Читать книгу Dunkelheit über Tokyo - M.P. Anderfeldt - Страница 6
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ОглавлениеEr blieb vor dem Schaufenster des Convenience Store stehen, ratlos, was er tun sollte. Eine Frau mit einem kleinen Mädchen hatte gerade an der Kasse bezahlt. Die Mutter wirkte sehr müde. Die Angestellte an der Kasse zog einen Lolli aus einer Schublade, zeigte ihn unauffällig der Frau und als die nickte, lief sie um die Theke herum, kniete sich vor dem Kind auf den Boden und gab ihm strahlend die Süßigkeit. Das Kind lachte und Takeo erkannte an seinen Lippen, dass es »Arigato!« rief.
Die Szene erinnerte Takeo frappierend an seinen Traum von seinem Leben in Tokyo und kam ihm völlig unwirklich vor. Zögernd betrat er das Geschäft.
»Irasshaimase!«, rief die junge Verkäuferin routiniert, ohne richtig aufzusehen. Takeo schlurfte unschlüssig zu den Zeitschriften und begann, darin zu blättern. Da nahm ihn das Mädchen wahr.
»Was?«, murmelte sie überrascht. Takeo drehte sich nicht herum. Was sollte er auch sagen? Er sah auf seine Uhr. Verdammt, gerade mal 21:34. Für ein Hotel hatte er nicht genug Geld. Ein Love Hotel? So etwas kannte er nur aus dem Fernsehen, war das überhaupt billiger als ein normales Hotel? Dann vielleicht doch ins Kino? Sein Geld zusammen mit dem, was ihm sein Onkel gegeben hatte, sollte dafür ausreichen. Aber Kinos hatten doch nicht die ganze Nacht geöffnet, oder? Seufzend blätterte er um. Erst jetzt nahm er wahr, was er da in der Hand hatte – irgend so ein Manga. Schulmädchen mit Matrosenuniform und langen Zöpfen sahen ihn aus riesigen Augen an. Neben ihm stand ein Mann mittleren Alters in einem hellen Trenchcoat, den Aktenkoffer hatte er zwischen den Füßen abgestellt. Er las in einer Computerzeitschrift.
Das Mädchen brachte einen Karton voller Magazine und setzte ihn auf dem Boden ab. Dann begann sie damit, sie einzuräumen. Takeo konnte deutlich sehen, dass sie ihn immer wieder von der Seite ansah. Demonstrativ vertiefte er sich in sein Manga und tat so, als sähe er sie nicht. Er hatte gerade wirklich keine Lust, mit jemandem zu sprechen.
Schweigend nahm sie einen Stapel nach dem anderen aus dem Karton und stellte ihn in das entsprechende Fach. Jedes Mal, wenn ein neuer Kunde den Laden betrat, rief sie lautstark »Irasshaimase!« Hin und wieder eilte sie zur Kasse, um etwas abzukassieren.
Das Handy des Mannes neben Takeo vibrierte.
Der Mann sah sich um, nahm ab und flüsterte: »Ja? … Du sollst mich doch nicht während der Arbeit anrufen. … Was? 39 Grad? Das ist in dem Alter doch nichts Ungewöhnliches, oder? … Nein, leider nicht. Ich muss dann noch mit den Kollegen was trinken gehen. … Nein, das kann ich wirklich nicht. Ich schlafe im Büro. Oder bei Nakamura-kun. … Ja, ich rufe dich morgen früh an.« Mit einem Piepen legte er auf.
Der Mann sah auf seine Uhr. Er räumte die Zeitschrift, in der er gelesen hatte, ordentlich auf, nahm seinen Aktenkoffer und ging zum Kühlregal, in dem das Bier stand.
Die Angestellte nahm eine Handvoll Magazine aus dem Karton und räumte sie in das Fach direkt vor Takeo. Takeo sah auf. Auf dem Titelbild war ein Mädchen im weißen Bikini abgebildet, das lasziv an ihrem Finger lutschte. Die Angestellte sah Takeo an und lächelte. Er wurde rot.
