macht entnimmt (descending theory) – spiegeln jenes ambivalente Verhältnis gegenüber der Institution der Herrschaft wider, welches Freud in den Grundsätzen verkörpert sieht, daß man den König beschützen, sich gleichwohl vor ihm aber auch schützen solle. Das Volk, das seinen König krönt, beschützt ihn, um sich seiner Schirmherrschaft zu versichern; demgegenüber muß man sich vor einem König von Gottes Gnaden hüten, denn er besitzt eine übermenschliche Kraft, und die Berührung mit dem Göttlichen ist verboten: Die Loslösung des Königs vom Volke gerade zu dem Zeitpunkt, als er sich die himmlische Autorität zulegt, wird so verständlich. Die latente Funktion dieser Trennung liegt jedoch im prophylaktischen Schutz vor der potentiellen Aggression der Untertanen, denn gerade die Steigerung der herrschaftlichen Autorität bringt die mögliche Pervertierung des »christlichen Fürsten« zum repressiven Tyrannen mit sich. Nicht von ungefähr tauchten im Laufe der Zeit mannigfaltige Theorien über das Recht zur Auflehnung und zum Tyrannenmord auf.59

Andererseits wird der König aber auch als wohlwollender Beschützer aufgefaßt. Kraft seiner göttlichen Attribute bekämpft er das Böse, seine Aufgabe ist es, für Frieden und Wohlstand seiner Untertanen zu sorgen. In bestimmten Epochen wird seiner physischen Berührung heilende Wirkung zugeschrieben, und seine Erscheinung erweckt eine fast sakrale Ehrfurcht.60 Der Wille des Königs ist unumstößlich, der Gehorsam der Untertanen geheiligte Pflicht. Die Legitimatonsbasis solcher patriarchalischer Beziehungen steht in engem Zusammenhang mit der göttlichen Legitimation des Herrschers und mit einer Auffassung, wonach das Volk ein einem Kind vergleichbares Kollektivsubjekt darstelle:

»Das Volk selbst, weit davon entfernt, mit autonomer oder angeborener Macht ausgestattet zu sein, wurde sowohl praktisch als auch theoretisch von Gott der Herrschaft des Königs anvertraut bzw. übergeben. Angesichts seiner Unfähigkeit, seine eigenen Angelegenheiten zu meistern, sollte nicht nur die Doktrin das Volk des Königreiches in den juristischen Stand eines minderjährigen Unmündigen versetzen, sondern die köngliche Praxis und Doktrin […] behandelte das Volk bezeichnenderweise als unter dem Munt des Königs befindlich. Der Munt […] drückte also die Idee des Schutzes in der eindrucksvollsten Weise aus. Es war dieselbe Art von Schutz, die der Vater seinem Sohn zuteil werden läßt, in keiner Weise verschieden von dem Schutz, den der Vormund dem Mündel gibt oder im angelsächsischen England der Gatte seiner Frau zu geben pflegte. Der Beschützer wußte angeblich am besten, wann die Interessen seines Mündels Aktion erforderten. […] Dadurch, daß der Beschützer im Besitz des Munt war, unterstand das Mündel, mittelalterlichen Auffassungen gemäß, dessen Gerichtsbarkeit.«

Ein Überbleibsel dieses hierarchischen Verhältnisses findet sich im deutschen Begriff »Vormund«, und Reste seines symbolischen Ausdrucks (wie etwa des erhöhten Throns) lassen sich an Begriffen wie »Royal Highness« oder »Obrigkeit« ablesen.61

Wir können also behaupten, daß sich in der Entwicklungsgeschichte der monarchischen Institution die Ambivalenz in den Beziehungen zwischen dem König-Vater und den Untertanen-Kindern sowohl in der Sphäre theoretischer Legitimation als auch in der kollektiv-psychischer Introjektion widerspiegelt. Der Rahmen dieser Untersuchung ermöglicht es nicht, den langsamen, evolutionären historischen Prozeß zu verfolgen, der zuletzt dazu führte, daß die Theorie über das Recht der Untertanen zum Tyrannenmord als »häretisch, schimpflich und aufrührerisch«, folglich also »religiös und moralisch irrig« sigmatisiert wurde.62 Es sei indes angemerkt: Am Ende mündete dieser Prozeß im Absolutismus, der in der Gestalt Ludwigs XIV. seinen prägnantesten Ausdruck erhielt. Die Macht des Königs war nunmehr »unbegrenzt«, unter anderem deshalb, weil sich die theokratische Legitimationsbasis zunehmend verfestigte.

Es versteht sich von selbst, daß diese absolutisitische Aureole im Laufe des 18. Jahrhunderts immer mehr verblaßte. Für unser Anliegen ist indes nicht so sehr die objektive Macht des Königs relevant, als vielmehr die Tatsache, daß die Franzosen des Jahres 1789 wohl eine Revolution begannen, in mentaler Hinsicht jedoch recht stark von der historisch bedingten Verinnerlichung der Monarchie als integralen Bestandteil ihrer nationalen und gesellschaftlichen Identität geprägt waren; den Sturz der Monarchie beabsichtigten die Revolutionäre am Anfang gar nicht. Und dennoch ist in der Antwort Mirabeaus an den Zeremonienmeister die erste Auflehnungstat der Revolution gegen die Autorität verkörpert. Unserer Auffassung nach ist es kein Zufall, daß sich dieser symbolische Akt gerade im zeremoniellen Kontext abspielte; stellt sich doch gerade in den Formen des höfischen Zeremoniells jene Tabuvorschrift der Trennung zwischen dem König und seinen Untertanen dar.63 Der Ungehorsam dem Zeremonienmeister gegenüber ist demnach nichts anderes, als eine Übertretung des Tabus und somit ein Akt gegen die Autorität, die es mit diesem Tabu zu schützen gilt. Von diesem Gesichtspunkt aus lassen sich die Geschehnisse in Versailles am 5. und 6. Oktober 1789 ähnlich interpretieren. Einerseits hebt Lefebvre hervor, die Bevölkerung hätte in den Tagen nach diesen Ereignisse dem König Zeichen ihrer »Zuneigung« und Loyalität gegeben, und Michelet behauptet gar: »Alle meinten, daß man niemals Hungers sterben könnte, wenn man den König bei sich habe. Alle waren noch Royalisten und freuten sich sehr, daß sie diesen ›guten Papa‹ endlich in gute Hände geben konnten«64; andererseits waren jedoch eben diese Ereignisse mit Gewalttaten, bei denen einige von den Leibwächtern des Königs ums Leben kamen, und mit einer schroffen Übertretung der Etikette, in deren Verlauf Leute aus der Menge bis ans Schlafgemach der Königin hervordrangen, verbunden. Das Berührungstabu wurde somit konkret verletzt. Mehr noch, man hat das gesamte Ereignis als einen symbolischen Akt zu begreifen, der einen bedeutungsvollen Wendepunkt schon in den ersten Phasen der Revolution darstellt: Die dem König aufgezwungene Rückkehr zum Zentrum des Geschehens in Paris durchbricht sowohl physisch als auch zeremoniell die traditionelle Trennungsmauer zwischen dem Monarchen und seinen Untertanen – ein Tatbestand, der sich deutlich im grotesken Zug von Versailles in die Hauptstadt manifestiert; von nun an wird der König zwar noch eine Zeitlang »über seinem Volk« stehen, aber er wird unter und mit ihm leben müssen; die so geschaffene physische und mentale Annäherung symbolisiert die ambivalente Bedeutung des gesamten Ereignisses: Das Volk wirbt zwar um die Zuneigung des Königs, es setzt ihn aber auch einer größeren aggressiven Bedrohung als in der Vergangenheit aus. Das Freudengeschrei der hungrigen Fischverkäuferinnen im Laufe ihrer Rückkehr nach Paris, ihre Freude darüber, daß sie »den Bäcker, die Bäckerin und den kleinen Bäckerburschen« heimbringen, enthält demnach zweierlei Botschaften: Wohl kann der König die Not des Volkes lindern, wehe ihm jedoch, man möchte fast sagen: gnade ihm Gott, wenn er es nicht tut.

