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Freude

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Als sich ein Artist nach dem anderen vor dem zahlreichen Publikum verbeugte, tobte die Menge. Die Menschen klatschten Beifall. Sie jubelten und es erschallten laute Rufe nach einer Zugabe. Die bunten, hellen Lichter und all die lustigen und waghalsigen Künstler strahlten eine solche Magie aus, dass den kleinen Jungen, der aus dem Staunen nicht mehr herauskam, wie ein Gefangener seiner eigenen Fantasie wirken ließ.

Mit aufgerissenen, lachenden und weinenden Augen hatte er wie hypnotisiert die Vorstellung verfolgt. Die exotischen, schönen Tiere, die wild und gefährlich durch die Manege trabten und nur mit einem lässigen Wink gezähmt wurden. Die unheimlichen Feuerspucker, die verwegenen Trapezkünstlerinnen und die lächerlich witzigen Clowns. Aber das Aufregendste waren die Farben und das Glitzern der Kleider. Wie in einem Märchen, das der Junge immer vor dem Schlafengehen vorgelesen bekam.

Das hier war zum Glück nicht bloß irgendeine Geschichte. Es war elektrisierende Realität und er fühlte, als hätte er noch nie etwas so Wunderbares erleben dürfen. Er schloss die Augen, um noch einmal die Vorführung Revue geschehen zu lassen, aus Angst alles zu vergessen, sobald er aus dem gigantischen Zelt heraustrat, um jenen zauberhaften Ort für immer verlassen zu müssen. Andrej, der mit diesen riesigen Muskeln sicherlich der stärkste Mann der Welt sein musste. Sogar stärker als Papa. Oder die schöne Sophia. Die viel schöner als seine Kindergartentante Nadine war und die mit ihrem Pferd bestimmt hundertmal die Arena umrundete und die allerlei akrobatische Kunststücke vollführte! Auf einem Pferd! Unglaublich!

Am besten hatte ihm aber der furchtlose Dompteur Nicolai mit seinen Löwen gefallen. Nur mit einem Stock in der Hand befahl er den großen Katzen Männchen zu machen oder sich auf dem Boden rollen. Als ob er ihre geheime Sprache sprechen könnte. Ihr lautes Brüllen ließ selbst die fröhlichsten Zuschauer innehalten und mit weit geöffnetem Mund ungläubig das Geschehen verfolgen. Das gefiel ihm sehr. Vor allem, dass sogar die Erwachsenen, die sonst über die wichtigen Dinge Bescheid wussten, kerzengerade und mit erstaunt, überraschten Mienen sprachlos waren.

Nun, da die Leute aufstanden und nochmal begeistert Beifall klatschten, ahnte das Kind bereits, dass das Spektakel endgültig geendet hatte. Und als Papa seine Hand sanft auf die kleine Schulter des Jungen legte, wusste dieser, dass es an der Zeit war, das Zirkuszelt zu verlassen. Mit schmollendem Mund und lachenden Augen, die noch immer vor ungläubiger Freude weit aufgeschlagen waren, gehorchte er der freundlichen Aufforderung. Mama, der es nicht entging, dass ihr Sohn am liebsten hier bei diesen skurrilen Leuten geblieben wäre, wuschelte ihm spielerisch durch das Haar. »Es werden sicherlich noch viele Zirkusse herkommen. Na komm, vielleicht gehen wir noch ein Eis essen«, flüsterte sie ihm augenzwinkernd ins Ohr. Welches Kind hört das nicht gerne?

Breit grinsend schob er sich an den anderen großen Menschen vorbei. Das Tolle am Kindsein war, dass die Erwachsenen einen durchschlüpfen ließen. Drängeln war das Privileg der Kindheit. Er wusste nicht, weshalb er sich diebisch über die Vorstellung amüsierte, vor seinen Eltern den Ausgang zu erreichen. Als Erster! Als er das Zelt verließ, hing ihm immer noch der Geruch von den Tieren in der Nase. Das fand er wunderbar. Heute Nacht würde er von großartigen Abenteuern träumen, von gefährlichen Raubkatzen und einem großen Zirkus. Seinem Zirkus!