Dann sah sie, dass der Sarariman an der Kasse stand und beflissen eilte sie hin. »Hai! Gomenasai!«
Der Mann stellte zwei Dosen auf den Tresen, eine mit Sapporo-Bier und eine mit Chu-Hi. Er zeigte auf das Chu-Hi: »Sowas mögen junge Frauen doch, oder?«
»Ja! Das schmeckt sehr gut!«, strahlte ihn das Mädchen an und nickte eifrig. Der Mann brummte etwas und zahlte. Dann verließ er den Laden.
»Arigato gozaimashita!« Das Mädchen verbeugt sich. Als die Tür sich öffnete, drang für ein paar Sekunden die Melodie der Ampel von draußen herein.
Das Mädchen ging wieder zu Takeo, um weiter Magazine einzuräumen.
»Ich kann das süße Gesöff nicht ausstehen«, flüsterte sie ihm zu. Gegen seinen Willen musste Takeo grinsen.
In dem Augenblick flackerte das Licht im Laden. Gleichzeitig hörte man Bremsen quietschen. Das Mädchen und Takeo stürzten zur Tür hinaus. Vor einem Taxi mit laufendem Motor lag der Sarariman auf der Straße, das Gesicht auf dem Boden. Aus der Tüte, die er gerade im Convenience Store gekauft hatte, rollte langsam eiernd die Dose Chu-Hi heraus. Der Taxifahrer sprang aus seinem Auto und lief zu dem Verletzten. Auch Takeo und das Mädchen rannten hin. Weitere Autos stoppten vor dem Unfallort.
»Einen Krankenwagen! Wir brauchen einen Krankenwagen!«
Takeo holte sein Handy aus der Tasche. Vor lauter Aufregung schaffte er aber nicht einmal, den Touchscreen zu entriegeln. Das Mädchen aus dem Laden beugte sich über den daliegenden Mann. Der bewegte sich plötzlich wieder. Mühsam stützte er sich auf und setzte sich hin. Er hielt sich den Kopf.
»Daijoubu? Geht es Ihnen gut?« redete der Taxifahrer auf ihn ein. Der Mann nickte benommen. Er blieb eine Weile sitzen, dann half ihm der Taxifahrer auf und geleitete ihn zum Gehweg. Dabei fragte er immer wieder, wie es ihm gehe und ob er ihm nicht einen Krankenwagen rufen solle.
Der Mann aber schüttelte nur den Kopf. »Nein. Es geht mir gut.«
»Haben Sie denn nicht gesehen, dass die Ampel rot war?«, fragte der Taxifahrer.
Der Mann antwortete nicht und klopfte abwesend seine Kleidung ab.
»Hai, douzo!«, das Mädchen aus dem Laden verbeugte sich tief und hielt ihm mit ausgestreckten Armen die Tüte mit seinen Einkäufen hin. Der nahm sie an sich und murmelte »Rot?«, dann wandte er sich um und verschwand.
Takeo und das Mädchen gingen zurück in den Laden.
»Dir scheint es ja wirklich bei uns zu gefallen. Willst du dein Bier nicht mit irgendjemandem trinken, bevor es warm wird?«
»Ach … ich wollte zu meinem Onkel, aber der … hat heute keine Zeit für mich.«
»Oje, so ein Mist. Und was jetzt?«
»Wenn ich das wüsste … ich kenne ja sonst niemanden hier.«
Sie warf einen Blick zur Uhr an der Wand über der Ladentheke. »Ich habe in 20 Minuten Dienstschluss – zumindest, wenn Yuuto ausnahmsweise mal pünktlich ist. Dann finden wir was für dich.«
Takeo sah sie überrascht an.
»Hey, nicht bei mir!« Sie schüttelte den Kopf und lachte, während Takeo schon wieder rot wurde. Er wunderte sich. Warum wollte das hübsche Mädchen ihm helfen? Da er nicht wusste, was er sonst tun sollte, stellte er sich wieder zu den Zeitschriften und blätterte in einem Magazin. Es ging um Autos, was ihn eigentlich gar nicht interessierte, aber es war ja nur für 20 Minuten.
