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Mit der Wucht eines Boxhandschuhs
ОглавлениеFuck! Das darf ja wohl nicht wahr sein. Gerade will ich meine Jeans hochziehen und nach einer gefühlten Ewigkeit die Praxis meines Gynäkologen verlassen – und dann das.
»Ich habe Ihren Befund gefaxt bekommen und konnte es selbst kaum glauben«, höre ich meinen Doc vor sich hin brummeln, während ich hinter dem weißen Vorhang der Behandlungskabine stehe und die widerspenstigen Knöpfe meiner Hose schlagartig zur unwichtigsten Sache der Welt werden. Was bitte meint er jetzt damit? Befund gefaxt bekommen. Warum? Kommen die Dinger normalerweise nicht mit der Post? Ich ahne Schlimmes.
»Myriam, Sie hatten da unten tatsächlich ein Karzinom. SIE HABEN KREBS!«
Mein Körper beginnt zu vibrieren. Ich zittere. Vom Kopf bis zu den Füßen. Kalter Schweiß erobert jede verfügbare Pore meiner Haut, fast so wie ein anfangs winziger Riss eines zugefrorenen Sees, der größer und größer wird, um letztlich mit voller Wucht die gläsern erscheinende Eisschicht zum Bersten zu bringen. Ich friere. Alles um mich herum dreht sich wie die knallrote Signallampe in der Schutzzone eines Atomkraftwerkes, die in Einklang mit der laut jaulenden Sirene eine unvorstellbare Katastrophe ankündigt.
Unvorstellbar, das trifft es wohl am besten. Sofern es überhaupt ein passendes Wort dafür gibt, um auch nur ansatzweise zu beschreiben, was da gerade über mich hereinbricht. Dabei hatte ich mir diesen Tag doch ein klitzekleines bisschen anders vorgestellt. Genau richtig, um mir diese verflixten Fäden ziehen zu lassen, die mich unendlich gepiesackt und einfach nur genervt hatten. Klar, es war ja auch gerade erst sechs Tage nach der OP, und ich wollte einfach nur eines: endlich wieder ohne das Ding da unten mein Leben genießen.
Und nun sitze ich da mit einem Arzt, der mindestens so geschockt und ratlos scheint wie ich. Fassungslos starrt er auf den Befund, nimmt seinen schweren Bonzenkugelschreiber und beginnt, auf meinem Schicksalspapier herumzukritzeln. Ich erkenne im tintenblauen Linienwirrwarr eine Vulva, an der er mir genau zeigt, wo der Tumor gesessen hat und wie viel sie weggeschnitten haben. Er erklärt mir, die Geschwulst sei in sano entfernt worden, was bedeutet, dass die Schnittstellen tumorfrei sind.
Schön und gut, nur reicht das leider nicht, denn um komplett auf Nummer sicher gehen zu können, muss rundherum eigentlich ein Zentimeter mehr entfernt werden. Zu dumm, dass niemand, aber auch wirklich niemand bei der OP damit gerechnet hat, dass ich Vulvakrebs habe, eigentlich bin ich mit meinen 25 Jahren ja auch noch viel zu jung dafür.
Ich schweife gedanklich immer weiter ab. Die sonore Stimme meines Arztes nehme ich nur noch wie durch Watte wahr. Ich kann mich nicht dagegen wehren, ich will es auch gar nicht.
Kurz darauf sitze ich in meinem Auto. Wie ich aus der Praxis, das Treppenhaus hinunter und auf die Straße gekommen bin, weiß ich nicht mehr. Apathisch starre ich das Lenkrad an, in den Ohren immer wieder diese Worte: »Myriam, Sie haben Krebs. Sie haben Krebs, Sie haben Krebs …« Verdammt noch mal, ICH HABE KREBS!