Vor dem Zelt standen lange, mit verschieden Farben bemalte Anhänger und Lastwagen, die sich dank dem wolkenlosen Himmel in der Sonne spiegelten. Alles, aber einfach nur alles, an diesem Ort war zauberhaft. Neben den Wagen befand sich, ein wenig versteckt, ein kleiner Streichelzoo mit Ziegen und Lämmern. Glücklich und ein bisschen stolz darüber, ihn entdeckt zu haben, wollte er schon darauf zu rennen. Andere Kinder standen bereits mit ihren Eltern und gaben den Tieren etwas von dem Futter, das man sich aus einem Automaten vor dem Gatter holen konnte.

»Hey, junger Mann! Auf gehts, wir wollen los!«, rief sein Vater belustigt von der Begeisterung des kleinen Kindes. »Sonst haben wir keine Zeit mehr für ein Eis!« Widerwillig wandte sich der Junge von den Tieren ab und trabte, wohl ein Pferd imitierend, zu seinen Eltern. »Also, ich hätte gerne Pistazie und Vanille«, entschied Mama, während sie ihr Kind an die Hand nahm. »Was möchtest du, Thomas?«

Die Nacht war bereits hereingebrochen, als ich fröstelnd auf dem harten und kalten Boden zu mir kam. Ein scharfer Wind fegte über die rissige Straße und die einzigen Lichtquellen gingen von dem matten Schein der von Rost überzogenen Straßenlaternen aus. Mühsam zog ich mich auf die Beine und streckte meine steifen Glieder, die unter der ungewollten Auszeit auf dem Asphalt ziemlich gelitten hatten.

Dieser Traum war seltsam. Unfassbar real und tröstend. Ich hatte von einem Jungen geträumt und einem Zirkus und ich erinnerte mich, als ob ich derjenige gewesen wäre, der jenen aufregenden Tag durchlebt hatte. Thomas. Konnte das etwa ich sein? Der Name kam mir seltsam vertraut vor. Mit dem Geschehnis in diesem Zelt - damit verstand ich jetzt etwas anzufangen. Ich erinnerte mich. Doch war es eine alte Erinnerung oder nur die an den Traum? Niemand darin kam mir bekannt vor.

Das verwunderte aufgrund meiner Amnesie auch nicht. Auf jeden Fall wusste ich, dass dies kein Zufall sein konnte. Wenigstens etwas, worüber ich mir im Klaren war. Ich wandte mich nochmal der Ladentür zu. »Geschlossen«. Im Gegensatz zu dem blumigen »Geöffnet«, wirkte die Aufmachung schlicht. Nahezu trocken und zynisch.

Das war auf eine irrsinnige Art enttäuschend. Wie dämlich angesichts dessen, was ich darin erleiden musste oder fast erlitten hätte. Ein Teil von mir sehnte sich nach ihr. Was keinesfalls als weiser Gedankengang zu kategorisieren gewesen wäre. Schließlich hatte sie mich vollkommen abgelehnt. Vielleicht zu Recht. Irgendwoher musste sie meine Identität kennen, obgleich sie sich anscheinend nicht zu den größten Fans meiner Person zählte. Was aber wenn doch? Wenn das nun die größtmögliche Sympathie war, die mir hier entgegenschlagen würde?

Die Gedanken bekamen abermals einen finsteren Anstrich. Indessen verdüsterten sich nicht nur jene besagten Eingebungen. Der Wind wurde stärker und es dauerte nur kurze Zeit, bis das Wetter einen Sturm gebären würde. Zügig machte ich mich auf den Heimweg, obwohl dieses heillose Durcheinander kaum dem Wort »Heim« entsprach. Naja, so hatte ich wenigstens einen Ausgangspunkt. In den Gebäuden, die die Straße von beiden Seiten umzingelten, konnte ich nach wie vor nicht irgendein Leben ausmachen. In keinem Fenster brannte Licht und bis auf das immer lauter werdende Heulen des Windes war die Nacht grabesstill.