Ziemlich genau 30 Minuten später betrat ein junger Mann mit einer hellblau getönten Sonnenbrille das Geschäft. Trotz der sommerlichen Temperaturen trug er eine schwarze Wollmütze und einen langen schwarzen Ledermantel. Er machte ein seltsames Handzeichen zu dem Mädchen und verschwand in der Tür hinter der Verkaufstheke. Das Mädchen war gerade mit einer Kundin beschäftigt, die, wie es aussah, sämtliche erhältlichen Toilettenartikel aufkaufte. Kurz danach trat der junge Mann neben sie und übernahm. Mit Uniform und ohne die Sonnebrille war er kaum wiederzuerkennen. Das Mädchen flüsterte mit ihm und sie sahen ein paar Mal zu Takeo herüber. Dann verschwand auch das Mädchen in der Tür und stand kurz darauf neben Takeo.
»Gehen wir.« Takeo wunderte sich, wie anders sie ohne ihre weiß-grüne Uniform aussah. Sie trug jetzt einen kurzen pinkfarbenen Rock und ein weißes Jäckchen, das irgendwie flauschig aussah, wie ein Teddybär, dazu Stiefel mit langen Absätzen. Ein schwach blumiger Duft umwehte sie.
»Ich bin Mei.«
»Schön, dich kennenzulernen, ich bin Takeo Toda, yoroshiku onegaishimasu!«
Mei lachte. »Du bist ja lustig. Man sollte dich irgendwo ausstellen. Also, Takeo-chan, ich habe mir was überlegt.«
Takeo schluckte. Zu Hause hatte nur seine Mutter ihn Takeo-chan genannt. Manchmal vielleicht noch Teru-Obaachan. Sprachen so die Leute in Tokyo miteinander?
»Hey,« sie stieß ihn an, »immer locker bleiben. Ich verkaufe dich schon nicht an einen Wanderzirkus.«
»Hai, Entschuldigung.«
»Außer sie machen mir ein wirklich gutes Angebot. Aber jetzt hör auf, dich zu entschuldigen.«
»Hai, …« Takeo verschluckte die Entschuldigung, die er automatisch hatte nachschicken wollen. Mei nickte zufrieden.
Dann folgte er ihr. Wohin gingen sie überhaupt? Er lief hinter ihr auf dem Gehweg, bis sie plötzlich in einen kleinen Weg abbog. Von dort führten ein paar Stufen zu einem kleinen Park und Mei setzte sich auf die oberste Stufe. Sie klopfte auf den Platz neben sich und Takeo nahm Platz. Beinahe berührten sich ihre Körper und er konnte die Wärme spüren, die von ihr ausging.
»Jetzt wäre ein Bier gut, oder?« Sie stützte den Kopf in die Hände.
»Wie? Ach so, …« Takeo hatte das Bier ganz vergessen. Er reichte Mei eine Dose und nahm sich selbst die andere.
Sie öffneten sie und stießen an. »Kanpai!«
»Aaaaah!«, seufzte Mei nach dem ersten Schluck genüsslich und warf den Kopf nach hinten. Das Mädchen trinkt ja Bier wie mein Vater, dachte Takeo.
»Also«, begann sie, »damit es da keine Missverständnisse gibt. Ich mag deinen Akzent, er erinnert mich an meine Großmutter. Und ich will dir helfen, weil mir auch jemand geholfen hat, als ich in Tokyo angekommen bin. Mehr nicht, okay? Ich habe einen festen Freund.«
Takeo wurde rot bis über beide Ohren. Zum Glück war das Licht so schlecht, dass Mei das bestimmt nicht sehen konnte. »Vielen Dank.«
»Na, hör’s dir erst mal an. Der meist nichtsnutzige Yuuto hatte nämlich ausnahmsweise mal eine Idee. Ach so, Yuuto ist mein extravaganter Kollege, der heute die Nachtschicht übernimmt. Er hat mir von einem Manga Café hier in der Nähe erzählt, da kann man die ganze Nacht bleiben. Was sagst du?«
»Ein … Manga Café?« Takeo runzelte die Stirn.