Ich spüre, wie mir die Energie aus meinem kompletten Körper in die Arme schießt, als sich meine Hände wie von allein zu Fäusten ballen und ich auf mein Lenkrad einprügele. Wäre es die Magengegend eines Menschen gewesen, würde der nun zusammengekauert am Boden liegen und jämmerlich darum flehen, dass ich von ihm ablasse. Mein Auto schreit auf, die Hupe zumindest, immer und immer wieder, mit jedem Schlag. Ich weine und schreie fürchterlich. Die Wut lässt mich zur Furie werden, macht es mir unmöglich, irgendetwas zu denken, und lässt mich einfach nur handeln. Ich will diesen verdammten Krebs plattmachen. Schlagen, einfach aus meinem Leben prügeln. Alles um mich herum scheint plötzlich wie ausgeblendet, einfach nur noch düster und matt.
Es dauert eine Weile, bis ich mich beruhige und begreife, was gerade passiert ist. Ich muss jetzt mit jemandem reden, sonst flippe ich richtig aus.
Ich rufe Robin an, nichts anderes kommt mir in den Sinn, auch wenn wir eigentlich mittlerweile getrennt sind, getrennt auf Probe zumindest. Zitternd greife ich zum Handy und drücke mich bis zu seiner Nummer durchs Telefonbuch meines Nokias. Es klingelt, er geht ran, und ich sage ohne große Umschweife: »Robin, ich habe Krebs!«
Das brutale Wort hat meinen Mund noch nicht ganz verlassen, da schießen mir auch schon die Tränen in die Augen. Ich breche komplett zusammen, innerlich zumindest. Was mein Körper macht, blende ich aus, irgendwie. Mir bleibt nichts anderes übrig, als mich einfach diesen gewaltigen, mir bis dahin gänzlich unbekannten Emotionen hinzugeben. Es ist grausam, einfach nur grausam. Ich habe Krebs!
Robins knapper Kommentar: »Das habe ich mir schon fast gedacht.«
Mein Gehirn switcht in den Notfallmodus, nimmt sich eine Auszeit und will ganz offenbar nur noch das mitbekommen, was es zwingend wissen muss. Was Robin vielleicht noch an guten Ratschlägen oder aufmunternden Worten für mich bereithält, prallt kurzerhand an mir ab. Ich hätte mein Handy eigentlich auch aus dem Fenster werfen können, die Worte meines Ex können ohnehin nicht mehr bis zu mir durchdringen.
Ich will nur noch weg, heim zu meiner Familie. Zu meinem Kleinen, mit dem ich doch noch so viele Jahre verbringen wollte, der sein ganzes Leben noch vor sich hat. Eigentlich müsste ich zur Arbeit, aber das geht mir gerade so was von am Arsch vorbei. Ich brauche jetzt vertraute Gesichter, nichts anderes, und so rollt mein kleiner Corsa dann auch irgendwie nach Hause. Ich nehme den Befund, dieses schreckliche gelbe Blatt Papier, steige die Treppe rauf in den ersten Stock, wo alle versammelt in der Küche sitzen und – nichts Schlimmes ahnend – beim Frühstück sind.
Basti, der gerade einmal eineinhalb Jahre alt ist, sitzt wie immer in seinem Hochstuhl, mampft begierig seinen Zwieback und ist über und über mit Krümeln eingesaut, bis in die Haare. Als ich in seine großen Kulleraugen blicke, lächelt mich der Kleine an und streckt mir fröhlich seine Ärmchen entgegen. Da ist es um mich geschehen. Ich fange hemmungslos an zu heulen. Meine Gefühle übermannen mich, und Robins Mutter Gerda, meine Fast-Schwiegermutter, weiß gar nicht, wie ihr geschieht. Sie wusste zwar von meiner Operation, aber nicht genau, wo ich an diesem Morgen gewesen war.
»Myri, was ist denn mit dir los?«
Ich kann es nicht erklären und drücke ihr kurzum den Befund in die Hand. Es dauert nur Sekunden, und ihre Gesichtsfarbe wechselt chamäleonartig von kreidebleich zu tomatenrot. In einem Comic wären jetzt um ihren Kopf herum Gedankenblasen voller Fragezeichen aufgepoppt. Ich kann sie förmlich sehen, während Gerda mit weinerlicher Stimme beginnt zu stammeln: »Und jetzt?«
Und jetzt? Blöde Frage, das wüsste ich auch gern. Ich tappe ja selbst völlig im Dunkeln, und es ist genau dieses Gefühl der Ohnmacht, das mich schier wahnsinnig werden lässt. Was weiß ich, was auf mich zukommt? Was passiert jetzt mit mir? Werde ich Basti noch aufwachsen sehen oder muss ich schon bald die Radieschen von unten anknabbern? Tausend Fragen schwirren mir durch den Kopf, doch die bespreche ich lieber mit meiner Mama am Telefon.
