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Raus aus meinem Körper
ОглавлениеIch bin wieder mir selbst überlassen. Nur ich und meine Gedanken. Allein. Jessi ist schon wieder auf dem Weg zum Flughafen, sie hatte tatsächlich für nicht mal zwei Tage die weite Reise auf sich genommen, mehr Urlaub hat sie nicht bekommen. Ich könnte heulen, so sehr rührt es mich, dass ich eine so wunderbare Freundin habe. Doch nun ist sie weg, und meine Stimmung ist nach der Visite verständlicherweise am Boden, wozu sicher auch die kühle Tristesse meiner Umgebung beiträgt. Schön ist hier nichts, ein Mix aus Bundeswehrgrün und schmutzigem Gelb – siebzigerjahre-hässlich, einfach nur deprimierend.
Ich fühle mich missbraucht, auf derbste Art und Weise missbraucht. Das Gefühl kommt mir irgendwie bekannt vor, denn ich spüre es nicht zum ersten Mal. Es begleitet mich seit meiner Kindheit, eine Mischung aus sich schmutzig fühlen und im Erdboden versinken können, als wären Dinge mit mir passiert, die so nicht hätten passieren dürfen. Dinge, die ich vielleicht besser nicht wissen sollte – oder nicht mal wissen möchte. Dinge, die mich zur Meisterin im Verdrängen haben werden lassen – mein Leben lang.
Und doch stelle ich mir nun die Frage: Was ist geschehen, dass ich nur noch rauswill aus meinem Körper und ganz weit wegrennen, nie wieder zurückkommen möchte? Und damit meine ich nicht die letzten Tage. Das beklemmende Gefühl zieht mich ganz weit zurück in die Vergangenheit, zurück in meine früheste Kindheit. Oft habe ich angesetzt, die in mir vergrabenen Ereignisse aufzuarbeiten. Ich weiß nur: Da war etwas, das mir mein Leben lang Angst gemacht hat und noch immer Angst macht. Das Gefühl, einmal sexuell missbraucht worden zu sein, lässt mich einfach nicht los. Allein die Vorstellung ist derart grässlich, dass ich jenes frühe Kapitel meines Lebens immer wieder zugeklappt habe, sobald es anfing, sich in meiner Erinnerung zu konkreten Bildern zu formen. So mache ich es jetzt auch!
Meine Gedanken kreisen weiter. Mir wurde das Intimste genommen. Ich fühle mich gedemütigt, in meiner Würde und als Frau. Ich denke mir nur noch: »Lieber Gott, was habe ich nur verbrochen, dass ich all das durchmachen muss? Warum ausgerechnet ich?«
Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr drängt sich mir die Frage auf: Warum eigentlich nicht ich? Ich bin auch nur ein Mensch wie jeder andere. Ich bin nichts Besonderes, habe es somit nicht mehr, aber auch nicht weniger verdient. Sicherlich wünscht man niemandem Krebs an den Hals, aber wenn ich ganz ehrlich bin, finde ich schon, dass ein Schwerverbrecher, ein Kindesvergewaltiger etwa, all das Leid eher verdient hätte als ich. Aber geht es wirklich darum, wer etwas verdient? Verdienst – ist das nicht eigentlich etwas Positives? Der Lohn für eine Leistung, die Anerkennung einer besonderen Fähigkeit?
Wenn ich es von dieser Seite aus betrachte, kann ich mich durchaus mit dem Gedanken anfreunden, dass Gott, oder welche höhere Macht auch immer, sich für besonders großes Leid exakt die Menschen aussucht, die besonders viel Kraft besitzen, um dieses auch durchzustehen und im Idealfall vielleicht sogar daran zu wachsen.
Nanu, übe ich mich hier etwa gerade in positiven Gedanken? Ist das ein Geistesblitz oder vielleicht sogar eine Eingebung, meine Krankheit als Chance zu begreifen? Vielleicht – wären da nicht die unendlichen Schmerzen, die mich immer wieder unsanft ins Tal des Jammerns zurückholen.
Es dauert eine ganze Weile, bis ich mich an das fortwährende Pochen und Stechen in meinem Unterleib gewöhnt habe und den Schmerz fast schon als Normalzustand akzeptiere. All die Pillen, Infusionen und Spritzen, die längst zu meinen treuen Begleitern geworden sind, helfen mir dabei und werden mit der Zeit zu meinen Verbündeten, wenn es darum geht, den Blick nach vorn zu richten. Doch es sind nicht die Pillen allein, auch meine liebe Oma baut mich während ihrer Besuche im Krankenhaus immer wieder auf. Bis ich mit einem Mal einen extremen Drang danach verspüre, die Dinge wieder selbst in die Hand zu nehmen. Wenn diese Mini-Krebszelle glaubt, mich in die Knie zwingen zu können, hat sie sich verdammt noch mal geschnitten. Theoretisch gesprochen klingt das erst einmal gut, erweist sich in der Praxis dann aber doch als nicht ganz so easy.