»Ja, aber da geht kaum einer zum Lesen hin. Man hat ein kleines Abteil mit Internet und man kann auch pennen. Oder natürlich Manga lesen. Aber wahrscheinlich hast du bei mir im Konbini schon genug gelesen für heute, oder?« Sie lachte und stieß ihm den Ellbogen in die Seite.
Ein Manga Café – Takeo wusste nicht so recht, was er davon halten sollte. Aber sicher war es besser als nichts.
Eine Frau mit Mundschutz ging vorüber. Mei nahm einen Schluck aus ihrer Dose. »Kennst du eigentlich die Breitmaulfrau?«, flüsterte sie und blickte der Frau bedeutungsvoll nach.
»Ist das nicht so eine Gruselgeschichte?«
»Ja. Sie hat aber wirklich gelebt. Und zwar hier ganz in der Nähe.«
»Ach ne, das sind doch Märchen.«
»Nein! Das ist die Wahrheit! Ich kenne jemanden, der sie getroffen hat. Ist nur mit Mühe mit dem Leben davongekommen … ein kleiner Junge. Naja, so klein auch nicht. Ein bisschen jünger also du.«
Takeo ärgerte sich. Hielt ihn Mei für ein Kind?
»Der ist auf dem Heimweg von der Schule durch eine dunkle Straße gelaufen. So wie die hier. Eine Frau mit Mundschutz kommt ihm entgegen. Sie bleibt vor ihm stehen und fragt ihn: ›Bin ich schön?‹ Der arme Junge murmelt ›Ja‹ und will schnell weitergehen. Da nimmt sie ihren Mundschutz ab. Ihr Mund war total entstellt. Der blutige Schnitt reicht von einem Ohr zum anderen, weil ihr eifersüchtiger Mann ihn mit der Schere aufgeschnitten hat. Sie sieht natürlich schrecklich aus und der Junge erschrickt. Dann öffnet sie ihr riesiges Maul und fragt: ›Und jetzt?` Dabei nimmt sie eine Schere in die Hand. Der Junge weiß, wenn er ›Nein‹ antwortet, tötet sie ihn, wenn er ›Ja‹ sagt, schneidet sie ihm den Mund auf, damit er genauso schön ist wie sie.«
»Was hat er getan?«
»Sag ich dir nicht.«
»Ehhhh?«
»Ein anderes Mal. Komm, wir gehen.«
Auf dem Weg kamen sie an einem Love Hotel vorbei. »Maison de Love« stand in rosa Neonbuchstaben über der Tür. Eine Art Paravent schirmte den Eingang zur Straße hin ab, sodass man unbemerkt hineinschlüpfen konnte.
Mei bemerkte Takeos Blick. »Hey, das ist wahrscheinlich deutlich über deinem Budget, außerdem wäre das doch deprimierend, so ganz allein …«
Gemeinsam betraten sie das Manga Café. Die Wände waren bedeckt mit Manga-Reihen und DVDs. Ein paar Getränkeautomaten boten warme und kalte Getränke.
»Ich war hier auch noch nie, aber Yuuto hat gemeint, dass der Laden okay ist. Keine Ahnung, woher der das weiß«, fügte sie nachdenklich hinzu.
Sie drückte einen Knopf an der Rezeption und eine ältere Dame erschien. »Irasshaimase!«
»Guten Abend. Was kostet denn eine Nacht bei Ihnen?«
Die Dame warf einen missbilligenden Blick auf Takeo. »Ich bin mir nicht sicher, ob Sie hier richtig sind, vielleicht wäre das Maison eher …«, druckste sie herum.