»Kind, das wird schon nicht so schlimm sein«, höre ich sie mit leiser und wahrscheinlich aus ihrer Sicht beruhigend gemeinter Stimme sagen.
What the fuck? Hat sie nicht verstanden, was ich ihr da gerade gesagt habe?
»Mom, ich habe Krebs!«
Mit ihrer Larifari-Reaktion kann und will ich gerade mal so gar nichts anfangen und bin froh, als ich sie wieder los bin und mich bei der Arbeit für den Rest der Woche krankmelden kann. Irgendwie muss ich versuchen, runterzukommen. Mir ist einfach alles nur noch too much.
Zu Hause verkrieche ich mich und denke nach. Dabei wird mir klar, dass es wohl kaum Gleichgültigkeit ist, die meine Mutter so reagieren lässt. Es ist Angst. Angst, die eigene Tochter zu verlieren. Ja klar, Mom empfindet einfach schreckliche Furcht – genau wie ich.
Glücklicherweise ist da aber auch noch meine Oma, mein absoluter Goldschatz. Sie war in meinem Leben immer für mich da, wenn ich sie gebraucht habe, ob bei kleinen oder großen Wehwehchen, bei Liebeskummer oder Gott weiß was, mit ihrer ruhigen, besonnenen Art hat sie mir stets ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit gegeben, und so wird es auch jetzt sein, da bin ich mir absolut sicher.
Ich greife zum Telefon, wähle ihre Nummer, während mir direkt die Tränen in die Augen schießen. Als ich am anderen Ende der Leitung ihre Stimme höre, ist es vorbei. Ich schluchze nur noch vor mich hin, kann kein vernünftiges Wort, geschweige denn einen ganzen Satz rausbringen.
»Myri, bist du das? Was ist denn los, Kind?«
Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis ich mich fange und meiner Oma die Schreckensnachricht überbringe.
»Oma, ich habe Krebs!«
Sie fackelt nicht lange, will auch gar keine weiteren Details wissen, sondern sagt genau das, was ich in dieser Situation hören will.
»Myriam, versuch, dich zu beruhigen. Ich weiß, das ist leichter gesagt als getan. Ich rufe mir jetzt ein Taxi und bin gleich bei dir.«
Glücklicherweise wohnt sie nicht allzu weit entfernt, sodass ich sie kurz darauf in die Arme schließen kann. Wir müssen beide weinen, doch Oma gelingt es sehr schnell, mich aufzubauen. Ich weiß nicht, wie sie das immer wieder schafft, aber das ist mir gerade auch völlig egal, Hauptsache, sie schafft es. Stundenlang reden wir miteinander, was mir einfach nur guttut. Oma kennt mich am besten und weiß, wie sie mich beruhigen und aufbauen kann. Sie macht mir Mut. Mut, mich der nun zweifelsohne schwierigsten Zeit meines Lebens zu stellen. Ich weiß, dass sie mich nicht allein lassen wird, und fühle mich auch schon viel besser, als sie abends wieder ins Taxi steigt und mir zum Abschied noch mal die einzig richtigen Worte zuruft: »Myriam, gemeinsam schaffen wir das!«
Am nächsten Tag bin ich dann tatsächlich wieder halbwegs fähig, mich dem Monster zu stellen, das sich bei mir eingenistet hat und auf den hässlichen Namen Krebs hört. Gemeinsam mit meiner Mutter gehe ich noch einmal zu meinem alten Frauenarzt. Genau die richtige Entscheidung, denn der schafft es zumindest halbwegs, mich ein klein wenig zu beruhigen. Allerdings möchte er auch, dass ich bei der gynäkologischen Onkologie vorstellig werde, um möglichst fix eine weiterführende Untersuchung anzustreben. Ich weiß nicht, warum, aber Worte wie »schnellstmöglich« haben mich nie wirklich gestresst. Jetzt schon, und wie!