Dies soll nicht besagen, daß sich die Revolutionäre und ihre Anhänger im Volk der vollen Bedeutung der Auflehnung gegen die Autorität bewußt waren. Die Parole der Brüderlichkeit (oder wenn man will: der Aufruf zur Konsolidierung der Brudergemeinschaft), die sich zunehmend mit der des Patriotismus (also des Bestrebens, die Stellung des pater zu erobern) verbindet, illustriert im nachhinein den Sinn der sich aus der Auflehnung ergebenden Entwicklungen; es läßt sich aber vermuten, daß die Panikwellen und die kollektive Angst, welche breite Teile der Bevölkerung in den Anfängen der Revolution erfaßten, ein authentischeres Symptom für deren mentale Verfassung in der Auseinandersetzung mit der neuen Situation abgeben. »Der Verlust des Führers in irgendeinem Sinne, das Irrewerden an ihm, bringt die Panik bei gleichbleibender Gefahr zum Ausbruch« sagt Freud und begründet dies damit, daß »mit der Bindung an den Führer […] – in der Regel – auch die gegenseitigen Bindungen der Massenindividuen« schwänden.65 Vovelle sieht in der »Großen Furcht« (Grande Peur), die in der zweiten Julihälfte des Jahres 1789 die Bauern erfaßte und sich sehr bald über weite Teile Frankreichs verbreitete, ein »verzerrtes Echo der urbanen Revolutionen im ländlichen Raum«. Die Bewohner dieser Gegenden hätten zu den Waffen gegriffen, weil verschiedene Gerüchte über imagnäre Gefahren in Umlauf gekommen seien. Obgleich sich die Furcht bald gelöst hat, sei sie »zum Anstoß für die Agrarrevolte« geworden und »setzte sich in der Plünderung der Schlösser und der Verbrennung der seigneurialen Rechtstitel fort«. Vovelle behauptet, diese Bewegung habe zur Mobilisierung der Bauern geführt und symbolisiere »deren offiziellen Eintritt in den revolutionären Kampf«.66

Wir vertreten die Auffassung, daß die kurze Zeitspanne zwischen der Bestürmung der Bastille, welche mehr als vieles andere die Auflehnung gegen die Autorität symbolisiert, und dem Ausbruch der »Großen Furcht«, die vermeintlich keiner rationalen Erklärung unterliegt, die Möglichkeit eines Zusammenhanges zwischen beiden Ereignissen suggeriert. Am 17. Juni konstituiert sich die Nationalversammlung, am 20. Juni findet der berühmte Ballhausschwur statt, am 9. Juli erklärt sich die Nationalversammlung zur Konstituante, und am 14. Juli wird die Bastille erobert. Neben dem euphorischen Hochgefühl der Emanzipation mußte eine solche Ansammlung sich der Autorität widersetzender Akte auch die komplementäre Dunkelseite eben dieses Gefühls hervorbringen – das Erlebnis des Verlustes. »Der Verlust ist ein reales Ereignis, zugleich aber auch eine Wahrnehmung, die das Individuum veranlaßt, diesem Ereignis symbolische Bedeutung beizumessen«, behaupten F. Weinstein und G.M. Platt. »Selbst das Aufhören einer gewohnten Form der Unterdrückung kann dann als Verlust empfunden werden, wenn sie einem zuvor das Gefühl der Herrschaft über sie gestattete und falls man einigen sekundären Gewinn aus ihr ableiten konnte […]«.67 Das ist im Grunde der eigentliche Preis der Ambivalenz: Der Emanzipationsprozeß verläuft nie linear. Er ist seinem Wesen nach dialektisch, weil jeder revolutionäre Schritt vorwärts unweigerlich mit der Abschiednahme von bekannten Konventionen verbunden ist; und je größer die Notwendigkeit einer Loslösung durchdringt, desto stärker erweist sich die Empfindung des Verlustes. Die für die Emanzipation unumgängliche Auflehnung gegen die Autorität und das unmittelbare Gefühl des Verlustes, das in Angst oder gar Panik umschlagen kann, hängen engstens miteinander zusammen. Damit soll nicht der Versuch unternommen werden, gängige historiographische Interpretationen zu widerlegen; wir meinen, daß es sich hierbei um verschiedene Erklärungsebenen für ein und dasselbe Geschehen handle. Wenn es so etwas wie den revolutionären Heroismus gibt, so stellt er sich für uns nicht so sehr in der moralisierenden Aufteilung zwischen »guten Unterdrückten« und »bösen Unterdrückern«, sondern eher im Mut, den Leidensweg der Emanzipation einzuschlagen, dar.

In ähnlicher Weise läßt sich die Panik der »Septembermorde« auslegen; bei diesem Ereignis trat allerdings die Komplementärdimension der Angst, die gewalttätige Aggression, aufs extremste zutage. Die Gefahren und Bedrohungen sind diesmal deutlich faßbar: Fremde Heere sind in Frankreich eingedrungen, und, damit zusammenhängend, ist die Möglichkeit einer aristokratischen Konspiration ungleich wahrscheinlicher geworden; ausgerechnet in einer solchen kritischen Situation schwillt nun das Problem der Autoritätsvakanz zu bis dahin unbekannten Ausmaßen an: Der König ist gefangen, und die Entscheidungsbefugnis liegt in den Händen einer provisorischen Exekutivgewalt. Auch Dantons beeindruckender Auftritt zur Verhinderung der allergrößten Katastrophe zeichnet sich letztlich durch einen eher improvisierten Charakter aus. Die panische Angst, die auch im vorliegenden Fall im relativ plötzlichen Verschwinden der herkömmlich anerkannten Führungsautorität wurzelt, fordert ihren Tribut. Alles hängt von der Einigkeit der Brüderschar ab, und diese »definiert« sie mittels einer Eleminierung der »Abweichler«, einer Liquidierung der Aristokraten, der eidverweigernden Priester und der Kriminellen. Wir sind nicht der Meinung, daß der Auswahl der Opfer eine revolutionäre Dimension – politisch oder sozial – beizumessen sei. Der Haß auf die in den Gefängnissen Assignaten fälschenden Kriminellen und auf die gegen die Revolution konspirierenden Aristokraten oder Priester ist nicht die Ursache, sondern der Anlaß für den gewalttätigen Ausbruch, für die Entladung der schrecklichen im Angesicht der Bedrohung und infolge der panischen Angst entfachten Aggression. »Die panische Angst vor dem Verrat […] vernebelte das Gewissen«, schreiben Furet und Richet68, und wir fügen hinzu: Wo die reale Autorität im Gefängnis sitzt, verliert auch die ins Über-Ich verlagerte Autorität zunächst mal ihre Macht.