Mei sah Takeo an und lachte. »Nein, nein. Mein Cousin wird allein hier bleiben.«
Die Frau schien erleichtert. »Ach so. Dann kommen Sie mit.«
»Gute Nacht, Cousin«, rief ihm Mei zu und winkte zum Abschied. Bevor Takeo etwas erwidern konnte, hatte sie sich auch schon umgedreht und war verschwunden.
Etwa eine halbe Stunde später war Takeo endlich in seinem »Abteil«, einer nur durch Gipswände abgetrennten Kabine mit einem großen Fernseher, einem Computer und einer Art Liegesessel. Er legte sich auf den Sessel und schaltete den Fernseher an. Noch bevor er auch nur einmal umschalten konnte, war er eingeschlafen.
Als er aufwachte, war der Fernseher dunkel. Von nebenan hörte er gleichmäßiges Schnarchen. Die Lichter an der Decke waren heruntergedimmt. Er versuchte weiterzuschlafen, aber ohne Erfolg. Er beschloss, auf die Toilette zu gehen und sich auch die Zähne zu putzen. Ein Schild an der Tür wies darauf hin, stets die Tür abzuschließen und Wertsachen an der Rezeption abzugeben.
Als er wiederkam, war das Schnarchen zum Glück verstummt. Trotzdem konnte er auf dem Liegesessel nicht einschlafen. Er legte sich auf den Boden, aber der Teppichboden war hart und er wälzte sich noch oft hin und her, bevor er endlich wegdämmerte. Kurz vorher war ihm noch, als höre er ein Röcheln aus der benachbarten Kabine und er hoffte, dass das Schnarchen nicht wieder losginge.
Er wurde von einer sanften Melodie geweckt und sah, dass die Lichter wieder hell waren. Verschlafen trottete er zum Badezimmer, um sich zu waschen. Als er wieder zurückkam, klopfte eine Angestellte an die Tür der Nachbarkabine. Es war die gleiche Dame wie am Vorabend.
»Der schläft bestimmt noch. Ich habe ihn heute Nacht schnarchen hören.«
»Wir müssen aber sauber machen.«
Dann wieder zur Tür »Hören Sie? Sie müssen hier raus, sonst muss ich Ihnen das berechnen. Hallo?«
In dem Augenblick ging die Tür von selbst auf, sie hatte wohl zu energisch dagegen geklopft. Die beiden sahen einander an. Die Angestellte zuckte die Schultern und schob langsam die Tür auf, während Takeo sich diskret abwandte, um seine Sachen zusammenzupacken. Dann hörte er einen unterdrückten Schrei. Die Frau hielt sich die Hand vor den Mund, ihre Augen waren vor Schreck geweitet. Takeo folgte ihrem Blick. Auf dem Sessel lag ein Mann mittleren Alters in einem gestreiften Pyjama. Wenn nicht überall Blut gewesen wäre, hätte es ausgesehen, als ob er schliefe. Verkrustetes Blut bedeckte seine Kleidung und unter dem Sessel sammelte es sich in einer dunkelroten Lache. In der schlaff herunterhängenden Hand glänzte etwas – ein Messer? Eine Schere? Die Angestellte verbeugte sich vor dem Toten und schloss schnell wieder die Tür.
Sie wandte sich an Takeo. »Geht es Ihnen gut? Das passiert leider manchmal. Bitte bleiben Sie ruhig.«
»Ich … ist er …?«
»Ja.«
»Ich habe neben einem …«
»Machen Sie sich keine Sorgen. Ich werde die Polizei rufen. Können Sie mir Ihren Namen und eine Adresse geben, unter der man sie erreichen kann?« Als Takeo sie erschrocken ansah, fügte sie hinzu: »Reine Formsache, die Polizei möchte das.«
Als Takeo das Manga Café verließ, sah ihm die Dame an der Rezeption in die Augen: »Und bitte, erzählen Sie niemandem davon. Sie wissen doch, wie leicht die Leute reden. Sie überreichte ihm zwei Übernachtungsgutscheine, dann verbeugte sie sich tief. »Arigato gozaimashita!«
Weil es noch nicht 10 Uhr war, kaufte Takeo sich in einem Automaten eine Dose heißen Kaffee und schlenderte durch das Viertel. Er überlegte kurz, ob er seinem Onkel wieder ein Geschenk kaufen sollte, dann verwarf er den Gedanken. Er musste sein Geld jetzt wirklich zusammenhalten und außerdem war er immer noch sauer, dass er ihn gestern so einfach weggeschickt hatte.