Blätter wurden durch die Allee geblasen und die angesengten Bäume ächzten widerspenstig angesichts der aufkommenden Naturgewalt. Als auch noch die ersten Regentropfen von dieser dunkel, klaffenden Wunde des Himmels, herabfielen, beschleunigte ich die hastigen Schritte zu einem Trab. Der Sturm peitschte mir den Regen ins Gesicht und meine Beine schmerzten bei jeder Bewegung.

Je mehr ich der Wohnung näher kam, desto stärker wurde er. Bald musste ich mich gegen diese gnadenlose Macht geradezu stemmen und kam nur noch schleppend vorwärts. Dem Sturm entgegen stehend entflammte ein ungleicher Kampf zwischen mir und dem Unwetter auf. Kleinere Äste der Straßenbäume knackten von den massiveren stabileren ab und wurden gnadenlos gegen meinen Körper geschleudert. Fensterläden schlugen geräuschvoll an die Fassaden und manche lösten sich sogar aus ihren Angeln. Der laute Knall eines Donners erschütterte mich bis ins Mark und meine Magengrube vollführte einen Sprung.

Die Strecke kam mir unendlich vor. Ein schmaler Zweig traf mich unterhalb des Auges und ließ einen brennenden Schmerz zurück. Kurze Zeit später kam ich nur noch schleppend voran. Ich hielt meine Arme, die bereits vor Anstrengung zitterten, schützend vor das geschundene Gesicht. Mir ging die Kraft aus und obgleich ich vor Erschöpfung keuchte, kämpfte ich gegen den Drang eine Laterne zu umklammern, um meinen Muskeln eine kleine Pause zu gönnen. Denn das hätte nämlich böse enden können. Metallenes Quietschen hielt mich glücklicherweise davon ab. Fünfzig Meter vor mir wurde eine, vom Rost zerfressene Straßenlampe umgerissen und schlug in ein Auto. Dessen schrille Alarmanlage fügte sich zu dem ohrenbetäubenden Lärm des zerstörerischen Sturmes hinzu.

Ein großer, dicker Ast flog mir direkt entgegen. Reflexartig ließ ich mich auf den harten Boden fallen, um ihm auszuweichen und wurde ein paar Meter nach hinten geschleudert. Als meine Finger versuchten sich an den Löchern eines Gullys festzuklammern, riss ich mir die Hände an kantigem Splitt auf. Unweit von mir entfernt, scharrte eine ehemalige Ampel über die Pflastersteine. Sie blinkte rot. In dem ich meinen rechten Fuß in die Öffnung eines Abwasserkanals verkeilte, gelang es mir einen Halt herzustellen. Für einen Augenblick mochte das genügen, aber lange konnte ich das nicht durchhalten. Während ich vor Erschöpfung nur daran dachte, zu kapitulieren, schien der Sturm immer mehr an Kraft zu gewinnen. Er drohte mich endgültig zum Spielball seiner schieren Macht zu degradieren.

Auf Knien kroch ich voran, das Gesicht schützend, da sich allerlei aufgewirbelter Dreck in meinen trockenen und pochenden Augen sammelte. Also versuchte ich, nahezu blind, mich weiter durchzukämpfen. Selbst das Blinzeln brannte qualvoll. Waren es anfangs nur ein paar Zweige und Äste, die mir gegen den Kopf und die Schulter schlugen, so geschah dies von nun an permanent. Im Sekundentakt schlossen sich mehr Fahrzeuge dem Sirenengeheul an. Überall krachten Laternen, Bäume, Planken und jedweder andere Schrott, den das Unwetter zu fassen bekam, in Autos oder prallten von den Hauswänden ab.