Im nachhinein lassen sich die »Septembermorde« als Bindeglied zwischen dem 10. August, dem Tag der Bestürmung der Tuileries und des Sturzes der Monarchie, und dem 21. September, dem Tag der Errichtung der Republik, begreifen. Die Manifestation der Kode-Matrix ist in diesen beiden Monaten besonders prägnant; fast will es scheinen, als durchlaufe die Auflehnung gegen die Autorität die Gewalttätigkeit, um in die Emanzipation einzumünden. Der Übergang zur Republik selbst verdeutlicht freilich die zwangsläufige Ambivalenz, die mit diesem Vorgang einhergeht. »Wenn Paris kein Königtum mehr haben will, will es darum die Republik?« fragt Aulard, »[…] Haß auf das Königtum, Zaudern, sich für die Republik zu erklären – diese beiden widerspruchsvollen, aber tatsächlichen Empfindungen leben beieinander im Geiste des Pariser Volkes […]«.69 Der Auflehnungsakt gegenüber den Mächten der Vergangenheit wird also von einer Unentschlossenheit, die Regierungsform auszurufen, welche die Souveränität und die neuerlich gewonnene Freiheit repräsentieren soll, begleitet. Im Grunde wird »die Republik […] nicht ausgerufen; sie entsteht erst am nächsten Tag, fast verstohlen, durch die Entscheidung, daß fortan alle amtlichen Aktenstücke ›aus dem Jahr I der Republik.‹ zu datieren sind«.70 Die erste Aufnahme des neuen Zustandes durch die Bevölkerung ist dementsprechend »ziemlich kühl«; die meisten Zeitungen feiern »eher die Abschaffung des Königtums als die Aufrichtung der Republik.« Sogar im Jakobinerklub hütet man sich, das Wort ausdrücklich zu erwähnen. »Erst am 24. September beschlossen sie, ihr Protokoll vom Jahre I der Republik zu datieren.«71 Die Revolutionäre wußten sehr wohl, daß die Anhänglichkeit an den König noch überall in Frankreich recht weit verbreitet war. Auch ohne Robespierres Monarchismus im Jahre 1789 hervorzuheben, kann man behaupten, daß sowohl er als auch andere radikale Führer der Revolution sich dessen bewußt waren, daß »der Monarch von einer riesigen, als ›Volk‹ bekannten Menge – den Arbeitern und den Bauern – geliebt wurde, und dies nicht nur religiöser Sentimente halber oder wegen des der geheiligten Person des Königs beigemessenen, legendären Prestiges (obschon diese Empfindungen nicht außer acht gelassen werden sollten)«, sondern weil er als Beschützer der Bauern vor der Tyrannei des örtlichen Adels gilt, und weil »die große Macht der Monarchie als politische Institution darin liegt, daß sie die Kontinuität gewährleistet.«72 Es waren Vermutungen solcherart, die Befürchtungen und Zweifel im Herzen eines Mannes wie Marat haben aufkommen lassen: »Er war der Meinung, die Republik sei schwach; die Franzosen seien keine guten Republikaner und nicht für die Freiheit geboren. Die Worte République française riefen bei ihnen offensichtlich keinerlei Gefühlsaufwallungen hervor. […] Deshalb weigerte er sich, an die Republik zu glauben, bis Ludwigs Haupt von seinen Schultern getrennt wurde.«73

Angesichts dieser Gegebenheiten geht man wohl nicht fehl, wenn man der Hinrichtung des Königs, dem konkreten »Vatermord«, die Funktion eines Kriteriums für die Bereitschaft und Fähigkeit der französischen Bevölkerung, den begonnenen politischen Emanzipationsprozeß durchzustehen, beimißt. Der Prozeß des Königs wird somit zu ihrer letzten Prüfung vor der endgültigen Entscheidung über das Schicksal der Revolution. Je näher aber der unumgängliche Entscheidungsmoment heranrückt, desto stärker bricht die Ambivalenz bei den Revolutionären durch, wie sowohl den gegensätzlichen Positionen der Girondisten und der Montagnards als auch der Weise, wie jede der Seiten seine Position der Öffentlichkeit präsentiert, zu entnehmen ist. Robiquets Bemerkung, daß weder die Sitzungen des Konvents noch die langwährende Abstimmung über die Verurteilung des Königs von einer sonderlich »schweren und schmerzerfüllten« Stimmung gekennzeichnet gewesen seien, erfährt eine unserer Darlegung gemäße Deutung, wenn man der Darstellung Gascars folgt:

»So haben die Girondisten durch allerlei Aktivitäten versucht, das Erscheinen des Königs vor der in einen Gerichtshof verwandelten Versammlung hinauszuzögern. Sie hatten zwar selbst die Maßnahme verlangt, fürchten aber nun ihren Ausgang und wagen nicht die Nachsicht, die sie mit dem gestürzten Monarchen haben, konsequent zu vertreten. Die Montagnards dagegen sind zwar entschlossen, ihn zum Tode verurteilen zu lassen, hüten sich jedoch, die Strafe auch offen zu verlangen; sie wissen nur zu gut um den unklaren Respekt, den ein Großteil der Bevölkerung noch immer vor der Person des Königs empfindet. Wegen dieser zwar gegensätzlichen, aber auf beiden Seiten nicht eindeutig zum Ausdruck gebrachten Haltung vollziehen sich der Prozeß Ludwigs XVI. und wenig später die namentliche Abstimmung der Abgeordneten ohne laute, lärmende Debatten in gleichsam schemenhaften Halbdunkel.«74

Wir meinen, daß die sich in der Äußerungssweise der streitenden Positionen widerspiegelnde Ambiguität mehr als nur politisches Kalkül zum Inhalt hat. Die Tatsache, daß viele der Versammlungsmitglieder ihre Meinung im Laufe der Sitzungen geändert haben, die girondistische Forderung, eine Volksbefragung bezüglich der Urteilsfrage zu veranstalten und die Weigerung der Jakobiner, dieser Forderung nachzukommen, sowie die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Girondisten selbst und die knappen Ergebnisse der Abstimmung – all diese deuten nicht nur darauf hin, daß »die große Mehrheit der Franzosen noch immer Royalisten« waren, sondern auch, daß ein nicht unbedeutender Teil der Volksvertreter selbst vor dem »Odium des Königsmordes« zurückschreckte.75 Soboul hat demnach zwar recht mit seiner Behauptung, daß wenn man den Tag des 10. August nicht verurteilen wollte, man tatsächlich gezwungen gewesen sei, den König für schuldig zu erklären, aber man sollte die Schwierigkeit der Verwirklichung einer solchen zweckrationalen Unumgänglichkeit im Spiegel der Aussagen vieler der Versammlungsmitglieder bewerten, die bezeugten, »wie sehr die Tatsache sie bewegte und erschütterte, daß ein ehemaliger König vor der Vertretung seines Volkes als Angeklagter erschien.«76