Dennoch schaffe ich es wie üblich nicht, direkt einen Termin zu vereinbaren. Vielmehr übe ich mich im Verdrängen, und darin bin ich wirklich gut. Decke über den Kopf und bloß niemanden an mich heranlassen. Mir geht’s ja gut, zumindest fühle ich mich körperlich topfit. Müdigkeit? So etwas kenne ich nicht. Und das fiese Ding da unten? Das ist ja raus, warum also aufregen?
An Arbeit ist trotz alldem nicht zu denken. Zu viel schwirrt mir durch den Kopf. Erst recht, seit mir eine besorgte Arbeitskollegin, eine Namen tanzende Anthroposophin, am Telefon in den Kopf gesetzt hat, dass meine gesundheitliche Situation als Botschaft zu verstehen sei, ihr Keim ganz sicher in irgendwelchen unverarbeiteten Kindheits- oder Jugenderlebnissen stecke. Mit dem, was sie sagte, lieferte sie mir den richtigen Stoff für unendlich viele schlaflose Nächte. Ob da etwas dran ist?
Na ja, tatsächlich eignet sich mein Leben bislang nicht unbedingt als Vorlage für den nächsten Rosamunde-Pilcher-Schmachtfetzen. Turbulent, das beschreibt es vielleicht am besten, schicksalhaft noch besser. Aufgewachsen in Merced, Kalifornien (USA), habe ich schon als kleines Mädchen so manche Höhen, aber noch viel, viel mehr Tiefen erlebt. Nach dem Selbstmord meines Vaters lebte ich mit meiner deutschen Mutter und meinem amerikanischen Stiefvater in einer kleinen Stadt bei Merced. Nach außen hin waren wir eine ganz normale bürgerliche Kleinfamilie, die ihren »American way of life« lebte. Tatsächlich aber wuchs ich in einer Welt auf, die aus Schmerz und Enttäuschung gebaut war und jederzeit einzustürzen drohte. Mein einziger Halt: Jessica, meine beste Freundin. Wir verbrachten fast jeden Tag miteinander, machten all das, was junge Mädchen eben gemeinsam anstellen. Für mich aber war es nicht nur eine normale Freundschaft, sondern ein kurzzeitiges Entfliehen aus der schrecklichen Realität meines Elternhauses, das geprägt war von Gewalt und Grausamkeit.
Nach der Trennung meiner Eltern zogen meine Mutter, mein kleiner Bruder und ich nach Deutschland. Das weit entfernte und mir so unendlich fremde Land sollte mir, anders als von meiner Mutter geplant, jedoch kein besseres Leben bescheren. Freunde fand ich erst einmal so gut wie keine und schnell entwickelte ich enorme Abneigungen gegen alles und jeden – auch gegen mich selbst.
Mein Dasein wurde immer mehr zu einer Abfolge zahlloser unglücklicher Ereignisse, die 1996, ich war gerade einmal 19 Jahre alt, in einer schweren Fehlgeburt gipfelten, die mich fast mein Leben gekostet hätte. Vier Jahre später wurde ich wieder schwanger, und mit Sebastian trat mein ganz persönlicher Sonnenschein in mein Leben. Vieles schien sich wie von selbst zum Positiven zu wenden. Bis jetzt!
Je mehr ich in meiner Vergangenheit wühle, desto unruhiger werde ich. Ob meine Kollegin mit ihrer Theorie vielleicht doch recht hat? Egal, jedenfalls spüre ich plötzlich eine derartige Kraft in mir aufsteigen, die ich bis dahin noch nicht von mir kannte. Ich kann selbst fast nicht glauben, was ich in all den Jahren meines noch jungen Lebens bereits erleiden musste. Und noch weniger kann ich glauben, dass ich das alles überstanden habe und immer noch lebe. Da werde ich ja wohl das bisschen Krebs auch noch schaffen. Da ich nicht weiß, was nun alles auf mich zukommen und wie schlimm es noch werden wird, entscheide ich mich schweren Herzens, meinen kleinen Schnubbel Basti eine Zeit lang zu Robin und Oma Gerda zu geben. In dem großen Haus mit dem riesigen Garten wird es ihm gut gehen, da bin ich mir ganz sicher. Er soll auf keinen Fall sehen, wie ich leide. Das würde sein kleines Herzchen sicher nur schlecht verkraften können. Nein, das will ich auf keinen Fall! Ich fühle mich elend. Ist es die richtige Entscheidung, Basti bei seinem Papa und der Oma zu lassen? Er und ich getrennt, das geht doch einfach nicht.