Ein Wettstreit zwischen dem Geheul des Sturms und den Alarmanlagen entbrach ohne Rücksichtnahme auf mein Gehör. Mit tauben Fingerkuppen und blutigen Knien schob ich mich weiter. Irgendetwas knallte gegen meine linke Flanke und so kamen auch noch vor Schmerz pochende Rippen hinzu. »Vorwärts mach schon. Reiß dich zusammen!«, so betete ich verschiedene Durchhalteparolen herunter. Jede Faser meines Körpers tat mir unendlich weh. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich robbte, kroch und taumelte. Irgendwann erblickte ich das heruntergekommene Kino. Schnell, rein da! Ich wähnte mich in Sicherheit.

Der kleine Eingangsbereich wurde von zwei dicken Wänden umgeben. Erleichtert über diesen Umstand richtete ich mich auf meine wackligen Füße auf und hinkte mit pochenden Knien in Richtung Eingangstür. Ein Plakat prangte hinter einer Glasabdeckung neben der Tür. »Erstvorführung von Memoria«. Film frei ab 19 Jahren. Verdutzt betrachtete ich das schwere Schloss, das mit Hilfe einer dicken Kette um die Eingangstür befestigt worden war. Ich hasste es hier. Mindestalter 19 Jahre? Was für ein Unsinn. Entweder war ein Angestellter besoffen gewesen oder es handelte sich wiedermal um irgendeine Skurrilität, die diesem Ort natürlich gut anstehen würde. »So eine Scheiße verdammt nochmal!« Ich schlug mit tauber Faust gegen die überraschend stabile Tür, nur um festzustellen, dass Taubheit reine Definitionssache war. »Mist!«, zischte ich vor Schmerzen.

Resigniert schaute ich auf meine pochende Hand. Ein mittlerweile wohlbekanntes Gefühl breitete sich in mir aus. Verzweiflung. Ich wollte unter keinen Umständen zurück in diesen Strudel des Wahnsinns und schaute entmutigt auf die wildgewordene Straße. Wieder einmal knackte der Sturm einen Baum spielerisch um, als würde es sich um ein Mikadostäbchen handeln. Von diesem Anblick bestärkt, kauerte ich mich auf den Boden und wartete, in der Hoffnung, das Unwetter würde bald nachlassen. Zu meinem Leidwesen geschah nichts dergleichen. Ich spürte, wie mir die Reserven schwanden. Körperlich, wie auch seelisch. Doch hierbleiben konnte ich auf keinen Fall. »Weit kanns nicht mehr sein, also raff dich!«, wollte ich mir zuversichtlich einreden. Entgegen meiner Absicht hörte es sich äußerst weinerlich an. Soviel zur Motivation die dringend notwendig gewesen wäre.

Das Wetter machte keineswegs den Eindruck bald Erbarmen zu zeigen, also blieb mir nichts anderes übrig, wiedermal als Zielscheibe des Windes zu dienen. Schnell atmete ich mehrmals tief durch, schlug ermutigend auf die Wand und begab mich erneut auf allen Vieren kriechend auf den Gehweg. Inzwischen hatte ich Mühe den Kopf geduckt zuhalten. Der Sturm war bereits so heftig, dass ich die gesamte Nackenmuskulatur einsetzen musste, nur damit mein Schädel nicht nach hinten gerissen wurde. Zu allem Überfluss tappte ich mit der linken Hand in eine Scherbe. Ich zuckte vor Schreck auf und mir schlug ein klobiges Stück Holz quer über das Gesicht. Ein warmes und pochendes Gefühl durchströmte meine Lippen und ich schmeckte den metallenen Geschmack von Blut. Ich wollte nicht mehr. Es konnte keinen Ausweg geben, diese Einsicht drohte sich wie ein Schatten über mich zu legen.