Eine solche Verknüpfung von erklärten politischen Zielsetzungen und (der Ambivalenz Ausdruck verleihenden) emotionalen Äußerungen lassen sich auch deutlich an den Reden der Delegierten im Laufe des Prozesses des Königs ablesen. »Bürger,« ruft Saint-Just am 13. November, »wenn das römische Volk nach sechs Jahrhunderten der Tugend und des Hasses gegen die Könige, wenn Großbritannien nach Cromwells Tod das Königtum trotz seiner Energie wieder aufleben sahen, was müssen bei uns nicht die guten Bürger, die Freunde der Freiheit fürchten, wenn sie das Beil in unsern Händen zittern sehen, wenn sie ein Volk erblicken, welches am ersten Tag seiner Freiheit vor der Erinnerung an seine Ketten Scheu hat! Welche Republik wollen Sie mitten unter unsern innern Kämpfen und unserer gemeinsamen Schwäche errichten?«77

Die rhetorische Frage, die den Delegierten das Irrationale ihrer Reaktion auf den möglichen Tod des Königs vor Augen führen soll, deckt gerade jene Sphäre auf, die sich eines rein rationalen Zuganges entzieht. Die Hand zittert, weil sie das Beil zur Vollbringung einer Tat führen soll, der gegenüber das Herz zwiespältig empfindet; sie kann diese Tat nicht wie selbstverständlich ausführen, genauso wie der Schwenker des Beils seine Freiheit nicht auf Befehl zu empfinden vermag, eben weil er sich mit der psychischen Realität von Erinnerungen, die ihn paralysieren, auseinanderzusetzen hat. Es handelt sich demnach um den Versuch, die Ambivalenz zu überwinden, wenn Saint-Just feststellt: »Dieselben Menschen, welche Ludwig richten sollen, haben eine Republik zu gründen; diejenigen, welche der gerechten Bestrafung eines Königs irgendwelche Wichtigkeit beilegen, werden niemals eine Republik gründen.«78 Ähnlich stellt auch Jacques Roux das Problem als eine Dichotomie ohne möglichen Zwischenweg dar: »Entweder fällt Louis’ Kopf oder wir werden uns unter den Trümmern der Republik begraben.«79 Es erhebt sich die Frage, warum es die Revolutionäre so sehen. Welchen Schaden kann schon der gestürzte und eingesperrte Ludwig noch verursachen? Die Antwort hierauf dürfte klar sein: Nicht in seiner Fähigkeit zu handeln und zu schaden liegt Ludwigs Macht, sondern in der Art, wie die durch ihn verkörperte Institution verinnerlicht worden ist; die ihm durch die psychische Realität verliehene Macht ist ungleich größer als seine objektive. Dies fühlt offensichtlich auch Robespierre, als er im November 1792 behauptet: »Bürger, wenn es euch schwerer fällt, einen König zu bestrafen als einen schuldigen Bürger zu belangen; wenn eure Strenge in umgekehrtem Verhältnis zur Größe des Verbrechens und zu der Schwäche des Verbrechers steht, dann seid ihr noch sehr weit von der Freiheit entfernt; dann besitzt ihr noch immer die Seele und die Vorstellungen von Sklaven.«80

Die Seele von Sklaven ist die Seele von Menschen, die in einen repressiven Zustand hineingeboren wurden, die die Freiheit nicht als eine Grunderfahrung verinnerlichen gelernt und daher eine psychische Verfassung der Abhängigkeit entwickelt haben. Sklaven sind fast so machtlos wie Kinder; Robespierres rügende Worte spiegeln also ein objektives Paradox wider: Er wendet sich an die Versammlungsmitglieder als rationale Erwachsene, ahnt jedoch auch, daß sie in der Zwickmühle der Ambivalenz eingezwengt sind. Er muß daher seine Zuhörer in einen quasi prämoralischen Zustand versetzen: »Wenn eine Nation gezwungen gewesen ist, auf das Recht des Aufstandes zurückzugreifen, tritt sie dem Tyrannen gegenüber in den Naturzustand zurück.« Und in diesem Sinne erhält die Beziehung zum König eine neue Bedeutung: »Es gibt hier keinen Prozeß zu führen. Ludwig ist kein Angeklagter. Ihr seid keine Richter. Ihr seid lediglich Vertreter des Staates und Repräsentanten der Nation und könnt auch nichts anderes sein. Ihr habt kein Urteil für oder gegen einen Menschen zu fällen, sondern eine Maßnahme im Interesse der Öffentlichkeit zu ergreifen und einen Akt auszuführen, der für das Schicksal der Nation bedeutungsvoll ist.«81 Im Naturzustand gibt es kein Gewissen und keine herkömmliche Moral, sondern ein natürliches Recht zur Auflehnung; ein solcher Zustand ermöglicht auch die Verwendung mythischer Bilder, um die Gestalt des Vaters zu eliminieren und die Erinnerung an ihn auszumerzen: »Die Völker richten nicht auf die gleiche Weise wie die Gerichtshöfe; sie fällen keine Urteile, sondern sie schleudern Blitze; sie verurteilen die Könige nicht, sondern werfen sie ins Nichts zurück«.82 Robespierre weiß aber auch, daß sich das Problem vor allem in den Revolutionären selbst befindet; er wendet sich daher an die Girondisten: »Man sagt, es handele sich um einen Fall von größter Bedeutung und man müsse mit Weisheit und bedächtiger Umsicht urteilen. Aber ihr allein seid es, die einen großen Fall daraus machen. […] Ihr macht einen großen Fall daraus, aber was findet ihr daran eigentlich so groß? […] Was ist das Motiv dieser ewigen Verzögerungen, die ihr uns anempfehlt?« Er beantwortet die Frage selber, indem er den Spieß umdreht und jene Argumentationslinie gebraucht, die er späterhin heranziehen wird, um sich dann allerdings der Volksbefragung zu widersetzen: »[…] als ob das Volk eine gemeine Herde von Sklaven wäre und einfältig an einen hinterhältigen Tyrannen noch hinge, nachdem es ihn längst verbannt hat, und als ob es sich um jeden Preis in Niedrigkeit und in Knechtschaft wälzen wollte. […] Ihr glaubt also noch an die eingeborene Liebe zur Tyrannei?«83 Es ist ganz und gar nicht klar, ob sich Robespierre selber dessen sicher ist, daß sich das Volk schon von seiner traditionellen Loyalität dem Monarchen gegenüber emanzipiert habe; er wendet sich an die Delegierten, als sähe er die traumatischen Auswirkungen der Hinrichtung des Herrschers voraus, als wüßte er um die psychologische Bedeutung der Verdrängung: »Warum erscheint uns etwas klar, was uns später dunkel vorkommt?« Der Fragende kennt anscheinend die Antwort; er ahnt, daß das Gedächtnis dem Gewissen nachgibt; er ist daher bestrebt, die Revolution im Gewissen selbst hervorzurufen: »[…] ihr stellt immer noch die Person des Königs zwischen uns und der Freiheit! Im Namen unseres Gewissens sollten wir uns davor fürchten, zu Verbrechern zu werden; wir sollten fürchten, daß wir uns selbst an die Stelle des Schuldigen setzen, wenn wir ihm zu viel Nachsicht erweisen.« Als Beispiel gibt Robespierre sich selber – er habe es geschafft, sich vom König emotional zu lösen: »[…] ich empfinde für Ludwig weder Liebe noch Haß; ich hasse nur seine Missetaten.« Aus all dem folgert er also: »Ludwig muß sterben, weil das Vaterland leben muß.«84