Punkt 10 Uhr klingelte er an der Tür seines Onkels. Der machte ihm sofort auf und führte ihn gut gelaunt in seine Wohnung, ein kleines 8-Tatami-Appartment.
»Platz ist teuer hier. Ist ein bisschen enger als zu Hause«, sagte er, als er Takeos Blick bemerkte. »Aber man gewöhnt sich dran.«
Er bot ihm einen Tee an und zündete sich selbst eine Zigarette an. Mit keinem Wort ging er auf die Ereignisse des Vorabends ein.
Onkel Masao fragte Takeo nach allerlei Ereignissen aus der alten Heimat und gemeinsam schwelgten sie in Erinnerungen. Takeo erschien der Schrein seines Vaters plötzlich unendlich weit weg. Als redeten sie über einen längst vergangenen Lebensabschnitt. War er wirklich erst gestern früh von dort aufgebrochen?
Schließlich kam der Onkel zur Sache. »Und nun? Was hast du hier vor?«
»Ich weiß nicht, erst einmal brauche ich einen Job … vielleicht in einem Convenience Store oder in einem Restaurant oder so …«
»Na klar. Du kannst natürlich erst mal hier bleiben. Aber – du siehst ja, hier ist nicht viel Platz. Du solltest dir so schnell wie möglich etwas Eigenes suchen, okay?«
»Hai.« Takeo wollte eigentlich fragen, wer denn die Frau war, deren Stimme er gestern gehört hatte, aber da sein Onkel offensichtlich nicht darüber sprechen wollte, verkniff er sich das Thema.
Ein paar Stunden später fühlte sich Takeo sehr niedergeschlagen. Er hatte ein Dutzend Convenience Stores aufgesucht und dort seinen Namen und seine Telefonnummer hinterlassen, »für den Fall, dass eine Stelle frei wird«, aber nirgendwo hatte man ihm einen Job angeboten.
In der Gastronomie war es noch schlimmer: Wenn er sich in einem Restaurant vorstellte, wurde er immer nach seiner Erfahrung gefragt und er musste zugeben, dass er keine hatte. Auch dort wurde er höflich gebeten, seine Telefonnummer zu hinterlassen, aber Takeo konnte anhand der Mienen seiner Ansprechpartner bereits die Sinnlosigkeit dieser Maßnahme erkennen.
Dabei hatte er sich extra seinen dunklen Anzug angezogen und sein Onkel hatte ihm ein paar Tipps gegeben, wie er sich am besten vorstellen sollte. Was hatte er auch erwartet? Dass Tokyo nur auf ihn wartete? Dass ein Landei wie er sofort einen Super-Job bekommen würde? Er war ratlos und plötzlich war ihm zum Weinen zumute. Er fühlte sich entsetzlich einsam. Ein Mann war beinahe überfahren worden und ein anderer hatte Selbstmord begangen, keine drei Meter von ihm entfernt.
Vielleicht waren das Zeichen und er sollte schnell wieder nach Hause. Blöd nur, dass er nicht einmal dafür das Geld hatte. Sollte er seinen Onkel bitten, ihm das Geld für die Heimfahrt vorzuschießen? Nein, dachte er, jetzt erst recht – er würde sich nicht von dieser Stadt unterkriegen lassen. Wenn dies eine Drama-Serie wäre, würde er jetzt gleich eine Wahnsinnskarriere machen und bald stinkreich sein. Schade, dass es in der Wirklichkeit meistens ganz anders lief.