Jessica redet mir gut zu. Ihr habe ich mittlerweile in endlos langen Telefonaten ebenfalls mein Leid geklagt, oh Gott, ich darf gar nicht an die Telefonrechnung denken. Auch sie hält es für das Beste, den Kleinen vor den Erfahrungen der schwierigen Zeit zu schützen, die mir zweifelsohne bevorsteht. Jessi ist es auch, die es schafft, mich von einem Onkologietermin zu überzeugen, den ich kurz darauf wahrnehme. Wenige Tage zuvor hatte mich meine Internistin schon einmal von meiner größten Angst befreit: Ich habe keine Metastasen im Körper – yeah!
Die Freude war allerdings nicht von langer Dauer und schlägt mit Betreten der Onkologie in ein seltsames Gefühl der Beklommenheit um. Es ist ein Trauerspiel. Einfach furchtbar. Ich will sie einfach nicht sehen, all die kranken Menschen, die traurig ihre Infusionsständer durch die endlos langen Krankenhausgänge schieben. Oder die vielen kahlen Köpfe, auf denen vielleicht bis vor Kurzem noch wunderschönes Haar gewachsen ist. Nein, all das will ich mir wirklich nicht antun, wohl aus Angst, selbst bald so zu enden. Nun bin ich aber hier, auch wenn meine Freundin mich regelrecht dazu zwingen musste. Und was soll ich sagen? Es ist genau das Bild, das mir meine Synapsen zuvor so detailgetreu angekündigt hatten, ein Bild des Grauens und unendlicher Traurigkeit.
Es dauert nicht allzu lange, bis ich ins Behandlungszimmer gerufen werde. Gedankenversunken nehme ich es kaum wahr, und meine Mutter, die mich begleitet, muss mich regelrecht zwingen, aufzustehen. Eine junge Ärztin, nur wenig älter als ich, begrüßt mich mit einem netten Lächeln, um mir gleich darauf schonungslos meine Situation vor Augen zu führen – mit der Wucht eines Boxhandschuhs: »Das sieht wirklich nicht gut aus, Frau von M. Als ich Ihren Befund gelesen habe, musste ich mich erst einmal mit einem Kollegen beraten, so etwas habe ich tatsächlich noch nie gesehen, zumindest nicht bei einer Patientin Ihres Alters!«
Bäm! – Das hat gesessen. Ich bin also etwas ganz Besonderes, wusste ich doch schon immer. Bringen aber tut mir das in diesem Fall wohl nichts, denn ich fühle mich schlagartig hundeelend. Wenn nicht einmal eine Frau, die Tag für Tag Krebspatienten behandelt, weiß, was sie mit mir anfangen soll, muss mein Schicksal ja quasi schon besiegelt sein.
Die Medizinerin merkt mir meine Unsicherheit an und macht endlich das, was sämtliche ihrer Kollegen zuvor versäumt haben. Sie erklärt mir en détail, was mit mir los ist, und macht mir klar, was das alles mit mir anstellen kann. Ich werde kleiner und kleiner, während ich ihr so zuhöre. Abklatschmetastasen, oh mein Gott, was bitte ist das?
»Alles, was der Tumor in unmittelbarer Umgebung berührt hat, kann Metastasen bilden«, erklärt sie mir, und ich spüre, wie mir erneut die Angst langsam über den Rücken hinunterkriecht. Ich bin also kontaminiert mit den Viren eines Tumors, obwohl mir fast dreieinhalb Zentimeter Gewebe entfernt worden waren. Super! Krass! Das alles sei derart selten und außergewöhnlich, dass sie sogar das Präparat aus der Pathologie in Mainz angefordert hätten, um es selbst noch einmal zu untersuchen. Sie habe es einfach nicht glauben können, ein Tumor in der Größe und der Stärke bei einer so jungen Frau wie mir!