Dieser letzte Satz enthält in komprimiertester Dichte die gesamte dialektische Logik des »Vatermordes« und seines emanzipatorischen Sinns: Anstatt der traditionellen Formel »Der König stirbt niemals!« und ihrer historischen Entwicklung »Der König ist tot, es lebe der König!«85, tritt nun das revolutionäre Postulat, daß der König, sozusagen der »Vater«, sterben muß, damit die »Brüderschar« leben kann, ihn also beerben kann, um sich alsdann in eine neue, nunmehr das Vaterland beherrschende »Vater«-Kategorie zu verwandeln. Unter diesem archetypischen Gesichtspunkt ist es nicht so sehr relevant, daß sich die Versammlungsmitglieder in ihrer Stimmabgabe von keinem Ressentiment Ludwig gegenüber haben leiten lassen, wie Furet und Richet hervorheben, sondern vielmehr, daß sie einerseits der durch ihn verkörperten Institution überdrüssig waren, es ihnen aber andererseits dennoch schwer fiel, gegen ihn zu stimmen. In diesem Sinn vermitteln Robespierres Worte nach der Entscheidung mehr als ein nur persönliches Bekenntnis: »Ich fühlte in meinem Herzen die republikanische Tugendstrenge wankend werden, als ich den gedemütigten Schuldigen vor der souveränen Gewalt stehen sah.«86

Ludwig selber verkörperte nicht gerade die Idealgestalt des Schuldigen. Einerseits spielte er zwar vom Anbeginn der Revolution durch sein Zaudern, durch Versuche, seine Stellung auch in verlorenen Situationen zu wahren, durch pathetische Handlungen, wie etwa das gescheiterte Fluchtunternehmen, und durch aberwitzige Ungereimtheiten, wie die systematische Sammlung von Dokumenten, die seine konspirativen Absichten bezeugten, im eisernen Schrank seines Schlosses, in die Hände der Revolutionäre. Andererseits erweckte aber der dickliche, etwas einfältige König doch die Sympathie seiner Untertanen. Im Grunde bestand anfangs kein Ziel, ihn zu stürzen. Die meisten Revolutionäre vertraten die Auffassung, daß wenn es gelänge, ihn vom Einfluß der Hofleute zu separieren und zur Unterstützung der ersten Revolutionsphasen zu bewegen, so wäre dies noch immer der wünschenswerteste Zustand. Die realen revolutionären Begebenheiten amplifizierten daher die Ambivalenz dem Monarchen gegenüber umso mehr–eine Tatsache, die sich in der Forderung, den »gekrönten Verräter« zu bestrafen, einerseits und in den Gnade erflehenden Petitionen andererseits ausdrückte.87 Eine solche Situation erschwerte zweifelsohne die Lage derjenigen im Konvent, die seine Verurteilung anstrebten. Man konnte Ludwig wohl als Verräter darstellen, aber die immer wieder zu hörende Bezeichnung seiner Person als »Tyrannen« kennzeichnete weniger eine tatsächlich so empfundene Realität, als vielmehr den hilflosen Versuch, sich mit der psychologischen Archaik der Gesamtsituation auseinanderzusetzen. Unter solchen Umständen wird das Bedürfnis der Anlehnung an den historischen Präzendenzfall der Hinrichtung Karls I. von England sowohl unter den Konventsmitgliedern als auch bei der Bevölkerung verständlich.88 Das Präzedens forciert gewissermaßen die Motivation zur Handlung, wobei es das kontingenzbedingte Unbekannte sozusagen eliminiert. Das Bedürfnis nach Bekräftigungen ist an den Äußerungen der Delegierten nach der Abstimmung und der Entscheidung über den Tod des Königs deutlich erkennbar: »[…] von allen Opfern, die ich meinem Heimatland dargebracht habe, ist dieses das einzige, das würdig ist, registriert zu werden«, bekennt Roger Ducos, und Lebas schreibt am 20. Januar, einem Tag vor Vollzug des Urteils: »Jetzt sind wir auf dem Weg, die Brücken hinter uns sind zerstört; ob wir wollen oder nicht, wir müssen vorwärts gehen; und besonders für diesen Augenblick gilt der Satz: in Freiheit leben oder sterben.«89

Eine düstere Stimmung liegt am 21. Januar 1793 über Paris. Man bewegt sich langsam und wagt es kaum, sich in die Augen zu schauen, wie ein zeitgenössischer Beobachter berichtet. Alle Geschäfte sind geschlossen, und eine »schreckliche Stille« lastet auf den Straßen. Trotz der in ihr enthaltenen späten Interpretation und des karrikierenden Untertons widerspiegelt die Kindheitserinnerung J.G. Millingens treffend die Empfindung vieler der Bewohner der Hauptstadt an jenem Tag. Er beschreibt seinen Begleiter, »dessen demokratischen Energien nun durch die Feierlichkeit des Tages gedämpft waren, und der trotz seiner Anstrengungen, gleichgültig zu erscheinen, dann und wann schluchzte und sich eine herunterrollende Träne abwischte«.90 Wir erwähnen diese individuelle Impression, weil sie deutlich macht, wie viele Jahre nach dem akuten Ereignis sowohl die seinen Akteuren eigene Ambivalenz als auch die auf diese bezogene ideologische Stellungnahme noch immer motivisch durchschimmern: Die beschriebene Person bezahlt ihre demokratischen Neigungen mit Leid und Trauer; hätten diese Neigungen nicht die Hinrichtung des Königs gezeitigt, so würde es sich auch erübrigen, ihn beweinen zu müssen. Die dialektische Umkehrung dieser Deutung würde ergeben, daß die Chance für die mögliche Emanzipation nur um den Preis des mit der Loslösung von den traditionellen Bindungen einhergehenden Schmerzes erreichbar wird. Auf diesem Weg gibt es eben kein Entrinnen vor der erforderlichen Durchbrechung der Tabuschranken.

Bis zum letzten Augenblick kann Cléry, der treue Diener des Königs, nicht glauben, daß man das Unberührbarkeitstabu übertreten werde. »Hoffen Sie, Sire,« sagt er zu Ludwig, »man wird nicht wagen, Sie anzutasten.«91 Jahrzehnte später überkommen den deutschen Historiker Ludwig Stacke ähnliche Empfindungen, als er die Situation an der Guillotine beschreibt: »Als ihn [Ludwig] die Henker ergriffen, um ihm das Sünderkleid anzuziehen, die Haare abzuschneiden und die Hände auf den Rücken zu binden, stieß er sie anfangs zurück, fügte sich aber auf die Erinnerung, daß sich auch Christus willig habe binden lassen, und daß er dadurch dem Heilande ähnlicher werde.«92 Die aggressive Berührung wird also nur mittels einer Analogie, welche Ludwig indirekt die Funktion des von Jesus dargebrachten Erlösungsopfers zuschreibt, faßbar, d.h. durch die sozusagen vorgezogene Wiederbelebung des zu »ermordenden« Vater-Königs. Das Haar des Königs, jener geheiligte und tabuisierte Körperteil der Herrscher früherer Kulturen, erhält in diesem Zusammenhang eine besondere symbolische Bedeutung: Ludwig bittet darum, seine Haare selber schneiden zu dürfen, wie Furet und Richet bemerken, aber man verweigert es ihm und besteht auf den öffentlichen Vollzug dieses Aktes durch den Henker. Carlyle hebt gar hervor, daß Locken vom geschnittenen königlichen Haar nach der Enthauptung verkauft werden.93 Das Attribut der Macht, das dem Haar seit dem Samson-Mythos zugeschrieben wird, seine Symbolik als Bestandteil jugendlicher Kraft und seine allegorische Bedeutung als Auflehnungsemblem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, aber auch die Assoziationen, die das Schneiden des Haars als Demütigungsakt in repressiven Situationen begleiten, bezeugen seine metaphorische Funktion als Ausdruck der Macht und der Heiligkeit in verschiedenen Zusammenhängen. Das öffentliche Schneiden der Haare des gestürzten Monarchen dient den Revolutionären demnach als eine quasi kultische Demonstration ihrer neuerdings erlangten Macht. Wenn sich das Unberührbarkeitstabu des Haars übertreten läßt, wird es nicht zu schwer sein, den nächsten Schritt zu vollziehen und das nunmehr entmachtete Haupt abzuköpfen. Der König selber ist sich offenbar der symbolischen Bedeutung der Situation wohl bewußt; noch in seinen letzten Augenblicken widersetzt er sich der Tabuübertretung. Edgeworth, Ludwigs Beichtpriester, berichtet, wie die Henkersknechte versuchen, den Monarchen zu fesseln. Er fragt sie, was sie vorhätten. Auf ihre Antwort hin, sie wollten seine Hände binden, reagiert er entrüstet: »Mich binden […]. Nein! Ich werde dies niemals zulassen: Tut, was ihr zu tun habt, aber ihr werdet mich niemals binden…«.94