Nachdem ich meine Beine wieder bewegen kann, soll und will ich nach einer gefühlten Ewigkeit endlich wieder aufstehen. Gedanklich sehe ich mich schon wieder Purzelbäume schlagen. Also schnell raus aus dem scheiß Krankenbett und rein ins aktive Leben. Power-Myriam is back!
Schön wäre es gewesen, doch schon beim Aufrichten im Bett, bei dem mir eine Schwester helfen muss, wird mein kurzzeitiger Anflug von Euphorie direkt wieder im Keim erstickt. Ein fürchterlicher Druck entlang der Operationsnarbe lässt für einen kurzen Moment einen dicken schwarzen Vorhang vor meinen Augen herabrollen. Wow, das geht ja mal gar nicht! Bin ich eigentlich bescheuert, die mir angebotene Zusatzportion Schmerzmittel abzulehnen?
»Dumme Myriam, hör endlich auf, immer die Starke markieren zu wollen«, denke ich mir, als ich wimmernd auf einer Pobacke am Bettrand sitze und mein Kreislauf mal eben meint, mich alleinlassen zu müssen. Aber ich will, dass er bei mir bleibt. Ich will nämlich verdammt noch mal aufstehen, und dafür brauche ich ihn. Ich beiße die Zähne zusammen, klammere mich an die Schwester, atme einmal tief durch, schließe die Augen und hieve mich, ich weiß nicht, wie, aus dem Bett. Blitzartig schießt ein gewaltiger Schmerz durch meinen gesamten Körper und ein Meer aus Tränen in meine Augen. Was auch immer es ist, was ich da gerade fühle, es ist nur schwer auszuhalten. Ich habe den Eindruck, es reißt mich in zwei Teile. »Schauen Sie mir ins Gesicht, schauen Sie nicht nach unten«, redet die aufgeregte Schwester immerzu auf mich ein.
Ich fixiere ihren Blick, schaue dennoch schmerzverzerrt durch sie hindurch. Wieder kullern Tränen, jetzt aber vor Freude. Ich stehe, breitbeinig und etwas wackelig zwar, aber ICH STEHE. Ich habe es geschafft, der erste Schritt ist gemacht, und ich bin megastolz auf mich! Die Belohnung folgt auf dem Fuße, als es klopft, die Zimmertüre sich einen Spalt weit öffnet, durch den mich mit einem neckischen Grinsen Basti anstrahlt. Meine Mom hat ihn mitgebracht und mir damit die wohl größte Freude gemacht, die ich mir in diesem Moment hätte vorstellen können. Der kleine Fratz hat mir so gefehlt, ich würde am liebsten gar nicht aufhören, ihn zu knuddeln. Danke, Mom, jetzt kann es ja nur noch aufwärtsgehen!
Und tatsächlich: Die Wunden heilen spür- und sichtbar, auch meine Psyche spielt mir langsam, aber sicher nicht mehr ganz so übel mit wie in den vergangenen Tagen. Von Kathetern und sonstigen Kabeln und Schläuchen befreit, kann ich mit der Zeit sogar wieder selbstständig auf die Toilette gehen. Was für eine Befreiung, den Arsch nicht mehr von den Schwestern abgewischt zu bekommen. Dafür schiebe ich mich doch nur zu gern mit dem Rollator ein paar Meter weit zum kleinen Badezimmer, um mich ganz vorsichtig auf die Schüssel zu setzen. Hightech statt Bettpfanne, kann ich nur sagen, denn das WC ist nicht nur mit angenehmen Polstern ausgestattet, sondern auch mit einem ausgefeilten Technikkonzept – extra für Patientinnen wie mich. Sanfte Po-Reinigung mittels Wasserbrause auf Knopfdruck, selbiges gilt für die anschließende Trocknung per Heißluft. Wow, das nenne ich Patientenluxus, den ich tatsächlich am liebsten mitgenommen hätte, als es wenige Tage später gen zu Hause geht. Dort angekommen, habe ich allerdings sehr schnell ganz andere Sorgen …