Dass ihre Botschaften nicht unbedingt wie ein Beruhigungstee auf mich wirken, merkt sie schnell und präsentiert mir deshalb die vermeintliche Superlösung: eine Vulvektomie.
»Das ist ein operativer Eingriff, bei dem teilweise oder vollständig Schamlippen, Klitoris und weitere Teile des äußeren primären Geschlechts der Frau entfernt werden.«
Hab ich da gerade richtig gehört? Schamlippen und Klitoris entfernen? Die hat sie ja wohl nicht mehr alle. Weiß die eigentlich, was sie mir da sagt?
Ich könnte platzen vor Wut und will nur noch eines: raus! Wie von einer Tarantel gestochen springe ich auf, verlasse den Raum und lasse die Ärztin einfach sitzen. Wutschnaubend ziehe ich Mom am Arm Richtung Ausgang und kann einfach nicht glauben, was die mit mir vorhaben. Das wäre ja, als würde man einem Mann Schwanz und Hoden abschneiden. Nein, nicht mit mir. Dann sterbe ich lieber! Wie eine Planierraupe kämpfe ich mich raus ins Freie. Dass mir dabei der eine oder andere Krankenpfleger nur mit einem schnellen Sprung zur Seite ausweichen kann und auch der von mir umgestoßene Speisewagen nicht mehr zu retten ist, ist mir einfach egal. Hauptsache, ich bin raus. Raus aus diesem Elend, raus aus dieser schrecklichen Wahrheit.
Obwohl ich es mehr als deutlich gesagt habe und ich auch in den folgenden Tagen weiter wild entschlossen bin, nie wieder eine Klinik zu betreten, verfolgen mich die Ärzte nahezu rund um die Uhr. Immer und immer wieder klingelt mein Telefon, wovon ich mich lange Zeit nicht beeindrucken lasse. Bis ich die Sekretärin des Chefarztes an der Strippe habe, die mir erklärt, mein Fall sei Thema in der Tumorkonferenz gewesen, und der Herr Professor würde sich sehr freuen, mich zu sehen. Soso, der Herr Professor will mich also sehen. Muss ich denn erst ernsthaft krank werden, um vom Chef persönlich behandelt zu werden? Die können mich mal, denke ich und schalte auf stur.
Schnell kehren jedoch die Fragezeichen in meine Gedanken zurück und werden immer größer. Sollte ich mir vielleicht doch einmal anhören, was der gute Mann zu sagen hat? Immerhin ist er ja kein Unbekannter und ein ausgewiesener Experte auf seinem Gebiet, hat über Plattenepithelkarzinome an der Vulva sogar eine Studie geschrieben. Irgendwie ja doch spannend, denke ich mir, berate mich kurz telefonisch mit meiner Omi und Jessica, um mich wenig später auf dem Behandlungsstuhl von Klinikprofessor Hein wiederzufinden.
Meine persönliche Situation rückt dabei zunehmend in den Hintergrund, zu krass finde ich die Zweiklassengesellschaft, die mir von Sekunde zu Sekunde bewusster wird. Ist es fair, dass ich nun vielleicht die bestmögliche Behandlung bekomme, während sich andere mit dem Assistenzarzt zufriedengeben müssen? Nur weil mein scheiß Tumor zum Prestigefall taugt und dem Professor offenbar ganz gut in den Kram passt, soll ich plötzlich die Crème de la Crème der Behandlungen bekommen und an den Wartezimmern vorbei direkt in die Upperclass der Kranken aufsteigen? Nie habe ich vorher über eine Zweiklassengesellschaft und solche Dinge nachgedacht, doch jetzt fällt es mir brutal auf. Es widert mich an! Musste ich erst so schwer erkranken, um zu etwas Besonderem zu werden? Hat nicht jeder Mensch die besten Behandlungsmethoden verdient, egal, wie viel oder wie wenig er oder sie auf dem Konto hat?
Muss ich jetzt ein schlechtes Gewissen haben? Nein, denn auch bei meinem Glück im Unglück sollte es kein schnelles Happy End geben.