Es stellt sich indes heraus, daß die Übertretung des Unberührbarkeitstabu auch die Kehrseite des von den Revolutionären verfolgten Zwecks zum Vorschein bringt. Das Blut des enthaupteten Herrschers erweckt das Entsetzen der um die Guillotine versammelten Massen. »Noch ist der Königsmythos nicht tot« deutet Göhring. »Dem Blut eines französischen Königs entströmt magische Kraft, denn er gilt als ein Gesalbter Gottes.«95 Der von Jacques Roux am Hinrichtungstag verfaßte Bericht vermerkt: »Sein Kopf fiel. Die Bürger tauchten ihre Piken und ihre Taschentücher in sein Blut.«96 Der Akt, der den Königsgedanken ausmerzen soll, erweckt spontan das Bedürfnis, sein Gedenken zu wahren; die kultische Tat zur Wahrung des Gedenkens symbolisiert widerum beide Aspekte der Ambivalenzempfindung: Einerseits drücken sich Bewunderung und Ehrfurcht durch die Erhöhung des königlichen Blutes zur Reliquie aus; andererseits exemplifiziert das Tauchen der Waffen in eben dieses Blut die gewalttätige Aggression.

Wir erinnern daran, daß dies auch die dem Stamm nach Beendigung der Totemmahlzeit zeremoniell auferlegten Reaktionen sind. Interessant ist demnach Stackes Assoziation bei der Beschreibung der Reaktion der Masse, als der Kopf des Königs durch den Henker hochgeschwungen wird: »Kannibalisches Gebrüll erscholl ringsrum und setzte sich weithin in die Stadt fort.«97 Göhring spricht von einer »Bewegung des Entsetzens«, die durch Tausende gegangen sei, Edgeworth erinnert sich an eine »ehrfurchtserregende Stille im ersten Moment«, und der Augenzeuge Philippe Pinel berichtet von einer »finsteren Bestürzung«, die sich plötzlich verwandelt habe; »Es lebe die Nation!« und »Es lebe die Republik!« klingt es nun von überall her, und ein Freuden- und Siegestaumel verbreitet sich, während »man im Reigen um das Schafott« tanzt.98 Dieser Übergang von der einen emotionalen Reaktion zur konträr entgegengesetzten erinnert aufs deutlichste an das stilisierte Ambivalenzverhalten im altertümlichen Totemkult. In der konkreten Situation ermöglicht er zweifelsohne die Entladung des psychologischen Drucks und der Spannung, welche über die Bevölkerung von Paris seit der Entscheidung über die Hinrichtung des Königs bis zu deren Vollzug lastet: »Ohne Leid und Tränen, aber doch mit instinktiver Angst und leicht unruhig erwartet, ersehnt man nur den Augenblick, wo es vorbei ist«, wie es Gascar formuliert.99 Die Revolutionäre, die die Liquidierung des Königs anstreben, fürchten seinen (amts)charismatischen Einfluß bis zum letzten Augenblick; als Ludwig den Versuch unternimmt, die um die Guillotine versammelten Zuschauer noch einmal anzusprechen, beginnen die Trommler auf Anweisung Santerres zu trommeln, und des Königs Stimme geht im ohrenbetäubenden Lärm unter.

Die Tat ist vollbracht, der König ist tot; ein Gefühl der Erleichterung bemächtigt sich der politischen Führer. Konservative Historiker, die sich bei der Verarbeitung des »Königsmordes« selber schwer tun, erfassen für gewöhnlich die psychologische Bedeutung dieser Erleichterung nicht. Der Umstand, daß am Abend nach dem »schrecklichen Morde« die Schauspielhäuser gedrängt voll waren, klingt bei Stacke zum Beispiel so, als habe man darin den schlagenden Beweis für die Empfindungslosigkeit und Grausamkeit der »Königsmörder« zu sehen. Carlyle, der sich auf den gleichen Tatbestand bezieht, scheint da etwas einsichtiger zu sein: »Abends in den Kaffeehäusern […] drückten die Patrioten einander noch herzlicher die Hand als sonst. Erst einige Tage nachher […] sah man ein, wie gewichtig die Sache war.«100 Gerade das Bedürfnis, zusammen zu sein, das Bedürfnis nach der Nähe der an der Tat Mitbeteiligten und nach der momentanen Bestärkung durch den noch mehr »als sonst« herzlichen Händedruck bezeugen das noch unklare Gefühl der »Brüdergemeinschaft«, daß sich etwas schicksalhaftes und bedrohliches zugetragen habe, etwas, das sich eben nicht anders als in der Gemeinschaft ertragen läßt. »Vereint wagten sie und brachten zustande, was dem Einzelnen unmöglich geblieben wäre«, bemerkt Freud in Beziehung auf den »Urvatermord«. Gleiches gilt für den 21. Januar 1793. Das Gemeinschaftsbedürfnis ist der Grund dafür, daß »in den Wintertagen, in denen sich die Hinrichtung des Königs vorbereitet, […] die politischen Aktivitäten aufgehoben, die Konflikte ausgestzt« scheinen; dieses Bedürfnis unterliegt auch der Wunschvorstellung des Freiwilligen Maurin in einem Brief aus der Armee eine Woche nach dem Ereignis: »Der Tyrann lebt nicht mehr, und die Bürger, die über sein Schicksal gespalten waren, sind alle einig […]«; Bouloiseau stellt also zurecht einen Zusammenhang zwischen Einigkeitsgefühl und Schuldbewußtsein her: »In diesem oder jenem Maß empfanden die Königsmörder Reue, ein Bedürfnis, sich im nachhinein zu rechtfertigen, und hatten das Gefühl, gegen göttliches Recht verstoßen zu haben. Ein Solidaritätsgefühl einigte sie nun.«101