Tatsächlich begann ich, den Sinn weiter zu kämpfen infrage zu stellen. Drauf und dran, liegen zu bleiben, entdeckte ich ein hell scheinendes Fenster. Es stammte von dem mehrstöckigen Haus, in dem ich heute Morgen aufgewacht bin. Ein wenig Zuversicht schoss durch mich und gab mir neue Kraft. Hinter der Fensterverglasung konnte ich einen Schatten ausmachen. Ein Schemen, nicht mehr. Der frisch aufgekeimte Mut wich nackter Furcht. Eine dunkle Gestalt, die in meine Richtung blickte. Ich fühlte eine paralysierende Kraft von mir Besitz ergreifen. Was sollte das wieder für ein Ding sein? Es stand einfach nur da und schaute auf mich herab.

Eine gefühlte Ewigkeit sahen wir uns an. Ich konnte nur die Umrisse der Gestalt erkennen und nur raten, wo Augen und das restliche Gesicht saßen. Ich war nicht so naiv zu glauben, dass es sich um einen Freund handeln würde, aber hier draußen zu bleiben schien ebenso wenig eine Option zu sein. Der Mut der Verzweiflung gab mir also einen ordentlichen Tritt in den Hintern. Ich fasste mir ein Herz, rappelte mich auf und hinkte so schnell wie nur irgend möglich über die Straße, öffnete die Haustür und war in Sicherheit. Vorerst. Das Geländer war immer noch mit Frost überzogen. In Richtung der vereisten Kellertür war leises vereinzeltes Tropfen zu hören. Ich wurde daraus einfach nicht schlau. »Poch, bumm«, dröhnte es, als ich mich die Treppe mit hinkendem Bein emporzog.

Das kalte Geländer und das rhythmische Schlagen, gepaart mit der kühlen Aura des Treppenhauses, hatte etwas Sakrales inne. Eine Art Heiligtum umringt von verrücktem Schrecken oder vielleicht ein bereits entweihtes Palladium. Mir schossen so viele Fragen durch den Kopf. Wollte ich überhaupt in die Wohnung? Wollte ich wirklich diesem bizarren Schatten begegnen? Aber wohin sonst hätte ich gehen sollen? Schlimmer als der durchgedrehte Schlachter konnte es sicherlich kaum noch werden und doch durchzog mich eine tiefwirkende Angst. Ich nahm den Schlüssel in die Hand und verharrte einen Augenblick. Ich musste da rein. Alles war miteinander verbunden. So schien es offenbar. Der Laden, der Traum, das Unwetter, die Wohnung und die unkenntlichen Bilder an der Wand.

Hatte die schöne Verkäuferin nicht jene Fotos erwähnt und deren Wichtigkeit betont? Ich hatte keine Wahl, das sagte mir jedenfalls ein starkes Gefühl. So rational, wie diese Situation es mir erlaubte, ging ich meine Optionen durch. Entweder musste ich mich dem Schemen stellen oder erfrieren oder eben auf der Straße erschlagen werden. So gesehen fiel mir die Entscheidung nicht sonderlich schwer. Zitternd steckte ich den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür. Ich musste zusammenzucken, als sie sich laut ächzend auftat. »Idiot, das hatte sie heute Morgen auch schon getan«, flüsterte ich mir tadelnd zu. Zaghaft und mit rasendem Herz und stockendem Atem, lugte ich hinter der Türe hervor. Nichts. »Ist hier jemand?« Rief ich mit brüchiger Stimme in den Raum hinein und erhielt als Antwort gähnende Stille. »Hallo?«

Im Wohnzimmer brannte Licht und kurz hielt ich inne. »Logisch du Depp, hast du gerade eben noch selbst gesehen«, ermahnte ich mich streng. Ich trat ein. Langsam versteht sich. Mein Herz schlug so heftig, dass ich fast fürchtete, es würde mir in der Brust zerspringen. »Das hast du dir nur eingebildet. Bitte. Bitte hab dir das nur eingebildet«. Zögernd ging ich weiter. Das Wohnzimmer befand sich nur zwei, drei Schritte entfernt und ich wünschte mir, es wäre meilenweit weg.