Weil er nicht gleich zu seinem Onkel zurück wollte, ging er noch kurz in den Convenience Store, in dem Mei arbeitete. Vor dem Laden lungerten ein paar Männer herum, die ihn neugierig musterten.
»Irasshaimase!«, rief eine Frau hinter dem Tresen, die er nicht kannte, doch dann sah er Mei. Auch sie rief »Irasshaimase!«, und kam nach einiger Zeit zu ihm. Er wollte etwas sagen, sie flüsterte ihm aber gleich zu: »Ich mache in fünf Minuten Pause, komm doch hinter den Laden.«
In einer Nebenstraße wartete er auf Mei. Ihm war wieder zum Heulen zumute.
»Hey, Takeo-chan. Schickes Stöffchen, hat das deine Mutter ausgesucht?« Sie strich über den Kragen seiner Anzugjacke. Mei trug eine Jacke über der Uniform; wahrscheinlich, damit man sie nicht als Angestellte erkannte.
»Hallo, Mei … san.«
Mei rollte die Augen, weil er die förmliche Anrede benutzt hatte, und machte ein übertrieben böses Gesicht. »Hey, willst du, dass ich mich wie eine Oma fühle?«, dann fuhr sie fort, »Hast du deinen Onkel getroffen?«
»Ja. Ich kann erst einmal bei ihm bleiben.«
»Na, immerhin. Und jetzt suchst du einen Job, was?«
»Hmm.« Wie hatte sie das mit seiner Mutter gemeint? War der Anzug so altmodisch? Er betrachtete sich im Spiegel eines Schaufensters. Naja, wie ein Geschäftsmann sah er nicht aus, aber doch ganz ordentlich.
In dem Augenblick kamen die Männer, die vor dem Laden gestanden hatten, um die Ecke herum.
»Hi, Mei-chan«, begrüßte sie der erste, ein schlanker, gut aussehender Mann Anfang 30, mit einem breiten Lächeln. Er trug ein zerknittertes Sakko über der Jeans, dennoch wirkte alles teuer und edel. Ob es Anzüge gab, die man schon zerknittert kaufte? Die beiden anderen Männer blieben hinter ihm stehen und nickten zum Gruß.
»Und das …?«, fragte der Mann und deutete mit dem Kopf auf Takeo.
»Das ist Takeo. Takeo, das ist Koji.«
Takeo verbeugte sich tief. »Schön, dich kennenzulernen. Yoroshiku onegaishimasu.«
»Yoroshiku«, erwiderte Koji und verbeugte sich lässig. Bei ihm sah einfach alles cool aus, dachte Takeo bewundernd. War er Meis Freund?
»Sag mal«, fragte Mei an Koji gewandt, »hast du nicht einen Job für meinen Freund?«
»Hmmm … er sieht ja aus, als ob er in einer Bank arbeiten möchte.« Die beiden Männer hinter ihm, die sich nicht vorgestellt hatten, lachten.
»Wenn Takeo-kun aber keine Angst hat, sich die Hände schmutzig zu machen, hätte ich etwas.« Prüfend sah er Takeo an. Der versuchte, so kräftig und zupackend wie möglich auszusehen.
»Hai!«
Koji lachte herzhaft. »Das ist okay. Kennst du den Biccamera Shop vor dem Bahnhof?«
Takeo nickte.
»Komm einfach heute um 21 Uhr an den Seiteneingang. Aber sei pünktlich, ich bürge für dich.«
»Hai!«
Die andere Verkäuferin des Convenience Stores kam ums Eck und sah zu Mei. Mei entschuldigte sich und ging.
»Denk auch über mein Angebot nach, Mei-chan!«, rief ihr Koji hinterher. Mei winkte, ohne sich umzudrehen.
Koji wandte sich wieder an Takeo: »21 Uhr. Pünktlich. Sag, Koji schickt dich. Und komm ohne den Anzug, ja?«
»Hai, verstanden.« Takeo verbeugte sich, »vielen Dank!«