Praktisch hielt diese Einheit jedoch nicht allzu lange an: In der Freudschen Hypothese des vorgeschichtlichen »Urverbrechens« wurden die Brüder nach der Liquidierung des Vaters zu Gegnern, die um die nunmehr freigewordene »Beute« der Horde konkurrierten; keiner sei indes stark genug gewesen, um die Rolle des Vaters mit Erfolg übernehmen zu können. Freud folgert daher, daß sich die Brüder zuletzt selber auferlegten, sich der inneren Herrschaft und der Paarung mit den Weibchen der Horde zu enthalten. Dies habe – »vielleicht nach Überwindung schwerer Zwischenfälle«, wie er einfügend bemerkt – sowohl das Inzesttabu als auch das sozial begründete Verbot des Brudermordes durch die »Heiligung des gemeinsamen Blutes« zufolge gehabt.102

Analog läßt sich die Französische Revolution als eine Art Reproduktion des archetypisch konstruierten vorgeschichtlichen Ereignisses darstellen. Die Spaltung zwischen den Revolutionären, die schon während des Prozesses des Königs zutage kam, vertieft sich nun, nachdem die traditionelle Autorität endgültig vernichtet worden ist, zunehmend, und »schwere Zwischenfälle« ereignen sich in der Form eines blutigen Kampfes um das Recht, die neue Autorität verkörpern zu dürfen – ein Kampf, der in unterschiedlichen Varianten bis zum Erscheinen eines neuen Herrscher-«Vaters« in der Gestalt Napoleon Bonapartes andauert. Antirevolutionäre Historiker pflegen in dieser vom »Königsmord« abgeleiteten Entwicklung ihren kleinen Trost zu finden. Ludwig Stacke aktiviert gar Gottes Rache gegen die »Königsmörder«: »[…] der dämonische Geist, der sie zu Strafwerkzeugen in der Hand des Höchsten machte, hat sie auch gegen einander getrieben, daß sie sich in blutiger Verfolgung gegenseitig zu Tode hetzten.« Solche pseudoreligiös und apokalyptisch gefärbten Bilder sind für viele der Revolutionsdarstellungen charakteristisch, die im ideologischen Postulat fußen, daß es die Auflehnung gegen die legitime herkömmliche Autorität gewesen sei, welche den eigentlichen katastrophenträchtigen Grund für den grausamen Bruderkrieg, der infolge der nach dem Tod des Königs aktiver werdenden Konterrevolution ganz Frankreich erfaßte und den revolutionären Terror hervorbringen mußte, abgegeben habe.103

Den nahezu unumgänglichen Preis, den historische Kollektive dafür zahlen müssen, daß sie keine solche Auflehnung in ihrer Geschichte aufzuweisen haben, werden wir weiter unten noch durchleuchten können. Es sei jedoch schon hier angemerkt, daß sowohl die Historiker, welche die sich gegenseitig bekämpfenden »Königsmörder« mit Schadenfreude rezipieren, als auch diejenigen, welche die inneren Kämpfe der Revolutionäre von den der Hinrichtung des Königs inhärenten Auswirkungen ideologisch steril auseinanderhalten, an der mentalen Komplexität des Emanzipationsprozesses vorbeigehen und somit den wahren, ihm eigenen revolutionären Heroismus außer acht lassen. Berger und Luckmann, die die Legitimaion institutionalisierter Ordnung und die ihr auferlegte konstante Notwendigkeit, sich mit dem Chaos als alternativer Möglichkeit auseinanderzusetzen, erörtern, erinnern daran, daß die Verwirklichung der »konstanten Möglichkeit« des gesetzlosen Terrors sich immer dann nähert, wenn besagte Legitimation bedroht ist oder tatsächlich zusammenbricht: »Die Furcht, die den Tod eines Königs begleitet, besonders wenn er plötzlich und gewaltsam eintritt, zeugt von der Möglichkeit solchen Terrors. Oberhalb und jenseits aller Sympathiegefühle und pragmatischer politischer Belange, bringt der gewaltsame Tod eines Königs das Chaos in die Reichweite des Bewußtseins.«104 In diesem Sinn wirkt Robiquets Bemerkung, man sei nach Ludwigs Tod schnell zur Tagesordnung übergegangen, simplifizierend; und in eben diesem Sinn scheint uns die Schlußfolgerung von Furet und Richet, jenes »Schweigen eines ganzen Volkes beim Tod seines Königs« beweise, »wie tief der Bruch mit der jahrhundertealten Empfindungen der Menschen« schon gewesen sei, vorschnell zu sein.105 Wir sind der Auffassung, daß »sogar die Montagnards […] sich um die Zukunft [ängstigten]«, wie Bouloiseau herausstreicht, und daß also Vovelles erkenntnisreicher Deutung zuzustimmen sei: »Die Franzosen haben den Tod ihres Königs/Vaters/Helden auf verschiedenen Ebenen des Bewußtseins und der Wahrnehmung erlebt. […] Nach dem Verschwinden dieses schicksalsträchtigen Mannes sind zunächst Ersatzidole aufgetaucht, auf die sich die Sicherheitsbedürfnisse der revolutionären Bourgeoisie und von Teilen des Volkes projiziert haben.«106

Fügt man Stackes Bemerkung, daß drei Tage nachher niemand mehr »von dem schrecklichen Morde« gesprochen, Maurins Behauptung, daß sein Tod nicht einmal Mitleid hervorgerufen habe, und daß man nur noch von ihm rede, »um ihm die Ermordung des wackeren Pelletiers vorzuwerfen«, und die Einschätzung Philippe Pinels, daß man das »große Ereignis« entstellen werde, »so daß die Wahrheit bald aus dem Bewußtsein verschwunden sein wird«107, zusammen, so läßt sich die Komplexität der intensiven Verdrängung des traumatischen Erlebnisses, mit deren Hilfe sich viele der Zeitgenossen gegen die mit der Königstötung verbundenen Schwierigkeit der Ambivalenz wehren, widerspiegeln. So wird dem Abgeordneten Lepeletier, der wegen seiner Befürwortung der Hinrichtung des Königs am 20. Januar ermordet wurde, der Rang eines Sühneopfers beigemessen. Ulrich Gumbrecht erörtert dieses Phänomen im Zusammenhang mit der Untersuchung der Marats Heiligung durch die Revolutionäre einwohnenden Logik: »[…] wenn als historisches Gesetz die Annahme gelten konnte, daß bedeutunde Ereignisse der Revolution […] stets durch den Tod eines Revolutionärs ›bezahlt‹ werden mußten, wie die Exekution des Königs durch die Ermordung des im Sommer 1793 bereits zum Märtyrer kanonisierten Lepeletier, dann war Marats Größe durch die seinem Tod vorausgehende ›Säuberung‹ des Konvents und durch die Verabschiedung einer neuen Konstitution erwiesen.«108 Es erhebt sich freilich die Frage: Wem muß man den Preis des »bedeutenden Ereignisses« bezahlen? Die Antwort ist: Dem Gewissen, dem Über-Ich, in dem sich jene Autorität, gegen die sich die Revolutionäre auflehnen, eingenistet hat. Paradoxerweise wird so Lepeletier zum Opfer, durch das die Revolutionäre/Söhne den »Mord« am König/Vater »sühnen«. Es stellt sich heraus, daß es leichter ist das königliche Haupt in der Wirklichkeit zu guillotinieren, als sich von ihm in der psychischen Realität zu trennen. Maurin, der junge Soldat, drückt demnach wohl am eindringlichsten sowohl die Schwierigkeit als auch die Hoffnung, die sich aus der neuen Situation ergeben, aus; im selben Brief, in dem es heißt, der König sei kein Gesprächsthema mehr, bemerkt er auch, daß das Volk, »das kräftig die Freiheit begehrt«, die mit dieser Freiheit einhergehenden Sitten noch nicht kenne und noch alle Male an sich trage, »die ihm seine alte Sklaverei gelassen habe«, um dann aber hinzuzufügen: »[…] die Mehrheit, die den Mut gehabt hat, von all den Gefahren umstellt, die ihr zu drohen schienen, für den Tod zu stimmen, ist imstande, etwas zu schaffen. Ich setze die größte Hoffnung auf sie.«109