Ich schlich etwas näher und suchte hinter der Wand Deckung. Wenigstens gab es keine Tür. Zum Glück. Nie hätte ich mich getraut, sie zu öffnen. Mit dem Rücken an die Wand gepresst, lugte ich nach rechts, verdrängte die Furcht und wagte einen kurzen Blick in das Zimmer. Wieder nichts. Das Licht brannte zwar, aber von der Figur war weit und breit keine Spur zu sehen. Dankbar atmete ich erleichtert aus und versuchte meine zitternden Glieder zu beruhigen. Ich schüttelte abschätzig den Kopf. »Wie bescheuert bist du eigentlich?«

Und gerade, als ich mich umdrehen wollte, tauchte dieses Ding flackernd vor mir auf! Es rauschte unangenehm. Nicht laut und dennoch beißend und in hoher Frequenz, durch Mark und Bein. Erschrocken schrie ich auf und bekam es erneut mit der Angst zu tun. Meine Brust drohte vor dem außer Kontrolle geratenen Herzschlag zu explodieren. Vor Furcht verwandelten sich meine Glieder in Blei. Ich war kaum mehr fähig einen Schritt zu machen. Hätte wahrscheinlich eh keinen Unterschied gemacht. Es kam näher und doch lief es nicht, bewegte sich nicht. Es tauchte aber immer näher vor mir auf. Und die Frequenz wurde stetig höher und schmerzhafter. Als wollte es diese Qual tief in mir manifestieren. Sie in mir eingraben, so tief, dass sie mein Inneres heraus fräsen könnte. Der Schatten war nur noch eine Handbreit von mir entfernt. Und das, was man mit viel Fantasie ein Gesicht hätte nennen können, stierte mit einem großen leeren Nichts in meine Seele. Es neigte seinen Kopf ein wenig zur Seite und reckte sich noch etwas näher an mich heran. »Willkoooooooommmmmeeeeennnnn Thoooooomaaaaaaaaas«, röhrte es, mit einer tiefen, verlangsamten Stimme, die Ähnlichkeit mit einem Verzerrer aufwies. »Willkommen Thomas«, in normalem Tempo und »Hallo Thomas«, in Zeitraffer. Es flackerte immer schneller und schneller. Und dann ... War es weg.

Einfach weg. Verschwunden, als sei es niemals da gewesen. Geschockt ließ ich mich auf den Boden fallen, umfasste hilflos die Schultern. Tränen rannen mir über verschorften Striemen meiner Wangen. Mal wieder. Wie schon so oft an diesem beschissenen Tag. Und nach jenem schwachen Moment loderte blanke Wut in mir auf. »Wo bin ich hier«, schrie ich den Flur an. »Was soll das alles?« Wie wildgeworden hämmerte ich mit den zerschundenen Fäusten auf den Boden, solange bis ich kein Gefühl mehr in den Händen hatte. Die Wut aber blieb. »Gute Nacht und träumen Sie etwas Schönes!« Wie von der Tarantel gestochen sprang ich auf, rannte in das Schlafzimmer, nahm den säuselnden Radiowecker und schleuderte ihn an die Wand.

»Halts Maul! Halt endlich dein verficktes Maul!« Nur um mir zu antworten: »Ich besuche Sie morgen wieder, ja?« Egal wie oft ich gegen dieses dumme Ding trat, es wollte nicht kaputt gehen. Ich keuchte vor Erschöpfung. Ich fühlte mich zermürbt und ausgelaugt. Das Bett lockte meinen zerschundenen Körper und ohne die, von den Ereignissen mitgenommenen Kleider von dem zerfurchten Leib abzustreifen, ließ ich mich auf die federnde Matratze fallen. Ein Scheißtag war das und ebenso Beschissene sollten noch folgen. Wenigstens kannte ich nun meinen Namen. Thomas.

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