In ihrem Versuch, die kollektiv-psychische Funktion der Revolutionsfeste und -feiern zwischen den Jahren 1789 und 1799 zu ergründen, unterscheidet Mona Ozouf zwischen »erlebtem Sinn« (sens vécu) und »gewolltem Sinn« (sens voulu). Ihre zentrale These hierbei ist, daß diese Einrichtungen den Sieg des durch Wunschvorstellungen der Realität beigemessenen Sinns über den durch die Einwirkungen objektiver Erlebnisse geprägten Sinnzuspruch ermöglicht und symbolisiert hätten.110 Gumbrecht bemerkt in diesem Zusammenhang, daß die Notwendigkeit hierfür aus dem Grunderlebnis der Revolutionäre resultiert habe, wonach die Zukunft nicht voraussehbar und demnach die Kontingenz der Aktivität der »anderen« zur Quelle der Furcht und Angst geworden sei, welche widerum zur Steigerung der Kontingenz selbst geführt habe.111 Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß das Revolutionsdrama mit so vielen Geschehnissen und Begebenheiten von weitreichender Auswirkung angefüllt war, daß das Bedürfnis nach Bildung mentaler Mechanismen zur Auseinandersetzung mit der Dimension des in ihm verkörperten »Bruchs« zur Notwendigkeit werden mußte. Die Ungewißheit der Revolutionäre hatte die Entwicklung bestärkender Glaubenspattern zufolge, damit sie den kollektivpsychischen Stürmen der Ereignisse standhalten konnten.

Die Hinrichtung des Königs war in dieser Hinsicht ein archetypisches Ereignis, weil das mit ihm verbundene Verlusterlebnis an jene atavistischen Elemente rührt, die Freud als Quelle für die historische Werdung zivilisatorischer Einrichtungen (wie etwa der Religion) begreift. Wie oben, im Rahmen des komprimierten Abrisses der phylogenetischen Kulturtheorie, dargestellt, sieht er die Entstehung der Religion in der »Vatersehnsucht« und im von dessen gewalttätigen Beseitigung herrührenden Schuldbewußtsein begründet. In diesem Sinn ist die Religion als ein Mechanismus zu verstehen, der die irrationale Sühne jener Erbsünde ermöglicht, welche widerum der Befriedigung eines aus dem ungelösten Ambivalenzkonflikt entstandenen, ontogenetisch konstituierten Bedürfnisses nachkommt. So besehen verkörpert die Französische Revolution einen doppelten »Vatermord«: Nicht nur wird die traditionelle politische Autorität gestürzt, sondern es wird auch der Versuch unternommen, jene Institution zu entmachten, der die Funktion zukommt, die psychische Auseinandersetzung mit dem aus dem antiautoritären Akt hervorgehenden Schuldbewußtsein zu ermöglichen. Mehr noch: Da der exekutierte Herrscher ein »König von Gottes Gnaden« ist, symbolisiert das am 21. Januar 1793 geköpfte Haupt die Übertretung eines zweifachen Tabus: das gleichzeitige Vergehen gegen den König und gegen Gott selbst.

Viele Schichten des durch eine lange katholische Tradition geprägten französischen Volkes konnten eine Wende mit solch weitreichenden mentalen Implikationen nicht ertragen. Robespierre verstand dies wohl und bekämpfte die revolutionären atheistischen Strömungen, wobei er den Kult des Höchsten Wesens als eine Art Ersatz für die althergebrachte Religion zu etablieren versuchte. Auch dies half indes nichts. Die Französische Revolution schaffte es zwar, die Aureole der Monarchie von Gottes Gnaden zu zerstören, aber nicht Gottes Gnade Monarchie in den Sehnsüchten des einfachen Menschen zu beseitigen112; sie schaffte es nicht, jenen »Massenwahn«, wie er von Freud genannt wird, jene Sehnsuchtsüberbleibsel des Menschen nach einem erhöhten Vater, zu eliminieren.113

»Kann es einen überraschen, daß die Erklärung der Unveräußerlichkeit der Menschenrechte durch die französische Konstituante am 26.August 1789 eine solche Verheerung anrichtete?« fragt Ullmann und fügt hinzu: »Der Boden war noch nicht reif für ein solches Denken, das vorläufig nichts mehr war, als akademische Spekulation: Der Einfluß der vorhergehenden rechtlichen und politischen Ideologie verwandelte solche weitreichende Erklärungen zu Instrumenten der Revolution, welche mit Gewalt eine Ordnung schuf, die keine historischen, sozialen oder politischen Wurzeln in der Vergangenheit hatte.«114 Demgegenüber vertreten wir die Auffassung, daß die Schlüsselereignisse der Revolution sehr wohl in der »Vergangenheit« verankert seien, daß sie gar die dramatischste Reproduktion der »Vergangenheit« in der Neuzeit darstellten; es kommt halt nur darauf an, von welcher »Vergangenheit« die Rede ist. Ullmann meint die evolutionäre Werdung des sich seit dem Mittelalter entwickelnden Europas; wir beziehen uns auf jenes prä- bzw. metahistorische revolutionäre Ereignis, das die Beseitigung der Vaterherrschaft und die Konstituierung der Brüdergemeinschaft zeitigte. Ullmann behauptet, die Brüder seien im Jahre 1789 für eine solche Umwälzung noch nicht reif gewesen, und daß die »Verheerung« demgemäß unabdingbar gewesen sei; wir behaupten, daß die Reife der Brüder nicht im Entscheidungsbereich des Historikers liegen könne – die Brüder erheben sich immer dann, wenn sie sich der unumwundenen Notwendigkeit einer Auflehnung bewußt werden. Das soll nicht besagen, daß dieser Prozeß leicht wäre; im Gegenteil: Es handelt sich um einen dermaßen gewaltsamen und elemantaren Vorgang, daß er an den psychischen Grundfesten des Menschen und der in ihnen verankerten Beziehung zur Welt rührt. Bei der Auflehnung gegen die Autorität ist der Ambivalenzkonflikt unumgänglich; aber dieser enthält auch ein Versprechen, jene emanzipatorische Verheißung, bei der jeder Abschnitt ihrer Verwirklichung mit einem neuen Ambivalenzgefühl einhergeht, das – wiederum – die potentielle Auflehnung gegen die Autorität in sich birgt. Die eigentlich relevante Frage ist daher, ob man es wagt, dieses emanzipatorische Ziel um den Preis der Abschiednahme von den traditionellen, Ehrfurcht gebietenden und durch Blendung hemmenden Autoritäten zu verfolgen. Die Revolutionäre von 1789 wagten es, indem sie sagten: »Die Großen erscheinen uns nur groß, weil wir auf den Knien liegen. Erheben wir uns also!«.115

Das Trauma des

Подняться наверх